In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden

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In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
in der
DEZ 2020
SEP

                                WILLKOMMEN UND
                MUSIK               ABSCHIED                       GEISTLICHES LEBEN
            Wie musizieren in    Zwischen Zerrissenheit und der        »Weicht, ihr
           Zeiten von Corona?     Aussicht auf ein Wiedersehen       Trauergeister...«
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
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INHALT
01 GELEIT                                     F R IED ENSB OTSCH A FT                    LIEBE GÄSTE UND FREUNDE DER
                                                 47 Umkehr zum Frieden                   FRAUENKIRCHE,
AUS AKTU ELLEM A NLASS                           49 Friedenswege
                                                                                         »Du gingst, ich stund und sah zur Erden
   03 Lebenswandel
                                                                                         Und sah dir nach mit nassem Blick.
   06 Digitales Brückenbauen                                                             Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
                                              K IR CH ENFÜH R UNG                        Und lieben, Götter, welch ein Glück!«
LEITTHEMA –                                      51 Willkommen und Abschied
WILL KOMMEN U N D ABS C H I E D                  52 Die Flammen der Versöhnung           Den lyrisch Bewanderten sind diese Ge-          ferenten für Friedens- und Versöhnungsar-
   09 Willkommen und Abschied                                                            dichtzeilen vertraut. Bekannter ist der Ti-     beit rollt her aus Berlin.
                                                                                         tel dieser Goethe-Dichtung: »Willkommen
   14 Marthas November                        FOR UM
                                                                                         und Abschied«.                                  Willkommen und Abschied – Maria wird in
   16 Verabschiedung Sebastian Feydt             55 Wer Schlösser und Kirchen baut,                                                      dieses adventliche Wechselbad gestürzt,
   18 Die Frauenkirche als Ort des                  kann auch Synagogen bauen!           Amüsiert lese ich, das Gedicht erschien         als ein Engel ins Haus tritt: »Sei gegrüßt, du
      gesellschaftlichen Diskurses –             56 10 Jahre nach dem 3. Oktober 2010:   erstmals in der »Damenzeitschrift Iris«, ver-   Begnadete! Der Herr ist mit dir«, spricht er
      Reflexionen und Impulse                       Immer noch zu früh?                  mutlich die »Bild der Frau« des Barock. Und     zu ihr, als sei sein Erscheinen das Normals-
                                                 57 Der Staat und die Pluralisierung     jetzt, 245 Jahre später, wird der Titel die-    te der Welt – vielleicht etwas keck, vielleicht
                                                                                         ses Liebesgedichts Thema des Frauenkir-         selbst so froh über diesen außergewöhnli-
GEISTLIC HES LEB E N                                unserer Gesellschaft
                                                                                         chenmagazins. Versteckte Kontinuitäten?         chen Botenflug, dass er ganz und gar das
   25 »Weicht, ihr Trauergeister«                59 Morals & Machines                    Einseitigkeiten? Nein. Willkommen und           engels-obligatorische »Fürchte dich nicht!«
   28 Landesbischof Dr. Hempel zum Gedenken                                              Abschied, das damit einhergehende Wech-         vergisst. Als er Marias erschrockenen Blick
   30 Neues Leben berührt                     60 L ESER B R IEFE                         selbad der Gefühle, die widersprüchlichen       sieht, fällt es ihm wieder ein; er schiebt es
   31 Taufen und Trauungen                                                               Gedanken – kein reines Frauenthema. Nie         rasch nach. Und fügt an: »Siehe, du wirst
                                              62 FÖR D ER GESEL LSCH A FT                gewesen. Auch kein exklusives Frauen-           schwanger werden.« – Mann, wo hat der
                                                                                         KIRCHENthema. Wenngleich Goethes In-            denn Seelsorge gelernt? Das halbe Kind
M USIK
                                                                                         spiration zu »Willkommen und Abschied«          mit so einer Nachricht aufbauen zu wollen!
   33 Herz, nimm Abschied und gesunde!        65 KA L END ER                             den Sympathien für eine Pfarrerstochter         Doch es wurde ja wahr: eine von Gott be-
   36 Ob der CHORona-Zeit                                                                entsprang... Doch Ankommen und Wegge-           gleitete und begnadete Frau, die liebend
   38 »Phoenix der Musik«                     96 SERVICE · KONTA KT · IMPR ESSUM         hen, Beginnen und Aufhören, Anfang und          und geliebt ihren Weg ging. Maria, die
   39 Nachtschwärmen für Kinder                                                          Schluss durchpulsen jedes Leben und prä-        unserer Kirche ihren Namen gab, möchte
                                              97 SITZ PLA N                              gen jeden Ort. In ihrer Gegensätzlichkeit,      ich ausnahmsweise Goethes Worte in den
                                                                                         wiewohl Unzertrennlichkeit schreiben sie        Mund legen, auf dass sie sie uns in unge-
ENGAGEMEN T
                                                                                         Geschichte, schreiben sich ins Leben ein,       wissen Zeiten zuspricht:
   41 Wie ein Sitzplatz zum Gedenkort wurde                                              sind Bio-Graphie. Werden Staunen, wer-          »Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
   42 Das Leben des Menschen ist endlich                                                 den Dank: »Welch ein Glück!«                    Doch tausendfacher war mein Mut.«

BAUW ER K                                                                                So scheidet das alte und kommt das neue         Herzlich,
   45 Baurinnen-Begehung und                                                             Jahr. Ein Menschenleben geht zu Ende,           Ihre
                                                                                         und wir Christen bergen uns in der Hoff-
      Bauwerksbeobachtung
                                                                                         nung, dass es neu werde bei Gott. Waffen
                                                                                         verstummen – und werden Stimme als
                                                                                         Friedensglocke. Der Umzugswagen des             Frauenkirchenpfarrerin
                                                                                         Pfarrers rollt fort nach Leipzig, der des Re-   Angelika Behnke
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2             AUS AKTUELLEM ANLASS                                           AUS AKTUELLEM ANLASS                                               3

                                                          LEBENS-
                                                          WANDEL
                                                                        LEBEN IN ZEITEN VON CORONA –
AUS AKTUELLEM

                                                                     EIN BERICHT AUS DER FRAUENKIRCHE

                                                                                   MARIA NOTH
    ANLASS

                                       Rechts und links schauen Engelskopffragmente         Nicht nur Menschen sind verletzbar. In den letzten
                                       von den vorderen Säulen auf den Altarplatz der       Wochen wurde deutlich, dass auch das organisa-
                                       Frauenkirche hinab. Ihre geschundenen Gesichter      torische Gerüst der Stiftung Frauenkirche Dresden
                                       stehen im Kontrast zu den vielen weiteren, rekons-   eine derartige Krise nur schwer trägt. Schließlich
                                       truierten Engelsköpfen, die in der gesamten Kirche   ist die Stiftung auf Teilhabe ausgerichtet. Wenn
                                       auf die Präsenz Gottes verweisen. Die Verwund-       keine Menschen in die Kirche kommen, bricht
                                       barkeit des menschlichen Lebens wird förmlich        nicht nur das aktive Miteinander, sondern auch ein
                                       greifbar. Und auch die Referenz auf Gottes Gegen-    großer Teil der Einnahmen weg: Spenden in den
                                       wart scheint nicht ungebrochen zu sein.              Zeiten der Offenen Kirche, Kollekten, Einnahmen
                                                                                            aus dem Kuppelaufstieg und aus Konzerten. Da
                                       In den letzten Wochen und Monaten wurde uns          wir uns als gemeinnützige Stiftung finanziell wei-
                                       allen – auch und gerade hier in der Frauenkirche –   testgehend selbst tragen, sind wir auf diese Ein-
                                       die Fragilität unseres Lebens und des miteinan-      nahmen angewiesen. Ein Großteil der Kosten, zum
                                       der Lebens vor Augen geführt. Dinge, die wir als     Beispiel für den Bauerhalt, läuft ja weiter.
                                       selbstverständlich erachteten, waren mit einem
                                       Mal in Frage gestellt. Acht Wochen lang war unsere   Und auch für das Team der Stiftung galten von ei-
                                       »Offene Kirche« geschlossen. Ein Widerspruch in      nem Tag auf den anderen neue Arbeitsabläufe, ein
                                       sich! Die Art, wie wir Gemeinschaft leben, wie wir   anderer Alltag: Für manche Kolleg*innen, gerade
                                       einladen und uns austauschen, war außer Kraft ge-    für diejenigen, die Ansprechpartner*innen für un-
                                       setzt. Gottesdienste, Andachten und Musik wichen     sere große überregionale Gemeinde und für Gäste
                                       auf digitale Kanäle aus. Die Türen der Frauenkir-    der Frauenkirche sind, war die Arbeitsgrundlage
                                       che wurden so zumindest symbolisch geöffnet.         förmlich weggebrochen. Der Arbeitsort nicht mehr
                                       Dafür brauchte es ad hoc neue Kompetenzen: Wie       zugänglich. Andere arbeiteten ganz oder teilwei-
                                       produziert man für Web und Social Media? Wie         se von zu Hause aus und betreuten parallel ihre
                                       spricht oder musiziert man für eine Gemeinschaft,    Kinder. Die wöchentliche Teambesprechung fand
                                       die nicht unmittelbar präsent ist? Wie bleiben wir   ausschließlich per Telefon statt: Eine Herausforde-
                                       im Gespräch miteinander, wenn wir uns nicht se-      rung mit ca. 20 Teilnehmer*innen, die nur nach-
                                       hen können? Wie vermitteln wir Zuversicht, wenn      einander sprechen und nicht wie sonst spontan
                                       wir uns selbst schwach fühlen?                       aufeinander reagieren konnten. Dabei war gerade
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4                                             AUS AKTUELLEM ANLASS                                                                                          AUS AKTUELLEM ANLASS                                      5

