Internationaler Orgelsommer 2012 - Stiftskirche Stuttgart - of /bach-vokal

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Internationaler Orgelsommer 2012 - Stiftskirche Stuttgart - of /bach-vokal
Internationaler
Orgelsommer 2012
Stiftskirche Stuttgart

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Internationaler
Orgelsommer 2012
Stiftskirche Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
                                                                                  Vorwort … 5
                                                                                  Konzert 1:     6.7.   Elisabeth Zawadke (Luzern) … 7
                                                                                  Konzert 2:    13.7.   Martin Baker (London) … 17
                                                                                  Konzert 3:   20.7.    Kay Johannsen (Stuttgart) … 27
                                                                                  Konzert 4:   27.7.    Thierry Escaich (Rosny-sous-Bois) … 31
                                                                                  Konzert 5:     3.8.   Michael Schöch (Innsbruck) … 39
                                                                                  Konzert 6:   10.8.    Ben Van Oosten (Den Haag) … 49
                                                                                  Konzert 7:   17.8.    Yuka Ishimaru (Niigata) … 57
                                                                                  Konzert 8:   24.8.    David Enlow (New York) … 65
                                                                                  Konzert 9:   31.8.    Arvid Gast (Lübeck) … 73
                                                                                  Biografien der Interpreten … 81
                                                                                  Daten zur Geschichte der Stiftsorgeln … 89
                                                                                  Disposition der Mühleisen-Orgel … 90
                                                                                  Die Organistinnen und Organisten der letzten 9 Jahre … 92
                                                                                  Die schönsten Zitate aus dem Orgel-Gästebuch … 94
                                                                                  Diskographie Kay Johannsen … 96
Internationaler Orgelsommer
im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik

Eine Konzertreihe der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart,
gefördert von der Stadt Stuttgart, dem Regierungspräsidium Stuttgart
und dem Verein »Freunde der Stiftsmusik Stuttgart e.V.«

Künstlerische Leitung: Stiftskantor KMD Kay Johannsen
Geschäftsführung: Sabeth Flaig
Musikalische Assistenz: Felix Mende
Redaktion des Programmheftes, Einführungstexte: Elsie Pfitzer
Werbung, Öffentlichkeitsarbeit: Dagmar Hahn, Corinna Reimold

Fotos und Abbildungen: Archiv Stiftsmusik

Stiftsmusik Stuttgart
Altes Schloss, Schillerplatz 6, 70173 Stuttgart
Telefon 0711–226 55 81, Fax 0711–226 26 31
info@stiftsmusik-stuttgart.de, www.stiftsmusik-stuttgart.de

Eintrittspreise
8 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 4 Euro)
10er Karte: 64 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 32 Euro)
Vorverkauf dieser nicht nummerierten Karten am Infostand in der Stiftskirche:
Mo–Do 10–19 Uhr, Fr & Sa 10–16 Uhr. Abendkasse jeweils am Freitag ab 18.30 Uhr.
Zehnerkarte für »Freunde der Stiftsmusik e.V.« 56 Euro (nur an der Abendkasse).
Die Eintrittskarten gelten zeitlich unbegrenzt auch für die regulären Konzerte
der »Stunde der Kirchenmusik«.
Vorwort
    Pünktlich mit dem ersten Freitag im Juli bricht in der Stiftskirche der Internationale
    Orgelsommer an und bietet Ihnen bis zum letzten Freitag im August neun spannende
    Orgelkonzerte mit Interpreten aus acht Ländern. Die internationale Besetzung macht
    unsere Sommerkonzerte nicht nur äußerlich »bunt« oder sorgt für mitunter erhei-
    ternde Kommunikationsprobleme bei den anschließenden KünstlerTreffs, die unter-
    schiedliche Herkunft und Prägung der Interpreten bringt auch verschiedene und damit
    bereichernde Sichtweisen auf die Musik mit sich. Unsere Mühleisen-Orgel wird gewiss
    ein inspirierender Partner für die durchweg renommierten Künstler sein: Die große
    Mischfähigkeit der 81 Register erlaubt sehr individuelle Klangkombinationen und
    Farbmischungen, so dass sich in den Konzerten immer wieder überraschende Hör­
    eindrücke einstellen werden.

    Erstmals zu Gast in der Stiftskirche sind Martin Baker (Musikdirektor an der Londoner
    Westminster Cathedral), der Orgelvirtuose, erfolgreiche Komponist und Improvisator
    Thierry Escaich (Rosny-sous-Bois), der junge ARD-Preisträger Michael Schöch (Inns-
    bruck), die Chartres-Gewinnerin Yuka Ishimaru (Niigata), der mit vielen Preisen bedachte
    David Enlow (New York) und der Lübecker Orgelprofessor Arvid Gast. Die Luzerner Pro-
    fessorin Elisabeth Zawadke hat unsere Mühleisen-Orgel schon einmal bei einer Orgel­
    musik zum Weihnachtsmarkt und in der Stunde gespielt. Ben van Oosten (Den Haag), der
    Großmeister der französischen Orgelsymphonik, war schon zu Gast im Orgelsommer,
    spielte damals aber noch an der früheren Walcker-Orgel. Stiftskantor Kay Johannsen setzt
    seinen Widor-Zyklus mit der VI. Symphonie fort. Natürlich wird er auch wieder improvi-
    sieren – mit seiner freien, oft sehr rhythmisch geprägten Musik hat er jüngst das chine-
    sische Publikum in den Konzertsälen von Beijing und Shanghai in Begeisterung versetzt!

    Wieder haben wir alle Konzerte in einem informativen Programmbuch zusammen-
    gefasst, das nicht nur alle neun Programme samt Einführungen in die Werke bietet,
    sondern auch viele zusätzliche Informationen rund um unsere Mühleisen-Orgel bis hin
    zu den amüsanten und oft sehr persönlichen Zitaten aus unserem Orgel-Gästebuch für
    Sie bereit hält.

    Wie schon in den letzten Jahren bieten wir nach jedem Konzert den KünstlerTreff auf der
    Orgelempore an, so dass Sie wieder Gelegenheit haben, die Interpreten näher kennen zu
    lernen und etwas über ihre Programme und ihren Alltag als Musiker zu erfahren.
    In Erwartung eines spannenden Orgelsommers und mit besten musikalischen Grüßen,
    Ihr Stiftskantor

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Konzert 1                    Programm

Elisabeth Zawadke (Luzern)   Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Freitag, 6. Juli, 19 Uhr
                             Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564

                             Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847)
                             Sonate c-Moll/C-Dur op. 65, 2

                             Paul Hindemith (1895–1963)
                             Sonate II
                             Lebhaft
                             Ruhig bewegt
                             Fuge. Mäßig bewegt, heiter

                             Max Reger (1873–1916)
                             Zweite Sonate d-Moll op. 60
                             Improvisation: Allegro con brio (ma non troppo vivace)
                             Invocation: Grave con duolo (doch nicht schleppend)
                             Introduction und Fuge

