Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO

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Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
D MINARI Zugewandert in Arkansas D BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN Berlinale-Gewinner D NOMADLAND
Zwischen Armut und Freiheit D FRÜHLING IN PARIS Gleichklingende Melancholie D NEBENAN Am Tresen mit Daniel
Brühl D COURAGE Protest in Belarus D DAS MÄDCHEN UND DIE SPINNE Genauer Rhythmus D ICH BIN DEIN MENSCH Flirt
Algorithmus D ORPHEA Mythos revisited D SOMMER 85 Très retro D GLÜCK Großstadtlichterliebe D PERCY Christopher
Walken gegen Monsanto D THE GREEN KNIGHT Panorama der Träume D GRENZLAND Verlassen, Kommen, Bleiben D DER
RAUSCH Männer-Experiment D THE TROUBLE WITH BEING BORN Ersatz-Persönlichkeiten D LOS REYES Feuchte Nasen

Magazin FÜR unabhängigeS KINO                                                          D 11 D JULI 2021

indiekinoMAG

                                        DER RAUSCH – Start am 22.7.2021
Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
„Ein lebendiges Bild
                                                                     des Lebens im Gazastreifen.“
                                             gefördert vom
                                                                                  SCREENDAILY

                                                                       GAZA
Editorial
Herzlich willkommen zurück im Kino! Nach sieben Monaten ohne
                                                                     MON AMOUR
Filmtheater öffnen die Türen und Vorhänge wieder, und die Pro-
jektoren laufen wieder an. Einige Kinos und viele Open Air-Büh-      MANCHMAL SIND DIE EINFACHSTEN
nen haben – je nach Länderbestimmungen – bereits seit Juni
wieder geöffnet, aber bei den allermeisten geht es gemeinsam
                                                                       GESCHICHTEN DIE SCHÖNSTEN
am 1. Juli los.
Nach Monaten auf kleinen Bildschirmen bekommen die Filme
endlich wieder Luft zum Atmen, und kein Film nutzt den dunklen
Raum besser als IN THE MOOD FOR LOVE von Wong Kar-Wai, der
im Juli frisch renoviert ins Kino kommt. Sehnsucht und Begehren,
laue Nächte, Zigarettenrauch, der durch das Bild zieht, und der
schönste Soundtrack der Welt - schön-sehnsüchtiger kann kein
Wiedersehen im Kino sein. Wenn man sich dann die Tränchen
aus den Augenwinkeln gewischt und einmal tief durchgeatmet
hat, ist es Zeit für den ruppigen Gewinner der diesjährigen Berli-
nale BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN von Radu Jude, die
Weite und Tiefe von Chloé Zhaos NOMADLAND und Thomas Vin-
terbergs Geschichte von Inspiration und Absturz DER RAUSCH.
In Minari verarbeitet Lee Isaac Chung seine Kindheit im ländli-
chen Arkansas, und in SOMMER 85 erfindet François Ozon nach
dem Jugendroman „Tanz auf meinem Grab“ eine leuchtend bunte
Liebe in den 1980er Jahren.
Beim letzten Mal Nachsehen haben wir 85 Filmstarts für den
Juli gezählt. Davon können wir in diesem Heft nur einen Teil
berücksichtigen, weitere Besprechungen findet ihr online unter
www.indiekino.de – dort sind auch längere Texte zu Filmen, die wir
bereits in der letzten Ausgabe ausführlich besprochen haben und
deshalb hier nur noch einmal kurz in Erinnerung rufen – ROSAS        EIN FILM VON TARZAN & ARAB NASSER
HOCHZEIT, MATTHIAS & MAXIME oder ZUSTAND UND GELÄNDE.
                                                                       www.alamodefilm.de   / alamode.filme
Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß im Kino!
Eure INDIEKINO Redaktion

                                                                       AB 22.7. IM KINO
Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEinhalt

06 Magazin                                                     39 Kinderfilme

08 „ICH MUSSTE ERST SELBST VATER                               40 Kinohighlights
   WERDEN, UM DIESE GESCHICHTE
   ERZÄHLEN ZU KÖNNEN“                                         42 „DIE SCHÖNHEIT DES LEBENS BESTEHT
   INTERVIEW MIT LEE ISAAC CHUNG                                  IN DER FLUCHT“ INTERVIEW MIT
   ZU MINARI                                                      FRANÇOIS OZON ZU SOMMER 85

12 BERLINALE GEWINNER                                          46 Nachbild
   BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN
                                                               47 Kinoadressen, Impressum, Abo
24 FLIRT-ALGORITHMUS
   ICH BIN DEIN MENSCH

34 „WAS WÄRE, HÄTTE GOTT DIE WELT
   OHNE ALKOHOL GESCHAFFEN?“
   INTERVIEW MIT THOMAS VINTERBERG
   ZU DER RAUSCH

Neu im JULI
16 Alles ist eins. Ausser der 0.   23   Gaza Mon Amour         18 Das Mädchen und die   34 Der Rausch
28 Der Atem des Meeres             36   Gefangen im Netz          Spinne                38 Los Reyes
12 Bad Luck Banging or             33   Glück                  19 Matthias & Maxime     28 Roamers
   Loony Porn                      27   The Green Knight       39 Mein Freund Poly      19 Rosas Hochzeit
31 Beyto                           32   Grenzland              8 Minari                 36 Ruben Brandt
22 Censor                          29   Homo communis          17 Nebenan               30 Sommer 85
17 Courage                         24   Ich bin dein Mensch    14 Nomadland             20 Tina
37 Die Dohnal                      37   Im Feuer               26 Orphea                21 The Trouble with Being
16 Frühling in Paris               40   In the Mood for Love   26 Percy                    Born
32 Gasmann                         29   Landretter             31 Possessor             22 Vor mir der Süden
                                   28   Die letzten Reporter   20 Proxima               36 Zustand und Gelände

Starts der Woche
Juni                               1.7.                        8.7.                     22.7.
20   Tina                          31 Beyto                    12 Bad Luck Banging or   32   Gasmann
16   Frühling in Paris             17 Courage                     Loony Porn            23   Gaza Mon Amour
39   Mein Freund Poly              24 Ich bin dein Mensch      32 Grenzland             33   Glück
36   Zustand und Gelände           40 In the Mood for Love     29 Homo communis         26   Orphea
36   Gefangen im Netz              29 Landretter               18 Das Mädchen und die   34   Der Rausch
28   Die letzten Reporter          14 Nomadland                   Spinne                28   Roamers
20   Proxima                       26 Percy                    38 Los Reyes
                                   31 Possessor                30 Sommer 85             29.7.
                                   19 Rosas Hochzeit                                    16   Alles ist eins. Ausser der 0.
                                   36 Ruben Brandt             15.7.                    28   Der Atem des Meeres
                                   21 The Trouble with Being   37 Im Feuer              22   Censor
                                      Born                     8 Minari                 37   Dohnal, Die
                                   22 Vor mir der Süden        17 Nebenan               27   The Green Knight
                                                                                        19   Matthias & Maxime
D4    D JULI 2021
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INDIEMagazin

DFF I: KATASTROPHE Ironischerweise
musste die Eröffnung der Ausstellung „KATASTROPHE. Was
kommt nach dem Ende?“ zum Thema Weltuntergänge im Film
wegen der COVID-Pandemie von November 2020 auf den
Sommer 2021 verschoben werden. Sie widmet sich der Bezie-
hung zwischen filmischen und realen Katastrophen: Wie stellen
und stellten sich Filmschaffende einerseits und Wissenschaft-
ler*innen andererseits in unterschiedlichen Zeiten die ultimative
Vernichtung vor? Welche Rettungsmöglichkeiten sehen sie?
Wie wahrscheinlich sind die Filmhandlungen? Wie prägen die
filmischen Inszenierungen unser aller Vorstellungen von einer
                                                                    Laura Poitras. Circles                                  Die Doku-
                                                                    mentarfilmemacherin Laura Poitras ist in Deutschland vor allem
Katastrophe? Die Ausstellung wurde vom Deutschen Filmmu-
                                                                    durch ihren Film CITIZENFOUR über den Whistleblower und Akti-
seum Frankfurt (Main) in Kooperation mit dem Senckenberg
                                                                    visten Edward Snowden bekannt. Im Neuen Berliner Kunstverein
Naturmuseum entwickelt, das auch ein „abwechslungsreiches
                                                                    findet bis zum 8.8. eine Ausstellung von Poitras‘ Videoinstallati-
Begleitprogramm“ beisteuern wird. Ab 14.7. dff.film
                                                                    onen statt. In der Serie ANARCHIST (2016) geht es um Drohnen-
Überlebende des Unter-                                              aufnahmen israelischer bewaffneter Angriffsdrohnen, die vom
gangs der Titanic blicken                                           britischen Geheimdienst abgefangen und wiederum vom der
auf das sinkende Schiff.
                                                                    US-Behörde NSA gehackt wurden. TERROR CONTAGION (2021)
Laterna-Magica-Dia
„Be British! Titanic“ (DFF)                                         behandelt die Malware „Pegasus“ des israelischen Cyberwaffen-
                                                                    herstellers NSO Group, die zur Verfolgung von Journalist*innen
                                                                    und Menschenrechtsaktivist*innen eingesetzt wird. In EDGE-
                                                                    LANDS (2021) untersuchen Poitras und Sean Vegezzi geheim
                                                                    gehaltene Orte der Polizei-, Überwachungs- und Strafvollzugs-­
                                                                    Infrastruktur in New York City. nbk.org