    jetzt Gesprächsbedarf da! Manches Nebenge-
    räusch musste ignoriert und mancher technische
                                                           Sichtbares und Unsichtbares, Rekonstruiertes
                                                           und Fragmentarisches: Scheinbare Gegensätze
                                                                                                                  So sind wir sehr dankbar für alle Unterstützung und
                                                                                                                  Solidarität, die wir in der Frauenkirche in den letzten
                                                                                                                                                                                    »Dass wir gerade
    Trick probiert werden. Nicht zu vergessen sind die
    vielen Ehrenamtlichen der Frauenkirche: Die Chor-
                                                           verzahnen sich an vielen Stellen. Gegensätze, die
                                                           sich nur im Neben- und Miteinander definieren.
                                                                                                                  Wochen erfahren haben: für das Verständnis, wenn
                                                                                                                  der gewohnte Sitzplatz nicht zu Verfügung steht,
                                                                                                                                                                                      jetzt eine feste
    sänger*innen, Kirchenführer*innen, Einlasshel-         Die sich gegenseitig bedingen.                         wenn wir beim Singen im Gottesdienst darum bit-                  Haltung entwickeln
    fer*innen, Lektor*innen, Seelsorger*innen, die zu                                                             ten, eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen, wenn
    unserem Team gehören und ohne die eine Offene          Wenn wir einmal mehr das Hygienekonzept für            das Konzertprogramm und die Besetzung kurzfris-                    können, die das
    Kirche von vielen für viele nicht denkbar wäre. Die-   Gottesdienste und Veranstaltungen in der Kirche        tig geändert werden müssen, wenn langfristig ge-
    jenigen, die sonst ihre Zeit und Kraft spenden. Eine   überarbeiten, wenn wir abwägen, wie wir Konzer-        plante Führungen nicht umgesetzt werden können,                    Leben in seiner
    Spende nicht geben zu können, bedeutet auch
    eine persönliche Einschränkung.
                                                           te realisieren können, auch wenn sie aufgrund
                                                           der deutlich reduzierten Kapazität wirtschaftlich
                                                                                                                  wenn am Einlass zur Offenen Kirche oder zum Kup-
                                                                                                                  pelaufstieg Geduld gefragt ist, wenn die Anzahl der              Verletzbarkeit und
    Waren wir in den Wochen der Schließung gewis-
                                                           eigentlich nicht tragbar sind, wenn Kolleg*in-
                                                           nen, die sonst in der Verwaltung der Stiftung
                                                                                                                  Chorsänger*innen begrenzt ist und alle auf Abstand
                                                                                                                  singen, wenn die Ehrenamtlichen Gäste statt Mitwir-
                                                                                                                                                                                    seinen Unsicher-
    sermaßen auf uns selbst zurückgeworfen, stellt
    sich jetzt in der Zeit, da wir die Frauenkirche
                                                           arbeiten, in die Kirche kommen, um bei Einlass
                                                           und Platzierung zu helfen, finden wir uns in einer
                                                                                                                  kende sind. Wir sind dankbar für die Spenden, die
                                                                                                                  uns trotz persönlicher Ungewissheit erreichen, und
                                                                                                                                                                                   heiten wertschätzt
    wieder öffnen können, die Frage danach, wie ein        ungewohnten, einer bewegten und bewegenden             für die ungebrochene Unterstützung durch die Ge-                  und schützt und
    verantwortungsvolles Miteinander in unserem            Situation. Wir agieren viel kurzfristiger als sonst,   sellschaft zur Förderung der Frauenkirche Dresden
    Gotteshaus aussehen kann. Gerade hier, an die-         probieren aus und modifizieren, wir brechen aus        e. V. und durch unsere Partner und Förderer und für                gestalten hilft.«
    sem Ort, an dem wir dem Leben und seiner Un-           den gewohnten Strukturen aus und lassen uns            das wunderbare Team in der Stiftung, das so man-
    eindeutigkeit mit seiner sich stets bewegenden         auf ein flexibles, neues Miteinander ein. Dabei        che kurzfristige Entscheidung mitdenkt, mitträgt und
    Bedeutungsvielfalt besonders nah kommen:               leiten uns in der wiederaufgebauten Frauenkir-         umsetzt. Und vor allem sind wir froh über viele Be-
    vom dunklen trichterartig in die Tiefe reichenden      che die Demut und Achtsamkeit vor dem Leben            sucher*innen, die unserer Einladung in die wieder
    Anish Kapoor-Altar in der Unterkirche bis hinauf       jedes einzelnen Menschen. Denn das Gotteshaus          offene Frauenkirche folgen und mit aller Achtsamkeit
    zur Kuppel, deren farbenprächtige Gemälde, da-         steht wie kaum ein anderes für die Vulnerabi-          den Wert des Lebens, die Stärke des menschlichen
    runter die christlichen Tugenden, sich schützend       lität des Lebens, aber auch für die große Stärke       Miteinanders und die Zuversicht, die diesem Kirch-
    über die Gemeinde spannen. Tiefe und Höhe,             menschlichen Wirkens im Vertrauen auf Gott und         bau innewohnt und die aus dem christlichen Glau-
                                                           im Vertrauen auf eine Gemeinschaft. Dies ist eine      ben erwächst, erspüren.
                                                           klare Haltung in einer Zeit, die uns mit den grund-
                                                           legenden Ungewissheiten unserer Gesellschaft           Den Blick auf die Vulnerabilität des eigenen Lebens,
                                                           konfrontiert. Die Pandemie zeigt uns, dass wir die     aber vor allem auch auf das der anderen gerichtet
        »So sind wir sehr                                  Fähigkeit brauchen, mit Uneindeutigkeiten, mit         zu halten, sollte uns in der Frauenkirche ein Anliegen
                                                           Wandel und Widerspruch umzugehen. Und zwar             sein. Das ist die Haltung, mit der wir die Botschaft von
         dankbar für alle                                  nicht nur jetzt. Die Pandemie, von der wir vieles      Frieden und Versöhnung in die Welt tragen. Diese Bot-

       Unterstützung und                                   noch nicht wissen und über die wir gleichzeitig so
                                                           viel Verschiedenes hören, macht aber auch deut-
                                                                                                                  schaft ist nicht in Stein gemeißelt, sondern beinhaltet
                                                                                                                  eine immer wieder neue Suche nach konkreten For-

       Solidarität, die wir                                lich, dass wir eine Urteilskraft brauchen, die sich
                                                           nicht auf sich selbst bezieht, sondern sich immer
                                                                                                                  men des achtsamen und würdevollen menschlichen
                                                                                                                  Miteinanders im Hier und Jetzt. In diesem Sinne ist
      in der Frauenkirche                                  wieder an den Perspektiven anderer Menschen
                                                           reflektiert. Dass wir gerade jetzt eine feste Hal-
                                                                                                                  Gottes Gegenwart nicht gebrochen, sondern so viel-
                                                                                                                  fältig und wandelbar wie das Leben selbst – hier in der
     in den letzten Wochen                                 tung entwickeln können, die das Leben in seiner        Frauenkirche und in unserem Alltag.                                         MARIA NOTH
                                                           Verletzbarkeit und seinen Unsicherheiten wert-                                                                                  Geschäftsführerin
        erfahren haben.«                                   schätzt und schützt und gestalten hilft.                                                                                   Stiftung Frauenkirche Dresden
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
6                                            AUS AKTUELLEM ANLASS   AUS AKTUELLEM ANLASS                                             7

