In der - WILLKOMMEN UND ABSCHIED - Frauenkirche Dresden
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in der DEZ 2020 SEP WILLKOMMEN UND MUSIK ABSCHIED GEISTLICHES LEBEN Wie musizieren in Zwischen Zerrissenheit und der »Weicht, ihr Zeiten von Corona? Aussicht auf ein Wiedersehen Trauergeister...«
1 INHALT 01 GELEIT F R IED ENSB OTSCH A FT LIEBE GÄSTE UND FREUNDE DER 47 Umkehr zum Frieden FRAUENKIRCHE, AUS AKTU ELLEM A NLASS 49 Friedenswege »Du gingst, ich stund und sah zur Erden 03 Lebenswandel Und sah dir nach mit nassem Blick. 06 Digitales Brückenbauen Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, K IR CH ENFÜH R UNG Und lieben, Götter, welch ein Glück!« LEITTHEMA – 51 Willkommen und Abschied WILL KOMMEN U N D ABS C H I E D 52 Die Flammen der Versöhnung Den lyrisch Bewanderten sind diese Ge- ferenten für Friedens- und Versöhnungsar- 09 Willkommen und Abschied dichtzeilen vertraut. Bekannter ist der Ti- beit rollt her aus Berlin. tel dieser Goethe-Dichtung: »Willkommen 14 Marthas November FOR UM und Abschied«. Willkommen und Abschied – Maria wird in 16 Verabschiedung Sebastian Feydt 55 Wer Schlösser und Kirchen baut, dieses adventliche Wechselbad gestürzt, 18 Die Frauenkirche als Ort des kann auch Synagogen bauen! Amüsiert lese ich, das Gedicht erschien als ein Engel ins Haus tritt: »Sei gegrüßt, du gesellschaftlichen Diskurses – 56 10 Jahre nach dem 3. Oktober 2010: erstmals in der »Damenzeitschrift Iris«, ver- Begnadete! Der Herr ist mit dir«, spricht er Reflexionen und Impulse Immer noch zu früh? mutlich die »Bild der Frau« des Barock. Und zu ihr, als sei sein Erscheinen das Normals- 57 Der Staat und die Pluralisierung jetzt, 245 Jahre später, wird der Titel die- te der Welt – vielleicht etwas keck, vielleicht ses Liebesgedichts Thema des Frauenkir- selbst so froh über diesen außergewöhnli- GEISTLIC HES LEB E N unserer Gesellschaft chenmagazins. Versteckte Kontinuitäten? chen Botenflug, dass er ganz und gar das 25 »Weicht, ihr Trauergeister« 59 Morals & Machines Einseitigkeiten? Nein. Willkommen und engels-obligatorische »Fürchte dich nicht!« 28 Landesbischof Dr. Hempel zum Gedenken Abschied, das damit einhergehende Wech- vergisst. Als er Marias erschrockenen Blick 30 Neues Leben berührt 60 L ESER B R IEFE selbad der Gefühle, die widersprüchlichen sieht, fällt es ihm wieder ein; er schiebt es 31 Taufen und Trauungen Gedanken – kein reines Frauenthema. Nie rasch nach. Und fügt an: »Siehe, du wirst 62 FÖR D ER GESEL LSCH A FT gewesen. Auch kein exklusives Frauen- schwanger werden.« – Mann, wo hat der KIRCHENthema. Wenngleich Goethes In- denn Seelsorge gelernt? Das halbe Kind M USIK spiration zu »Willkommen und Abschied« mit so einer Nachricht aufbauen zu wollen! 33 Herz, nimm Abschied und gesunde! 65 KA L END ER den Sympathien für eine Pfarrerstochter Doch es wurde ja wahr: eine von Gott be- 36 Ob der CHORona-Zeit entsprang... Doch Ankommen und Wegge- gleitete und begnadete Frau, die liebend 38 »Phoenix der Musik« 96 SERVICE · KONTA KT · IMPR ESSUM hen, Beginnen und Aufhören, Anfang und und geliebt ihren Weg ging. Maria, die 39 Nachtschwärmen für Kinder Schluss durchpulsen jedes Leben und prä- unserer Kirche ihren Namen gab, möchte 97 SITZ PLA N gen jeden Ort. In ihrer Gegensätzlichkeit, ich ausnahmsweise Goethes Worte in den wiewohl Unzertrennlichkeit schreiben sie Mund legen, auf dass sie sie uns in unge- ENGAGEMEN T Geschichte, schreiben sich ins Leben ein, wissen Zeiten zuspricht: 41 Wie ein Sitzplatz zum Gedenkort wurde sind Bio-Graphie. Werden Staunen, wer- »Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, 42 Das Leben des Menschen ist endlich den Dank: »Welch ein Glück!« Doch tausendfacher war mein Mut.« BAUW ER K So scheidet das alte und kommt das neue Herzlich, 45 Baurinnen-Begehung und Jahr. Ein Menschenleben geht zu Ende, Ihre und wir Christen bergen uns in der Hoff- Bauwerksbeobachtung nung, dass es neu werde bei Gott. Waffen verstummen – und werden Stimme als Friedensglocke. Der Umzugswagen des Frauenkirchenpfarrerin Pfarrers rollt fort nach Leipzig, der des Re- Angelika Behnke
2 AUS AKTUELLEM ANLASS AUS AKTUELLEM ANLASS 3 LEBENS- WANDEL LEBEN IN ZEITEN VON CORONA – AUS AKTUELLEM EIN BERICHT AUS DER FRAUENKIRCHE MARIA NOTH ANLASS Rechts und links schauen Engelskopffragmente Nicht nur Menschen sind verletzbar. In den letzten von den vorderen Säulen auf den Altarplatz der Wochen wurde deutlich, dass auch das organisa- Frauenkirche hinab. Ihre geschundenen Gesichter torische Gerüst der Stiftung Frauenkirche Dresden stehen im Kontrast zu den vielen weiteren, rekons- eine derartige Krise nur schwer trägt. Schließlich truierten Engelsköpfen, die in der gesamten Kirche ist die Stiftung auf Teilhabe ausgerichtet. Wenn auf die Präsenz Gottes verweisen. Die Verwund- keine Menschen in die Kirche kommen, bricht barkeit des menschlichen Lebens wird förmlich nicht nur das aktive Miteinander, sondern auch ein greifbar. Und auch die Referenz auf Gottes Gegen- großer Teil der Einnahmen weg: Spenden in den wart scheint nicht ungebrochen zu sein. Zeiten der Offenen Kirche, Kollekten, Einnahmen aus dem Kuppelaufstieg und aus Konzerten. Da In den letzten Wochen und Monaten wurde uns wir uns als gemeinnützige Stiftung finanziell wei- allen – auch und gerade hier in der Frauenkirche – testgehend selbst tragen, sind wir auf diese Ein- die Fragilität unseres Lebens und des miteinan- nahmen angewiesen. Ein Großteil der Kosten, zum der Lebens vor Augen geführt. Dinge, die wir als Beispiel für den Bauerhalt, läuft ja weiter. selbstverständlich erachteten, waren mit einem Mal in Frage gestellt. Acht Wochen lang war unsere Und auch für das Team der Stiftung galten von ei- »Offene Kirche« geschlossen. Ein Widerspruch in nem Tag auf den anderen neue Arbeitsabläufe, ein sich! Die Art, wie wir Gemeinschaft leben, wie wir anderer Alltag: Für manche Kolleg*innen, gerade einladen und uns austauschen, war außer Kraft ge- für diejenigen, die Ansprechpartner*innen für un- setzt. Gottesdienste, Andachten und Musik wichen sere große überregionale Gemeinde und für Gäste auf digitale Kanäle aus. Die Türen der Frauenkir- der Frauenkirche sind, war die Arbeitsgrundlage che wurden so zumindest symbolisch geöffnet. förmlich weggebrochen. Der Arbeitsort nicht mehr Dafür brauchte es ad hoc neue Kompetenzen: Wie zugänglich. Andere arbeiteten ganz oder teilwei- produziert man für Web und Social Media? Wie se von zu Hause aus und betreuten parallel ihre spricht oder musiziert man für eine Gemeinschaft, Kinder. Die wöchentliche Teambesprechung fand die nicht unmittelbar präsent ist? Wie bleiben wir ausschließlich per Telefon statt: Eine Herausforde- im Gespräch miteinander, wenn wir uns nicht se- rung mit ca. 20 Teilnehmer*innen, die nur nach- hen können? Wie vermitteln wir Zuversicht, wenn einander sprechen und nicht wie sonst spontan wir uns selbst schwach fühlen? aufeinander reagieren konnten. Dabei war gerade