                                                                    DFF II: DAS EXOTISCHE, DAS
                                                                    GEWAGTE. Das Filmmuseum Frankfurt hat auf seiner
                                                                    Webseite in der virtuellen Ausstellung „Das Exotische, das
                                                                    Gewagte.“ Stummfilmposter der 1920er Jahre aus dem Archiv
                                                                    zusammengestellt und mit sehr ausführlichen Audio-Kommen-
                                                                    taren versehen, die von der Produktionsgeschichte und Rezen-
                                                                    sion von Poster und Film erzählen und analysieren, wie sich die
                                                                    damaligen Macht- und Geschlechterverhältnisse in die Bild- und
                                                                    Filmästhetik eingeschrieben haben. Das Projekt ist der Auftakt
                                                                    zu weiteren Vorhaben, die das 360°-Team mit Blick auf mehr
                                                                    Diversität im DFF in den kommenden Jahren plant. dff.film

KINOTOUR: DIE LETZTEN
REPORTER „Ich habe versucht, freundlich zu den
Menschen zu sein.“ So fasst Kolumnist Werner Hülsmann von
der Neuen Osnabrücker Zeitung sein Arbeitsethos zusammen.
Und so würden das sicher auch seine Kolleg*innen Anna Peter-
sen von der Lüneburger Landeszeitung und Thomas Willmann,
Sportreporter bei der Sächsischen Volkszeitung, unterschreiben.
Sie alle sind als Lokalreporter unterwegs, immer im Einsatz,
dicht an den Menschen der Region, und akut von der Digitalisie-
rung bedroht (Filmbesprechung auf Seite 28). Zum Start besu-
chen sie und Regisseur Jean Boué auch die Kinos der Region.
Tour-Termine unter: die-letzten-reporter.de/kino-tour

D6      D JULI 2021
Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEmagazin
                                                                  Klipp-Klapp-Box

                                                                   VERLOSUNG: SANDBURG                                  M. Night
                                                                   Shyamalan hat unter dem Titel OLD gerade den Comic „Sand-
                                                                   burg“ von Frederik Peeters und Pierre Oscar Lévy verfilmt. Die
                                                                   phantastische Geschichte um Menschen an einem einsamen
                                                                   Strand, die rasend schnell altern, müsste eine perfekte Vorlage
                                                                   für Shyamalans atmosphärisch dichten Stil bilden, aber vor
                                                                   Redaktionsschluss konnten wir den Film, der am 29.7. ins Kino

SPATZENKINO IM NEST                             Normaler-
                                                                   kommen wird, noch nicht sehen. Dafür haben wir den Comic
                                                                   gelesen und sind von der an Buñuels DER WÜRGEENGEL erin-
weise findet das Spatzenkino in Berlin und im Kino statt, aber
                                                                   nernden Geschichte begeistert. Wir verlosen drei Exemplare. Bei
im Moment bleibt der Spatz im Nest und kann deshalb von
                                                                   Interesse schreibt uns bis zum 15.7. eine Mail an
allen Kindern ab vier Jahren online besucht werden. Im Juli und
                                                                   info@indiekino.de, Stichwort: Sandburg
August gibt es im Nest Bastelanleitungen und zwei Kurzfilme für
Freundinnen und Freunde: Im Animationsfilm KLIPP-KLAPP-BOX
baut der Blumenverkäufer eine solche Kiste für ungewöhnliche
Freunde, die nicht ins Haus passen, und im Film ICH SEHE WAS,
WAS DU NICHT SIEHST hissen Mia und Ingo die Segel für ihr
Hochseeschiff auf dem Küchentisch, weil sie gerade nicht ans
Meer fahren können. spatzenkino.de

                                             AB 08. JULI IM KINO
Indiekino MAG MAGAZIN FÜR UNABHÄNGIGES KINO
INDIEFEATURE

Regisseur Lee Isaac Chung war kurz davor, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, als er in diesem Jahr mit MINARI seinen Durchbruch
hatte. Der semi-autobiografische Film über eine koreanische Zuwandererfamilie in den 1980er Jahren in den USA wurde inzwischen mit
107 Filmpreisen ausgezeichnet und war für sechs Oscars nominiert – davon hat er einen gewonnen: Yuh-Jung Youn erhielt den Preis für
die beste Nebendarstellerin für ihr Porträt der Großmutter Soon-ja. MINARI ist der erste Film von Chung, der in Deutschland ins Kino
kommt (sein Debüt MUNYURANGABO war 2008 auf der Berlinale zu Gast). Patrick Heidmann hat mit Chung über MINARI gesprochen.

                    „Ich musste erst selbst Vater
                    um diese Geschichte erzählen
                    Interview mit Lee Isaac Chung über MINARI

INDIEKINO: Mr. Chung, Ihr erster Spielfilm MUNYURANGABO vor         Lee Isaac Chung: Zu Beginn meiner Karriere verspürte ich den
14 Jahren spielte in Ruanda, danach drehten Sie einen, der von      Drang nicht wirklich, mich meiner Biografie zu widmen. Doch
der Lyrik Gerald Sterns inspiriert war und einen über eine ein-     vor MINARI war ich als Filmemacher an einem Punkt angekom-
same New Yorkerin. Warum verarbeiten Sie erst jetzt mit MINARI      men, an dem ich vor dem Ende meines Wegs stand. Ich war nach
auch Elemente Ihrer eigenen Lebensgeschichte?                       Korea gezogen und unterrichtete an der Uni. Es fehlte nicht viel
                                                                    und ich wäre festangestellter Professor in Vollzeit geworden. Ich

D8    D JULI 2021
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                                                                       so persönlich wie möglich war und mir mehr bedeutete als alle
                                                                       anderen vorher.

                                                                       Warum wollten Sie Professor werden und das Filmemachen
                                                                       aufgeben?

                                                                       Ich kann nicht leugnen, dass das Geld eine Rolle spielte. Man ver-
                                                                       dient nicht viel mit kleinen Independent-Filmen, und es wird auch
                                                                       immer schwerer, sie überhaupt umzusetzen. Vor allem aber war
                                                                       ich einfach unglaublich unzufrieden mit allem, was ich schrieb.
                                                                       Ich hielt mich für einen miesen Drehbuchautor, der Selbstzweifel
                                                                       und die Frustration wurden immer stärker. Meine Familie spürte
                                                                       das, mein Unglück war nicht zu übersehen. Irgendwann wusste
                                                                       ich, dass es so nicht weitergehen kann und wollte mich darauf
                                                                       konzentrieren, mir selbst und vor allem ihnen ruhige, stabile
                                                                       Lebensumstände zu bieten. Tatsächlich fanden wir genau das
                                                                       dann in Korea, wir lebten uns schnell ein und fanden Freunde.
                                                                       Meine Frau und Tochter waren happy. Aber dieser letzte Versuch,
                                                                       einen Film zu drehen, der mir alles bedeutet, musste es einfach
                                                                       noch sein.

                                                                       Sie erzählen nun also in MINARI – inspiriert von der eigenen
                                                                       Familiengeschichte – von einem aus Korea eingewanderten Ehe-
                                                                       paar, das in den frühen achtziger Jahren mit seinen beiden in den
                                                                       USA geborenen Kindern aus Kalifornien ins ländliche Arkansas
                                                                       auf eine kleine Farm zieht ...

                                                                       Dass diese Geschichte erzählenswert ist, wusste ich immer
                                                                       schon. Aber ich glaube, ich musste erst selbst Vater werden, um
                                                                       sie erzählen zu können. Um zu verstehen, wie diese Zeit damals
                                                                       eben nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern wohl war.
                                                                       Als nun meine Tochter in dem Alter war, das ich beim Umzug
                                                                       nach Arkansas hatte, und ich selbst etwa im Alter meines Vaters
                                                                       damals, wusste ich, dass der Zeitpunkt nun der richtige war.

                                                                       War die Gratwanderung zwischen Autobiografie und Fiktion eine
                                                                       schwierige?