           DIGITALES
         BRÜCKENBAUEN
                                                 GRIT JANDURA

    »Wir lassen einander nicht aus dem Herzen«, ver-
    sprach Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke Mitte
    März. Dabei stand sie nicht in der Kanzel und predig-
    te vor einer großen Gemeinde, sondern richtete ihre
    Worte in eine Kamera. Ihre Zuhörer musste sie sich                      Die Resonanz war überwältigend. Sie ist auch nur teil-
    vorstellen, denn die Kirche war leer. Der Shutdown                      weise in Zahlen zu fassen. Allein auf Youtube wurden
    hatte das Leben in der Frauenkirche zum Stillstand                      binnen fünf Monaten 265.000 Videoaufrufe und weit
    gebracht. Nicht aber den Wunsch nach ihrer auf-                         über 14.000 Stunden (das entspricht der Zeit von 1,6
    richtenden Botschaft – wie diese aber zu den Men-                       Jahren) Wiedergabezeit registriert. Zehntausende
    schen bringen, die durch Ausgangsbeschränkungen                         schauten die Konzerte von Kantor Grünert und Orga-
    und Kontaktverbot an ihr Zuhause gebunden waren?                        nist Kummer. Fast 60.000 erlebten die Gottesdiens-
                                                                            te am Gründonnerstag, Ostersonntag und Sonntag
    Dafür galt es die Vorzüge des Internets und der sozi-                   Kantate – wären es Besucher, man hätte die Kirche
    alen Medien zu nutzen. Das war für alle Beteiligten                     35 Mal füllen können. Fast 2.000 Abonnenten hat der
    Neuland. Natürlich ist die Frauenkirche mit me-                         Youtube-Kanal inzwischen, nachdem es zu Beginn
    dialer Kommunikation nicht gänzlich unerfahren.                         100 waren. In den Kommentaren erreichten uns Zeilen
    Dank vieler Partner erreichen Gottesdienstübertra-                      voller Begeisterung und Dankbarkeit aus allen Teilen
    gungen, Konzertaufzeichnungen und Mitschnitte                           Deutschlands, aber auch aus den Niederlanden, aus
    von Podiumsdiskussionen seit Jahren ein interes-                        Norwegen, Italien, Frankreich und sogar aus Austra-
    siertes Publikum. Diese Situation war aber anders:                      lien und Brasilien. Ein weiterer Beleg dafür, dass die
    Alles musste in Echtzeit und Eigenregie auf die Bei-                    Gemeinde der Frauenkirche eine weltumspannende
    ne gestellt werden. Es brauchte flinkes Handeln,                        ist. Eine großherzige noch dazu: Denn die Bitte nach
    Zuversicht bei Widrigkeiten und den Mut zur Imper-                      Spenden wurde gehört. Vielen Dank auch hierfür.
    fektion. So gelang es, dass bereits am zweiten Tag
    nach der Komplettschließung der Kirche der erste                        Als »offenes Haus Gottes und der Menschen« wurde
    Social Media-Clip mit Pfarrerin Behnke bei Youtube,                     die Frauenkirche wiedererrichtet. In den zurückliegen-
    Facebook und Instagram online ging. Kurz darauf                         den Wochen hat die Stiftung Frauenkirche Dresden
    sendete Frauenkirchenkantor Matthias Grünert                            gezeigt, dass sie dieses Motto, wenn es die Umstände
    den ersten klingenden Gruß von der Orgelempore.                         gebieten, auch bei geschlossenen Türen mit Leben
    Inzwischen sind weit über 50 weitere Beiträge ent-                      erfüllen kann. Es wurden Brücken gebaut und Glaube
    standen. Zudem wurden (unterstützt durch eine                           gelebt. Gehen wir diesen Weg weiter gemeinsam: vor
    Leipziger Produktionsfirma) je drei Gottesdienste                       Ort und als disperse Gemeinde, die dank Online-Kom-
    und Konzerte aufgezeichnet.                                             munikation verbunden bleibt.
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
8              WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                         WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                             9

                                                               WILLKO
                                                                      M
                                                               UND ABS MEN
                                                                      CHIED
WILLKOMMEN UND

                                           PROF. HEINZ-WALTER GROßE
    ABSCHIED

                                           Professor Dr. Heinz-Walter Große trat 1978 in die    angekündigt, über jeden, der zusagt, freut man
                                           Finanzabteilung der B. Braun Melsungen AG ein.       sich doch. Natürlich gibt es auch ein paar wenige,
                                           Sein Werdegang führte ihn über die USA und die       die absagen mussten. Ja, das versteht man: aus
                                           Geschäftsführung der B. Braun Austria 2005 in die    Kanada anzureisen wegen einer Feier das kann
                                           Position des Vorstands für Finanzen. Seit 2008 war   man nicht erwarten. Dann am Mittag haben sie
                                           er zudem Arbeitsdirektor für das Ressort Perso-      angerufen – in Kanada noch fast Nacht – und ha-
                                           nal und Recht verantwortlich. 2009 wurde er zum      ben gratuliert und sich nochmals entschuldigt.
                                           stellv. Vorsitzenden des Vorstands berufen; von      Verstehst du doch, wäre sehr aufwändig. Na klar,
                                           April 2011 bis zum Eintritt in den Ruhestand im      versteht jeder. Dann konzentriert sich auch alles
                                           Jahr 2019 hatte er den Vorstandsvorsitz inne.        auf die Schlange. Man heißt jeden willkommen.
                                                                                                »Schön, dass du gekommen bist. Haben uns ja
                                           2015 übernahm Prof. Große ehrenamtlich den           auch schon länger nicht gesehen.« Alle drängen,
                                           Vorsitz der SAFRI (Subsahara-Afrika Initiative der   jeder will nun drankommen. Der Aperitif wartet.
                                           Deutschen Wirtschaft, getragen vom Afrika-Verein     Nein – das ist doch nicht möglich! Da stehen sie:
                                           der Deutschen Wirtschaft (AV), dem Bundesver-        die Freunde aus Kanada, extra angereist. Schien
                                           band der Deutschen Industrie (BDI), dem Bundes-      doch alles mit dem Anruf abgetan. Herzlich will-
                                           verband Großhandel, Außenhandel, Dienstleis-         kommen – das ist wirklich eine große Freude! Es
                                           tungen (BGA) und dem Deutschen Industrie- und        müssen ja nicht immer solche etwas größeren
                                           Handelskammertag (DIHK). In dieser Funktion          Anlässe sein, zu denen man jemanden herzlich
                                           brachte er sich auch im Rahmen der Friedens-         willkommen heißt. Die Kinder, jetzt schon beide
                                           nobelpreisträgerrede mit Ellen Johnson Sirleaf       im Arbeitsleben, haben sich für das Wochenende
                                           2018 in der Frauenkirche Dresden ein.                angesagt – ja natürlich »Herzlich willkommen«.
                                                                                                Wird sicher schön.
                                           Da stehen sie nun in einer längeren Schlange und
                                           wollen mir gratulieren. Es sind die Gäste, die ich   Und doch: in jedem »Herzlich willkommen« liegt
                                           zu meinem runden Geburtstag eingeladen habe.         auch schon ein wenig Wehmut. Die Geburtstags-
                                           Eine lange Einladungsliste: Verwandte, Kollegen,     feier geht zu Ende, man konnte sich mal wieder
                                           Freunde. Man hat sich ja schon seine Gedanken        viel zu wenig um die Gäste kümmern, aber es war
                                           gemacht, wen und wen nicht. Fast alle haben sich     trotzdem eine gelungene Feier. Die Kinder waren
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
10                                                       WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                   WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                             11