4 AUS AKTUELLEM ANLASS AUS AKTUELLEM ANLASS 5 jetzt Gesprächsbedarf da! Manches Nebenge- räusch musste ignoriert und mancher technische Sichtbares und Unsichtbares, Rekonstruiertes und Fragmentarisches: Scheinbare Gegensätze So sind wir sehr dankbar für alle Unterstützung und Solidarität, die wir in der Frauenkirche in den letzten »Dass wir gerade Trick probiert werden. Nicht zu vergessen sind die vielen Ehrenamtlichen der Frauenkirche: Die Chor- verzahnen sich an vielen Stellen. Gegensätze, die sich nur im Neben- und Miteinander definieren. Wochen erfahren haben: für das Verständnis, wenn der gewohnte Sitzplatz nicht zu Verfügung steht, jetzt eine feste sänger*innen, Kirchenführer*innen, Einlasshel- Die sich gegenseitig bedingen. wenn wir beim Singen im Gottesdienst darum bit- Haltung entwickeln fer*innen, Lektor*innen, Seelsorger*innen, die zu ten, eine Mund-Nasenbedeckung zu tragen, wenn unserem Team gehören und ohne die eine Offene Wenn wir einmal mehr das Hygienekonzept für das Konzertprogramm und die Besetzung kurzfris- können, die das Kirche von vielen für viele nicht denkbar wäre. Die- Gottesdienste und Veranstaltungen in der Kirche tig geändert werden müssen, wenn langfristig ge- jenigen, die sonst ihre Zeit und Kraft spenden. Eine überarbeiten, wenn wir abwägen, wie wir Konzer- plante Führungen nicht umgesetzt werden können, Leben in seiner Spende nicht geben zu können, bedeutet auch eine persönliche Einschränkung. te realisieren können, auch wenn sie aufgrund der deutlich reduzierten Kapazität wirtschaftlich wenn am Einlass zur Offenen Kirche oder zum Kup- pelaufstieg Geduld gefragt ist, wenn die Anzahl der Verletzbarkeit und Waren wir in den Wochen der Schließung gewis- eigentlich nicht tragbar sind, wenn Kolleg*in- nen, die sonst in der Verwaltung der Stiftung Chorsänger*innen begrenzt ist und alle auf Abstand singen, wenn die Ehrenamtlichen Gäste statt Mitwir- seinen Unsicher- sermaßen auf uns selbst zurückgeworfen, stellt sich jetzt in der Zeit, da wir die Frauenkirche arbeiten, in die Kirche kommen, um bei Einlass und Platzierung zu helfen, finden wir uns in einer kende sind. Wir sind dankbar für die Spenden, die uns trotz persönlicher Ungewissheit erreichen, und heiten wertschätzt wieder öffnen können, die Frage danach, wie ein ungewohnten, einer bewegten und bewegenden für die ungebrochene Unterstützung durch die Ge- und schützt und verantwortungsvolles Miteinander in unserem Situation. Wir agieren viel kurzfristiger als sonst, sellschaft zur Förderung der Frauenkirche Dresden Gotteshaus aussehen kann. Gerade hier, an die- probieren aus und modifizieren, wir brechen aus e. V. und durch unsere Partner und Förderer und für gestalten hilft.« sem Ort, an dem wir dem Leben und seiner Un- den gewohnten Strukturen aus und lassen uns das wunderbare Team in der Stiftung, das so man- eindeutigkeit mit seiner sich stets bewegenden auf ein flexibles, neues Miteinander ein. Dabei che kurzfristige Entscheidung mitdenkt, mitträgt und Bedeutungsvielfalt besonders nah kommen: leiten uns in der wiederaufgebauten Frauenkir- umsetzt. Und vor allem sind wir froh über viele Be- vom dunklen trichterartig in die Tiefe reichenden che die Demut und Achtsamkeit vor dem Leben sucher*innen, die unserer Einladung in die wieder Anish Kapoor-Altar in der Unterkirche bis hinauf jedes einzelnen Menschen. Denn das Gotteshaus offene Frauenkirche folgen und mit aller Achtsamkeit zur Kuppel, deren farbenprächtige Gemälde, da- steht wie kaum ein anderes für die Vulnerabi- den Wert des Lebens, die Stärke des menschlichen runter die christlichen Tugenden, sich schützend lität des Lebens, aber auch für die große Stärke Miteinanders und die Zuversicht, die diesem Kirch- über die Gemeinde spannen. Tiefe und Höhe, menschlichen Wirkens im Vertrauen auf Gott und bau innewohnt und die aus dem christlichen Glau- im Vertrauen auf eine Gemeinschaft. Dies ist eine ben erwächst, erspüren. klare Haltung in einer Zeit, die uns mit den grund- legenden Ungewissheiten unserer Gesellschaft Den Blick auf die Vulnerabilität des eigenen Lebens, konfrontiert. Die Pandemie zeigt uns, dass wir die aber vor allem auch auf das der anderen gerichtet »So sind wir sehr Fähigkeit brauchen, mit Uneindeutigkeiten, mit zu halten, sollte uns in der Frauenkirche ein Anliegen Wandel und Widerspruch umzugehen. Und zwar sein. Das ist die Haltung, mit der wir die Botschaft von dankbar für alle nicht nur jetzt. Die Pandemie, von der wir vieles Frieden und Versöhnung in die Welt tragen. Diese Bot- Unterstützung und noch nicht wissen und über die wir gleichzeitig so viel Verschiedenes hören, macht aber auch deut- schaft ist nicht in Stein gemeißelt, sondern beinhaltet eine immer wieder neue Suche nach konkreten For- Solidarität, die wir lich, dass wir eine Urteilskraft brauchen, die sich nicht auf sich selbst bezieht, sondern sich immer men des achtsamen und würdevollen menschlichen Miteinanders im Hier und Jetzt. In diesem Sinne ist in der Frauenkirche wieder an den Perspektiven anderer Menschen reflektiert. Dass wir gerade jetzt eine feste Hal- Gottes Gegenwart nicht gebrochen, sondern so viel- fältig und wandelbar wie das Leben selbst – hier in der in den letzten Wochen tung entwickeln können, die das Leben in seiner Frauenkirche und in unserem Alltag. MARIA NOTH Verletzbarkeit und seinen Unsicherheiten wert- Geschäftsführerin erfahren haben.« schätzt und schützt und gestalten hilft. Stiftung Frauenkirche Dresden
6 AUS AKTUELLEM ANLASS AUS AKTUELLEM ANLASS 7 DIGITALES BRÜCKENBAUEN GRIT JANDURA »Wir lassen einander nicht aus dem Herzen«, ver- sprach Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke Mitte März. Dabei stand sie nicht in der Kanzel und predig- te vor einer großen Gemeinde, sondern richtete ihre Worte in eine Kamera. Ihre Zuhörer musste sie sich Die Resonanz war überwältigend. Sie ist auch nur teil- vorstellen, denn die Kirche war leer. Der Shutdown weise in Zahlen zu fassen. Allein auf Youtube wurden hatte das Leben in der Frauenkirche zum Stillstand binnen fünf Monaten 265.000 Videoaufrufe und weit gebracht. Nicht aber den Wunsch nach ihrer auf- über 14.000 Stunden (das entspricht der Zeit von 1,6 richtenden Botschaft – wie diese aber zu den Men- Jahren) Wiedergabezeit registriert. Zehntausende schen bringen, die durch Ausgangsbeschränkungen schauten die Konzerte von Kantor Grünert und Orga- und Kontaktverbot an ihr Zuhause gebunden waren? nist Kummer. Fast 60.000 erlebten die Gottesdiens- te am Gründonnerstag, Ostersonntag und Sonntag Dafür galt es die Vorzüge des Internets und der sozi- Kantate – wären es Besucher, man hätte die Kirche alen Medien zu nutzen. Das war für alle Beteiligten 35 Mal füllen können. Fast 2.000 Abonnenten hat der Neuland. Natürlich ist die Frauenkirche mit me- Youtube-Kanal inzwischen, nachdem es zu Beginn dialer Kommunikation nicht gänzlich unerfahren. 100 waren. In den Kommentaren erreichten uns Zeilen Dank vieler Partner erreichen Gottesdienstübertra- voller Begeisterung und Dankbarkeit aus allen Teilen gungen, Konzertaufzeichnungen und Mitschnitte Deutschlands, aber auch aus den Niederlanden, aus von Podiumsdiskussionen seit Jahren ein interes- Norwegen, Italien, Frankreich und sogar aus Austra- siertes Publikum. Diese Situation war aber anders: lien und Brasilien. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Alles musste in Echtzeit und Eigenregie auf die Bei- Gemeinde der Frauenkirche eine weltumspannende ne gestellt werden. Es brauchte flinkes Handeln, ist. Eine großherzige noch dazu: Denn die Bitte nach Zuversicht bei Widrigkeiten und den Mut zur Imper- Spenden wurde gehört. Vielen Dank auch hierfür. fektion. So gelang es, dass bereits am zweiten Tag nach der Komplettschließung der Kirche der erste Als »offenes Haus Gottes und der Menschen« wurde Social Media-Clip mit Pfarrerin Behnke bei Youtube, die Frauenkirche wiedererrichtet. In den zurückliegen- Facebook und Instagram online ging. Kurz darauf den Wochen hat die Stiftung Frauenkirche Dresden sendete Frauenkirchenkantor Matthias Grünert gezeigt, dass sie dieses Motto, wenn es die Umstände den ersten klingenden Gruß von der Orgelempore. gebieten, auch bei geschlossenen Türen mit Leben Inzwischen sind weit über 50 weitere Beiträge ent- erfüllen kann. Es wurden Brücken gebaut und Glaube standen. Zudem wurden (unterstützt durch eine gelebt. Gehen wir diesen Weg weiter gemeinsam: vor Leipziger Produktionsfirma) je drei Gottesdienste Ort und als disperse Gemeinde, die dank Online-Kom- und Konzerte aufgezeichnet. munikation verbunden bleibt.