                             anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

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Johann Sebastian Bach                                                                        als jede norddeutsche »Durezza« der vergangenen Zeit, ungeachtet dessen, dass Frot-
Die Werkgruppe Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 gilt schon seit dem Bach-              scher diesen Abschnitt als »ganz buxtehudisch« bezeichnete.
Biographen Philipp Spitta als ein »Modell italienischer Konzerte« – weniger als ein Inbe-    Die Fuge ist gleichbleibend spielerisch-polyphon, latent homophon, mit einfacher Tonar-
griff der »Toccata«. Bach brachte jedoch in Weimar im Zuge seiner intensiven Beschäf-        tengliederung: ein jauchzendes, stufig gebautes Motiv wird von einem zirkulierenden
tigung mit den italienischen Orchesterkonzerten von Albinoni, Vivaldi, Taglietti u. a.       Kontrapunkt begleitet, häufig herrschen Terz- und Sextparallelen vor. Man sieht Matthe-
hier auch die Freizügigkeit der Toccata mit ein, wie sie sich seit ihren Anfängen heraus-    sons Tonarten-Charakteristik in diesem C-Dur-Satz erfüllt: »C-Dur ist … aber nicht unge-
gebildet hatte, das freie und virtuose Spiel mit Laufwerk und Akkorden, um die Möglich-      schickt, wo man Freude ihren Lauf lässt.« Dennoch läuft das Thema nicht Gefahr, in
keiten des Instruments und seines Spielers zu präsentieren. So entstand neben seinen         belangloses »Gekicher« auszuarten, weil es von Hemiolenbildungen (= versteckten Zwei-
zahlreichen Konzertbearbeitungen und sonstigen Werken nach italienischen Vorbildern          ergliederungen im Dreiertakt) abgeschlossen wird. In ihrer bemerkenswerten Leichtig-
auch die Originalkomposition der Toccata C-Dur, sein wohl eindeutigster Versuch, die         keit und ihrem Fluss, mit ihren offen dialogisierenden (konzertierenden) Motiven bildet
dreiteilige Form des italienischen Konzerts auf die Orgel zu übertragen – und damit          die Fuge einen Konzert-Schluss-Satz »con brio« par excellence. Andererseits klingen ihr
etwas ganz Eigenständiges und Neues. Die Konzertform tritt vor allem im Adagio hervor,       abrupter Schluss und die übermäßige Quart drei Takte zuvor wieder stark an die »nord-
das wie ein langsamer Satz aus einem Violinkonzert wirkt, aber auch in der Toccata,          deutsche« Schule (mit ihren plötzlichen Überraschungseffekten) an: Man sieht, Bach
wenn nach den Manualfigurationen und Pedalsolo-Takten des Beginns der volle                  verarbeitet – wie stets – Einflüsse und Stilelemente aller Traditionen und Richtungen auf
»Orchestersatz« anhebt. Als ganz »orgelmäßige und deutsche« Beigaben allerdings              eine ganz und gar eigenständige Weise zu etwas Neuem, Originellem und Individuellem.
können die Toccatenläufe und die Zweiteiligkeit des Beginns gelten, die siebenstimmi-        Davon zeugt auch der Schluss, der sich höchst wirkungsvoll quasi ins Nichts verflüchtigt
gen Dissonanzketten am Schluss des Adagios (»Grave«, vgl. Buxtehude!) und die an             (ähnlich wie in der – allgemein sowie speziell in der lockeren Art der Themenbildung und
Kuhnau gemahnende Schlussfuge »mit ihrem köstlichen Humor, in der die Philister              -kontrapunktierung verwandten – Fuge D-Dur BWV 532, 2).
durch Quintparallelen geärgert werden« (Hermann Keller). Die Toccata wirkt zwar wie
improvisiert, ist jedoch formal, rhythmisch und harmonisch genau durchstrukturiert,
von den angetupften Orgelpunkten auf C im Pedal über die Figurationen in Triolen und         Felix Mendelssohn Bartholdy
Zweiunddreißigsteln im Manual wie in den Pedalsoli bis zum kadenzartigen Tonarten-           Der musikalisch hochbegabte, in jungen Jahren bereits als Wunderkind bekannte Kom-
plan; die Themen sind untereinander verwandt und bereiten auch die Motive der nach-          ponist widmete sich schon früh dem Orgelspiel, komponierte bereits mit elf Jahren seine
folgenden Teile vor.                                                                                                                    ersten Orgelwerke und war später einer der wich-
Der dann folgende Konzertsatz ist wohl der konventionellste Concerto grosso-Satz unter                                                  tigsten Vertreter der im Barock so blühenden,
allen Bach-Praeludien. In sechstaktigen Gruppen (a–a–b) konzertieren Geigenfiguren                                                      mittlerweile jedoch weitgehend darniederliegen-
zwischen Sopran und Tenor. Die Gliederung in Ritornelle von vier Takten und Episoden                                                    den Orgelkunst, gerühmt von so bedeutenden
von zwei bis zu zwölf Takten, die orthodoxe Formerfüllung durch Beibehaltung des                                                        Zeitgenossen wie Samuel Sebastian Wesley oder
unveränderten Ritornells und anderes mehr weisen darauf hin, dass hier eine der frühen                                                  Johann Wolfgang von Goethe. Was sich dabei an
Bachschen Übertragungen der Konzertform auf ein Tasteninstrument vorliegt. So nimmt                                                     seinem gesamten Schaffen als charakteristisch
man wohl zu Recht an, dass das Werk in Weimar entstand, auch wenn seine Überliefe-                                                      herauskristallisieren sollte, lässt sich bereits an
rung erst nach 1720 einsetzte. Die Bestimmung des außergewöhnlichen Werkes ist unter                                                    den frühen Studien erkennen: die Bipolarität zwi-
den Forschern umstritten; plausibel erscheint jedoch, dass Bach es im Rahmen seiner                                                     schen seinem hauptsächlich an Johann Sebastian
immer zahlreicheren Orgelgutachten für Präsentationszwecke schrieb, denn in den                                                         Bach orientierten historisierenden Zug und sei-
unterschiedlich gestalteten Abschnitten lassen sich alle Möglichkeiten eines Instruments                                                ner individuellen, deutlich der Romantik zuge-
(und Spielers !) hervorragend darstellen.                                                                                               neigten Emotionalität. Gerade in den Orgelwer-
Das Adagio, der zweite Satz, ist nur in seinem »Grave«-Teil vom toccateneigenen »con                                                    ken, wo – abgesehen von einigen Choralzitaten in
discrezione«-Vortrag bestimmt. Das Adagio selbst ist sicherlich ein (nahezu) einzig daste-                                              den Sonaten I, III und VI – das Wort als Wegwei-
hender Versuch, das Prinzip »Melodie mit Begleitung« auf der Orgel darzustellen; allen-                                                 ser für den Stimmungsgehalt fehlt, sind diese bei-
falls kurze Abschnitte im »großen« e-Moll-Praeludium von Nicolaus Bruhns erinnern                                                       den bestimmenden Pole besonders deutlich aus-
noch an diese Idee.                                                                                                                     geprägt. An Orgelwerken hinterließ Mendelssohn
Auch der »Grave«-Teil ist durch die konsequente Verwendung einer musikalischen Idee                                                     jedoch relativ wenig, neben einigen einzeln über-
(Harmonieketten über chromatischem Bass mit überstehender verminderter Sept) weiter          Das Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy lieferten Stücken und den Praeludien und Fugen