                                                                     rigen Sohn in den Krieg verabschieden, aus dem         sie Abschied nehmen mussten? Wie viele haben          der andere möge nur nicht auspacken, nur nicht
                                                                     er nicht wieder zurückkam. Es muss ein toller Kerl     Eltern, Großeltern oder gar Kinder zurückgelas-       seine Probleme ausschütten. Und dann hören wir
                                                                     gewesen sein, dieser Walter, dessen Namen ich          sen. Hier hat sich ein neuer Begriff der »Willkom-    die Antwort »OK« und sind zufrieden. Waren wir
                                                                     auch noch trage. Wenig wurde bei uns über die-         menskultur« entwickelt. Man beschäftigt sich sehr     doch wieder einmal so richtig nett!
                                                                     sen Verlust gesprochen. Waren es doch so viele         positiv damit, wie man den neu eingereisten Men-
                                                                     Familien im Dorf, denen das gleiche Schicksal          schen eine Wertschätzung entgegenbringt, wie          Willkommen im Arbeitsleben, ja das ist nach
                                                                     beschieden war. Man hat es offenbar so akzep-          man sie in unserer für sie so neuen Gesellschaft      Schule und Studium schon ein entscheidender
                                                                     tiert, akzeptieren müssen. Und doch, einmal er-        integriert und wie sie unsere Gesellschaft berei-     Schritt und dann? Man hat dann etwa 40 oder
                                                                     zählt mir meine Oma, wie großartig Walter war.         chern können. Leider muss man sich dabei auch         sogar heute etwas mehr Berufsjahre vor sich.
                               ALTER GROSE                           Und dann erwähnte sie, dass sie ihm beim letzten       immer mehr mit den Mitbürgern beschäftigen, die       Was muss man nicht alles in Balance bringen. Oft
              PROF. HEINZ-W
                           r Subsahara-Init
                                                iative               Abschied handschriftlich alle Verse von »Harre,        eine solche Willkommenskultur ablehnen. Ihr viel-     gerade seine große Liebe gefunden. Freizeitakti-
           Vorsitzender de                     afri)
                              Wi rts ch aft (S                       meine Seele« persönlich aufgeschrieben und ihm         leicht sogar radikal und mit Gewalt begegnen. Dies    vitäten, in meinem Fall der Posaunenchor, ganz
              der Deutschen
                                               echnik-
                           ef des Medizint                           mitgegeben hatte. Sie war sehr gläubig und sicher      wird für uns alle noch eine große Herausforderung     regelmäßiges Üben und Auftritte, alles muss ins
           und bis 2019 Ch
                                   B. Br  au n.                                                                             in den nächsten Jahren, wahrscheinlich Jahrzehn-      Gleichgewicht gebracht werden. Wie sagt man oft
                   unternehmens                                      auch überzeugt, dass diese Zeilen ihren Sohn be-
                                                                     schützen würden. Heißt es doch unter anderem:          ten werden. Hierbei werden wir alle, aber beson-      so lapidar: »Willkommen im Ernst des Lebens«.
                                                                     »In allen Stürmen, in aller Not, wird er dich be-      ders auch die Kirchen gefordert sein, die richtigen   Es stehen tatsächlich große Entscheidungen an.
                                                                     schirmen, der treue Gott«. Noch heute umgehe           Antworten zu finden. Wie schön ist es, wenn man       Hochzeit, Arbeiten im Ausland, Familie gründen,
                                                                     ich dieses Lied, es berührt mich unglaublich.          aufrichtig willkommen geheißen wird.                  schon ganz schön aufregend, diese Zeit. Aber
     da, gemeinsames Essen, Gespräche, ein Spazier-                  Aber meiner Großmutter hat ihr Glauben sichtbar                                                              wenn wir über »Willkommen« nachdenken, dann
     gang, und man hat gespielt. Doch dann wird es Zeit              geholfen, über diesen so schmerzlichen Verlust         Dabei denke ich an die unterschiedlichen Be-          gibt es doch keinen Zweifel, wie großartig es ist,
     und man muss sich wieder verabschieden. Das ist                 hinwegzukommen.                                        gebenheiten, wenn man eine neue Arbeitsstel-          wenn man gemeinsam durch die erste Schwan-
     einfach unangenehm – das fällt uns nicht leicht.                                                                       le antrat, oder auch an viele Geschäftsreisen,        gerschaft geht und dann nach neun Monaten, in
     Reinhard Mey singt in seinem Lied »Abschied« von                Der Tod, das ist in der Tat der endgültige Abschied,   bei denen man sehr freundlich begrüßt wurde.          unserem Fall einen gesunden Sohn willkommen
     der Zerrissenheit, die im Abschied liegt.                       oder? Wir Christen haben darauf eine hoffnungs-        Schmunzeln muss ich, wenn ich an meine erste          heißen darf. Wie verändert sich da das Leben,
                                                                     volle Antwort, und die konnte ich bei meiner Groß-     USA-Reise zu unserer Tochtergesellschaft denke.       wenn dann auch noch bald eine Tochter dazu
              »Hab nie Abschied genommen,                            mutter viele Jahre erleben.                            Englisch bisher nur in der Schule. Wie wird das       kommt. Es wird einfach so vieles anders. Konnte
                 ohne zerrissen zu sein.«                                                                                   werden mit der Unterhaltung, werde ich alles ver-     man vorher alles unabhängig planen, so heißt es
                          REINHARD MEY                               Wenn ich in den letzten Wochen im Auto unter-          stehen, wird man mich verstehen? Und so kom-          jetzt in vielen Fällen, Rücksicht zu nehmen.
                                                                     wegs war und mich natürlich das Thema »Will-           me ich nach meiner Anreise am nächsten Morgen
     Aber wie sagen wir so oft: bis zum Wiedersehen,                 kommen und Abschied« beschäftigte, sind mir            etwas nervös in das Büro. Ach, wie freundlich         Geht man dann gemeinsam als
     bis bald, vielleicht sogar bis morgen. Das war so               plötzlich ganz bewusst an vielen Dorf- und Stadt-      werde ich begrüßt. Welcome! Dann diese nette          Familie durch die Jahre, so erlebt
     mit unseren kanadischen Freunden. Natürlich                     grenzen die Schilder mit der Aufschrift »Herzlich      Frau, die mit offenen Armen auf mich zukommt.         man ständig »Willkommen und
     wollte man sich gleich am nächsten Tag noch ein-                willkommen« und am Ortsausgang die Schilder            Sie lächelt. »How are you?«, waren ihre Worte. Ich    Abschied«. Waren die Kinder doch
     mal treffen, es gab ja noch so viel, was man sich               mit »Auf Wiedersehen« aufgefallen.                     holte Luft, wollte etwas Nettes entgegnen, aber       gerade im Kindergarten angekom-
     erzählen musste. Ja, man erleichtert sich das Ab-                                                                      ehe ich etwas sagen konnte, war die Dame auch         men, so geht es auch schon zur
     schiednehmen, die Zerrissenheit und es kommt                    Gelten diese Schilder für alle Menschen? Gelten        schon weitergegangen. Sie war offensichtlich gar      Schule. Ja, so viele Jahre lagen
     mir vor wie ein Trost. Man hat ja die Aussicht auf              sie insbesondere den Gästen, die zur Arbeit oder       nicht so interessiert, wie es mir denn ginge, eine    jetzt vor uns allen. Wie wird das
     ein Wiedersehen. Aber dann gibt es ja den anderen               zum Einkaufen kommen oder Urlaubern, die den           Floskel, einfach nur nett!                            werden? Fällt Lernen eher leicht
     Abschied: den für immer auf dieser Welt.                        Gemeinden »Geld bringen«? Gelten sie aber auch                                                               oder wo müssen sie sich abmü-
                                                                     für Migranten? Viele Menschen haben es in den          Nun könnte man sagen: So sind die Amerikaner.         hen? Aber immer wieder gibt es
     Das wird einem bewusst, wenn man am Grab                        letzten Jahren damit wirklich sehr ernst gemeint,      Ja, so sind sie. Aber sind wir nicht alle auch in     Abschied und gleichzeitig Neube-
     eines geliebten Menschen steht. Bei dem Ge-                     andere aber? Und wer denkt bei den vielen Men-         vielen Situationen genauso oder so ähnlich? Wir       ginn. Grundschule ade, willkom-
     danken kommt mir eine Geschichte nie aus dem                    schen, die bei uns angekommen sind, woher sie          heißen jemanden willkommen, sind freundlich,          men im Gymnasium! Plötzlich
     Sinn. Meine Großmutter! Sie musste ihren 21-jäh-                wohl kommen, von welchem gewohnten Leben               fragen »Wie geht’s« und hoffen doch im Inneren,       wird man wach. So ging es mir
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
12                                          WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                      WILLKOMMEN UND ABSCHIED

                                                                                                                                                                         Willkommen und
                                                                                                                                                                                                      Abschied
     besonders bei der Abiturfeier unseres Sohnes, als     eine große Verabschiedung. Viele geladene Gäste,                                                              Johann Wolfgan
                                                                                                                                                                                         g von Goethe
     man ihn zur Zeugnisübergabe aufruft. Wie bitte?       Reden. Es ist einem etwas mau im Magen, es war          Der Refrain in Reinhard Meys Lied ist
     Jetzt ist er schon mit der Schule fertig? Den ha-     doch so groß gar nicht nötig. Aber es gehört eben       jetzt besonders zutreffend:                          Es schlug mein He
                                                                                                                                                                                            rz, geschwind, zu
     ben wir doch erst »gestern« in den Kindergarten       dazu. Man weiß es ja selbst, weil man an so vielen                                                           Es war getan fast                       Pferde!
     gebracht. Ja, bei solchen Abschieden erleben wir      Verabschiedungen im Laufe der Jahre teilgenom-          »Doch das Leben ist wie ein                                            eh gedacht.
                                                                                                                                                                        Der Abend wiegte
     immer wieder, dass uns bewusst wird, wie schnell      men hat. Selbst auch Reden gehalten. Jetzt ist der      reißender Fluss                                                         schon die Erde,
                                                                                                                                                                       Und an den Berg
     die Zeit vergeht.                                     Moment gekommen; Es wird der Lebens- und Ar-            Der mich weitertreibt                                                en hing die Nach
                                                                                                                                                                                                           t;
                                                           beitsweg in rosaroten Farben und positiven Wor-         Der nicht stehenbleibt                              Schon stand im Ne
                                                                                                                                                                                           belkleid die Eich
                                                                                                                   Und erreich’ ich ein Ufer                           Ein aufgetürmte                        e
     Wie schnell vergeht eben auch die Zeit im Arbeits-    ten dargestellt. Ist doch nicht nötig, ja eigentlich                                                                        r Riese, da,
     leben. Man durchlebt so viele unterschiedliche        will man es gar nicht. Und doch: All die Anerken-       Komm’ ich doch nur zum Schluss                      Wo Finsternis au
                                                                                                                                                                                        s dem Gesträuche
     Aufgabengebiete. Geht man dann noch für viele         nung tut doch auch gut. Aber es zeigt auch eines:       Dass ich weitergehen muss.«                         Mit hundert schw
     Jahre in einen Auslandsaufenthalt und wird da-        Vieles liegt hinter einem. All das ist Vergangen-                                                                             arzen Augen sah.
     mit Teil verschiedener Unternehmen, dann lernt        heit. Es heißt, von einem langen Lebensabschnitt        Unruhig muss man sein ganzes Le-
                                                                                                                                                                       Der Mond von ein
     man auch den Umgang mit Willkommen und                Abschied zu nehmen. Jetzt wird klar: Zurückbli-         ben bleiben. Welche Entspannung                                        em Wolkenhügel
     Abschied in unterschiedlichen Kulturen kennen.        cken tut zwar gut, aber man ist eben auch ein           tritt ein, wenn man die neuen Dinge                 Sah kläglich aus
                                                                                                                                                                                         dem Duft hervor
                                                                                                                                                                                                          ,
     Ja, so war es auch in den Jahren, die wir in den      wenig traurig, vielleicht sogar ein bisschen de-        mit einer gehörigen Portion Gelas-                 Die Winde schwan
                                                                                                                                                                                          gen leise Flügel,
     USA verbracht haben. Neue Freunde gewonnen,           pressiv, dass all das hinter einem liegt. Wenn man      senheit angeht, weil man das Ver-                  Umsausten scha
                                                                                                                                                                                        uerlich mein Ohr;
     und immer wieder waren wir willkommen bei             an sein Berufsleben zurückdenkt, fragt man sich         gangene losgelassen hat. Mir wird                  Die Nacht schuf
                                                                                                                                                                                       tausend Ungeheue
     den unterschiedlichsten Gelegenheiten. Gerne          schon, ob man vielleicht hin und wieder an alten        beim Schreiben dieser Zeilen noch-
                                                                                                                                                                      Doch frisch und                       r,
     feiert man Partys, man wird formlos eingeladen,       Gewohnheiten im Unternehmen festhielt, weil             mals klar, dass man Abschiedneh-                                    fröhlich war mein
                                                                                                                                                                     In meinen Adern                        Mut:
     man geht unkompliziert miteinander um, man            man es schon immer so gemacht hat. Man fragt            men in sein Leben voll integrieren                                   welches Feuer!
     lernt eben »Small Talk«. Aber immer wird einem        sich, wovon man sich früher hätte verabschieden         muss. Das ist die Voraussetzung,                  In meinem Herz
                                                                                                                                                                                      en welche Glut!
     auch das Gefühl vermittelt, man ist willkommen.       sollen oder gar müssen. Hat man auf der anderen         dass man sich auf das nächste
     Ich glaube, das ist auch tatsächlich so. Man freut    Seite Dinge verändert, die man vielleicht lieber        Willkommen, den nächsten Neu-                    Dich sah ich, und
                                                                                                                                                                                       die milde Freude
     sich, dass man gekommen ist. Wird man dann            beibehalten hätte. Aber nein: Lass diese Gedan-         beginn freuen kann. Das gibt Kraft               Floß von dem sü
                                                                                                                                                                                      ßen Blick auf mich
     von einem Kollegen an Thanksgiving, dem Fei-          ken, konzentriere dich jetzt nur nicht allein auf die   und Hoffnung für die Zukunft.
                                                                                                                                                                    Ganz war mein He                     ;
     ertag, an dem in den USA alle Familien zusam-         Vergangenheit. Dieser Moment des Abschieds be-                                                                               rz an deiner Seite
                                                                                                                                                                    Und jeder Atemzu
     menkommen, zum Dinner mit der Familie einge-          deutet auch den Anfang eines neuen Abschnitts.                                                                                g für dich.
     laden, dann weiß man, dass man angekommen             Und wie heißt es doch schön: »Jedem Anfang                                                               Ein rosenfarbnes
                                                                                                                                                                                        Frühlingswetter
     ist. Dann ist man wirklich »Herzlich willkommen«.     wohnt ein Zauber inne.«                                                                                  Umgab das lieblich
                                                                                                                                                                                         e Gesicht,
     Das ging in unserem Fall über mehrere Einladun-                                                                                                               Und Zärtlichkeit
                                                                                                                                                                                      für mich – ihr Gö
     gen, und plötzlich ist man praktisch Teil der Fami-   Man hat viele Abschiede und immer wieder Neu-                                                                                                 tter!
                                                                                                                                                                   Ich hofft es, ich ve
     lie – wie schön!                                      anfänge hinter sich, aber bei keinem Anlass gel-                                                                             rdient es nicht!
                                                           ten die Worte mit dem »Zauber« so wie beim An-
                                                                                                                                                                   Doch ach, schon
     40 Jahre im gleichen Unternehmen, man ist sei-        fang des sogenannten Ruhestandes. Was für ein                                                                             mit der Morgens
                                                                                                                                                                                                      onne
     nen Weg gegangen und hat auch einiges erreicht.       schreckliches Wort. Wer wird hier eigentlich ru-                                                        Verengt der Absc
                                                                                                                                                                                     hied mir das Herz
                                                                                                                                                                  In deinen Küssen                      :
     Am Ende ist man gar für acht Jahre Vorstands-         higgestellt? Man wird diesen Lebensabschnitt nur                                                                           welche Wonne!
     vorsitzender. Alles ist klar, die Nachfolgerin ist    genießen, wenn man weiter unruhig bleibt. Sich                                                         In deinem Auge
                                                                                                                                                                                  welcher Schmer
     da. Sie kann den Job. Also legt man sehr früh         vielen, vielleicht ganz neuen Aufgaben stellen.                                                                                          z!
                                                                                                                                                                 Ich ging, du stan
                                                                                                                                                                                   dst und sahst zu
     fest, wann man die Aufgabe übergeben wird.            Einbringen in das Ehrenamt. Oder wie wäre es, die                                                                                         r Erden
                                                                                                                                                                 Und sahst mir na
     Man hat viel Zeit, sich darauf einzustellen. Keine    Geschichten, die man seiner Tochter erzählt hat,                                                                         ch mit nassem Bl
                                                                                                                                                                 Und doch, welch                      ick:
     Überraschung. So geht es natürlich vielen. Man        in einem Buch aufzuschreiben? Habe ich mir tat-                                                                        Glück, geliebt zu
                                                                                                                                                                                                     werden!
     ist in der Verantwortung aufgegangen, aber jetzt      sächlich vorgenommen. Aber bisher ist es noch zu                                                      Und lieben, Götte
                                                                                                                                                                                   r, welch ein Glüc
                                                                                                                                                                                                    k!
     heißt es: abgeben – übergeben. Es gibt auch           unruhig; dazu bin ich noch nicht gekommen.
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
14                                           WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                          WILLKOMMEN UND ABSCHIED