8 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 9 WILLKO M UND ABS MEN CHIED WILLKOMMEN UND PROF. HEINZ-WALTER GROßE ABSCHIED Professor Dr. Heinz-Walter Große trat 1978 in die angekündigt, über jeden, der zusagt, freut man Finanzabteilung der B. Braun Melsungen AG ein. sich doch. Natürlich gibt es auch ein paar wenige, Sein Werdegang führte ihn über die USA und die die absagen mussten. Ja, das versteht man: aus Geschäftsführung der B. Braun Austria 2005 in die Kanada anzureisen wegen einer Feier das kann Position des Vorstands für Finanzen. Seit 2008 war man nicht erwarten. Dann am Mittag haben sie er zudem Arbeitsdirektor für das Ressort Perso- angerufen – in Kanada noch fast Nacht – und ha- nal und Recht verantwortlich. 2009 wurde er zum ben gratuliert und sich nochmals entschuldigt. stellv. Vorsitzenden des Vorstands berufen; von Verstehst du doch, wäre sehr aufwändig. Na klar, April 2011 bis zum Eintritt in den Ruhestand im versteht jeder. Dann konzentriert sich auch alles Jahr 2019 hatte er den Vorstandsvorsitz inne. auf die Schlange. Man heißt jeden willkommen. »Schön, dass du gekommen bist. Haben uns ja 2015 übernahm Prof. Große ehrenamtlich den auch schon länger nicht gesehen.« Alle drängen, Vorsitz der SAFRI (Subsahara-Afrika Initiative der jeder will nun drankommen. Der Aperitif wartet. Deutschen Wirtschaft, getragen vom Afrika-Verein Nein – das ist doch nicht möglich! Da stehen sie: der Deutschen Wirtschaft (AV), dem Bundesver- die Freunde aus Kanada, extra angereist. Schien band der Deutschen Industrie (BDI), dem Bundes- doch alles mit dem Anruf abgetan. Herzlich will- verband Großhandel, Außenhandel, Dienstleis- kommen – das ist wirklich eine große Freude! Es tungen (BGA) und dem Deutschen Industrie- und müssen ja nicht immer solche etwas größeren Handelskammertag (DIHK). In dieser Funktion Anlässe sein, zu denen man jemanden herzlich brachte er sich auch im Rahmen der Friedens- willkommen heißt. Die Kinder, jetzt schon beide nobelpreisträgerrede mit Ellen Johnson Sirleaf im Arbeitsleben, haben sich für das Wochenende 2018 in der Frauenkirche Dresden ein. angesagt – ja natürlich »Herzlich willkommen«. Wird sicher schön. Da stehen sie nun in einer längeren Schlange und wollen mir gratulieren. Es sind die Gäste, die ich Und doch: in jedem »Herzlich willkommen« liegt zu meinem runden Geburtstag eingeladen habe. auch schon ein wenig Wehmut. Die Geburtstags- Eine lange Einladungsliste: Verwandte, Kollegen, feier geht zu Ende, man konnte sich mal wieder Freunde. Man hat sich ja schon seine Gedanken viel zu wenig um die Gäste kümmern, aber es war gemacht, wen und wen nicht. Fast alle haben sich trotzdem eine gelungene Feier. Die Kinder waren
10 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 11 rigen Sohn in den Krieg verabschieden, aus dem sie Abschied nehmen mussten? Wie viele haben der andere möge nur nicht auspacken, nur nicht er nicht wieder zurückkam. Es muss ein toller Kerl Eltern, Großeltern oder gar Kinder zurückgelas- seine Probleme ausschütten. Und dann hören wir gewesen sein, dieser Walter, dessen Namen ich sen. Hier hat sich ein neuer Begriff der »Willkom- die Antwort »OK« und sind zufrieden. Waren wir auch noch trage. Wenig wurde bei uns über die- menskultur« entwickelt. Man beschäftigt sich sehr doch wieder einmal so richtig nett! sen Verlust gesprochen. Waren es doch so viele positiv damit, wie man den neu eingereisten Men- Familien im Dorf, denen das gleiche Schicksal schen eine Wertschätzung entgegenbringt, wie Willkommen im Arbeitsleben, ja das ist nach beschieden war. Man hat es offenbar so akzep- man sie in unserer für sie so neuen Gesellschaft Schule und Studium schon ein entscheidender tiert, akzeptieren müssen. Und doch, einmal er- integriert und wie sie unsere Gesellschaft berei- Schritt und dann? Man hat dann etwa 40 oder zählt mir meine Oma, wie großartig Walter war. chern können. Leider muss man sich dabei auch sogar heute etwas mehr Berufsjahre vor sich. ALTER GROSE Und dann erwähnte sie, dass sie ihm beim letzten immer mehr mit den Mitbürgern beschäftigen, die Was muss man nicht alles in Balance bringen. Oft PROF. HEINZ-W r Subsahara-Init iative Abschied handschriftlich alle Verse von »Harre, eine solche Willkommenskultur ablehnen. Ihr viel- gerade seine große Liebe gefunden. Freizeitakti- Vorsitzender de afri) Wi rts ch aft (S meine Seele« persönlich aufgeschrieben und ihm leicht sogar radikal und mit Gewalt begegnen. Dies vitäten, in meinem Fall der Posaunenchor, ganz der Deutschen echnik- ef des Medizint mitgegeben hatte. Sie war sehr gläubig und sicher wird für uns alle noch eine große Herausforderung regelmäßiges Üben und Auftritte, alles muss ins und bis 2019 Ch B. Br au n. in den nächsten Jahren, wahrscheinlich Jahrzehn- Gleichgewicht gebracht werden. Wie sagt man oft unternehmens auch überzeugt, dass diese Zeilen ihren Sohn be- schützen würden. Heißt es doch unter anderem: ten werden. Hierbei werden wir alle, aber beson- so lapidar: »Willkommen im Ernst des Lebens«. »In allen Stürmen, in aller Not, wird er dich be- ders auch die Kirchen gefordert sein, die richtigen Es stehen tatsächlich große Entscheidungen an. schirmen, der treue Gott«. Noch heute umgehe Antworten zu finden. Wie schön ist es, wenn man Hochzeit, Arbeiten im Ausland, Familie gründen, ich dieses Lied, es berührt mich unglaublich. aufrichtig willkommen geheißen wird. schon ganz schön aufregend, diese Zeit. Aber da, gemeinsames Essen, Gespräche, ein Spazier- Aber meiner Großmutter hat ihr Glauben sichtbar wenn wir über »Willkommen« nachdenken, dann gang, und man hat gespielt. Doch dann wird es Zeit geholfen, über diesen so schmerzlichen Verlust Dabei denke ich an die unterschiedlichen Be- gibt es doch keinen Zweifel, wie großartig es ist, und man muss sich wieder verabschieden. Das ist hinwegzukommen. gebenheiten, wenn man eine neue Arbeitsstel- wenn man gemeinsam durch die erste Schwan- einfach unangenehm – das fällt uns nicht leicht. le antrat, oder auch an viele Geschäftsreisen, gerschaft geht und dann nach neun Monaten, in Reinhard Mey singt in seinem Lied »Abschied« von Der Tod, das ist in der Tat der endgültige Abschied, bei denen man sehr freundlich begrüßt wurde. unserem Fall einen gesunden Sohn willkommen der Zerrissenheit, die im Abschied liegt. oder? Wir Christen haben darauf eine hoffnungs- Schmunzeln muss ich, wenn ich an meine erste heißen darf. Wie verändert sich da das Leben, volle Antwort, und die konnte ich bei meiner Groß- USA-Reise zu unserer Tochtergesellschaft denke. wenn dann auch noch bald eine Tochter dazu »Hab nie Abschied genommen, mutter viele Jahre erleben. Englisch bisher nur in der Schule. Wie wird das kommt. Es wird einfach so vieles anders. Konnte ohne zerrissen zu sein.