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op. 37 hauptsächlich die Sechs Sonaten op. 65. Bei seiner Berühmtheit als Orgelvirtuose,          und Giovanni Ricordi (Mailand) vorbereiten konnte – ein weiteres Indiz für die Bedeu-
vor allem in England, wo er als Sensation gefeiert wurde – war doch die englische Tradi-          tung, die er selbst diesem Opus zumaß.
tion der Orgelmusik lange Zeit fast ausschließlich auf die Manuale ausgerichtet … –,              Die Entstehung der Stücke als bewusste »Compositionen«, nach Art von Collagen, wurde
verwundert es nicht, dass er 1844 von seinem Verleger Coventry, bei dem er kurz zuvor             u. a. auch von Robert Schumann gewürdigt, der das Neue in den Sonaten erkannte, die er
44 kleine Choralvorspiele von Johann Sebastian Bach herausgegeben hatte, um die Publi-            »in ihrem Vorwärtsstreben« als »ächt poetische Formen« pries, »wie sie sich in jeder
kation einer Sammlung eigener Kompositionen für die Orgel gebeten wurde. Der Verleger             Sonate zum vollkommenen Bild runden …«.
seinerseits ging wohl von den in England so beliebten freien »Voluntaries« aus, Mendels-          Der Zeitgenosse empfand also innerhalb des traditionalistischen, oft mechanisch-schul-
sohn zunächst eher von einer Art Orgelschule – oder eben »Orgelsonaten«. Eine Gattung             mäßigen Orgelschaffens seiner Zeit Mendelssohns Orgelstil als aktuell und neu.
dieser Art gab es zu der Zeit eigentlich nicht; Stücke, die als »Orgelsonaten« bezeichnet         Sonate II c-Moll / C-Dur wirkt formal zyklisch gegliedert, aber die Teile sind nicht so eng
wurden, waren Übertragungen barocker Concertosätze oder klassischer Symphonien –                  zusammengehörig wie in der klassischen Sonatenform. Die Sonate wird von einem Grave
insbesondere in England, wo Transkriptionen von jeher besonders intensiv gepflegt wur-            eingeleitet, das kräftige, kurze Akkordmotive wie Fragen in den Raum stellt; die Akkorde
den. Mendelssohn verstand unter der Bezeichnung »Sonate« ebenfalls nicht die klas­sische          türmen sich im doppelten Kontrapunkt immer weiter auf. Allmählich werden die Phra-
zyklische Form, denn er stellte die Sechs Orgelsonaten op. 65 schließlich aus 24 kleineren        sen länger, bis es auf der Dominante zu einem Halt kommt.
Stücken zusammen, die in der Zeit zwischen dem 21. Juli 1844 und dem 2. April 1845                Aus dem gehaltenen Ton g2 wird sodann der erste Ton des getragenen Adagios (c-Moll,
entstanden waren; sie wurden zuletzt mit noch früher komponierten Sätzen kombiniert.              2/4-Takt) vom Typ Solomelodie mit Begleitung, von starkem Affekt des wehmütigen Dia-
Die neu komponierten Sätze betrachtete er als Belege dafür, dass er »das Instrument               logs zwischen tiefer (: Tenorlage) und hoher (: Sopranlage) Solostimme. Die Tonart bleibt
anders und besser behandelt habe als bisher«. Die so entstandenen, ursprünglich                   – dieser Stimmung entsprechend – bis zum Schlussakkord c-Moll, von einer aufhellen-
»Studien« titulierten Zyklen nannte er in einem Brief an seinen Freund Klingemann vom             den Wirkung zur Durparallele Es im mittleren Teil abgesehen, und die häufig chromati-
15. Februar 1845 erstmals »Sonaten«. Aus dieser Entstehungsgeschichte erklärt sich die            sche Stimmführung verstärkt den elegischen Charakter.
unterschiedliche Anordnung der Sätze und Kompositionsart – die den Sonaten häufig als             Im sich anschließenden Allegro maestoso e vivace (C-Dur, 3/4-Takt), von punktierten
Stilbruch angelastet wurden. Neben deutlichen Rückbezügen auf Johann Sebastian Bach               Rhythmen vorwärtsgetrieben, mit der »attacca« folgenden Fuge setzt sich macht- und
(so vor allem in den Zyklen mit Choralthematik) stehen eindeutig romantische Sätze nach           schwungvoll die Durvariante C mit ihrem hellen Glanz und der Stimmung strahlend-
Art der »Lieder ohne Worte«. Auch folgen die einzelnen Sätze der Zyklen keineswegs der            sieghafter Freude (vgl. verschiedene C-Dur-Werke wie zum Beispiel Anton Bruckners
»Sonatenhauptsatzform« der Klassik. Genau durch diese Zusammenstellungen jedoch                   Te Deum u. v. a.) durch. Relativ »weltlich«-marschartig wirkt das Allegro maestoso, das aus
sind die Sechs Sonaten – vielleicht mehr noch als die Chorwerke – typische Kompositionen          dem ersten Teil eines in Rom geschriebenen Orgel-»Nachspiels« in D-Dur von 1831/32
des Romantikers Mendelssohn, und dass er selbst bei aller Heterogenität der Gestaltung            hervorgegangen ist. Die Fuge (im Allabrevetakt notiert) jedoch scheint danach an das
der Einzelsätze seine Sonaten doch ganz bewusst als Einheit (»als ein Werk«) verstanden           bekannte tröstliche Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius und
wissen wollte, da sie seine »Art, die Orgel zu behandeln und für dieselbe zu denken«,             dessen Weise von J.A.P. Schulz anzuklingen und strömt zunächst in der Durchführung
repräsentieren, belegt sein Brief an den Verleger des deutschen Musikverlags Breitkopf &          des dementsprechend kantablen Themas eher »sakralen« Frieden aus, bis ein neuer
Härtel vom 10. April 1845. Auch in der englischen Verlagsanzeige wurden die Sonaten               Kontrapunkt in Achtelbewegung zunehmende Bewegungsimpulse bringt, die durch die
angekündigt als »Beispiele für das, was der Komponist selbst als seinen ganz persönlichen         Sequenzierung des Themenkopfes verstärkt werden. Zuletzt wird die Fuge zu einer gro-
Orgelstil betrachtet.« Also ist die stilistische Zwiespältigkeit der Orgelsonaten, die Mischung   ßen Schluss-Steigerung geführt, die über Orgelpunkten im Pedal zu Achtelfigurationen
von historisierenden und spezifisch romantischen Stilelementen, offenkundig nicht ihr             der Manualstimmen bzw. die umgekehrte Konstellation in eine letzte Themenpräsenta-
aus Flüchtigkeit des Komponisten resultierender Mangel, sondern ihr beabsichtigtes und            tion (mit angedeuteter Themen-Engführung und -Umkehrung) und Schlusskadenz
wichtigstes Charakteristikum. Auch ihre häufig improvisatorisch wirkende Struktur ist             mündet.
typisch Mendelssohn, der ja nicht nur für sein konzertantes (vorwiegend Bach-) Spiel,
sondern auch für seine Improvisationskunst geschätzt war. Manch ein Sonatensatz könnte
durchaus auf solch eine Improvisation zurückgehen. Für die Publikation dieses für ihn so          Paul Hindemith
wichtigen Werks mit größter Genauigkeit, was u. a. genaue Phrasierungsbögen sowie –               Geboren am 16. November 1895 in Hanau, konnte Paul Hindemith durch ein Stipendium
erstmals in einer Orgel-Partitur – Metronom-Angaben betraf, setzte er sich in den folgen-         seit 1909 Violine studieren (bei A. Rebner), seit 1912 Komposition bei Arnold Mendels-
den Monaten mehrfach ein, sodass er nach Abschluss aller Korrekturen und Überprüfung              sohn und Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium in Frankfurt/M., wo er seit
der Sonaten für den 15. September 1845 die gleichzeitige Publikation als Opus 65 bei              1915 dann als Konzertmeister am Opernhaus tätig war. Seit 1917 entstanden seine ersten
Coventry & Hollier (London), Breitkopf & Härtel (Leipzig), Maurice Schlesinger (Paris)            Kompositionen, die er von 1919 an publizierte und die auf großes Interesse trafen, weil