                                                                       Anfangs bereitete es mir etwas Unbehagen, einerseits die

werden,
                                                                       Geschichte meiner Eltern zu erzählen, es aber eben anderer-
                                                                       seits nicht mit ihrer Stimme, sondern aus meiner Perspektive als
                                                                       Sohn zu tun. Doch letztlich beflügelte mich dann der Gedanke

zu können“                                                             an Truffauts SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN. Ich weiß,
                                                                       dass das für ihn eine sehr persönliche Geschichte war, trotzdem
                                                                       denken wir bei dem Film nicht an Truffauts Geschichte, sondern
                                                                       an die von Antoine Doinel. So etwas wollte ich auch erreichen.
                                                                       Entscheidend dafür war natürlich, den Figuren andere Namen
 wusste, dass ich vermutlich nur noch eine einzige Chance haben        zu geben und sie eben nicht mit meiner Familie gleichzusetzen.
 würde, ein Drehbuch zu schreiben. Und das musste dann einfach         Meine Erinnerungen sollten den Ausgangspunkt darstellen, aber
 eines sein, das sich lohnt. Eines, das ich bereuen würde, nicht ge­   ich versuchte immer, Raum zu lassen für Fiktion. Und bloße nos-
 schrieben zu haben. Ob daraus dann überhaupt ein Film werden          talgische Sentimentalität zu vermeiden. Ob mir das in allen Sze-
 würde, stand noch vollkommen in den Sternen. Aber ich merkte,         nen gelungen ist, vermag ich selbst nicht zu sagen. Aber es war
 dass die Zeit gekommen war, eine Geschichte zu erzählen, die          mein Anspruch.

                                                                                                                        JULI 2021 D   9D
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Als kleiner Junge mit koreanischen Wurzeln in der US-Provinz auf      und was „fremd“ heißt. Solange wir darüber sprechen und den
dem Land aufzuwachsen – sah das in den achtziger Jahren anders        Status quo in Frage stellen, ist schon vieles gewonnen.
aus als es heute der Fall wäre?
                                                                      Apropos fremd: Rassismus kommt als Thema im Film nur am
Oh, interessante Frage. Was damals sicherlich anders war, war         Rande vor. Warum?
die Tatsache, dass wir keinerlei Vorbilder hatten. In den siebziger
Jahren hatten die USA ja gerade erst wieder angefangen, Einwan-       Mir war klar, dass ich das Thema nicht vollkommen außen vor
derer aus asiatischen Staaten ins Land zu lassen. Es gab damals       lassen kann, denn das wäre mir als verantwortungslos und unrea-
dann eine richtige Welle von Immigranten aus Asien und mein           listisch vorgeworfen worden. Aber es sollte auf keinen Fall im Vor-
Vater war einer von ihnen. Und wenn Leute wie er dann aus den         dergrund stehen, denn das tut es für die Familie, um die es hier
Städten raus aufs Land zogen, dann gab es da niemanden, der           geht, auch nicht. Natürlich gibt es Situationen, in denen sie Frem-
aussah wie sie oder ihre Erfahrungen teilte. Das wäre heute etwas     denfeindlichkeit erleben, aber ihr Alltag wird davon nicht domi-
anderes. Mein Neffe ist ungefähr so alt wie ich es damals war und     niert. Unter anderem deswegen war es mir auch wichtig, dass
er war ziemlich irritiert, als er MINARI sah. Vieles, was im Film     diese Familie nicht ganz frisch in den USA angekommen, sondern
gesagt wird, verstand er nicht, weil er es selbst nicht kennt. Er     bereits seit einigen Jahren im Land ist. Wovon ich erzählen wollte,
hat Eltern, die ihm helfen können beim Aufwachsen als asiatisch-      war weniger ein Ankommen und ein Assimilieren an eine fremde
stämmiger Amerikaner, weil sie es selbst bereits erlebt haben.        Kultur, als eher ein Art Assimilation innerhalb der Familie. Wie
Und er hat andere Kinder mit asiatischen Wurzeln als Freunde.         sich das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander verändert
Die Erlebnisse meiner Kindheit waren also schon sehr konkret an       und verschiebt, fand ich spannend, nicht einem „weißen Publi-
jene Zeit gekoppelt.                                                  kum“ zu erklären, wer wir sind und was wir auf unserem Weg
                                                                      durchmachen mussten.
Manche würden Ihren Werdegang vermutlich als Paradebeispiel
des amerikanischen Traums bezeichnen, oder?                           Lassen Sie uns noch kurz über Ihre Schauspieler*innen sprechen.
                                                                      Steven Yeun, der den Vater spielt, ist dank THE WALKING DEAD
Puh, da bin ich nicht sicher, wie ich das sehe. Dieser Begriff ist    und OKJA sicherlich der bekannteste amerikanisch-koreanische
erstens recht abgenutzt und verwässert, und zweitens bedeutet         Schauspieler der Welt...
er vermutlich für jeden individuell etwas ganz anderes. Was ist
der amerikanische Traum? Der von dem Martin Luther King Jr.           Und er ist mit meiner Cousine verheiratet. Deswegen hatte ich
gesprochen hat? Darauf könnte ich mich einigen. Und der war           ihn anfangs für die Rolle überhaupt nicht auf dem Schirm. Beruf
es wohl auch, der meine Eltern damals in die USA hat kommen           und Familie zu trennen war für mich eigentlich immer das oberste
lassen: dieser Gedanke, dass es in diesem Land möglich ist, nicht     Gebot. Ich hätte Steven nie für die Rolle angefragt, weil ich viel
nur etwas aus sich zu machen, sondern man auch auf Gleichheit         zu viel Angst gehabt hätte, dass er sich verpflichtet fühlt und aus
und Gemeinschaft hoffen kann. Das ist in der Praxis nicht immer       den falschen Gründen zusagt. Eigentlich wollte ich also in Korea
gegeben. Aber wenn ich mich in meiner sehr diversen Nachbar-          nach einem geeigneten Schauspieler suchen. Doch dann bekam
schaft in Los Angeles umsehe, wo eine Community aus unter-            Steven das Drehbuch in die Hände und war interessiert, was ich
schiedlichsten Familien zusammenlebt, sich gegenseitig unter-         über meinen Agenten erfuhr. Was für ein Glück! Schon allein, weil
stützt und für die Demokratie und Gerechtigkeit kämpft – das ist      er das perfekte Bindeglied war zwischen den aus Korea kom-
für mich der amerikanische Traum. Meine Geschichte ist auch ein       menden Schauspieler*innen, einem Hollywood-Veteran wie Will
Traum, schließlich habe ich es nun doch geschafft, meiner Familie     Patton und den beiden wunderbaren koreanisch-amerikanischen
und mir selbst ein stabiles Leben zu ermöglichen und offenbar         Kindern, die noch nie einen Film gedreht hatten.
trotzdem weiter Filme zu machen. Doch das ist mein ganz eige-
nes Ding.                                                             Youn Yuh-jung als die Großmutter besetzen zu können, war
                                                                      sicherlich ebenfalls ein großes Glück, nicht wahr?
Es wurde in den USA sehr kontrovers diskutiert, dass MINARI bei
Filmpreisen wie dem Golden Globe in die Kategorie „fremdspra-         Ich war sehr nervös, als wir ihr die Rolle angeboten haben. Sie hat
chiger Film“ gesteckt wurde und häufig nicht mit anderen US-Pro-      den Ruf, sehr ehrlich und meinungsstark zu sein, und ich hatte
duktionen konkurrierte. Hat Sie das befremdet?                        natürlich Angst, sie könnte das Drehbuch nicht mögen. Dass
                                                                      sie dann zugesagt hat, war eine Riesensache für mich. Denn in
Für mich war diese Diskussion ein Wechselbad der Gefühle. Aber        Korea ist sie schließlich ein großer Star. Und vor allem ist sie die
mir gefiel daran, dass mehr und mehr Menschen über die Regeln         Lieblingsschauspielerin meiner Eltern. In meiner Jugend war sie
diskutiert haben, nach denen wir Filme einordnen und in Schub-        omnipräsent, weil sie in allen großen Fernsehserien mitspielte,
laden stecken. Und ich hoffe, dass wir auch weiter daran arbeiten     die wir auch in den USA sehen konnten.
werden, unseren Begriff davon zu erweitern, was „amerikanisch“        D Das Gespräch führte Patrick Heidmann