                                                                                                                            Stufen
                                                                                                                                                  SE
                                                                                                                                           NN HES

                       MARTHAS
                                                                                                                             HERMA
                                                                                                                                                                                      nd
                                                                                                                                                                      d jede Juge
                                                                                                                                ie je d e B  lü te welkt un                            sstufe,
                                                                                                                              W                                       t jede Leben
                                                                                                                                          er  w  eicht, blüh
                                                                                                                                     A lt                                          de Tugend

                       NOVEMBER
                                                                                                                              Dem
                                                                                                                                               W  ei sh  ei  t  auch und je
                                                                                                                              Blüht jede                                   ht ewig dau
                                                                                                                                                                                           ern.
                                                                                                                                      re r  Z ei t u  nd darf nic
                                                                                                                               Zu ih                                             ebensrufe
                                                                                                                                             d a s H  er  z   bei jedem L
                                                                                                                               Es muss                                                        inne,
                                                                                                                                                                             und Neubeg
                                                                                                                                          zu  m   A b schied sein
                                                                                                                                Berei  t                                         ne Trau n  er
                                               DOROTHEA HEINRICH                                                                             in  T a  p fe  rkeit und oh
                                                                                                                                Um sich                                     n zu geben
                                                                                                                                                                                          .
                                                                                                                                          re  , n eu  e Bindunge                                  e,
                                                                                                                                 In a n d                                          Zauber inn
                                                                                                                                                     n fa   n g   wohnt ein
                                                                                                                                 Und jedem
                                                                                                                                                   A                                     ft zu leben.
     Der Platz neben Martha blieb leer. Ihre Freundin      Wie gerne hatten ihm die vielen Gäste, die sie in                                                    t  u n d  der uns hil
                                                                                                                                  Der uns bes
                                                                                                                                                    ch  ü  tz                                     schreiten,
     war kurzfristig an Grippe erkrankt und einen Er-      den Jahren ihrer Ehe stets beherbergt hatten, bei
                                                                                                                                                                    a u m   u m  R  aum durch
                                                                                                                                                   heiter R
     satz hatte sie so schnell nicht finden können. Es     seinem Klavierspiel zugehört. Oft hallte spät am                       Wir sollen                                 Heimat hän
                                                                                                                                                                                              gen,
                                                                                                                                             n em    w ie an einer                                 engen,
                                                                                                                                          ei                                       eln uns und
     war Martha jedoch nicht unrecht, konnte sie sich      Abend als Gutenachtgruß noch ein Abendlied                             An   k
                                                                                                                                                                   n  ic h t fe ss
                                                                                                                                                     st will
                                                                                                                                   Der Weltgei
     doch voll auf das Klavierkonzert konzentrieren        durch das Haus, und ganz leise ging die Tür des
                                                                                                                                                                                         , weiten.
     und musste sich zu keiner Pausenkonversation          Gästezimmers noch einmal auf und man lauschte.                                               tu   f´   u m    Stufe heben
                                                                                                                                                      S                                                ise
                                                                                                                                   Er will uns                                           Lebenskre
     über das Wetter oder sonstige unwichtige Dinge                                                                                                   w   ir   h  ei misch einem                         en;
                                                                                                                                    Kaum si      n d                                        t Ersch ff
                                                                                                                                                                                                     la
     zwingen. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach,        Die Tasten am heimischen Flügel blieben stumm.
                                                                                                                                                           ei n   ge  w  oh  nt, so droh
                                                                                                                                    Und traulich                                       t und Reise
                                                                                                                                                                                                      ,
                                                                                                                                                                      Aufbruch is
     während die Konzertbesucher nach der Pause zu-        Gustl hatte sie allein gelassen, sicher nicht ger-
                                                                                                                                                         ei  t  zu
     rück auf Ihre Plätze strömten. Sie blieb ungestört,   ne, doch die gesundheitlichen Probleme waren                             Nur wer        b er                                      entraff .en
                                                                                                                                                          d  er    G  ew  öhnung sich
                                                                                                                                     Mag lähmen                                                       unde
     da sie in der Mitte saß und die Leute von rechts      zuletzt stärker als er, ob sie es wahrhaben wollte                                                                         die Todesst
                                                                                                                                                     ie  ll ei ch   t  auch noch
     und links die Reihe auffüllten. Unter dem Applaus     oder nicht.                                                                Es wird      v                                            send ,
                                                                                                                                                                                                     en
     des Publikums betrat der berühmte Pianist erneut                                                                                                       ä  u  m   en  ju  ng entgegen
                                                                                                                                                         R                                           den,
                                                                                                                                      Uns neuen                                       niemals en
     die Bühne, verneigte sich kurz, setzte sich auf die   Das exzellente variable und einfühlsame Spiel                                                s   R  u  f a  n uns wird                          sunde!
                                                                                                                                       Des Leb     en                                       hied und ge
     Klavierbank und begann mit Effet zu spielen.          des Pianisten vorne auf der Bühne verursachte
                                                                                                                                                            n  , H   er z,  nimm Absc
                                                           Martha Schmerzen in der Brust und war gleichzei-                            Wohlan den
     Ihr Gustl konnte auch wunderbar Klavier spielen.      tig tröstlich. Wären es doch noch einmal Gustls
     Er beugte sich bei den zarten und leisen Passa-       Hände, die die Tasten streichelten und nur für sie
     gen nicht so zu den Tasten hinunter, wie dies sein    spielten. Plötzlich nahm sie seine Wärme wahr;
     berühmter Kollege gerade tat. Eher reckte er sich     sie schaute nach links und sah ihn. Er sprach
     noch weiter in die Höhe und blickte in einen ima-     nicht, sondern lächelte sie nur voller Liebe an. Sie
     ginären Himmel. Wie hatte sie seine stolze auf-       flüsterte ihm zu: „Ist das Konzert nicht wunder-
     rechte Haltung geliebt.                                      voll!?“ Zustimmend nickte er und lächelte       dete der Applaus auf. Manche Zuhörer um Martha                 nur, um gesehen zu werden oder sich über ande-
                                                                  noch immer. Er legte den Arm um sie und         herum schmunzelten und amüsierten sich, als sie                re Leute lustig zu machen. Na ja, irgendjemand
                                                                   sie lehnte ihren Kopf behutsam an seine        diese ältere Dame mit zur Seite geneigtem Kopf                 vom Personal würde sie schon wecken. Nach
                                                                    Schulter.                                     und einem feinen Lächeln im Gesicht schlafen sa-               der endgültig letzten Zugabe leerte sich der Saal
                                                    ds
                                         es Abschie                                                               hen. Andere mokierten sich kopfschüttelnd, dass                rasch. Ein Ordner, der gerade die Türen schließen
                b lü h t d ie Blume d                 ir
             o                              aub de w
                                                  n                Die Menschen standen auf, der Beifall          diese alte Frau doch besser zu Hause geblieben                 wollte, sah Martha immer noch auf ihrem Platz
     Irgendw                     t Blütenst
                     m  e r fo r                                   wollte nicht enden. Immer wieder ent-          und ins Bett gegangen wäre, wenn sie einem sol-                sitzen. Er ging auf sie zu und berührte sie sachte
               t im
     und streu                         uch noch
                                                 im
                    e rü ber, und a                                lockte das Publikum mit enthusiasti-           chen Konzert nicht mehr folgen könne.                          an der Schulter: »Junge Frau, Zeit zum Heimge-
         atm e n  h                           Abschied.
                    e n  W   in d  atmen wir                        schen Bravorufen dem Künstler noch                                                                           hen, das Konzert ist aus.« Doch da war Martha
                 st
      kommend                                                       eine Zugabe und noch eine, die dieser         Wahrscheinlich hatte sie von Kunst sowie keine                 schon längst gegangen.
                                   RILKE                             auch gerne gewährte. Und wieder bran-        Ahnung und ging in Konzerte oder ins Theater
                         R   MARIA
              RAINE
In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
16                                                   WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                          WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                     17
     Frauenkirchenpfarrer Sebastian Feydt,
     Geschäftsführer Stiftung Frauenkirche Dresden