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sie in ihrer klaren, transparenten – wenn auch immer polyphon orientierten ! – Struktur      Im zweiten Satz stehen sich nicht zwei Themen, sondern zwei Klangebenen (Oberwerk
und spielerisch wirkenden Leichtigkeit gegenüber den spätromantischen Werken der             und Hauptwerk) in einem sanft schwingenden Siciliano gegenüber.
damaligen Zeit erfrischend neu wirkten. Hindemith wurde rasch Inbegriff der musikali-        Als dritter Satz folgt eine sehr locker und leicht wirkende Fuge, die mit rhythmisch unter-
schen Avantgarde in Deutschland, war aber darüber hinaus – was heute häufig gegenüber        schiedlich charakterisierten Motiven spielt; sie ist hinter dieser vordergründigen Fassade
seiner Bedeutung als Komponist in den Hintergrund tritt – auch als solistisch wie im         jedoch zweifellos ganz bewusst kontrapunktisch intensiv und streng gestaltet (auf diese
Streichquartett, dem »Amar-Quartett«, konzertierender Bratschist international höchst        Kunst verstand sich Hindemith ja, wie u. a. sein Ludus tonalis beweist !), denn versteckt
erfolgreich. Seit 1927 lehrte er Komposition in Berlin, musste aber nach 1933, von den       und aufgeteilt in ihrem Thema ist das »B-A-C-H«-Thema zu erkennen, das dann in Takt
Nationalsozialisten als Schöpfer »entarteter Kunst« diffamiert, emigrieren, 1938 in die      32 mit einem markanten Pedaleinsatz in seiner Gesamtgestalt zu vernehmen ist, sodass
Schweiz, 1940 in die USA. Dort lehrte er an der renommierten Yale University Komposi-        die ganze Fuge zu einer Art »Hommage à Bach« wird – somit erklingt im 1. Konzert ein
tion und war als Dirigent tätig, seit 1946 amerikanischer Staatsbürger. Nach Kriegsende      erstes derartiges Stück, das beantwortet werden wird im Abschlusskonzert mit Zsigmond
ließ er sich nach mehreren Europareisen 1953 endgültig in der Schweiz nieder. Bis 1957       Szathmárys B-A-C-H »Hommage à …«.
unterrichtete er in Zürich Komposition, war häufig als Dirigent auf Konzertreisen unter-
wegs und komponierte weiter, ungeachtet der Ablehnung, die ihm die damalige Avant-
garde entgegenbrachte, weil er sich seit 1950 wieder mehr der Tonalität zugewandt hatte.     Max Reger
Sein Schaffen ist jedoch von bleibender Bedeutung durch seine handwerkliche und tech-        Die 2. Sonate d-Moll op. 60 entstand 1901, ein Jahr nach der 1. Orgelsonate fis-Moll op. 33.
nische Souveränität in allen Gattungen. Paul Hindemith starb am 28. Dezember 1963 in         Bei seinem Opus 16, Suite e-Moll hatte Reger im Konzept noch den Titel »Sonate« gewählt,
Frankfurt am Main.                                                                           war dann aber doch davor zurückgeschreckt: »Unsere Orgelsonaten sind doch mehr Sui-
Zur Orgelmusik steuerte er nicht nur 3 Sonaten, sondern auch ein Konzert für Orgel und       ten«, schrieb er in einem Brief an Karl Wolfrum. Und noch den Titel seiner 1. Sonate op.
Orchester bei. Der Impuls hierfür ging von seinem Kontakt mit der Orgelbewegung aus,         33 wählte er nur als »Kollektivtitel«, da die suitenähnliche Satzfolge an die alte Sonaten-
die er interessiert verfolgte, jedoch nicht in allen Aspekten gutheißen konnte. 1927         form der frühen Zeit erinnert: Fantasie – Intermezzo – Passacaglia. Die 2. Sonate dagegen
schrieb er zur Einweihung der neuen Weigle-Orgel im Sendesaal zu Frankfurt die Kam­          weist mehr Elemente auf, die das klassisch-romantische Sonatendenken bezeugen; auch
mermusik Nr. 7 für Bläser, Celli, Kontrabässe und Orgel, im Grunde ein erstes kleines        ist der Satz insgesamt schlanker, sonatenartiger. Allerdings kehrt Reger die Funktion der
Orgelkonzert. Nach dem Besuch der Freiburger Orgeltagung von 1928 bezeichnete er die         einzelnen Teile häufig geradezu ins Gegenteil um.
Praetorius-Orgel zwar als »tot, trotz aller Mühen«, zeigte sich jedoch den Idealen der       Das Problem der »klassischen« Sonatenform auf der Orgel (das ja die gesamte Orgelmu-
Orgelbewegung gegenüber wieder aufgeschlossener, nachdem ihm Hugo Distler 1932 in            sik nach der Klassik beschäftigte, man denke nur an Mendelssohn!) war für Reger haupt-
Lübeck die Stellwagen-Orgel an St. Jakobi vorgeführt hatte. Sein Versprechen, sich wieder    sächlich eine Stilfrage; gegen Rheinbergers »Handhabung« derselben in seinen doch
der Orgel zu widmen, löste er mit den 3 Sonaten (I und II 1937; III 1940) und dem Con­       anerkannt niveauvollen 20 Orgelsonaten äußerte er Vorbehalte wegen ihrer »Zugeständ-
                                            certo for Organ and Orchestra ein, das er 1962   nisse an die hypermoderne Weichlichkeit und Sentimentalität« u. ä. und forderte viel-
                                            für die neue Orgel im Lincoln Center New         mehr, es »müsse der Stil selbst möglichst auf Bachsche Grundlage gestellt werden.«
                                            York schrieb und das mit Anton Heiller an der    Freilich hinderten diese Vorbehalte Rheinberger gegenüber ihn nicht daran, dem grei-
                                            Orgel uraufgeführt wurde.                        sen Kollegen sein neu erschienenes Opus 33 zuzusenden mit der Bitte um »gütige
                                            Sonate II ist dreisätzig: Lebhaft – Ruhig        Durchsicht …«.
                                            bewegt – Fuge und erfüllt rein äußerlich         Reger orientierte sich also in seinem Sonatendenken und -schaffen hauptsächlich an der
                                            damit die traditionelle Form. Der große Tech-    Formenwelt der Bachzeit; die klassisch-romantische dagegen lag ihm nicht so sehr am
                                            niker Hindemith durchbricht sie jedoch in        Herzen, obwohl deren Regeln wie zum Beispiel das kontrastierende Gegenüber zweier
                                            raffinierter Weise immer wieder, indem er        Hauptthemen und ihre Synthese (in der Reprise) der farbenreichen, dynamisch sehr
                                            im ersten Satz das Concerto mit Haupt- und       flexiblen Orgel seiner Zeit entgegengekommen wären. Die dynamischen Kontraste, die
                                            Seitenthema mit dem Sonatenhauptsatz und         Reger ja überaus schätzte, projizierte er stattdessen auf die Formenwelt der barocken
                                            seiner Reprise verschmilzt. Das Hauptthema       Tonsprache. Dieses Auseinanderklaffen zwischen dem Suchen nach neuen Wegen der
                                            ist rhythmisch sehr prägnant und intensiv        Komposition und dem Festhalten an der Tradition hat bei Reger einen Höhepunkt
                                            vorwärtsdrängend, das Seitenthema von kon­       erreicht. Winfried Zillig, der Schönberg-Schüler, der in Reger einen wichtigen Vorläufer
                                            trastierender Motorik geprägt, sodass sich ein   der zwölftönigen Musik suchte (und fand), schrieb über Regers Sonaten, dass ihre Sätze
Paul Hindemith                              intensiver Dialog entfaltet.                     schematisch seien, wenn sie der klassischen Sonatenform folgten, dass er jedoch in