D 10   D JULI 2021
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Originaltitel: Minari D USA 2020 D 115 min D R: Lee Isaac Chung              ein Grundstück gekauft, das er landwirtschaftlich erschließen
D B: Lee Isaac Chung D K: Lachlan Milne D S: Harry Yoon D M: Emile Mosseri   will. Bis das Feld jedoch Früchte trägt, arbeiten er und seine Frau
D D: Steven Yeun, Yeri Han, Youn Yuh Jung, Will Patton D V: STUDIOCANAL
                                                                             Monica (Yeri Han) in einer Hühnerfabrik, während die beiden,
                                                                             schon in Amerika geborenen Kinder Anne (Noel Kate Cho) und
                                                                             David (Alan S. Kim) zu Hause bleiben. Bindeglied zwischen den
                                                                             Generationen ist die Großmutter Soon-ja (Yuh-Jung Youn), die aus
                                                                             Korea nachgeholt wird, um die Kinder zu hüten. Doch die eigen-
                                                                             willige Frau bringt auch etwas anderes mit: Die Traditionen der
                                                                             Heimat, die den Eltern verlorenzugehen drohen.
                                                                             Man merkt MINARI an, dass Lee kein ganz junger Regisseur ist,
                                                                             sondern schon über 40, dass er Lebenserfahrung besitzt, die ihm
                                                                             nun ermöglicht, das Verhalten und die Entscheidungen aller Seiten
                                                                             mit großer Authentizität zu zeigen. Mit einer Gleichmut, die oft an
                                                                             das asiatische Kino erinnert, erzählt er von Problemen und Konflik-
                                                                             ten, die trotz allem nie ein großes Hindernis darstellen. Lee insze-
                                                                             niert mit MINARI kein großes Drama, sondern einen warmherzigen,
                                                                             genau beobachteten Film, der zeigt, wie eine koreanische Familie

    Minari                                                                   sich langsam mit der amerikanischen Mentalität arrangiert – und
                                                                             dabei etwas Eigenständiges entsteht. D Michael Meyns
    Zugewandert in Arkansas
                                                                             ¢ Start am 15.7.2021

Lee Isaac Chung hat bis zu seinem vierten Film gewartet, um
Kindheitserlebnisse filmisch zu verarbeiten. Sein viel gelobtes
und ausgezeichnetes Familiendrama MINARI erzählt von der                      In his semi-autobiographical film, Lee Isaac Chung depicts Korean-Ameri-
koreanisch-amerikanischen Familie Yi, die auf der Suche nach                  can family Yi, who don‘t move out west in search of the American Dream,
                                                                              but rather from California to rural Arkansas.
dem amerikanischen Traum nicht nach Westen zieht, sondern von
Kalifornien nach Arkansas. Dort hat Vater Jacob (Steven Yeun)

                  Von der Regisseurin von VOR DER MORGENRÖTE und UNORTHODOX

                                                                    MAREN EGGERT DAN STEVENS SANDRA HÜLLER

                                     „Ein raffiniertes Gedankenspiel
                                          mit Witz und Charme.“                                Ich bin
                                                                                                 dein
                                                           heute journal

                                                                                              Mensch
                                                                                                      ein Film von MARIA SCHRADER

                                                                                                       „Der lustigste deutsche Film
                                                                                                         seit TONI ERDMANN!“
                                                                                                                              Brigitte

                                                         JETZT IM KINO                  www.ichbindeinmensch.de         /DeinMensch        /ichbindeinmensch
INDIEFEATURE

       Bad Luck Banging or Loony Porn
       Berlinale-Gewinner

Realismus, Wahnsinn und eine unbändige Wut auf geschichtsver-                 Internet aufgetaucht und hat einen Shitstorm ausgelöst. Eltern
gessene, rechtsradikale, sich selbst für die anständige Mitte hal-            und Schulleitung haben sie vorgeladen. Ebenso gestresst wie
tende Dummbürger und -bürgerinnen geben sich in Radu Judes                    Emi ist auch die ganze Stadt, ständig bricht Streit aus und fette
Berlinale-Gewinner die Hand.                                                  SUVs parken bräsig die Fußgängerüberwege zu. Eine beobacht-
                                                                              ende Kamera folgt Emi auf Distanz und schaut sich dabei in den
Es gibt drei Teile, die von fröhlichen pinkfarbenen Zwischenta-               Straßen um: Menschen mit Masken, kaputte Fassaden, billige
feln und Kirmesmusik ebenso beschwingt wie schäbig eingelei-                  Werbung. Pandemie-Alltag im Spielfilm, unglaublich erleichternd
tet werden. Der erste begleitet die Lehrerin Emi durch Bukarest,              zu sehen nach den Monaten, in denen Kino sich nur noch in fan-
Emi ist gestresst. Ein privat gedrehtes Sexvideo von ihr ist im               tastischen Parallelwelten zu bewegen schien, völlig abgekoppelt
                                                                              von dem, was eigentlich gerade in der Welt passiert. Bei Jude ist
                                                                              die Pandemie nicht groß Thema, aber sie ist da – in den Mas-
                                                                              ken am Arm, im Abstand zwischen den Menschen oder in der
                                                                              Szene, in der die kleine alte Dame zum Gespräch in der Apotheke
                                                                              die Maske runterzieht und daraus, natürlich, wieder ein Streit
                                                                              entsteht.

                                                                              Rumänien/Luxemburg/Kroatien/Tschechische Republik 2021 D 106 min
 Realism, madness, and an unbridled anger towards those who ignore
                                                                              D R: Radu Jude D B: Radu Jude D K: Marius Panduru D S: Cătălin Cristuțiu
 history, right-wing radicals, and stupid citizens who regard themselves as
                                                                              D M: Jura Ferina, Pavao Miholjevi D D: Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia
 decent converge in Radu Jude’s three-part farce.
                                                                              Mălai, Nicodim Ungureanu, Alexandru Potocean, Andi Vasluianu D V: Neue
                                                                              Visionen Filmverleih

D 12   D JULI 2021
INDIEFEATURE

Der zweite Teil ist eine Sammlung von kurzen und kürzesten              Farce ist, legt nochmal an Fahrt zu und steigert sich immer weiter
Anekdoten, die Radu Jude seinem Publikum offenbar einfach mal           ins Absurde.
um die Ohren knallen wollte. Es gibt jeweils einen Titel, zum Bei-
spiel „Bücherregal“, ein Bild oder einen kleinen Film, in diesem        „Kein Film erzählt per se die Wahrheit. Man muss die Filme mit
Fall das Foto eines Bücherregals, und einen kleinen erläuternden        der Realität vergleichen.“, singt der Abspann. D Hendrike Bake
Text, hier ist das die schöne Sentenz „Aus den Bibliotheken gehen       ¢ Start am 8.7.2021
die Schlachter hervor“. Zu „Vergewaltigung“ erfährt man, dass
55% der Rumän*innen diese unter Umständen für nachvollzieh-
bar halten, etwa wenn Drogen im Spiel sind, sie mit nach Hause
gegangen ist oder sich provokant angezogen hat. Etwa zwei Dut-
zend dieser Kurzschnipsel bilden eine wütende Tirade, deren
Zusammenfassung sich vielleicht in jenem Abschnitt findet, der
„Politik“ heißt und mit dem Satz beginnt „Politische Indifferenz
kommt moralischer Fäulnis nahe.“

Im dritten und letzten Teil verhandeln Eltern und Schulleitung
dann – mit Abstand und Masken im Schulhof – über Emis
Zukunft. Zunächst wird nochmal das Sex-Tape gezeigt, während
Emi daneben sitzt, dann wird ein Tribunal gehalten, in dem vom
Blowjob über Bill Gates bis hin zum Holocaust alles, was an
Ressentiments in vernebelten Hirnen gerade so in Umlauf ist,
zur Sprache kommt. Es gibt zotige Zwischenrufe, persönliche
Angriffe, ausführliche, vom Handy verlesene wissenschaftliche
Texte zum Thema Kindererziehung, und Emi zitiert zu ihrer Vertei-
digung obszöne Gedichte des Nationaldichters Eminescu. Dieser
Teil, der zugleich Kammerspiel und eine wilde, dicht inszenierte

                           »Mein Herz klopft vor Freude, vor Ungeduld, vor Erregung.
                     Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento, und der ganze Süden vor mir.
                                  Das Abenteuer beginnt.«     Pier Paolo Pasolini

                                               Durch Italien auf den Spuren
                                                 von Pier Paolo Pasolini

                                              Ein Dokumentarfilm von   Pepe Danquart
                                                 ab 01. juli im kino
INDIEFEATURE