« werden mit der Unterhaltung, werde ich alles ver- man vorher alles unabhängig planen, so heißt es REINHARD MEY Wenn ich in den letzten Wochen im Auto unter- stehen, wird man mich verstehen? Und so kom- jetzt in vielen Fällen, Rücksicht zu nehmen. wegs war und mich natürlich das Thema »Will- me ich nach meiner Anreise am nächsten Morgen Aber wie sagen wir so oft: bis zum Wiedersehen, kommen und Abschied« beschäftigte, sind mir etwas nervös in das Büro. Ach, wie freundlich Geht man dann gemeinsam als bis bald, vielleicht sogar bis morgen. Das war so plötzlich ganz bewusst an vielen Dorf- und Stadt- werde ich begrüßt. Welcome! Dann diese nette Familie durch die Jahre, so erlebt mit unseren kanadischen Freunden. Natürlich grenzen die Schilder mit der Aufschrift »Herzlich Frau, die mit offenen Armen auf mich zukommt. man ständig »Willkommen und wollte man sich gleich am nächsten Tag noch ein- willkommen« und am Ortsausgang die Schilder Sie lächelt. »How are you?«, waren ihre Worte. Ich Abschied«. Waren die Kinder doch mal treffen, es gab ja noch so viel, was man sich mit »Auf Wiedersehen« aufgefallen. holte Luft, wollte etwas Nettes entgegnen, aber gerade im Kindergarten angekom- erzählen musste. Ja, man erleichtert sich das Ab- ehe ich etwas sagen konnte, war die Dame auch men, so geht es auch schon zur schiednehmen, die Zerrissenheit und es kommt Gelten diese Schilder für alle Menschen? Gelten schon weitergegangen. Sie war offensichtlich gar Schule. Ja, so viele Jahre lagen mir vor wie ein Trost. Man hat ja die Aussicht auf sie insbesondere den Gästen, die zur Arbeit oder nicht so interessiert, wie es mir denn ginge, eine jetzt vor uns allen. Wie wird das ein Wiedersehen. Aber dann gibt es ja den anderen zum Einkaufen kommen oder Urlaubern, die den Floskel, einfach nur nett! werden? Fällt Lernen eher leicht Abschied: den für immer auf dieser Welt. Gemeinden »Geld bringen«? Gelten sie aber auch oder wo müssen sie sich abmü- für Migranten? Viele Menschen haben es in den Nun könnte man sagen: So sind die Amerikaner. hen? Aber immer wieder gibt es Das wird einem bewusst, wenn man am Grab letzten Jahren damit wirklich sehr ernst gemeint, Ja, so sind sie. Aber sind wir nicht alle auch in Abschied und gleichzeitig Neube- eines geliebten Menschen steht. Bei dem Ge- andere aber? Und wer denkt bei den vielen Men- vielen Situationen genauso oder so ähnlich? Wir ginn. Grundschule ade, willkom- danken kommt mir eine Geschichte nie aus dem schen, die bei uns angekommen sind, woher sie heißen jemanden willkommen, sind freundlich, men im Gymnasium! Plötzlich Sinn. Meine Großmutter! Sie musste ihren 21-jäh- wohl kommen, von welchem gewohnten Leben fragen »Wie geht’s« und hoffen doch im Inneren, wird man wach. So ging es mir
12 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED Willkommen und Abschied besonders bei der Abiturfeier unseres Sohnes, als eine große Verabschiedung. Viele geladene Gäste, Johann Wolfgan g von Goethe man ihn zur Zeugnisübergabe aufruft. Wie bitte? Reden. Es ist einem etwas mau im Magen, es war Der Refrain in Reinhard Meys Lied ist Jetzt ist er schon mit der Schule fertig? Den ha- doch so groß gar nicht nötig. Aber es gehört eben jetzt besonders zutreffend: Es schlug mein He rz, geschwind, zu ben wir doch erst »gestern« in den Kindergarten dazu. Man weiß es ja selbst, weil man an so vielen Es war getan fast Pferde! gebracht. Ja, bei solchen Abschieden erleben wir Verabschiedungen im Laufe der Jahre teilgenom- »Doch das Leben ist wie ein eh gedacht. Der Abend wiegte immer wieder, dass uns bewusst wird, wie schnell men hat. Selbst auch Reden gehalten. Jetzt ist der reißender Fluss schon die Erde, Und an den Berg die Zeit vergeht. Moment gekommen; Es wird der Lebens- und Ar- Der mich weitertreibt en hing die Nach t; beitsweg in rosaroten Farben und positiven Wor- Der nicht stehenbleibt Schon stand im Ne belkleid die Eich Und erreich’ ich ein Ufer Ein aufgetürmte e Wie schnell vergeht eben auch die Zeit im Arbeits- ten dargestellt. Ist doch nicht nötig, ja eigentlich r Riese, da, leben. Man durchlebt so viele unterschiedliche will man es gar nicht. Und doch: All die Anerken- Komm’ ich doch nur zum Schluss Wo Finsternis au s dem Gesträuche Aufgabengebiete. Geht man dann noch für viele nung tut doch auch gut. Aber es zeigt auch eines: Dass ich weitergehen muss.« Mit hundert schw Jahre in einen Auslandsaufenthalt und wird da- Vieles liegt hinter einem. All das ist Vergangen- arzen Augen sah. mit Teil verschiedener Unternehmen, dann lernt heit. Es heißt, von einem langen Lebensabschnitt Unruhig muss man sein ganzes Le- Der Mond von ein man auch den Umgang mit Willkommen und Abschied zu nehmen. Jetzt wird klar: Zurückbli- ben bleiben. Welche Entspannung em Wolkenhügel Abschied in unterschiedlichen Kulturen kennen. cken tut zwar gut, aber man ist eben auch ein tritt ein, wenn man die neuen Dinge Sah kläglich aus dem Duft hervor , Ja, so war es auch in den Jahren, die wir in den wenig traurig, vielleicht sogar ein bisschen de- mit einer gehörigen Portion Gelas- Die Winde schwan gen leise Flügel, USA verbracht haben. Neue Freunde gewonnen, pressiv, dass all das hinter einem liegt. Wenn man senheit angeht, weil man das Ver- Umsausten scha uerlich mein Ohr; und immer wieder waren wir willkommen bei an sein Berufsleben zurückdenkt, fragt man sich gangene losgelassen hat. Mir wird Die Nacht schuf tausend Ungeheue den unterschiedlichsten Gelegenheiten. Gerne schon, ob man vielleicht hin und wieder an alten beim Schreiben dieser Zeilen noch- Doch frisch und r, feiert man Partys, man wird formlos eingeladen, Gewohnheiten im Unternehmen festhielt, weil mals klar, dass man Abschiedneh- fröhlich war mein In meinen Adern Mut: man geht unkompliziert miteinander um, man man es schon immer so gemacht hat. Man fragt men in sein Leben voll integrieren welches Feuer! lernt eben »Small Talk«. Aber immer wird einem sich, wovon man sich früher hätte verabschieden muss. Das ist die Voraussetzung, In meinem Herz en welche Glut! auch das Gefühl vermittelt, man ist willkommen. sollen oder gar müssen. Hat man auf der anderen dass man sich auf das nächste Ich glaube, das ist auch tatsächlich so. Man freut Seite Dinge verändert, die man vielleicht lieber Willkommen, den nächsten Neu- Dich sah ich, und die milde Freude sich, dass man gekommen ist. Wird man dann beibehalten hätte. Aber nein: Lass diese Gedan- beginn freuen kann. Das gibt Kraft Floß von dem sü ßen Blick auf mich von einem Kollegen an Thanksgiving, dem Fei- ken, konzentriere dich jetzt nur nicht allein auf die und Hoffnung für die Zukunft. Ganz war mein He ; ertag, an dem in den USA alle Familien zusam- Vergangenheit. Dieser Moment des Abschieds be- rz an deiner Seite Und jeder Atemzu menkommen, zum Dinner mit der Familie einge- deutet auch den Anfang eines neuen Abschnitts. g für dich. laden, dann weiß man, dass man angekommen Und wie heißt es doch schön: »Jedem Anfang Ein rosenfarbnes Frühlingswetter ist. Dann ist man wirklich »Herzlich willkommen«. wohnt ein Zauber inne.