                                                                                    VERABSCHIEDUNG
                                                                                    SEBASTIAN FEYDT
                                                                               Mit mutigem Herzen und wachem Verstand hat Sebastian Feydt
                                                                               als Frauenkirchenpfarrer und Geschäftsführer der Stiftung Frau-
                                                                               enkirche Dresden dreizehn Jahre lang zum Wohle vieler Menschen
                                                                               gewirkt. Er hat die wiederaufgebaute Kirche gefüllt mit Gottes
                                                                               Wort, Gebet und Impuls. Er hat die Türen geöffnet für Musik und
                                                                               Dialog, für Gäste aus nah und fern. Er hat Raum für Stille gegeben
                                                                               und deutliche Worte gefunden, die nach außen drangen. Men-
                                                                               schen unterschiedlichster Hintergründe haben Sebastian Feydt
                                                                               als ein offenes Gesicht der Frauenkirche erlebt, das frei denkt und
                                                                               für eine klare Botschaft eintritt. Er hat viele Sprachen verstanden
                                                                               und mit einer verständlichen Sprache geantwortet. Gäste haben
                                                                               durch Sebastian Feydt ein Stück Frauenkirche im Herzen mit nach
                                                                               Hause genommen – in alle Welt. So hat er die Frauenkirche als          Michael Kretschmer,
                                                                               einen zeitgemäßen, lebendigen Ort des Miteinanders, als ein of-        Ministerpräsident des
                                                                               fenes Gotteshaus in unserer Stadt und in unserem Lande geprägt.        Freistaates Sachsen
                                                                               Er hat »in Vielfalt geeint«, die Frauenkirche als ein europäisches
                                                                               Symbol für Frieden und Versöhnung mit Leben gefüllt.

                                                                               Anlässlich der Verabschiedung von Sebastian Feydt lud die Stiftung
                                                                               Frauenkirche Dresden am 6. Juli 2020 zu einer Veranstaltung mit
                                                                               »Reflexionen und Impulsen« unter Wahrung der Abstandsregeln ein.
                                                                               Ministerpräsident Michael Kretschmer und Stiftungsratsvorsitzen-
                                                                               der Joachim Hoof würdigten das vielseitige Wirken von Sebastian
                                                                               Feydt als Geschäftsführer. Artistic Director Daniel Hope, Frauenkir-
                                                                               chenorganist Samuel Kummer und Frauenkirchenkantor Matthias
                                                                               Grünert, der mit Mitgliedern des Kammerchores der Frauenkirche
                                                                               die Motette »Verbum Christi« uraufführte, setzten musikalische
                                                                               Akzente. Im Zentrum der Veranstaltung stand der im Folgenden
                                                                               abgedruckte Impulsvortrag von Prof. Dr. Hans Vorländer, der auf
                                                                               die Entwicklung und Rolle der Frauenkirche als Ort des Diskurses für   Joachim Hoof,
                                                                               die Stadt und die Gesellschaft einging. Als Pfarrer wurde Sebastian    Stiftungsratsvorsitzender
                                                                               Feydt, der als Superintendent nach Leipzig wechselt, im Rahmen         der Stiftung Frauenkirche
                                                                               eines Gottesdienstes am 19. Juli 2020 von Superintendent Christian     Dresden
                                                                               Behr aus dem Dienst an der Frauenkirche verabschiedet.
18                                                  WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                    WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                 19