Cloe Zhaos NOMADLAND hat 2020 nahezu alle wichtigen Oscars               NOMADLAND ist zugleich ein Porträt dieses nomadischen
gewonnen: für den Besten Film, die Beste Regie und Beste Haupt-          Lebensstils am armen Rand der US-amerikanischen Gesellschaft
darstellerin (Frances McDormand). Nach der emotionalen Wucht             und die Erzählung des Heilungs- und Trauerprozesses, den Fern
ihres herausragenden Films THE RIDER (2017) war es eigentlich            durchlebt. Der fiktionale Erzählstrang und das dokumentarische
nur eine Frage der Zeit und der Anwesenheit mindestens eines             Interesse am Nomaden-Lebensstil gehen hier nicht ganz so naht-
Stars in einem Film von Zhao, wann es die ersten Oscars regnen           los zusammen wie in THE RIDER. Dort erzählte Zhao die reale,
würde. Die Oscars für NOMADLAND sind gerechtfertigt, der Film            gefunden Geschichte eines Cowboys, der nicht mehr reiten durfte
ist großartig. Wie bereits in SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME                und porträtierte seine Lebenswelt. Hier sind die Gespräche, die
und THE RIDER, die in der Pine Ridge Reservation in South Dakota         Frances McDormand mit echten Nomad*innen führt, episodisch
gedreht wurden, erzählt Zhao eine psychologische Geschichte vor          in die Handlung eingefügt, aber nur lose mit ihr verbunden. Das
einem dokumentarischen Hintergrund, und die Landschaftsauf-              hat immer noch eine große emotionale (und politische) Wucht,
nahmen von ihrem regelmäßigen Mitarbeiter und Kameramann                 auch weil Frances McDormand nicht nur die Herzen im Kino
Joshua James Richards sind ähnlich überwältigend. Hier aber              zufliegen, sondern sie auch einen Draht zu den Laiendarsteller*in-
werden die Hauptrollen von professionellen Schauspieler*innen            nen entwickelt und echtes Interesse an deren Leben zu haben
gespielt, die Nebenfiguren dagegen spielen sich selbst.                  scheint. Aber Zhaos Methode der Immersion in minoritäre Kultu-
                                                                         ren und der Kombination von dokumentarischen Elementen mit
NOMADLAND erzählt von Fern (McDormand), die ihren Ehemann                einer gradlinigen Dramaturgie der fiktionalen Erzählung lässt sich
in der ehemaligen Bergbau- und heutigen Geisterstadt „Empire“            nicht endlos fortführen. Sie droht zu einer Masche zu werden,
bis zu seinem Tod gepflegt hat. Nach der Schließung einer Gips-          die Außenseiter und Minoritäten zum Authentizität vorgaukelnden
und Bauteilefabrik ist die Stadt zusammengebrochen. Fern lebt            Dekor werden lässt. Man wird das in den nächsten Jahren bei
seitdem in einem zum Wohnwagen ausgebauten Kleinbus als                  Epigonen von Zhaos Stil sehen. NOMADLAND ist vorerst der fil-
Nomadin. Der Film beginnt kurz vor Weihnachten, als Fern auf             mische Höhepunkt eines Stils, der das postdramatische Theater
das Gelände einer riesigen Amazon-Lagerhalle fährt, um dort              seit einigen Jahren dominiert. D Tom Dorow
als Zeitarbeiterin zu jobben. Offenbar hat Amazon einen eige-            ¢ Start am 1.7.2021
nen Campingplatz für nomadisch lebende Arbeiter*innen: Die
Finanzkrise von 2007/2008 war für viele US-Amerikaner*innen
vor allem eine Immobilienkrise, denn sie verloren mit ihren Hypo-
theken und ihren Umschuldungsmodellen oft auch ihre Häuser
und Wohnungen. Entlang der Landstraßen entstanden große
„RV-Parks“ (R=Recreational Vehicle=Wohnmobil), die die Trai-
ler-Parks mit den vergleichsweise komfortablen Großwohnwagen
der 70er-90er Jahre ergänzten. Sie sind eine amerikanische Ver-
sion der deutschen Dauercampingplätze und Laubenkolonien,
in denen ja auch in Deutschland oft Menschen dauerhaft – und
hierzulande oft am Rande der Legalität – leben. Fern hat gelernt,
mit sehr wenig zu leben, und sie ist darauf bedacht, Begegnungen
freundlich, aber nicht allzu herzlich und intim werden zu lassen.
Erst als es ihr nicht gelingt, einen Job zu finden, folgt sie der Ein-
ladung einer ebenfalls nomadisch lebenden Kollegin bei Amazon,
zu einem Treffen von Nomad*innen mit Bob Wells zu fahren. Bob
Wells ist ein echter Nomade, wie die meisten Personen, denen
Fern auf ihrer Reise begegnet. Wells ist Autor eines Buches über
das Leben in Wohnwagen und Vans, betreibt eine Website und
bietet kostenlose Youtube-Lektionen über den Lebensstil an. Das
„Rubber Tramp Rendezvous“ ist der Höhepunkt des Jahres für
seine Organisation „Home on Wheels Alliance“.

D 14   D JULI 2021
INDIEFEATURE

Nomadland
Zwischen Armut und Freiheit

                                                                                  USA 2020 D 108 min D R: Chloé Zhao D B: Chloé Zhao D K: Joshua James
NOMADLAND centers on Fern (Frances McDormand), a silent, restless
                                                                                  Richards D S: Chloé Zhao D M: Ludovico Einaudi D D: Frances McDormand,
woman who becomes one of the “nomads“ after the death of her husband.
                                                                                  David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie D V: Walt Disney Company
The community lives in trailers at the margins of society leading a life that‘s
somewhere between poverty and freedom.

                                                                                                                                        JULI 2021 D    15 D
INDIEKRITIKEN

Deutschland 2020 D 90 min D R: Klaus Maeck, Tanja Schwerdorf D K: Hervé    Originaltitel: 16 printemps D Frankreich 2020 D 73 min D R: Suzanne Lindon
Dieu D S: Andreas Grützner D M: Alexander Hacke D V: Neue Visionen         D B: Suzanne Lindon D K: Jérémie Attard D S: Pascale Chavance D M: Vincent
                                                                           Delerm D D: Suzanne Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot, Dominique
                                                                           Besnehard D V: MFA

       Alles ist eins.                                                         Frühling in Paris
       Ausser der 0.                                                           Gleichklingende Melancholie

       Informationsfreiheit und Datenschutz
Wer einen Krieg vorbereitet, wird versuchen, die Kommunika-                Suzanne Lindon, die Tochter des französischen Superstar-Schau-
tion zu unterbinden. Menschen, die miteinander reden, gehen                spielerpaars Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, war gerade
nicht aufeinander los. Diese pazifistische Einsicht ist eine der           mal 15 Jahre alt, als sie das Drehbuch zu FRÜHLING IN PARIS
Prämissen, unter denen der Chaos Computer Club, kurz CCC,                  geschrieben hat, und auch in der Verfilmung des Stoffes, die sie
in Deutschland für ein Menschenrecht auf ungehinderte Kom-                 nun im Alter von 21 Jahren realisiert hat, steckt noch viel Teenager.
munikation und für öffentliche Informationsfreiheit bei gleichzei-         Zum Beispiel ist da diese Kombination aus extremer Schüchtern-
tigem Schutz der privaten Daten kämpft. Während der Coron-                 heit gepaart mit einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl. Lindon
akrise nicht zuletzt mit umfassender Kritik an der Luca-App                spielt sich selbst, bzw. eine 16-Jährige mit dem Namen Suzanne,
hervorgetreten, hat die Hackervereinigung auch schon mal ein               die mit ihren Mitschüler*innen wenig anfangen kann. Inmitten von
unabhängiges Medienzentrum beim G20 eingerichtet. „Dr. Waus                Freundinnen wirkt sie verloren, hört kaum, was diese sagen. Als
Chaos Computer Club Film”, wie die Titelergänzung zu ALLES                 ein Mädchen sie auf dem Weg zu einer Party fragt, wie sie die
IST EINS. AUSSER DER 0 lautet, schildert die Historie des CCC              Jungs in der Klasse auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten würde,
in einer flott geschnittenen Mischung aus privatem und TV-Ar-              sagt sie erst, dass sie das prinzipiell blöd findet, um dann anzufü-
chivmaterial, Animationen, found footage aus zeitgenössischen              gen „Wenn ich unbedingt müsste – alle eine fünf.“ Interessanter
Nachrichten wie auch Werbung, von Punkkonzerten und aus dem                findet Suzanne einen melancholischen Theaterschauspieler Mitte
Film 23. Der wilde Video- und Bilderreigen wird sanft strukturiert         Dreißig, der in einem kleinen Boulevardtheater spielt, an dem sie
von Erzähler Peter Glaser, dem ehemaligen Chefredakteur der                täglich auf dem Schulweg vorbeikommt. Sie lungert dort herum
CCC-Zeitschrift „Datenschleuder“, und dicht zusammengezurrt                und lernt ihn kennen. Sie trinken eine Limonade zusammen. Wo
von einem Soundtrack Alexander Hackes. So ergibt sich ein                  nun im klassischen französischen Autorenkino rehäugige Erotik an
Überblick über die verschiedenen markanten Stationen von der               der Grenze zur Legalität folgen würde, bleibt es in FRÜHLING IN
Gründung des CCC 1981 über den medienwirksamen BTX- hin                    PARIS fast kindlich versponnen. Momente der Nähe ersetzt Lin-
zum beängstigenderen NASA- und KGB-Hack sowie die connec-                  don mit Tanzeinlagen, die eher von gleichklingender Melancholie
tions zu Snowden und Wikileaks, es entsteht aber auch ein lie-             als von Körperlichkeit erzählen. Sie illustrieren weniger die Bezie-
bevolles Porträt des verstorbenen zentralen Gründungsmitglieds             hung der beiden, als das Bild von Liebe und Erwachsensein, das
und CCC-Philosophen Dr. Wau. Eine seiner messages ist aktu-                Suzanne mit sich herumträgt. FRÜHLING IN PARIS ist sehr eigen,
eller denn je: Es geht nichts über unmittelbare Erfahrung und              schwer zu fassen und vielleicht, wie die Suzanne im Film, noch zu
direkten zwischenmenschlichen Austausch ohne mediale Ver-                  sehr im eigenen Kopf verfangen, um wirklich Kontakt mit dem Pub-
mittlung. D Anna Stemmler                                                  likum aufzunehmen, macht aber sehr neugierig auf den weiteren
¢ Start am 29.7.2021                                                       Weg der Regisseurin. D Hendrike Bake ¢ Start am 17.6.2021

 The Chaos Computer Club (CCC) was founded in 1981 in the editorial         16 year old Suzanne doesn’t get on with her peers. The melancholy actor in
 offices of taz and has been fighting for open communication, freedom of    his thirties working in a small boulevard theater that she passes by on her
 information, and the protection of personal data ever since.               way to school every day is far more interesting.