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Werken der Phantasie sich in seiner ungeheuren Erfindungskraft so fortschrittlich              da komm ich her« eingeführt: Die Lösung der Klage, des Schmerzes ist für Max Reger
zeige, in »völliger Freiheit von jeder formalen, kontrapunktischen, im tonalen Sinne           immer ein wesentliches Element seiner Kompositionen.
harmonischen, ja sogar von jeder thematischen Bildung«, dass wir uns »tatsächlich              Der 3. Satz beschließt die Sonate mit einer Fuge, der eine Introduction vorangestellt ist.
bereits auf einem Gebiet« befänden, »das weit über die Tonalität hinausgreift und wo           Diese Introduction ist besonders interessant, denn wie im 1. Satz sind auch hier verschie-
das Tonmaterial unter ganz neuen Gesichtspunkten geordnet ist, die vielfach erst rück-         dene Aspekte abzulesen. Einerseits vertritt die Introduction im 3/8-Rhythmus, der in der
wirkend im Hinblick auf die neueste Entwicklung der abendländischen Musik verständ-            4/4-Notation verborgen ist, das Scherzo, den vorletzten Satz im klassischen Sonaten­
lich sind.«                                                                                    zyklus. Der Scherzo-Charakter ist besonders deutlich in T. 6 ff. und 14 ff. zu erkennen.
In der Tat: Der erste Satz der 2. Sonate: Improvisation ist kein überzeugendes Beispiel für    Daneben aber finden sich zahlreiche Rückbesinnungen auf die vorangegangenen Teile
die spätromantische Kunst im Sinne der klassisch-romantischen Sonate. Die Takte 1–57           und auch zahlreiche Elemente, die auf die Fuge vorausweisen. Wolfgang Stockmeier
und 69–121 entsprechen sich weitgehend; die einzigen Unterschiede sind Transpositio-           nennt daher die Introduction »die eigentliche Durchführung« der 2. Sonate. Dieser Klas-
nen verschiedener Art. Für die eigentliche Durchführung, den zentralen Abschnitt der           sifikation widerspricht allerdings der Gesamteindruck des Nachdenklichen und Sprung-
motivisch-thematischen Arbeit in der Sonatenform, bleiben gerade 12 Takte! Auch diese          haften in der Introduction, während Durchführungen ja stets eine starke Entwicklungs-
Tatsache führt Reger zu den Ursprüngen der Sonatenform zurück; seit Beethoven näm-             tendenz aufweisen, die sie zum Ziel vorwärtsdrängen lässt – also schuf Reger auch hier
lich wurde die Bedeutung der motivisch-thematischen Arbeit in der Durchführung                 eine Verschmelzung von eigentlich disparaten Elementen.
immer größer, sodass diese schließlich den gesamten Satz eroberte und die Durchfüh-            Die Fuge als Finale nach der spontan wirkenden Improvisation (Satz 1), der ekstatischen
rung des thematischen Materials sogleich in der Exposition begann und auch in der              Anrufung und Expression (Satz 2), dem Innehalten der Introduction und ihrem Hin­
Reprise anhielt. Diesen Umgang mit der motivisch-thematischen Arbeit wiederum greift           weisen auf das Folgende ist nun energisch und zielgerichtet, klar gebaut, und strebt ent-
Reger auf und wendet ihn in Opus 60 – das formal dem alten, vor-klassischen Sonaten-           schlossen auf den Schluss zu (»Allegro energico«).
typus entspricht – so extensiv an, dass alle Elemente der »klassischen« Durchführung           Die Fuge ist in drei Teile gegliedert: T. 1–38: zwei vollständige Durchführungen des The-
bereits in der Exposition erschöpft sind und für die eigentliche Durchführung (T. 57 ff.)      mas in den Bereichen von Tonika und Dominante sowie verschiedenen Subdominantbe-
fast kein Rest an motivisch-thematischer Arbeit mehr bleibt. Musikalisch ist dieser Sach-      reichen (g-, c-, d-Moll). In Takt 8 kommt erstmals ein Staccato-Thema hinzu, das im
verhalt auskomponiert durch den Eindruck absoluter Ruhe (in der Durchführung, die              weiteren Verlauf – als beibehaltener Kontrapunkt – zunehmende Bedeutung erlangt: es
sonst der Gipfelpunkt des »Kampfes« zwischen den gegensätzlichen Themen ist ! …).              verbindet nicht nur die einzelnen Themeneinsätze und -durchführungen, sondern auch
Gleichzeitig kündigt sich in der »Durchführung« bereits die abschließende Fuge mit             den Mittelteil, der den Charakter eines virtuosen, freudig gestimmten Exkurses hat, als
ihrem chromatischen Thema an. Der erste Satz hat durch diese Sachverhalte einerseits           Kontrapunkt zu den Terzen und Sexten, mit der Fuge. Der ganzen Fuge verleiht es außer-
den schwebenden Charakter einer Fantasie, andererseits durch das Wechselspiel zweier           dem einen Zug der Straffheit, der viel zur enormen Wirkung und Beliebtheit der 2. Sonate
Themenbereiche – des Allegro con brio auszuführenden Eingangsmotivs mit seinem                 beiträgt. Der heiter-übermütige Exkurs weist auf die Wendung der Stimmung zur freudi-
markanten punktierten Rhythmus und des liedartigen Gegenthemas – durchaus Züge                                                                 gen Gewissheit (nach Martin Weyer) zwar
des Sonatensatzes.                                                                                                                             voraus, muss aber eindeutig Exkurs bleiben,
Als 2. Satz folgt ein mystisch-verhaltenes »Grave« mit bewegtem Mittelteil. Die Haltung                                                        denn die Stimmung wird endgültig erst im
der »Anrufung« (= Invocation) ist zunächst in schmerzliche Klage gekleidet (»Grave con                                                         Schlussabschnitt ab Takt 51 erreicht. Mit den
duolo«: »mit Schmerz«). Die expressive Melodie ist stark von Chromatik geprägt und lässt                                                       Mitteln der Steigerungsfuge (zum Beispiel
Reger häufig fast als einen Vertreter der Zwölftonmusik erscheinen. Verzweifelte Auf-                                                          Engführungen, Satzverdichtungen, dynami-
schreie (Molto più mosso) wechseln mit Momenten der Entsagung ab. Die Harmonik                                                                 sche Steigerungen) führt er zum großen
lässt sich zwar noch tonal bestimmen und einordnen, aber durch die ständigen kleinsten                                                         Dur-Schluss der 2. Sonate mit überzeugen-
Fortschreitungen wirkt sie nun nicht mehr zusammenhängend, sondern punktuell, nicht                                                            der, mitreißender Wirkung.
mehr form- noch themenbildend. Die klagende Thematik steht einer Harmoniefolge
gegenüber, die die spätere Lösung der Invocation vorwegnimmt. Nach intensiven Ausbrü-
chen der Klage, die in der spät- und nachromantischen Musik so häufig sind, erfolgt eine
kurze Bewegungssteigerung im »Allegro«, die jedoch rasch wieder abbricht und im Dun-
kel verhallt (»sehr dumpfe Registrierung«, T. 44 ff.). Gleichzeitig jedoch erklingt in »sehr
lichter Registrierung« zunächst als Einzelton, dann als Choralzitat die Erhörung der
Anrufung: »molto espressivo« wird in der Oberstimme der Choral »Vom Himmel hoch,               Max Reger