« Umgab das lieblich e Gesicht, Das ging in unserem Fall über mehrere Einladun- Und Zärtlichkeit für mich – ihr Gö gen, und plötzlich ist man praktisch Teil der Fami- Man hat viele Abschiede und immer wieder Neu- tter! Ich hofft es, ich ve lie – wie schön! anfänge hinter sich, aber bei keinem Anlass gel- rdient es nicht! ten die Worte mit dem »Zauber« so wie beim An- Doch ach, schon 40 Jahre im gleichen Unternehmen, man ist sei- fang des sogenannten Ruhestandes. Was für ein mit der Morgens onne nen Weg gegangen und hat auch einiges erreicht. schreckliches Wort. Wer wird hier eigentlich ru- Verengt der Absc hied mir das Herz In deinen Küssen : Am Ende ist man gar für acht Jahre Vorstands- higgestellt? Man wird diesen Lebensabschnitt nur welche Wonne! vorsitzender. Alles ist klar, die Nachfolgerin ist genießen, wenn man weiter unruhig bleibt. Sich In deinem Auge welcher Schmer da. Sie kann den Job. Also legt man sehr früh vielen, vielleicht ganz neuen Aufgaben stellen. z! Ich ging, du stan dst und sahst zu fest, wann man die Aufgabe übergeben wird. Einbringen in das Ehrenamt. Oder wie wäre es, die r Erden Und sahst mir na Man hat viel Zeit, sich darauf einzustellen. Keine Geschichten, die man seiner Tochter erzählt hat, ch mit nassem Bl Und doch, welch ick: Überraschung. So geht es natürlich vielen. Man in einem Buch aufzuschreiben? Habe ich mir tat- Glück, geliebt zu werden! ist in der Verantwortung aufgegangen, aber jetzt sächlich vorgenommen. Aber bisher ist es noch zu Und lieben, Götte r, welch ein Glüc k! heißt es: abgeben – übergeben. Es gibt auch unruhig; dazu bin ich noch nicht gekommen.
14 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED Stufen SE NN HES MARTHAS HERMA nd d jede Juge ie je d e B lü te welkt un sstufe, W t jede Leben er w eicht, blüh A lt de Tugend NOVEMBER Dem W ei sh ei t auch und je Blüht jede ht ewig dau ern. re r Z ei t u nd darf nic Zu ih ebensrufe d a s H er z bei jedem L Es muss inne, und Neubeg zu m A b schied sein Berei t ne Trau n er DOROTHEA HEINRICH in T a p fe rkeit und oh Um sich n zu geben . re , n eu e Bindunge e, In a n d Zauber inn n fa n g wohnt ein Und jedem A ft zu leben. Der Platz neben Martha blieb leer. Ihre Freundin Wie gerne hatten ihm die vielen Gäste, die sie in t u n d der uns hil Der uns bes ch ü tz schreiten, war kurzfristig an Grippe erkrankt und einen Er- den Jahren ihrer Ehe stets beherbergt hatten, bei a u m u m R aum durch heiter R satz hatte sie so schnell nicht finden können. Es seinem Klavierspiel zugehört. Oft hallte spät am Wir sollen Heimat hän gen, n em w ie an einer engen, ei eln uns und war Martha jedoch nicht unrecht, konnte sie sich Abend als Gutenachtgruß noch ein Abendlied An k n ic h t fe ss st will Der Weltgei doch voll auf das Klavierkonzert konzentrieren durch das Haus, und ganz leise ging die Tür des , weiten. und musste sich zu keiner Pausenkonversation Gästezimmers noch einmal auf und man lauschte. tu f´ u m Stufe heben S ise Er will uns Lebenskre über das Wetter oder sonstige unwichtige Dinge w ir h ei misch einem en; Kaum si n d t Ersch ff la zwingen. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach, Die Tasten am heimischen Flügel blieben stumm. ei n ge w oh nt, so droh Und traulich t und Reise , Aufbruch is während die Konzertbesucher nach der Pause zu- Gustl hatte sie allein gelassen, sicher nicht ger- ei t zu rück auf Ihre Plätze strömten. Sie blieb ungestört, ne, doch die gesundheitlichen Probleme waren Nur wer b er entraff .en d er G ew öhnung sich Mag lähmen unde da sie in der Mitte saß und die Leute von rechts zuletzt stärker als er, ob sie es wahrhaben wollte die Todesst ie ll ei ch t auch noch und links die Reihe auffüllten. Unter dem Applaus oder nicht. Es wird v send , en des Publikums betrat der berühmte Pianist erneut ä u m en ju ng entgegen R den, Uns neuen niemals en die Bühne, verneigte sich kurz, setzte sich auf die Das exzellente variable und einfühlsame Spiel s R u f a n uns wird sunde! Des Leb en hied und ge Klavierbank und begann mit Effet zu spielen. des Pianisten vorne auf der Bühne verursachte n , H er z, nimm Absc Martha Schmerzen in der Brust und war gleichzei- Wohlan den Ihr Gustl konnte auch wunderbar Klavier spielen. tig tröstlich. Wären es doch noch einmal Gustls Er beugte sich bei den zarten und leisen Passa- Hände, die die Tasten streichelten und nur für sie gen nicht so zu den Tasten hinunter, wie dies sein spielten. Plötzlich nahm sie seine Wärme wahr; berühmter Kollege gerade tat. Eher reckte er sich sie schaute nach links und sah ihn. Er sprach noch weiter in die Höhe und blickte in einen ima- nicht, sondern lächelte sie nur voller Liebe an. Sie ginären Himmel. Wie hatte sie seine stolze auf- flüsterte ihm zu: „Ist das Konzert nicht wunder- rechte Haltung geliebt. voll!?“ Zustimmend nickte er und lächelte dete der Applaus auf. Manche Zuhörer um Martha nur, um gesehen zu werden oder sich über ande- noch immer. Er legte den Arm um sie und herum schmunzelten und amüsierten sich, als sie re Leute lustig zu machen. Na ja, irgendjemand sie lehnte ihren Kopf behutsam an seine diese ältere Dame mit zur Seite geneigtem Kopf vom Personal würde sie schon wecken. Nach Schulter. und einem feinen Lächeln im Gesicht schlafen sa- der endgültig letzten Zugabe leerte sich der Saal ds es Abschie hen. Andere mokierten sich kopfschüttelnd, dass rasch. Ein Ordner, der gerade die Türen schließen b lü h t d ie Blume d ir o aub de w n Die Menschen standen auf, der Beifall diese alte Frau doch besser zu Hause geblieben wollte, sah Martha immer noch auf ihrem Platz Irgendw t Blütenst m e r fo r wollte nicht enden. Immer wieder ent- und ins Bett gegangen wäre, wenn sie einem sol- sitzen. Er ging auf sie zu und berührte sie sachte t im und streu uch noch im e rü ber, und a lockte das Publikum mit enthusiasti- chen Konzert nicht mehr folgen könne. an der Schulter: »Junge Frau, Zeit zum Heimge- atm e n h Abschied. e n W in d atmen wir schen Bravorufen dem Künstler noch hen, das Konzert ist aus.« Doch da war Martha st kommend eine Zugabe und noch eine, die dieser Wahrscheinlich hatte sie von Kunst sowie keine schon längst gegangen. RILKE auch gerne gewährte. Und wieder bran- Ahnung und ging in Konzerte oder ins Theater R MARIA RAINE