D 16      D JULI 2021                                                                                                 Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN

Deutschland 2021 D 92 min D R: Daniel Brühl D B: Daniel Kehlmann                Deutschland/Weißrussland 2021 D 90 min D R: Aliaksei Paluyan D K: Tanya
D D: Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann, Aenne Schwarz, Gode Benedix     Haurylchyk, Jesse Mazuch D S: Behrooz Karamizade D V: Rise and Shine
D V: Warner Bros.                                                               Cinema

    Nebenan                                                                         Courage
    Am Tresen mit Daniel Brühl                                                      Protest in Belarus

Wer kennt schon seine Nachbarn – also so wirklich? Mal begeg-                   Erst im Mai zwangen die belarussischen Behörden ein Flugzeug
net man sich flüchtig im Hausflur, holt ein Paket ab, führt ein                 zur Landung, um einen Regimekritiker zu verhaften, und forderten
bisschen Smalltalk über den Balkon hinweg. Oder man trifft sie                  der EU eine Reaktion ab, deren Folgen kaum absehbar erschei-
in der Kneipe um die Ecke, so wie Daniel, der dort eines Morgens                nen. Zumindest für den Moment war Belarus damit im Bewusst-
einkehrt, weil seine Agentur das Taxi zum Flughafen viel zu früh                sein der westlichen Öffentlichkeit – wie der Alltag im zwischen
bestellt hat. Der Schauspieler, gespielt von Daniel Brühl als Über-             Polen und Russland liegenden Pufferstaat abläuft, davon wird im
höhung seiner selbst, ist auf dem Weg zum Casting nach London,                  Westen dagegen wenig bekannt. Auch davon berichtet Aliaksei
wo eine Rolle als Superheld auf ihn wartet. Doch die Begegnung                  Paluyan in seinem Dokumentarfilm COURAGE.
mit Bruno (Peter Kurth in formidabler Form), der nicht nur mit                  Der Film über den Widerstand in Belarus wurde im Sommer 2020
dem Werk des eitlen Stars bestens vertraut ist, neben dem er                    gedreht, rund um die Präsidentschaftswahl vom 9. August, nach
seit Jahren wohnt, ruiniert ihm binnen kürzester Zeit nicht nur                 deren fragwürdigem Ergebnis zehntausende Bewohner*innen der
den Tag, sondern gleich sein ganzes schön geordnetes Leben.                     Hauptstadt Minsk auf die Straßen gingen, oft gekleidet in weiß-ro-
Denn Bruno, so viel steht fest, ist extrem sauer. Auf Daniel. Auf               ter Kleidung oder weiß-rote Fahnen schwenkend, in Anlehnung
die Wendegewinnler. Ach was, auf die ganze gottverdammte Welt.                  an die Fahne, die in der damaligen Weißrussischen Volksrepublik
Und so sitzt er da am Tresen, schlürft gemächlich sein Bier und                 zwischen 1917 und 1919 wehte. Damals war das Land kurze Zeit
lässt eine unschöne Wahrheit über Daniels Privatsphäre nach der                 demokratisch, inzwischen gilt es als brutalste Diktatur Europas,
anderen vom Stapel, genüsslich und behutsam, so dass die Wir-                   die der Herrscher Alexander Lukashenko mit eiserner Hand führt.
kung ihr Ausmaß mit aller Kraft entfalten kann.                                 Immer wieder brandet Protest auf, regelmäßig erheben sich die
Für Kurth, der definitiv die besten Sätze und Pointen aus Daniel                Menschen, meist die jüngeren, gehen auf die Straße und werden
Kehlmanns Drehbuch abgegriffen hat, ist NEBENAN ein Haupt-                      verhaftet. Doch letzten Sommer geschah Außerordentliches: Die
gewinn. Die Rolle des vernichtenden Ossi-Rächers steht ihm so                   ältere Generation, die Eltern, die noch im Kommunismus aufge-
gut, dass man manchmal vergessen könnte, dass dies eigentlich                   wachsen waren, schlossen sich dem Protest an, zogen vor das
Brühls Film ist oder zumindest sein soll, der hier erstmals auch                berüchtigte Foltergefängnis, in dem ihre Kinder und Enkel inhaf-
selbst Regie geführt hat. Und schlecht macht auch er seine Sache                tiert waren und erzwangen deren Freilassung. Paluyan hatte
nicht – weder vor noch hinter der Kamera. Nur will sich zwischen                schon vorher angefangen zu drehen, doch das Spektakuläre sei-
diesen beiden Top-Schauspielern trotz der bisweilen schmissigen                 nes Films sind die Bilder des Protestes. Gerade das Wissen, dass
Dialoge kein rechter Rhythmus einstellen. Immer wieder stockt                   den Demonstrierenden bei einer Verhaftung Folter drohen kann,
die Dynamik, kippt das Gleichgewicht zugunsten des teuflischen                  macht ihren Mut so eindrucksvoll. Und COURAGE zu einem so
Nachbarn. D Pamela Jahn ¢ Start am 15.7.2021                                    wichtigen Dokument. D Michael Meyns ¢ Start am 1.7.2021

 Vain actor Daniel Brühl (playing himself) is at a corner bar when he encoun-    Aliaksei Paluyan’s documentary COURAGE about the resistance movement
 ters bitter neighbor Bruno (Peter Kurth) who takes the opportunity to settle    in Belarus was filmed in the summer of 2020 during the presidential elec-
 the score with him.                                                             tion on August 9th. After the dubious election results ltens of thousands of
                                                                                 citizens took to the streets in Minsk, the capital.

Termine unter www.indiekino.de                                                                                                            JULI 2021 D      17 D
INDIEKRITIKEN

       Das Mädchen und
                                                                     Schweiz 2021 D 98 min D R: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher D B: Ramon
                                                                     Zürcher, Silvan Zürcher D K: Alexander Hasskerl D S: Ramon Zürcher, Katha-

       die Spinne                                                    rina Bhend D M: Philipp Moll D D: Henriette Confurius, Esmée Liliane Amuat,
                                                                     Ursina Lardi, Flurin Giger, André M. Hennicke D V: Edition Salzgeber
       Genauer Rhythmus

Ständig, wirklich ständig läuft irgendjemand ins Bild, die Nach-     es sich miteinander lebt, in Räumen und in Beziehungen, das
barin, die nur mal gucken wollte, wer denn da jetzt einzieht, ein    verhandeln Ramon und Silvan Zürcher in präzisesten Bildern und
fremdes Kind, das sich aus dem Treppenhaus verirrt hat, und sei      genau komponiertem Rhythmus.
es nur eine Spinne, die sich ohne eigenes Zutun in der Wohnung       Mit DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN feierten die Brüder Zürcher
wiedergefunden hat.                                                  einen Festivalerfolg. Der Film über eine erweiterte Familienkons-
In Das Mädchen und die Spinne lösen Mara (Henriette Con-             tellation, die sich in einer Wohnung aufhält und sich ähnlich von
furius) und Lisa (Liliane Amuat) ihre WG auf, in der sie mit einem   Raum zu Raum und Gespräch zu Gespräch bewegt, lief 2013 im
Mitbewohner (Ivan Georgiev) leben. Lisa ist in eine neue, eigene     Forum der Berlinale. Acht Jahre später wirkt ihr neuer Film, als
Wohnung gezogen und die Kamera von Alex Haßkerl ist mit einge-       hätten sie ihr eigenes Werkzeug nochmal geschärft. Die Dialoge
zogen. Zwischen Kisten, Türen und Fenstern begrüßen Mara und         sind zugespitzter, die Blicke noch aufgeladener, zwischen dem
Lisa Freundinnen, Handwerker, die Mutter, die Nachbarin, stehen      ganz Alltäglichen und scheinbar Nebensächlichen hängt immer
in Türrahmen und in der Küche, betrachten die Waschmaschine          auch eine Spur Bedrohung oder sexuelle Anziehung in der Luft.
und den Esstisch, verhandeln Lebensabschnitte, Erotik und Ver-       Noch gibt es aus den Wohnungen kein Entkommen: Ihr nächster
gangenes in wenigen Sätzen und anhand ihrer Gegenüber. Die           Film soll der letzte Teil der Trilogie werden. D Lili Hering
Bilder sind statisch. Die Figuren und Verhältnisse sind es nicht:    ¢ Start am 8.7.2021
Lisas Mutter (Ursina Lardi) wird von ihrer Tochter zusammenge-
staucht und lässt sich auf einen Flirt in der Wohnung ein, Maras      Mara and Lisa are giving up their flatshare which they share with one
Verhalten wirkt gegenüber allen verletzend, im Haus treffen           other roommate. Ramon and Silvan Zürcher depict what it‘s like for them
                                                                      to live together, in rooms and in relationships, with exacting images and a
außerdem fremde Katzen auf alte Frauen und in der Wohnung             precisely composed rhythm.
darunter ein schüchterner Mann auf eine moderne Vampirin. Wie