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Konzert 2                   Programm

Martin Baker (London)       Thomas Tallis (1505–1585)

Freitag, 13. Juli, 19 Uhr
                            O ye tender babes (aus dem Mulliner Book)

                            Herbert Howells (1892–1983)
                            Master Tallis’s Testament

                            Georg Friedrich Händel (1685–1759)
                            Orgelkonzert B-Dur op. 4 Nr. 2
                            für Orgel bearbeitet von Marcel Dupré
                            A tempo ordinario
                            Allegro
                            Adagio
                            Allegro ma non presto

                            Johann Sebastian Bach (1685–1750)
                            Passacaglia c-Moll BWV 582

                            Charles-Marie Widor (1844–1937)
                            Moderato cantabile, Scherzo & Final
                            aus Symphonie H-Dur op. 42, 4

                            Martin Baker (* 1967)
                            Improvisation über ein gegebenes Thema

                            anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore

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Thomas Tallis                                                                                  Im Mulliner Book sind außerdem Tallis’ weltliche Werke enthalten, Gesänge, die er mög-
Der große englische Komponist des 16. Jahrhunderts, der gemeinsam mit dem viel jün-            licherweise für Schüler schrieb, wie auch Stücke und Transkriptionen für Tasteninstru-
geren William Byrd (1543–1623) zu den einflussreichsten Musikern seiner Zeit gehörte,          mente, die durchaus für die bekannteste Spielerin von damals, die Königin selbst,
wurde um 1505 geboren; er verstarb am 23. November 1585 in Greenwich. 1532 ist er als          bestimmt gewesen sein könnten. O ye tender babes ist ursprünglich ein mehrstimmiges
Organist (»joculator organorum«) an der Dover Priory, 1537/38 dann bereits in London,          Lied, dessen Originaltext verschollen ist. Da jedoch der Titel »O ye tender babes« aus einer
als Organist an der Kirche St Mary-at-the-Hill, Billingsgate, nachgewiesen. In den Jahren      damals vielverwendeten Standard-Grammatik für den Lateinunterricht (von William Lily)
bis 1540 war er Organist an der Augustinerabtei Holy Cross in Waltham (Essex), bis 1542        stammte, ist anzunehmen, dass der ursprüngliche Text eine didaktisch ausgerichtete
wirkte er an der Kathedrale von Canterbury, um dann wieder nach London zurückzukeh-            Dichtung war, die die Kinder zum eifrigen Lernen für sich, ihre Eltern und das gesamte
ren, wo er Mitglied der Chapel Royal wurde. Außerdem war er als Organist und Kompo-            Land anhielt. Der Reduktion dieses Satzes für ein Tasteninstrument im Mulliner Book
nist tätig, seit 1570 in enger Zusammenarbeit mit William Byrd; gemeinsam erhielten die        steht der kryptische Satz voran »Fond youth is a bubble« – »Die unbeschwerte Jugend ist
beiden 1575 für die Dauer von 21 Jahren das königliche Privileg, Noten zu drucken. Ebenso      eine (Seifen-) Blase« – ein frühes Plädoyer für eine Kindheit ohne Drill?!
wie Byrd komponierte auch Tallis, beide als Katholiken, unter den Monarchen mit wech-          Zu Recht beklagte William Byrd den Tod seines Freundes und Kollegen mit den Worten:
selnder Konfession für die anglikanische und für die katholische Kirche Englands; in           »Tallis ys dead, and Musick dyes.« – »Tallis ist tot, und es stirbt die Musik.«
diesen Schaffensphasen wechselte er vom frühen Stil der alten englischen Mehrstimmig-
keit zur blühenden Kontrapunktik in den lateinischen Werken (so z. B. in der berühmten
40-stimmigen Motette »Spem in alium«). Während der späten Jahre des Hauses Tudor war           Herbert Howells
Tallis mit Byrd zweifellos der bedeutendste englische Komponist geistlicher Werke. Der         Geboren am 17. Oktober 1892 in Lydney (Gloucestershire) als sechstes Kind eines Orga-
Rang der beiden zeigt sich allein schon daran, dass sie als Katholiken zu solchem Anse-        nisten, erhielt der musikalisch begabte Komponist schon früh Orgel- und Kompositions-
hen gelangen und ihrer Konfession auch am anglikanischen Hof treu bleiben konnten.             unterricht und nach Abschluss seiner Schulzeit 1912 ein Stipendium für das Studium
Von Tallis’ Instrumentalkompositionen sind leider nicht sehr viele erhalten. Zwei Bei-         am Royal College of Music in London bei den bekannten englischen Musikern Charles
spiele für sein großes kompositorisches Können und seinen Einfallsreichtum sind die            Villiers Stanford, Hubert Parry und Charles Wood, das er in den Jahren von 1912 bis 1917
beiden Variationszyklen über »Felix namque« für Tasteninstrument (Virginal) von 1562–          absolvierte. Stanford nannte ihn »seinen Sohn in der Musik« und leitete verschiedene
64, deren Virtuosität in ihrer Zeit einzigartig dasteht (auch wenn sie für das konzentrierte   Uraufführungen der frühen Werke seines Schülers. Howells erkrankte 1915 so schwer an
Hören fast zu ausgedehnt sind …). Liturgische Werke von Thomas Tallis sind im Mulliner         der Schilddrüse, dass man ihn bereits aufgegeben hatte, doch konnte er – als erster Pati-
Book enthalten; einige spätere (u. a. im bekannten Fitzwilliam Virginal Book) stechen          ent in England – mit der neuen Strahlentherapie gerettet werden. Trotz seiner bleibenden
durch ihre außergewöhnliche Ausdehnung hervor. In der englischen Orgelmusik der                Gesundheitsschwäche konnte er verschiedene Ämter als Organist an der Kathedrale von
2. Hälfte des 16. Jahrhunderts spielten vor allem verschiedene Hymnen und Antiphonen           Salisbury (1917) und vor allem später als Musikdirektor und Professor für Komposition
eine Rolle, die in der Regel im – damals in England neuen – vierstimmigen Satz vertont         am Royal College of Music in London (seit 1920) und Professor für Musik an der Univer-
wurden; die gregorianische Weise erscheint als nur leicht umspielter Cantus planus in          sität London (seit 1952) versehen. Hoch geehrt und angesehen starb er am 23. Februar
langen Notenwerten (Semibreven), und die Motive durchdringen alle Stimmen. In derar-           1983 in London. Als äußerst selbstkritischer Komponist wurde er durch den ausbleiben-
tigen Sätzen verwendet Tallis im Vergleich zu kontinentalen Komponisten nicht nur über-        den Erfolg seines 2. Klavierkonzerts (1925) zu einer Schaffenspause veranlasst; seine
                                                          wiegend die archaisch wirkende       schöpferische Kraft wurde jedoch durch den tragischen Tod seines neunjährigen Sohnes
                                                          modale Harmonik, sondern rei-        Michael 1935 erneut geweckt, dem er seine bewegende Gedenkmusik Hymnus Paradisi
                                                          chert sie auch noch mit ungewöhn-    (Uraufführung 1950) widmete, eines der bekanntesten seiner von nun an meist geistli-
                                                          lichen Härten und Dissonanzen        chen Werke.
                                                          an, streng der konsequenten Bear-    Seine Orgelmusik ist zum überwiegenden Teil – zumindest in seiner Heimat – sehr
                                                          beitung des Themas geschuldet.       beliebt und vielgespielt. Howells schrieb zwei Folgen von Psalm Preludes, 3 Rhapsodies
                                                          Seine – eher kurz gefassten –        op. 17, Six Pieces (aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, darin enthalten u. a. Master Tallis’s
                                                          Hymnen und Antiphonen werden         Testament) und vor allem 2 Orgelsonaten, deren zweite (1932) mit Sicherheit zu den bedeu-
                                                          dadurch zu höchst interessanten      tendsten Werken der englischen Orgelmusik überhaupt zählt.
                                                          und charakteristischen Beiträgen     Geschrieben 1940, wurden die Six Pieces erst 13 Jahre später publiziert. Das 3. Stück, das
                                                          zur englischen Orgelmusik seiner     im heutigen Konzert erklingt, ist ein hervorragendes Beispiel für den Orgelstil der spezi-
Thomas Tallis                                             Zeit.                                fisch englischen Tradition, die man mit Howells, Vaughan Williams und Gustav Holst