16 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 17 Frauenkirchenpfarrer Sebastian Feydt, Geschäftsführer Stiftung Frauenkirche Dresden VERABSCHIEDUNG SEBASTIAN FEYDT Mit mutigem Herzen und wachem Verstand hat Sebastian Feydt als Frauenkirchenpfarrer und Geschäftsführer der Stiftung Frau- enkirche Dresden dreizehn Jahre lang zum Wohle vieler Menschen gewirkt. Er hat die wiederaufgebaute Kirche gefüllt mit Gottes Wort, Gebet und Impuls. Er hat die Türen geöffnet für Musik und Dialog, für Gäste aus nah und fern. Er hat Raum für Stille gegeben und deutliche Worte gefunden, die nach außen drangen. Men- schen unterschiedlichster Hintergründe haben Sebastian Feydt als ein offenes Gesicht der Frauenkirche erlebt, das frei denkt und für eine klare Botschaft eintritt. Er hat viele Sprachen verstanden und mit einer verständlichen Sprache geantwortet. Gäste haben durch Sebastian Feydt ein Stück Frauenkirche im Herzen mit nach Hause genommen – in alle Welt. So hat er die Frauenkirche als Michael Kretschmer, einen zeitgemäßen, lebendigen Ort des Miteinanders, als ein of- Ministerpräsident des fenes Gotteshaus in unserer Stadt und in unserem Lande geprägt. Freistaates Sachsen Er hat »in Vielfalt geeint«, die Frauenkirche als ein europäisches Symbol für Frieden und Versöhnung mit Leben gefüllt. Anlässlich der Verabschiedung von Sebastian Feydt lud die Stiftung Frauenkirche Dresden am 6. Juli 2020 zu einer Veranstaltung mit »Reflexionen und Impulsen« unter Wahrung der Abstandsregeln ein. Ministerpräsident Michael Kretschmer und Stiftungsratsvorsitzen- der Joachim Hoof würdigten das vielseitige Wirken von Sebastian Feydt als Geschäftsführer. Artistic Director Daniel Hope, Frauenkir- chenorganist Samuel Kummer und Frauenkirchenkantor Matthias Grünert, der mit Mitgliedern des Kammerchores der Frauenkirche die Motette »Verbum Christi« uraufführte, setzten musikalische Akzente. Im Zentrum der Veranstaltung stand der im Folgenden abgedruckte Impulsvortrag von Prof. Dr. Hans Vorländer, der auf die Entwicklung und Rolle der Frauenkirche als Ort des Diskurses für Joachim Hoof, die Stadt und die Gesellschaft einging. Als Pfarrer wurde Sebastian Stiftungsratsvorsitzender Feydt, der als Superintendent nach Leipzig wechselt, im Rahmen der Stiftung Frauenkirche eines Gottesdienstes am 19. Juli 2020 von Superintendent Christian Dresden Behr aus dem Dienst an der Frauenkirche verabschiedet.
18 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 19 DIE FRAUENKIRCHE ALS ORT DES schon vor Corona, der politische Westen zeigte in- macht werden. Wo die Stadt ihr städtebauliches nere Schwächen und autoritäre und autokratische Zentrum wiedergefunden hat, bleiben heute Zwei- GESELLSCHAFTLICHEN DISKURSES – Anfälligkeiten. Die klimatischen Veränderungen fel, ob die Öffnung der Stadt in die Welt gelungen REFLEXIONEN UND IMPULSE stellten unseren Lebensstil infrage. Die Digitali- sierung barg und birgt Chancen, verändert aber ist. Aber diese Zweifel sind nicht mit der Arbeit der Frauenkirche verbunden, dazu war sie mit ihrer die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Und eindrücklichen Friedens- und Versöhnungsarbeit PROF. DR. HANS VORLÄNDER Dresden war Epizentrum von Erschütterungen ge- sehr schnell zu einem Symbol internationaler Ver- worden, die zwar auch mit den Transformationser- ständigung geworden. Die Zweifel verbinden sich fahrungen nach 1990 zu tun hatten, die sich aber mit den Entwicklungen der letzten Jahre in der vordringlich gegen die Zumutungen einer offe- Stadt, im Land, aber auch in nahezu allen Gesell- nen, durchlässigen Gesellschaft richteten, die sich schaften Europas und darüber hinaus. durch eine Vielfalt von Lebensstilen, Lebenslagen und Herkünften auszeichnet. Das Bemühen, neue Der Konfliktlinien gibt es viele: soziale, ökonomi- Für einen Moment konnte es uns so vorkommen, als Formen gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu sche und politische. Eine entscheidende ist aber habe die Corona-Pandemie alles verändert, eine radika- finden oder gar erst einmal die Gesprächsfähigkeit die der kulturellen Verunsicherung, die über die le Entschleunigung bewirkt, die uns in der physischen aufgebrachter Lager wiederherzustellen, musste Art und Weise, wie wir leben wollen und wie unse- Distanznahme eine neue soziale Nähe suchen ließ: als Verlustanzeige einer in sich zerrissenen Gesell- re Gesellschaft aussehen soll. Und das berührt die »hope at home«. Auch schien auf einmal möglich zu schaft gedeutet werden. Dresden stand und steht Frauenkirche als Ort des gesellschaftlichen Diskur- PROF. HANS VORLÄNDER sein, was vorher undenkbar war, dass sich nämlich alles nicht alleine mit diesen Verwerfungen; hier aber ses in besonderer Weise. Prof. Dr. Hans Vorländer ist Inhaber des und dann auch sofort ändern ließe: unser Leben, un- wurden sie wie in einem Brennglas sichtbar – und Lehrstuhls für Politische Theorie und sere Arbeit, unser Umgang mit der Natur. Auch die uns das in unmittelbarer Nähe zur Frauenkirche. Und Im Grunde war die Frauenkirche mit ihrer Wie- Ideengeschichte, Direktor des Mercator umtreibenden politischen und gesellschaftlichen Kon- das war und ist nicht ohne Belang. Denn die Frauen- deraufbauidee den beobachteten Entwicklungen Forum Migration und Demokratie sowie des flikte schienen stillgestellt. Die Pandemie kam wie ein kirche stand und steht für Frieden und Versöhnung. voraus, was sie auch für die Herausforderungen Zentrums für Verfassungs- und Demokratie- kollektiver Schicksalsschlag und konfrontierte uns mit Die Frauenkirche inmitten der Verwerfungen als Ort der Gegenwartskonflikte in besonderer Weise forschung an der TU Dresden. Außerdem ist den existenziellen Fragen von Krankheit, von Leben und des gesellschaftlichen Diskurses? Ein Ort der Sicher- geeignet macht. Ihr mit der Weihe im Jahre 2005 er Mitglied zahlreicher nationaler und Tod. Die Schockstarre, das Nicht-Wissen über das Virus, heit oder zumindest Vergewisserung in einer Welt zugedachter Auftrag, ein zugleich geistliches und internationaler Kommissionen, Beiräte und die Dramatik der Störung unserer Routinen, die Erfah- der Verunsicherung und Ungewissheit, der gesell- geistiges Zentrum zu sein, befähigte sie ab origine, Gremien. Er ist Mitglied des Sachverständi- rung der Zerbrechlichkeit unserer an Selbstentfaltung, schaftlichen Herausforderungen und Umbrüche? ganz nah am Puls der Zeit zu sein, Strömungen genrats deutscher Stiftungen für Integration auch Selbstoptimierung orientierten Lebensstile ließ der Zeit aufzunehmen, sie zu thematisieren und und Migration. Zuletzt wurde er in die uns die Welt vor der Pandemie als eine Welt der Sicher- Der Wiederaufbau der Frauenkirche war von vorn- zu reflektieren und dort, wo es nötig war, sich ihr Fachkommission der Bundesregierung zu heit und als eine Welt von gestern erscheinen – ganz so, herein mit der Idee verbunden, ein Ort des Erin- auch mit klarer Haltung entgegenzustellen. Eine den Rahmenbedingungen der Integrations- wie Stefan Zweig die Schüsse von Sarajewo und den Be- nerns, der Versöhnung und des Friedens sein zu der ersten Diskussionen über das, was auf den fähigkeit berufen. Zu seinen Arbeitsberei- ginn des Ersten Weltkriegs als Epochenbruch zur geord- wollen. Die Steine, so befand Hans-Jochen Vogel, Plätzen Dresdens vor sich ging, fand hier zu Beginn chen zählen Politische Theorie, Ideenge- net erscheinenden Welt Wiens und Europas in seinen reden für alle, die zu hören verstehen: »Wer nach des Jahres 2015 in der Frauenkirche statt. Und als schichte, Konstitutionalismus und »Erinnerungen eines Europäers« beschrieben hatte. dem Sinn menschlichen Daseins, wer nach Orien- die Frauenkirche als Kulisse auf einer Bühne men- Verfassung, Demokratie, Liberalismus, tierung über den Tag hinaus fragt – hier kann er schenverachtender und von Hetze und Hassrede Populismus sowie Migration. Prof. Vorländer Aber die Welt der Sicherheit war schon vor Corona Antworten finden.