                          DIE FRAUENKIRCHE ALS ORT DES                                                                 schon vor Corona, der politische Westen zeigte in-      macht werden. Wo die Stadt ihr städtebauliches
                                                                                                                       nere Schwächen und autoritäre und autokratische         Zentrum wiedergefunden hat, bleiben heute Zwei-
                         GESELLSCHAFTLICHEN DISKURSES –                                                                Anfälligkeiten. Die klimatischen Veränderungen          fel, ob die Öffnung der Stadt in die Welt gelungen
                            REFLEXIONEN UND IMPULSE                                                                    stellten unseren Lebensstil infrage. Die Digitali-
                                                                                                                       sierung barg und birgt Chancen, verändert aber
                                                                                                                                                                               ist. Aber diese Zweifel sind nicht mit der Arbeit der
                                                                                                                                                                               Frauenkirche verbunden, dazu war sie mit ihrer
                                                                                                                       die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Und         eindrücklichen Friedens- und Versöhnungsarbeit
                                                    PROF. DR. HANS VORLÄNDER                                           Dresden war Epizentrum von Erschütterungen ge-          sehr schnell zu einem Symbol internationaler Ver-
                                                                                                                       worden, die zwar auch mit den Transformationser-        ständigung geworden. Die Zweifel verbinden sich
                                                                                                                       fahrungen nach 1990 zu tun hatten, die sich aber        mit den Entwicklungen der letzten Jahre in der
                                                                                                                       vordringlich gegen die Zumutungen einer offe-           Stadt, im Land, aber auch in nahezu allen Gesell-
                                                                                                                       nen, durchlässigen Gesellschaft richteten, die sich     schaften Europas und darüber hinaus.
                                                                                                                       durch eine Vielfalt von Lebensstilen, Lebenslagen
                                                                                                                       und Herkünften auszeichnet. Das Bemühen, neue           Der Konfliktlinien gibt es viele: soziale, ökonomi-
                                                            Für einen Moment konnte es uns so vorkommen, als           Formen gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu             sche und politische. Eine entscheidende ist aber
                                                            habe die Corona-Pandemie alles verändert, eine radika-     finden oder gar erst einmal die Gesprächsfähigkeit      die der kulturellen Verunsicherung, die über die
                                                            le Entschleunigung bewirkt, die uns in der physischen      aufgebrachter Lager wiederherzustellen, musste          Art und Weise, wie wir leben wollen und wie unse-
                                                            Distanznahme eine neue soziale Nähe suchen ließ:           als Verlustanzeige einer in sich zerrissenen Gesell-    re Gesellschaft aussehen soll. Und das berührt die
                                                            »hope at home«. Auch schien auf einmal möglich zu          schaft gedeutet werden. Dresden stand und steht         Frauenkirche als Ort des gesellschaftlichen Diskur-
     PROF. HANS VORLÄNDER                                   sein, was vorher undenkbar war, dass sich nämlich alles    nicht alleine mit diesen Verwerfungen; hier aber        ses in besonderer Weise.
     Prof. Dr. Hans Vorländer ist Inhaber des               und dann auch sofort ändern ließe: unser Leben, un-        wurden sie wie in einem Brennglas sichtbar – und
     Lehrstuhls für Politische Theorie und                  sere Arbeit, unser Umgang mit der Natur. Auch die uns      das in unmittelbarer Nähe zur Frauenkirche. Und         Im Grunde war die Frauenkirche mit ihrer Wie-
     Ideengeschichte, Direktor des Mercator                 umtreibenden politischen und gesellschaftlichen Kon-       das war und ist nicht ohne Belang. Denn die Frauen-     deraufbauidee den beobachteten Entwicklungen
     Forum Migration und Demokratie sowie des               flikte schienen stillgestellt. Die Pandemie kam wie ein    kirche stand und steht für Frieden und Versöhnung.      voraus, was sie auch für die Herausforderungen
     Zentrums für Verfassungs- und Demokratie-              kollektiver Schicksalsschlag und konfrontierte uns mit     Die Frauenkirche inmitten der Verwerfungen als Ort      der Gegenwartskonflikte in besonderer Weise
     forschung an der TU Dresden. Außerdem ist              den existenziellen Fragen von Krankheit, von Leben und     des gesellschaftlichen Diskurses? Ein Ort der Sicher-   geeignet macht. Ihr mit der Weihe im Jahre 2005
     er Mitglied zahlreicher nationaler und                 Tod. Die Schockstarre, das Nicht-Wissen über das Virus,    heit oder zumindest Vergewisserung in einer Welt        zugedachter Auftrag, ein zugleich geistliches und
     internationaler Kommissionen, Beiräte und              die Dramatik der Störung unserer Routinen, die Erfah-      der Verunsicherung und Ungewissheit, der gesell-        geistiges Zentrum zu sein, befähigte sie ab origine,
     Gremien. Er ist Mitglied des Sachverständi-            rung der Zerbrechlichkeit unserer an Selbstentfaltung,     schaftlichen Herausforderungen und Umbrüche?            ganz nah am Puls der Zeit zu sein, Strömungen
     genrats deutscher Stiftungen für Integration           auch Selbstoptimierung orientierten Lebensstile ließ                                                               der Zeit aufzunehmen, sie zu thematisieren und
     und Migration. Zuletzt wurde er in die                 uns die Welt vor der Pandemie als eine Welt der Sicher-    Der Wiederaufbau der Frauenkirche war von vorn-         zu reflektieren und dort, wo es nötig war, sich ihr
     Fachkommission der Bundesregierung zu                  heit und als eine Welt von gestern erscheinen – ganz so,   herein mit der Idee verbunden, ein Ort des Erin-        auch mit klarer Haltung entgegenzustellen. Eine
     den Rahmenbedingungen der Integrations-                wie Stefan Zweig die Schüsse von Sarajewo und den Be-      nerns, der Versöhnung und des Friedens sein zu          der ersten Diskussionen über das, was auf den
     fähigkeit berufen. Zu seinen Arbeitsberei-             ginn des Ersten Weltkriegs als Epochenbruch zur geord-     wollen. Die Steine, so befand Hans-Jochen Vogel,        Plätzen Dresdens vor sich ging, fand hier zu Beginn
     chen zählen Politische Theorie, Ideenge-               net erscheinenden Welt Wiens und Europas in seinen         reden für alle, die zu hören verstehen: »Wer nach       des Jahres 2015 in der Frauenkirche statt. Und als
     schichte, Konstitutionalismus und                      »Erinnerungen eines Europäers« beschrieben hatte.          dem Sinn menschlichen Daseins, wer nach Orien-          die Frauenkirche als Kulisse auf einer Bühne men-
     Verfassung, Demokratie, Liberalismus,                                                                             tierung über den Tag hinaus fragt – hier kann er        schenverachtender und von Hetze und Hassrede
     Populismus sowie Migration. Prof. Vorländer            Aber die Welt der Sicherheit war schon vor Corona          Antworten finden.« Frieden und Versöhnung wa-           geprägten Demonstrationen missbraucht zu wer-
     hat die durch Sebastian Feydt maßgeblich               brüchig geworden. Der Aufbruch von 1989/90, der viel-      ren nach außen und nach innen gerichtet. Frieden
     vorangebrachte Diskussionsreihe »Forum                 fach mit der Annahme immerwährender Prosperität,           und Versöhnung in der Welt, aber auch Frieden
     Frauenkirche« mitbegründet und inhaltlich              grenzenloser Freiheit und stabiler Demokratie verbun-      und Versöhnung der Dresdnerinnen und Dresdner
     eng begleitet.                                         den war, war längst einem Gefühl zunehmender Unge-         mit ihrer Stadt. Die Wunde der Zerstörung sollte
                                                            wissheit gewichen. Die Globalisierung kannte zwar viele    mit der Rekonstruktion des städtischen Zentrums
                                                            Gewinner, aber ließ auch alte und neue Ungleichheiten      geheilt werden. Mit der Heilung sollte ein Neuan-
                                                            erkennen. Die geopolitischen Kräfte verschoben sich        fang für die Stadt und ihre Öffnung in die Welt ge-
20                                           WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                          WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                               21

     den drohte, machte sie das Licht aus und begeg-         der auch die Dresdner Stadtgesellschaft spaltet,        und Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
     nete dem Geschrei vor ihren Türen mit der treffen-      hineingezogen. Aber es ist ihr Auftrag, sich zu be-     tern der Stiftung neben den geistlichen und mu-
     den Seligpreisung: »Selig sind die Frieden stiften«.    kennen – nicht nur in geistlichen, auch in weltli-      sikalischen Veranstaltungen rund 10 öffentliche
     Das war mutig, auch keineswegs unumstritten in          chen Dingen, und dies vor allem dann, wenn es           Vortrags-, Podiums und Diskussionsveranstaltun-
     ihren Reihen, wie man vernehmen konnte. Aber es         um den Kern einer auf die Achtung und Wahrung           gen zu organisieren; und, on top sozusagen, das
     war ein sichtbares, ein starkes Zeichen.                der Würde des Menschen bezogenen freiheitlichen         ehrgeizige Vorhaben, dem Friedens- und Versöh-
                                                             Ordnung geht.                                           nungsauftrag mit den Reden von Trägern des Frie-
     Anders hätte die Frauenkirche auch nicht han-                                                                   densnobelpreises einen würdevollen Höhepunkt
     deln dürfen, wenn sie ihren Friedens- und Versöh-       Das wiederum heißt ja nicht, dass sich die Frauen-      zu setzen. Das ist eine herausragende Leistung,
     nungsauftrag nicht verleugnen und das gewonne-          kirche als Ort des gesellschaftlichen Diskurses in      bisweilen viel zu wenig gewürdigt. Aber auch die
     ne symbolische Kapital, das sie für Verständigung       jeder politischen Frage positionieren muss oder         dem Protestantismus eigene und im Grunde auch
     einzusetzen angetreten war, nicht hätte verspielen      sollte. Das sollte sie als Ort des gesellschaftlichen   sympathische Form der demütigen Bescheiden-
     wollen – zumal sie, mahnend und erinnernd nicht         Diskurses um ihrer Glaubwürdigkeit und Modera-          heit lässt es an dieser Stelle zu, dies einmal deut-
     nur ihrer Zerstörung , sondern auch ihrer eigenen       torenrolle willen auch gar nicht tun. Da kommt der      lich herauszustellen.
     Verstrickung im Deutschchristentum während des          Frauenkirche eine andere Aufgabe zu. Als Bürger-
     Nationalsozialismus, ein Ort sein will, der die »Fra-   und Stadtkirche, die sie ist, muss sie sich als ein     Die für viele Veranstaltungen gefundene Bezeich-
     ge nach der Verführbarkeit und Anfälligkeit des         Ort des Dialogs erweisen. Und das ist ihr in den        nung eines »Forums Frauenkirche« hat deutlich
     Menschen für lebensfeindliche Ideologien« stellt.       ersten 15 Jahren ja auch bestens gelungen. Das ist      werden lassen, dass sich die Frauenkirche als ein
     So wurde die Frauenkirche freilich auch, das kann       auch und ganz besonders das Verdienst von Se-           offener Raum des Austausches, der Kommunika-
     nicht übersehen werden, selber in den Konflikt,         bastian Feydt, seinem Gespür für Themen, seiner         tion, auch des Streites über unterschiedliche po-
                                                             Sensibilität für Konfliktlagen, seiner Souveränität     litische Positionen und gesellschaftliche Problem-
                                                             der Programmgestaltung, auch seinem Wissen um           wahrnehmungen versteht. Sie ist ein öffentlicher
                                                             die Gesetze medialer Aufmerksamkeit und seinem          Ort, ein Ort des gesellschaftlichen Diskurses – ganz
                                                             nie versiegenden Interesse an neuen Fragestellun-       so, wie es in der griechischen Polisdemokratie die       dessen, was auch mit Bürgerstolz, dem mit der
                                                             gen (zuletzt im Bereich von Künstlicher Intelligenz     Agora oder in der römischen Republik das Forum           eigenen Stadt identifizierten Patriotismus, verbun-
                                                             und ihren moralischen und ethischen Implikatio-         gewesen ist. Ganz ohne Frage ist eine Stadtgesell-       den werden konnte. Das ist auch Erinnerung an
      Prof. Dr. Hans Vorländer                               nen). Pro Jahr vermochte er mit den Kolleginnen         schaft, die mehr ist als eine eigennutzmaximieren-       eine große humanistische Tradition in Europa und
                                                                                                                     de Anhäufung von Individuen und Gruppen, auf             Möglichkeit der Vergewisserung für die zerrissenen
                                                                                                                     solch einen Ort des Austausches, des harten Rin-         Gesellschaften der Gegenwart.
                                                                                                                     gens um Perspektiven des Gemeinwohls und des
                                                                                                                     Gemeinsinns konstitutiv angewiesen. Entschei-            Die Frauenkirche ist – man muss es eigentlich gar
                                                                                                                     dungen werden in Parlamenten und in Regierun-            nicht aussprechen, so selbstverständlich erscheint
                                                                                                                     gen gefällt, die Fundamente für gesellschaftlichen       es uns – ein ganz besonderer Raum. Er ist, zualler-
                                                                                                                     Zusammenhalt aber werden an anderer Stelle               erst gewiss, ein sakraler Raum, der Überlieferung
                                                                                                                     gelegt. Die Tugenden von Glaube, Liebe, Hoff-            und Erneuerung der christlichen Botschaft ge-
                                                                                                                     nung und Barmherzigkeit, wie sie in der Kuppel           weiht. Seine Sakralität geht aber darüber hinaus:
                                                                                                                     der Frauenkirche so wunderbar und eindrücklich           Der Raum prägt, wie wir uns begegnen, er lässt
                                                                                                                     repräsentiert sind, sind nicht allein christlichen Ur-   uns innehalten, wir hören in uns hinein, der Raum
                                                                                                                     sprungs, und sie wirkten auch weitdarüber hinaus.        strahlt aus. Und wenn Sie Augen- und Ohrenzeu-
                                                                                                                     Sie galten in der Antike und in den Zeiten des obe-      ge einer der vielen Diskussionsveranstaltungen in
                                                                                                                     ritalienischen Stadtrepublikanimus in der frühen         dieser Kirche waren, dann haben Sie bestimmt
                                                                                                                     Neuzeit als Schlüsseltugenden einer aktiven und          immer wieder beobachtet, dass Rednerinnen und
                                                                                                                     durch concordia und iustitia, also Eintracht und         Redner in der Frauenkirche anders sprechen, als
                                                                                                                     Gerechtigkeit, geeinten Bürgerschaft – Grundlage         wenn sie im Parlament ihre Kolleginnen und Kol-
22                                           WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                                                                      WILLKOMMEN UND ABSCHIED                                              23