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ansetzt unter dem Titel der »Zweiten englischen Renaissance«, für welche die intensive                                                 Die einzelnen Konzerte des Opus 4 und des spä-
und vollkommene Verschmelzung von alter Modalität mit der Gefühls- und Ausdrucks-                                                      teren Opus 7, das Stücke für die Oratorien-Auf-
welt des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist – außerdem ihre Vorliebe für kraftvolle                                                 führungen der Jahre nach 1740 enthält, lassen
Klänge. Master Tallis’s Testament ist auch unter diesem Aspekt ein typisches Beispiel. For-                                            sich nur zum Teil präzise datieren. Wie bereits
mal handelt es sich um ein Thema mit Variationen, die zunehmend intensiver, komplexer                                                  erwähnt, wird das Konzert B-Dur op. 4 Nr. 2 mit
und klangkräftiger gestaltet werden. Das Thema im modalen g-Moll-Bereich wirkt noch                                                    der Aufführung der Esther am 14. April 1733 in
beinahe pastoral, zahlreiche chromatische Wendungen gemahnen an Stilmittel der                                                         Verbindung gebracht. Wie die übrigen Zyklen
Tudorzeit. Mit dem Beginn der vierten Variation (Takt 37) ist das pastorale Element ver-                                               der ersten Sammlung (mit Ausnahme des drei-
gessen zugunsten des zunehmend bombastischen, als Vorbereitung des geradezu trium-                                                     sätzigen letzten) folgt es dem Vorbild des vier-
phal-ekstatischen Schlusses (T. 53–54 ff.), an dem die Kathedralklänge sich in allem Glanz                                             sätzigen Concerto grosso nach Arcangelo
entfalten, mit der Wirkung einer Vision der göttlichen Majestät. Als Coda fügte Howell                                                 Corelli: langsam – schnell – langsam – schnell.
einige Takte im Adagio an, die zur Ausgangsstimmung zurückkehren und die Stürme                                                        Die langsamen Einleitungssätze sind überwie-
wieder beruhigen, die zuvor entfacht wurden. Interessant ist ein Vergleich des Stückes                                                 gend majestätisch-punktiert, die nachfolgenden
mit der thematisch verwandten Fantasia on a Theme of Thomas Tallis von Ralph Vaughan                                                   schnellen Sätze von lebhaften Figurationen
Williams, wie das vorliegende Werk ein Beweis für die zeitlose Bedeutung des großen                                                    geprägt, und nach einem (meist sehr kurzen)
englischen Komponisten der Tudor-Zeit. Howells wurde durch diese Komposition seines                                                    weiteren sehr getragenen Satz (Adagio) schließt
verehrten Lehrers, die er sehr schätzte, sicherlich mit zu seiner eigenen »Hommage an                                                  sich ein Finalsatz an, der auf Tanzformen (wie
Tallis« inspiriert – die dann auch zu einem seiner persönlichen Lieblingsstücke wurde.        Georg Friedrich Händel                   im vorliegenden Fall) aufbaut oder auch einmal
                                                                                                                                       eine bewegte Fuge (Nr. 4) ist.
                                                                                              In Opus 4 sind nur die Zyklen Nr. 1, 4 und 6 Originalkompositionen; das sehr bekannte
Georg Friedrich Händel                                                                        Konzert F-Dur op. 4 Nr. 5 übernimmt die Sätze der Flötensonate op. 1 Nr. 11, und das Alle-
Das Konzert B-Dur für Orgel und Orchester op. 4 Nr. 2 ist das zweite der Orgelkonzerte von    gro im Konzert B-Dur des heutigen Programms beispielsweise ist dem Schluss-Satz der
Georg Friedrich Händel. Die Stücke dieser Sammlung entstanden in unmittelbarem                Triosonate op. 2 Nr. 4 nachgebildet.
Zusammenhang mit Aufführungen der Oratorien, wo sie als Zwischenaktmusik erklan-              Festlich-pompös, ganz nach Art der »Französischen Ouvertüre« wird das Konzert B-Dur
gen. Der vorliegende Zyklus wird mit der Wiederaufführung des ersten Händelschen              mit punktierten, markant artikulierten (»… e staccato«) Akkordketten eröffnet, zwei Takte
Oratoriums Esther am 14. April 1733 in Verbindung gebracht. Seit der Uraufführung sei-        im »Adagio e piano« leiten zum Halbschluss auf der Dominante hin. Der zweite Satz ist
nes Oratoriums Deborah am 17. März des Jahres hatte Händel mit dieser Praxis begon-           vom ausgedehnten Konzertieren zwischen Solo und Tutti geprägt; Tonwiederholungen,
nen, um eine zusätzliche Attraktion für seine Oratorienaufführungen zu schaffen. Die          Triller und reiches Laufwerk in Skalen und Arpeggien sowie der Wechsel in Nebentonar-
Musikwelt lernte ihn nun erst von einer neuen Seite seines Könnens, als Orgelvirtuose         ten (insbesondere die »neapolitanisch« eingefärbte Subdominante der Doppeldominant-
kennen, und man rühmte seine neue Spielweise, die zwar nicht der wahre Orgelstil sei,         Tonart C) bringen Abwechslung und Farbe in das großangelegte Spiel nach Art des Vival-
den ein tiefer Kenner der Musik bewundern würde, aber nichtsdestotrotz eine wunder-           dischen Konzertsatzes, mit Ritornellen und ausgedehnten Solo-Episoden, in denen der
bare Wirkung habe, durch den Kontrast zwischen der vollen Harmonie der Instrumente            Solist sein virtuoses Können unter Beweis stellen konnte. Der 3. Satz ist eine kurze,
und den sprechenden Solo-Passagen, die Händel zudem geistvoll, mit Sicherheit und             improvisatorisch anmutende Kadenz nach Art eines Rezitativs in der parallelen Mollton-
beispiellosem Feuer vortrage.                                                                 art g, die mit dem Halbschluss auf D endet. Das Orchester stützt die expressiven Figura-
Der Hinweis auf den »wahren Orgelstil« galt sicher dem leichten, von der Improvisation        tionen des Soloparts nur durch kurze »staccato«-Akkorde. Wieder in der Grundtonart
inspirierten Spiel Händels im Vergleich zu Bachs tiefgründenden Orgelwerken – sicher          setzt das menuettartige Schluss-Allegro (ma non troppo) im 3/8-Takt ein; das Thema wird
ist jedoch, dass Händel sein – ganz anders geartetes – Ziel erreichte: Durch die Auf­         variationsartig behandelt, zunächst in der Grund-, dann in der Dominant-Tonart durch-
führung der Konzerte erwarb er sich seinen größten Ruhm als Virtuose, und die Nach-           geführt, jeweils mit der Wirkung einer Schluss-Steigerung durch Zweiunddreißigstel-
frage nach den Stücken wurde immer größer, sodass er nach Opus 4 eine zweite Folge            Skalen vor der Kadenz angelegt. Nach Art einer Coda erklingt zuletzt noch einmal das
(Opus 7) vorlegen musste, in der er noch stärker auf eigene Vorlagen – etwa Sätze aus den     Hauptthema in ruhigem Tempo und dynamisch zurückgenommen. Dass der große
Triosonaten – zurückgreifen musste, um sie befriedigen zu können. Andererseits über-          Orgelvirtuose und -komponist Marcel Dupré in seiner Bearbeitung alle Möglichkeiten des
nahm Händel später wiederum in seinen Triosonaten oder auch Opern Sätze aus den               abwechslungsreichen Konzertierens auf der Orgel mit ihren unterschiedlichen Klang-
Orgelkonzerten.                                                                               kombinationen und -ebenen äußerst wirkungsvoll nützt, versteht sich von selbst.