« Frieden und Versöhnung wa- geprägten Demonstrationen missbraucht zu wer- hat die durch Sebastian Feydt maßgeblich brüchig geworden. Der Aufbruch von 1989/90, der viel- ren nach außen und nach innen gerichtet. Frieden vorangebrachte Diskussionsreihe »Forum fach mit der Annahme immerwährender Prosperität, und Versöhnung in der Welt, aber auch Frieden Frauenkirche« mitbegründet und inhaltlich grenzenloser Freiheit und stabiler Demokratie verbun- und Versöhnung der Dresdnerinnen und Dresdner eng begleitet. den war, war längst einem Gefühl zunehmender Unge- mit ihrer Stadt. Die Wunde der Zerstörung sollte wissheit gewichen. Die Globalisierung kannte zwar viele mit der Rekonstruktion des städtischen Zentrums Gewinner, aber ließ auch alte und neue Ungleichheiten geheilt werden. Mit der Heilung sollte ein Neuan- erkennen. Die geopolitischen Kräfte verschoben sich fang für die Stadt und ihre Öffnung in die Welt ge-
20 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 21 den drohte, machte sie das Licht aus und begeg- der auch die Dresdner Stadtgesellschaft spaltet, und Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- nete dem Geschrei vor ihren Türen mit der treffen- hineingezogen. Aber es ist ihr Auftrag, sich zu be- tern der Stiftung neben den geistlichen und mu- den Seligpreisung: »Selig sind die Frieden stiften«. kennen – nicht nur in geistlichen, auch in weltli- sikalischen Veranstaltungen rund 10 öffentliche Das war mutig, auch keineswegs unumstritten in chen Dingen, und dies vor allem dann, wenn es Vortrags-, Podiums und Diskussionsveranstaltun- ihren Reihen, wie man vernehmen konnte. Aber es um den Kern einer auf die Achtung und Wahrung gen zu organisieren; und, on top sozusagen, das war ein sichtbares, ein starkes Zeichen. der Würde des Menschen bezogenen freiheitlichen ehrgeizige Vorhaben, dem Friedens- und Versöh- Ordnung geht. nungsauftrag mit den Reden von Trägern des Frie- Anders hätte die Frauenkirche auch nicht han- densnobelpreises einen würdevollen Höhepunkt deln dürfen, wenn sie ihren Friedens- und Versöh- Das wiederum heißt ja nicht, dass sich die Frauen- zu setzen. Das ist eine herausragende Leistung, nungsauftrag nicht verleugnen und das gewonne- kirche als Ort des gesellschaftlichen Diskurses in bisweilen viel zu wenig gewürdigt. Aber auch die ne symbolische Kapital, das sie für Verständigung jeder politischen Frage positionieren muss oder dem Protestantismus eigene und im Grunde auch einzusetzen angetreten war, nicht hätte verspielen sollte. Das sollte sie als Ort des gesellschaftlichen sympathische Form der demütigen Bescheiden- wollen – zumal sie, mahnend und erinnernd nicht Diskurses um ihrer Glaubwürdigkeit und Modera- heit lässt es an dieser Stelle zu, dies einmal deut- nur ihrer Zerstörung , sondern auch ihrer eigenen torenrolle willen auch gar nicht tun. Da kommt der lich herauszustellen. Verstrickung im Deutschchristentum während des Frauenkirche eine andere Aufgabe zu. Als Bürger- Nationalsozialismus, ein Ort sein will, der die »Fra- und Stadtkirche, die sie ist, muss sie sich als ein Die für viele Veranstaltungen gefundene Bezeich- ge nach der Verführbarkeit und Anfälligkeit des Ort des Dialogs erweisen. Und das ist ihr in den nung eines »Forums Frauenkirche« hat deutlich Menschen für lebensfeindliche Ideologien« stellt. ersten 15 Jahren ja auch bestens gelungen. Das ist werden lassen, dass sich die Frauenkirche als ein So wurde die Frauenkirche freilich auch, das kann auch und ganz besonders das Verdienst von Se- offener Raum des Austausches, der Kommunika- nicht übersehen werden, selber in den Konflikt, bastian Feydt, seinem Gespür für Themen, seiner tion, auch des Streites über unterschiedliche po- Sensibilität für Konfliktlagen, seiner Souveränität litische Positionen und gesellschaftliche Problem- der Programmgestaltung, auch seinem Wissen um wahrnehmungen versteht. Sie ist ein öffentlicher die Gesetze medialer Aufmerksamkeit und seinem Ort, ein Ort des gesellschaftlichen Diskurses – ganz nie versiegenden Interesse an neuen Fragestellun- so, wie es in der griechischen Polisdemokratie die dessen, was auch mit Bürgerstolz, dem mit der gen (zuletzt im Bereich von Künstlicher Intelligenz Agora oder in der römischen Republik das Forum eigenen Stadt identifizierten Patriotismus, verbun- und ihren moralischen und ethischen Implikatio- gewesen ist. Ganz ohne Frage ist eine Stadtgesell- den werden konnte. Das ist auch Erinnerung an Prof. Dr. Hans Vorländer nen). Pro Jahr vermochte er mit den Kolleginnen schaft, die mehr ist als eine eigennutzmaximieren- eine große humanistische Tradition in Europa und de Anhäufung von Individuen und Gruppen, auf Möglichkeit der Vergewisserung für die zerrissenen solch einen Ort des Austausches, des harten Rin- Gesellschaften der Gegenwart. gens um Perspektiven des Gemeinwohls und des Gemeinsinns konstitutiv angewiesen. Entschei- Die Frauenkirche ist – man muss es eigentlich gar dungen werden in Parlamenten und in Regierun- nicht aussprechen, so selbstverständlich erscheint gen gefällt, die Fundamente für gesellschaftlichen es uns – ein ganz besonderer Raum. Er ist, zualler- Zusammenhalt aber werden an anderer Stelle erst gewiss, ein sakraler Raum, der Überlieferung gelegt. Die Tugenden von Glaube, Liebe, Hoff- und Erneuerung der christlichen Botschaft ge- nung und Barmherzigkeit, wie sie in der Kuppel weiht. Seine Sakralität geht aber darüber hinaus: der Frauenkirche so wunderbar und eindrücklich Der Raum prägt, wie wir uns begegnen, er lässt repräsentiert sind, sind nicht allein christlichen Ur- uns innehalten, wir hören in uns hinein, der Raum sprungs, und sie wirkten auch weitdarüber hinaus. strahlt aus. Und wenn Sie Augen- und Ohrenzeu- Sie galten in der Antike und in den Zeiten des obe- ge einer der vielen Diskussionsveranstaltungen in ritalienischen Stadtrepublikanimus in der frühen dieser Kirche waren, dann haben Sie bestimmt Neuzeit als Schlüsseltugenden einer aktiven und immer wieder beobachtet, dass Rednerinnen und durch concordia und iustitia, also Eintracht und Redner in der Frauenkirche anders sprechen, als Gerechtigkeit, geeinten Bürgerschaft – Grundlage wenn sie im Parlament ihre Kolleginnen und Kol-