D 18     D JULI 2021
INDIEKRITIKEN

Rosas Hochzeit                                                             Matthias & Maxime
Rosa ist Mitte 40 und hetzt durch ihr Leben. Von ihrer Chefin              Maxime will für zwei Jahre nach Australien auswandern, um
wird die Kostümbildnerin zu jeder Tages- und Nachtzeit ans Set             Abstand von seiner alkoholkranken Mutter zu gewinnen. Doch die
gerufen. Wenn sie nicht arbeitet, muss sie sich um ihren Vater             Veränderung, die seine Entscheidung nicht nur für ihn, sondern
kümmern. Ihre Geschwister und ihre Tochter sind ihr dabei keine            auch für seinen engen Freundeskreis mit sich bringt, ist größer
Hilfe, sondern halsen ihr nur zusätzliche Aufgaben auf. Kurzent-           als erwartet. Vor allem Matthias, der mit Job und Freundin bereits
schlossen verlässt Rosa eines Tages Sevilla, um die ehemalige              mitten im Leben steht, hat mit dem Abschied zu kämpfen, erst
Dorfschneiderei ihrer Mutter wiederzubeleben. Um den Beginn                recht, nachdem er und Max nach einer verlorenen Wette knut-
vom Rest ihres neuen Lebens zu feiern, organisiert sie eine Hoch-          schen müssen… Der neue Dolan: schnelle Dialoge, ausgelassene
zeit: Sie möchte endlich „Ja“ zu Rosa sagen.                               Partystimmung, toller Soundtrack.
¢ Start am 1.7.2021                                                        ¢ Start am 29.7.2021

Originaltitel: La Boda de Rosa D Spanien 202 D 97 min D R: Iciar Bollain   Kanada 2019 D 119 min D R: Xavier Dolan D D: Xavier Dolan, Harris Dickinson,
D D: Candela Pena, Sergi Lopez, Nathalie Poza, Ramón Barea                 Anne Dorval, Catherine Brunet, Adib Alkhalidey, Pier-Luc Funk
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Originaltitel: Proxima D Frankreich 2019 D 107 min D R: Alice Winocour        USA 2021 D 118 min D R: Daniel Lindsay, T.J. Martin D B: T.J. Martin, Daniel
D B: Alice Winocour D K: Georges Lechaptois D S: Julien Lacheray D D: Eva     Lindsay D K: Dimitri Karakatsanis, Megan Stacey D S: Taryn Gould, Carter
Green, Matt Dillon, Lars Eidinger, Zélie Boulant D V: Koch Films              Gunn, T.J. Martin D M: Danny Bensi, Saunder Jurriaans D V: Piece of Magic

       Proxima                                                                    Tina
       Der Druck wächst                                                           Zurückhaltendes Porträt

Sarah Loreau (Eva Green) ist zerrissen. Ihre Sehnsucht nach den               Zu Beginn des Films über ihre Karriere sitzt Tina Turner im
Sternen hat sie dahin gebracht, wo sie heute ist: Als Teil einer              schwarzen Tuxedo in einem Sessel und sagt: „Ich rede nicht gern
internationalen Crew wird sie die Landung der ersten Menschen                 über mein Leben, weil es kein schönes Leben war. Es gab gute
auf dem Mars vorbereiten. Für ein Jahr wird sie gemeinsam mit                 Momente, aber sie wiegen die schlechten nicht auf.“ Dann erzählt
dem Russen Anton Ocheivsky (Aleksey Fateev) und dem Ameri-                    sie doch noch einmal die Geschichte, die sie eigentlich nie wieder
kaner Mike Shannon (Matt Dillon) auf einer Raumstation im Orbit               erzählen wollte: von der Gewalt durch Ike Turner, den Bandleader,
kreisen. Das heißt auch, dass sie ihre Tochter Stella (Zélie Bou-             Gitarristen und Produzenten, der aus der 17-jährigen Anna Mae
lant) zurücklassen muss. Der Abschied fällt schwer. Das zerrüt-               Bullock den Star Tina Turner machte.
tete Verhältnis zu Stellas Vater Thomas (Lars Eidinger) macht es              Seit ihrem ersten Hit „A Fool in Love“ (1960) bildeten Ike und
nicht einfacher. Der Umzug nach Darmstadt, das neue Umfeld,                   Tina Turner für die Öffentlichkeit eines der dynamischsten Pop-
die neue Schule und dazu die Trennung von der Mutter setzen                   Paare. Aber hinter den Kulissen war Ike ein brutaler Schläger,
der Achtjährigen zu. All das muss Sarah hilflos mit anhören, ist              der Tina psychisch und körperlich misshandelte. Tina verließ Ike
sie doch tausende Kilometer weit entfernt in Baikonur, um sich                1976. Bei der Scheidung behielt Ike sämtliche Songrechte und
auf ihre Mission vorzubereiten. Das Training ist erbarmungslos.               das gesamte Vermögen. Tina ließ sich gerichtlich bestätigen, dass
Als einzige Frau im Team muss sie sich zusätzlich beweisen. Der               sie den Namen Tina Turner weiter benutzen durfte. Sie wollte die
Druck wächst, je näher der Countdown rückt.                                   erste schwarze Stadionrocksängerin werden und schaffte das
In intimen Einstellungen zeigt PROXIMA die enorme Entbehrung                  schließlich in den 1980er Jahren mit Hilfe von europäischen Pro-
für Frauen in der Raumfahrt. In den Momenten mit ihrer Tochter                duzenten, die das Potential in ihr erkannten, und sie zunächst den
wird spürbar, welche Qualen Sarah durchlebt, während sie nach                 Eurotrash-Song „What’s Love Got to Do with It?“ von Bucks Fizz
außen hin stark wirken muss. Hinzu kommt der Chauvinismus in                  covern ließen. Tina Turner machte daraus einen feministischen
einer Männerdomäne, der hier vor allem durch Matt Dillons Cha-                Torch-Song und begann eine zweite Karriere als Rocksängerin, die
rakter verkörpert wird. Das starke Sounddesign legt Telefonate                gekrönt war von Auftritten vor 180.000 Fans in Rio und einer Rolle
mit Stella und Sarahs Tagebucheinträge, unterlegt mit Ryuichi                 als Kampfgöttin in MAD MAX: BEYOND THE THUNDERDOME. Der
Sakamotos elektronischem Score, über Montagen der Ausbil-                     Dokumentarfilm TINA erzählt zurückhaltend und liebevoll über
dung. Die Etappen des Trainings wurden zum Teil im European                   Tina Turner. Aber hinter dem Missbrauch durch Ike verschwin-
Astronaut Centre der ESA bei Köln gedreht. Der naturalistische                det auch das Hauptwerk von Tina Turner mit Ike, von den frühen
Ansatz und die starke Leistung von Hauptdarstellerin Eva Green                Soulstompern der sechziger bis zu den Rock-Coverversionen der
verleihen PROXIMA eine Faszination und Dringlichkeit, die nach                frühen siebziger Jahre. Die Frage drängt sich auf, was in einer
dem Abspann, der die Leistungen der Pionierinnen der Raumfahrt                weniger brutalen, patriarchalen und rassistischen Welt aus ihrer
würdigt, weiterwirkt. D Lars Tunçay ¢ Start am 24.6.2021                      Musik hätte werden können. D Tom Dorow ¢ Start am 13.6.2021

 Sara is part of an international crew that is preparing a mission to Mars.    The restrained, affectionate documentary TINA tells the story of Tina Turner
 Saying goodbye to her daughter is difficult and the pressure in the male      from her early success, to the abuse she suffered at the hands of Ike
 team mounts the closer they get to the countdown.                             Turner, up until her comeback.