                                                            Netzwelt und in den rauen Auseinandersetzungen        se Welt der Ligaturen aber ist sehr löchrig, sehr      Grundlagen unseres Miteinanders gesucht wer-
                                                            auf Plätzen und Straßen und in manch anderen          fragil geworden, der Sinn der Individuen für das       den und auch gelingen kann. Indem die Frauen-
                                                            politischen Arenen der Diffamierung und Beschä-       Gemeinsame und der gemeinsame Sinn der Indi-           kirche die Konfliktlagen und die großen Themen
                                                            mung verloren gegangen ist: die Zivilisierung un-     viduen sind in einer von Pluralität und Vielfalt der   unserer Gegenwartsgesellschaften aufgreift, die
                                                            seres Konfliktaustrags, das Wiederaneignen einer      Lebensvorstellungen, Lebensstile und Lebens-           unterschiedlichen Sichtweisen und Handlungs-
                                                            demokratischen Streitkultur.                          lagen geprägten Gesellschaft Gegenstand von            optionen reflektiert, kann sie zu einem Zentrum
     legen adressieren – ganz zu schweigen von Spre-                                                              steter Aushandlung und reibungsvoller Verstän-         der innergesellschaftlichen Verständigung wer-
     chern und Sprecherinnen, wenn sie Massen auf           Nun mag das noch nicht wirklich befriedigend          digung geworden. Nichts versteht sich mehr von         den, wie wir in Zukunft leben wollen. Das ist kei-
     dem Theaterplatz oder dem Neu- oder Altmarkt           sein, wenn nach der Frauenkirche als Ort des          selbst, alles ist begründungsbedürftig geworden.       neswegs nur auf die Dresdner Stadtgesellschaft
     aufpeitschen. Und auch, da bin ich sicher, der so      gesellschaftlichen Diskurses gefragt wird. Eine       Das macht das Geschäft der Sinnproduzenten so          zu beziehen, nein: an der Nahtstelle zwischen
     heftige wie symptomatische, zugleich lehr- und         Kirche, die »Seele der Stadt« sein will, möchte       schwierig – aber auch so leicht. Nicht umsonst         Nord- und Süd-, West- und Ostmitteleuropa
     aufschlussreiche Disput, den sich Uwe Tellkamp         ja auch das geben, was allerorten gesucht wird:       blühen die Verschwörungstheorien, die Ordnung          könnte die Frauenkirche hier, stärker vielleicht
     und Durs Grünbein im Kulturpalast geliefert haben      Vergewisserung in einem Meer der Unsicherheit.        in unübersichtlichem Gelände suggerieren, und          noch als bislang, wichtige Dienste für ein sich neu
     und der als Dichterstreit in die Annalen nicht nur     Aber das ist in diesen Zeiten nicht so einfach.       reüssieren politische Unternehmer, die einfache        findendes Europa leisten. Und was schon im Rah-
     von Youtube eingegangen ist – er glich, je länger er   Wer in seinem religiösen Glauben gefestigt ist,       Antworten auf komplexe Problemlagen verspre-           men der Friedensarbeit begonnen wurde, könnte
     anhielt, fast einem diskursiven Gemetzel, er hätte     wird die entscheidende Antwort kennen, die Halt       chen. Gefestigte Orientierung und resilienter Sinn     die Zukunft der Frauenkirche als Ort des gesell-
     so nicht in der Frauenkirche stattfinden können.       und Wegweisung gibt. Er oder sie wird auch zwi-       sind knappe Ressourcen geworden. Die Arenen            schaftlichen Diskurses noch stärker bestimmen:
     Die Frauenkirche kalmiert. Erregungs- und Empö-        schen den letzten und den vorletzten Fragen zu        für die Suche nach Sinn und Orientierung verla-        Es muss ein Ort des Austausches über die Fragen
     rungsrituale sind ihr fremd.                           unterscheiden wissen und politischen und gesell-      gern sich an andere Orte: in Clubs, in das Fitness-    und Probleme werden, die junge Menschen be-
                                                            schaftlichen Entscheidungsträgern nicht die Last      zentrum, nach Instagram, ins Fußballstadion und        wegen. Sie verlangen nach Antworten, sie fordern
     Die Rahmung für Konflikt und Streit ist eine ganz      der allumfassenden Sinngebung des Lebens und          auch zu Demonstrationen, alles zum Teil mit ho-        Lösungen ein. Sie sind die Entscheider von mor-
     andere, die Aura der Steine, des Altars, der Ge-       seiner existenziellen Herausforderungen, wie sie in   hem Event- und auch Erlebnisfaktor.                    gen, sie suchen heute Sinn und Orientierung für
     schichte des Gebäudes macht den Diskurs zu             der Corona-Pandemie so plötzlich in unser Leben                                                              ihr Handeln. Die Frauenkirche ist der Resonanz-
     etwas anderem, einem reflexiven, rationaleren,         traten, aufbürden. Wer im christlichen Glauben        Was kann hier die Frauenkirche als Ort des gesell-     raum, in dem dies alles möglich ist, ein offener
     ruhigeren Gespräch, das, so zumindest überwie-         verwurzelt ist, der weiß um die Vorläufigkeit und     schaftlichen Diskurses leisten? Sinn stiften, Ori-     Ort des Diskurses für eine offene Gesellschaft.
     gend, von Respekt und Anerkennung der unter-           Irrtumsmöglichkeit menschlichen Tuns. Und doch        entierung geben, Gemeinschaft rekonstruieren?
     schiedlichen Standpunkte getragen ist. Der Raum        hat mit den Traditionsabbrüchen und auch kirch-       Ja vielleicht, aber gewiss ist es nicht. Aber das
     der Frauenkirche stellt die zivilen Minima her, die    lichem Mitgliederschwund eine Überwälzung gro-        Entscheidende ist wohl, dass die Frauenkirche
     Voraussetzung eines streitigen demokratischen          ßer Fragen, von Schicksalsfragen, der Fragen nach     mit ihrem Auftrag und ihrem Raum ein Ort der
     und gesellschaftlichen Diskurses sind und deren        dem Woher und dem Wohin, auch auf den Bereich         Gelegenheit ist, an dem Verständigung über die
     Verlust wir zunehmend beklagen. Menschen ver-          der Politik stattgefunden.
     lassen die Frauenkirche anders, als sie sie betreten
     haben. Und das gilt nicht nur für das geistliche       Gewissermaßen ist es ein Signum der Moderne,
     Gespräch, für Andacht und Gottesdienst, nicht          Transzendenzfragen ins Diesseits zu verlagern
     nur für die Menschen, die, als Touristen oder Ge-      und die Bewältigung von Unverfügbarkeiten wie
     legenheitsbesucher, das Erlebnis epiphanischer         Geburt, Krankheit und Tod dem Fortschritt der
     Überwältigung erfahren. Es gilt eben auch für die      Wissenschaft und der Sinnerfüllung durch die po-
     Frauenkriche als Ort des gesellschaftlichen Dis-       litische Welt zu überantworten. Das war vielleicht
     kurses. Warum sollten wir die Frauenkirche nicht       noch anders, als der Bereich des Intermediären,
     als einen geschützten Raum, ein Sanctuarium des        der Bereich zwischen Staat und dem Einzelnen,
     offen und streitig geführten gesellschaftlichen Dis-   also der Bereich der Gemeinschaften, Vereine,
     kurses begreifen, der uns wieder das, und zwar von     der Gewerkschaften und der Kirchen, noch Bin-
     Angesicht zu Angesicht, zeigt und lehrt, was in den    dekräfte erzeugte, die zugleich kollektiven Sinn
     Echokammern und Filterblasen der anonymen              und individuelle Orientierung ermöglichten. Die-
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