22 WILLKOMMEN UND ABSCHIED WILLKOMMEN UND ABSCHIED 23 Netzwelt und in den rauen Auseinandersetzungen se Welt der Ligaturen aber ist sehr löchrig, sehr Grundlagen unseres Miteinanders gesucht wer- auf Plätzen und Straßen und in manch anderen fragil geworden, der Sinn der Individuen für das den und auch gelingen kann. Indem die Frauen- politischen Arenen der Diffamierung und Beschä- Gemeinsame und der gemeinsame Sinn der Indi- kirche die Konfliktlagen und die großen Themen mung verloren gegangen ist: die Zivilisierung un- viduen sind in einer von Pluralität und Vielfalt der unserer Gegenwartsgesellschaften aufgreift, die seres Konfliktaustrags, das Wiederaneignen einer Lebensvorstellungen, Lebensstile und Lebens- unterschiedlichen Sichtweisen und Handlungs- demokratischen Streitkultur. lagen geprägten Gesellschaft Gegenstand von optionen reflektiert, kann sie zu einem Zentrum legen adressieren – ganz zu schweigen von Spre- steter Aushandlung und reibungsvoller Verstän- der innergesellschaftlichen Verständigung wer- chern und Sprecherinnen, wenn sie Massen auf Nun mag das noch nicht wirklich befriedigend digung geworden. Nichts versteht sich mehr von den, wie wir in Zukunft leben wollen. Das ist kei- dem Theaterplatz oder dem Neu- oder Altmarkt sein, wenn nach der Frauenkirche als Ort des selbst, alles ist begründungsbedürftig geworden. neswegs nur auf die Dresdner Stadtgesellschaft aufpeitschen. Und auch, da bin ich sicher, der so gesellschaftlichen Diskurses gefragt wird. Eine Das macht das Geschäft der Sinnproduzenten so zu beziehen, nein: an der Nahtstelle zwischen heftige wie symptomatische, zugleich lehr- und Kirche, die »Seele der Stadt« sein will, möchte schwierig – aber auch so leicht. Nicht umsonst Nord- und Süd-, West- und Ostmitteleuropa aufschlussreiche Disput, den sich Uwe Tellkamp ja auch das geben, was allerorten gesucht wird: blühen die Verschwörungstheorien, die Ordnung könnte die Frauenkirche hier, stärker vielleicht und Durs Grünbein im Kulturpalast geliefert haben Vergewisserung in einem Meer der Unsicherheit. in unübersichtlichem Gelände suggerieren, und noch als bislang, wichtige Dienste für ein sich neu und der als Dichterstreit in die Annalen nicht nur Aber das ist in diesen Zeiten nicht so einfach. reüssieren politische Unternehmer, die einfache findendes Europa leisten. Und was schon im Rah- von Youtube eingegangen ist – er glich, je länger er Wer in seinem religiösen Glauben gefestigt ist, Antworten auf komplexe Problemlagen verspre- men der Friedensarbeit begonnen wurde, könnte anhielt, fast einem diskursiven Gemetzel, er hätte wird die entscheidende Antwort kennen, die Halt chen. Gefestigte Orientierung und resilienter Sinn die Zukunft der Frauenkirche als Ort des gesell- so nicht in der Frauenkirche stattfinden können. und Wegweisung gibt. Er oder sie wird auch zwi- sind knappe Ressourcen geworden. Die Arenen schaftlichen Diskurses noch stärker bestimmen: Die Frauenkirche kalmiert. Erregungs- und Empö- schen den letzten und den vorletzten Fragen zu für die Suche nach Sinn und Orientierung verla- Es muss ein Ort des Austausches über die Fragen rungsrituale sind ihr fremd. unterscheiden wissen und politischen und gesell- gern sich an andere Orte: in Clubs, in das Fitness- und Probleme werden, die junge Menschen be- schaftlichen Entscheidungsträgern nicht die Last zentrum, nach Instagram, ins Fußballstadion und wegen. Sie verlangen nach Antworten, sie fordern Die Rahmung für Konflikt und Streit ist eine ganz der allumfassenden Sinngebung des Lebens und auch zu Demonstrationen, alles zum Teil mit ho- Lösungen ein. Sie sind die Entscheider von mor- andere, die Aura der Steine, des Altars, der Ge- seiner existenziellen Herausforderungen, wie sie in hem Event- und auch Erlebnisfaktor. gen, sie suchen heute Sinn und Orientierung für schichte des Gebäudes macht den Diskurs zu der Corona-Pandemie so plötzlich in unser Leben ihr Handeln. Die Frauenkirche ist der Resonanz- etwas anderem, einem reflexiven, rationaleren, traten, aufbürden. Wer im christlichen Glauben Was kann hier die Frauenkirche als Ort des gesell- raum, in dem dies alles möglich ist, ein offener ruhigeren Gespräch, das, so zumindest überwie- verwurzelt ist, der weiß um die Vorläufigkeit und schaftlichen Diskurses leisten? Sinn stiften, Ori- Ort des Diskurses für eine offene Gesellschaft. gend, von Respekt und Anerkennung der unter- Irrtumsmöglichkeit menschlichen Tuns. Und doch entierung geben, Gemeinschaft rekonstruieren? schiedlichen Standpunkte getragen ist. Der Raum hat mit den Traditionsabbrüchen und auch kirch- Ja vielleicht, aber gewiss ist es nicht. Aber das der Frauenkirche stellt die zivilen Minima her, die lichem Mitgliederschwund eine Überwälzung gro- Entscheidende ist wohl, dass die Frauenkirche Voraussetzung eines streitigen demokratischen ßer Fragen, von Schicksalsfragen, der Fragen nach mit ihrem Auftrag und ihrem Raum ein Ort der und gesellschaftlichen Diskurses sind und deren dem Woher und dem Wohin, auch auf den Bereich Gelegenheit ist, an dem Verständigung über die Verlust wir zunehmend beklagen. Menschen ver- der Politik stattgefunden. lassen die Frauenkirche anders, als sie sie betreten haben. Und das gilt nicht nur für das geistliche Gewissermaßen ist es ein Signum der Moderne, Gespräch, für Andacht und Gottesdienst, nicht Transzendenzfragen ins Diesseits zu verlagern nur für die Menschen, die, als Touristen oder Ge- und die Bewältigung von Unverfügbarkeiten wie legenheitsbesucher, das Erlebnis epiphanischer Geburt, Krankheit und Tod dem Fortschritt der Überwältigung erfahren. Es gilt eben auch für die Wissenschaft und der Sinnerfüllung durch die po- Frauenkriche als Ort des gesellschaftlichen Dis- litische Welt zu überantworten. Das war vielleicht kurses. Warum sollten wir die Frauenkirche nicht noch anders, als der Bereich des Intermediären, als einen geschützten Raum, ein Sanctuarium des der Bereich zwischen Staat und dem Einzelnen, offen und streitig geführten gesellschaftlichen Dis- also der Bereich der Gemeinschaften, Vereine, kurses begreifen, der uns wieder das, und zwar von der Gewerkschaften und der Kirchen, noch Bin- Angesicht zu Angesicht, zeigt und lehrt, was in den dekräfte erzeugte, die zugleich kollektiven Sinn Echokammern und Filterblasen der anonymen und individuelle Orientierung ermöglichten. Die-
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