D 20     D JULI 2021                                                                                                      Termine unter www.indiekino.de
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    The Trouble With Being
                                                                                 Deutschland/Österreich 2020 D 94 min D R: Sandra Wollner D B: Sandra
                                                                                 Wollner, Roderick Warich D K: Timm Kröger D S: Hannes Bruun D M: David

    Born                                                                         Schweighart D D: Lena Watson, Ingrid Burkhard, Dominik Warta, Jana
                                                                                 ­McKinnon D V: eksystent distribution
    Ersatz-Persönlichkeiten

In Sandra Wollners erstem Spielfilm THE TROUBLE WITH BEING                       Wollners Film fragt vor allem nach den Bedingungen des Gebo-
BORN gibt es eine Androidin, aber es geht nur am Rande um                        renwerdens eines Ichs. Was bei Elli den Anschein des Bewusst-
künstliche Intelligenz. Es gibt auch einen pädophilen Androiden-                 seins hat, sind die Sprachreste des väterlichen Begehrens, die ihr
besitzer, aber der Missbrauch ist eher ein Beispiel für Gewalt-                  einprogrammiert sind. Sie wiederholt immer wieder die gleichen
und Besitzverhältnisse. Die Androidin „Elli“ lebt mit ihrem „Papa“,              Phrasen: „Wir waren die ganze Nacht munter“, „Du hast nach
einem gutsituierten Ingenieur mittleren Alters zusammen und                      Sonnenöl und Zigaretten gerochen“ usw. Gebrochene Wortfet-
sieht aus wie ein zehnjähriges Mädchen. Im Laufe des Films wird                  zen seiner Erinnerung, die zu einer Art Ich-Simulation werden
klar, dass die aktuelle künstliche Elli ein Ersatz für eine frühere              sollen. Aber mit den Erinnerungsresten scheinen auch deren
Elli ist. „Papas“ Begehren ist pervers, aber in postfreudianischen               unbewusste psychische Folgen programmiert worden zu sein. Elli
österreichischen Filmen ist ja immer alles Begehren pervers. Tun                 ist weggelaufen, und auch die neue, nicht fertig geborene Ersatz-
wir so, als sei es normal, wenn „Papa“ morgens Ellis Zunge und                   Elli verschwindet und muss in einer neuen Situation eine neue
Geschlechtsteile herausnimmt und sie in der Spüle reinigt.                       Ersatz-Persona annehmen, was noch schlechter gelingt, weil sich
                                                                                 die alten Programme immer wieder Bahn brechen, und die neuen
                                                                                 andere Traumata mitbringen. Die Frage, die Sandra Wollners Film
                                                                                 vor allen anderen stellt – neben der nach den Beschädigungen
                                                                                 durch Missbrauch und durch die Angst, Trauer und Neurosen der
 Sandra Wollner‘s debut about ten year old android “Elli“ who lives together     Älteren – ist, wie überhaupt jemand (oder etwas) sich aus der
 with her “dad,“ a well-off middle-aged engineer, is a very uncomfortable film   Begegnung mit anderen, aus diesem Begehrensgeflecht, eine Art
 that stays with you.
                                                                                 Identität konstruieren soll. Ein sehr ungemütlicher Film, der sich
                                                                                 ins Hirn schleicht. D Tom Dorow ¢ Start am 1.7.2021

                                                                                                                                       JULI 2021 D    21 D
INDIEKRITIKEN

Italien/Deutschland 2020 D 117 min D R: Pepe Danquart D K: Thomas                Großbritannien 2021 D 84 min D R: Prano Bailey-Bond D B: Prano Bailey-Bond,
Eirich-Schneider D S: Andrew Bird D M: Amiina D D: Ulrich Tukur D V: Neue        Anthony Fletcher D K: Annika Summerson D S: Mark Towns D M: Emilie
Visionen                                                                         Levienaise-Farrouch D D: Niamh Algar, Michael Smiley, Nicholas Burns, Vincent
                                                                                 Franklin D V: Kinostar

       Vor mir der Süden                                                             Censor
       Auf den Spuren Pasolinis                                                      Video-Horror

Im Sommer 1959 bricht Pier Paolo Pasolini auf eine erste Rund-                   Als „Video Nasties“ bezeichnete eine konservative Medienkam-
reise durch Italien auf, um die Veränderungen des Landes durch                   pagne Filme, die laut der britischen Staatsanwaltschaft „obszön“
die Industrialisierung und die Migration von Süd- nach Nordita-                  seien und zu Verrohung und Sittenverfall führten. Auf der Liste
lien zu dokumentieren, befragt die Bewohner*innen aber auch                      fanden sich, neben heute als Klassikern angesehenen Filmen wie
zu ihren Wünschen, Überzeugungen und sexuellen Vorlieben.                        THE EVIL DEAD vor allem billige europäische Horrorfilme, aber
2019 mietet sich der Regisseur Pepe Danquart das mittlerweile                    auch Zulawskis POSSESSION.
zum Oldtimer gewordenen Automodell Pasolinis und fährt die-                      Enid (Niamh Algar), die jeden Tag entscheidet, was filmisch
selbe Route ab – einmal um die gesamte Küstenlinie des Stiefels.                 gesellschaftsverträglich ist, ist als Zensorin beim „British Board
Seine Filmaufnahmen werden übereinandergelegt mit Auszügen                       of Film Censors“ (BBFC), der britischen Version der „Freiwilligen
aus Pasolinis Texten, woraus ein bisweilen interessanter Verfrem-                Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ (FSK) nicht nur dem eige-
dungseffekt entsteht. Auch setzt Danquart verschiedene Film-                     nen Anspruch verpflichtet, sondern sieht ihre Entscheidungen
ebenen und Filter ein, um die Identifikation mit Pasolini und die                auch ständig hinterfragt. Enid ist zudem durch das mysteriöse
Differenz zu seinen Erfahrungen zu veranschaulichen. Danquart                    Verschwinden ihrer jüngeren Schwester traumatisiert und hofft
selbst bleibt jedoch unsichtbar, er offenbart nichts über seine                  immer noch, sie wiederzusehen. Als sie wegen einer Freigabe
Motivation zu dieser Reise, sein Interesse an Pasolini oder die                  öffentlich angegangen wird, glaubt sie – vielleicht wegen des
Rolle der Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, die seinem                     massiven Drucks – Nina in dem neuen Slasher-Film „Don’t go in
Film eingeschrieben ist.                                                         the Church“ zu entdecken. Je mehr sie über den Film und seinen
Danquart porträtiert ein Land, das von zwei Bewegungen geformt                   Regisseur herausfindet, desto mehr zeigen sich Parallelen zwi-
wird: den Tourist*innen aus dem Norden und den Migrant*innen                     schen Ninas Verschwinden und dem Horrorfilm und desto mehr
aus dem Süden. Parzellierte Strände wechseln sich ab mit den                     taucht Enid in die Welt der Videos ein. Bei aller offensichtlichen
Zeltstädten prekarisierter Zugewanderter. Auch die Rezeption                     Liebe der Regisseurin Prano Bailey Bond für die vermeintlichen
und Aktualität von Pasolini spielt immer wieder eine Rolle, da                   Schmuddelfilme, die aus den Gängen der BBFC in rotes Licht
Danquart überall glühende Verehrer des Regisseurs zu entdecken                   getauchte brutalistische Alpträume macht, ist CENSOR keine
scheint. Nicht alle dieser Beiträge und Interviews sind interessant,             ironische Nostalgietour, sondern befragt die These, dass Men-
aber immer wieder entfaltet sich ein feiner Witz, der den Film                   schen, die viele Horrorfilme schauen, diese irgendwann nicht
mehr trägt als sein politischer Anspruch. Für diesen Anspruch                    mehr von der Realität trennen können. Gleichzeitig bedient der
steht VOR MIR DER SÜDEN zu unentschieden zwischen Roadmo-                        Film aber auch alle Ansprüche des Genres, und die Mitarbeit von
vie, Biografie und Sozialporträt und kann mit dem Engagement                     Dan Martin (u.A. POSSESSOR) garantiert bizarre Spezialeffekte,
seines Vorbilds nicht mithalten. D Yorick Berta                                  wegen denen früher empörte Briefe an MPs geschrieben wurden.
¢ Start am 1.7.2021                                                              D Christian Klose ¢ Start am 29.7.2021

 Pepe Danquart follows the traces of Pier Paolo Pasolini all across Italy with    England, at the height of the “video nasty” era in the mid 80s. Enid works at
 a Fiat Millecentro.                                                              the censorship board and evaluates horror films, but ends up going deeper
                                                                                  and deeper into her own nighmare.

D 22      D JULI 2021                                                                                                        Termine unter www.indiekino.de
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