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Johann Sebastian Bach                                                                                                                   waren), ferner den recht zahlreichen Passacag­
Zu Bachs Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 stellte der bekannte Organist und Musik-                                                   lien Johann Pachelbels, des Lehrers von Johann
wissenschaftler Piet Kee (Haarlem, Niederlande) in verschiedenen internationalen Zeit-                                                  Christoph Bach, dem älteren Bruder, der in
schriften Forschungen vor, die seine Entdeckung vom bis dato wenig bekannten Hinter-                                                    Ohrdruf den verwaisten Johann Sebastian auf-
grund dieses Werkes untermauerten: Seinen Untersuchungen zufolge basiert Bachs                                                          nahm. Aber die Nähe war nur zeitlicher Natur
Passacaglia wahrscheinlich auf dem letzten Buch Andreas Werckmeisters: »Musicalische                                                    – denn wie geschildert ließ Bach die Vorbilder
Paradoxal-Discourse«. Hierin wird die Bedeutung der sogenannten »Radical-Zahlen« –                                                      (oder Inspirationsquellen) weit hinter sich,
der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 8 – beschrieben und symbolisch angewendet auf den Text                                                  indem er das weit ausgreifende Thema schuf
des Vaterunsers. Bach hat Piet Kee zufolge wahrscheinlich Werckmeisters Angaben als                                                     und mit der Fuge einen zweiten Teil anfügte, der
Basis für seine Komposition verwendet. Dies macht es auch für den Zuhörer möglich,                                                      das Werk eher in den Bereich »Praeludium und
etwas von der wesentlichen Struktur und der Inspirationsquelle dieser Musik zu erken-                                                   Fuge« rückte. So begründete er eine Tradition.
nen. Im Passacaglia-Teil kommt das Thema 21 mal vor (bis Satz 12 nur im Bass), verteilt                                                 Nach anderen als den von Piet Kee geschilder-
auf 7 Gruppen. Jede Gruppe ist inspiriert von einer Bitte des Vaterunsers. Viele Einzelhei-                                             ten Kriterien ließe sich die Passacaglia aufgrund
ten in dieser Musik, nach deren Bedeutung man so lange gesucht hatte, fanden womög-                                                     der deutlichen Reduktion der Stimmenzahl im
lich hier ihren Ursprung und damit ihre Erklärung; und wird die Bachforschung auch                                                      Mittelteil (bis hin zur Einstimmigkeit, aller-
ständig weiter verfeinert, so ist doch zumindest Piet Kees Analyse als Theorie sehr inter-                                              dings mit latenter Mehrstimmigkeit) in drei
essant und einleuchtend. Die Fuge vertritt in dieser Deutung das »Amen« und erscheint                                                   große Gruppen von Variationen gliedern, auf-
mit ihrem Thema und zwei Kontrasubjekten (= stets wiederkehrenden Gegenstimmen)               Johann Sebastian Bach                     grund des Bassmodells und der motivischen
als eine Huldigung der Trinität.                                                                                                        wie rhythmischen Gliederung der übrigen
Das Thema der großen Bachschen Passacaglia ist teilweise von André Raison inspiriert,         Stimmen in eine Folge von vier mal fünf Variationen in jeweils unterschiedlicher Art der
wie man annimmt, die charakteristischen Sekundschritte sind jedoch Allgemeingut der           Bewegung und der Motivbildung.
Gattung im Barock, und Bach geht in der Gestaltung des Themas weit über die traditio-         Durch die beiden im kunstvollen mehrfachen Kontrapunkt (sodass sie untereinander
nelle Länge von vier Takten hinaus, ja, er erweitert es auf die doppelte Länge: Sein Thema    austauschbar sind) beigegebenen Gegenstimmen zum Passacaglienthema ergibt sich im
spannt sich über acht Takte, in der ersten Hälfte von der Tonika aufsteigend, in der zwei-    Verlauf der unablässig vorwärtsdrängenden Fuge die Möglichkeit des Stimmentauschs.
ten auf die tiefe Tonika zurückfallend. Schon die spannungsgeladene Intensität dieses         Ein Mittelteil bringt eine Entspannung durch die Reduktion der Stimmenzahl bis zur
Themas überragt alle zeitgenössischen Parallelen; zudem aber stellt Bach die Variationen      Zweistimmigkeit und den Wechsel nach Dur – aber desto zwingender ist hernach der
unter einen architektonischen Plan: Die Passacaglientechnik dient der Entwicklung der         gewaltige Schluss, wieder in der Ausgangstonart, der in ein kurzes Adagio mündet. Groß-
zentralen musikalischen Idee, der Abwandlung des Affekts, den das Thema symbolisiert.         artig ist die Wirkung des überraschend eingesetzten Neapolitanischen Sextakkords kurz
Dieses ostinate Thema wird daher im Grunde unverändert beibehalten (ohne Modulatio-           vor dem Schluss und die bis an die obere und untere Grenze – c3 im Manual und C im
nen !). Nach zwanzig Arten der Veränderung in den verschiedensten Techniken ist nun           Pedal – ausgreifende Kadenz, die somit alles umfasst. Auch von diesem Gesichtspunkt
aber nicht etwa der Schluss erreicht, nein, als letzte Steigerung folgt das Thema »fuga-      – des Allumfassenden – her betrachtet, erscheint Piet Kees Deutung der Bachschen Passa­
tum«, also in der Technik einer Fuge bearbeitet: Nach dem Prinzip der Mannigfaltigkeit        caglia und Fuge sehr einleuchtend.
in den Variationen kehren wir nun zum Prinzip der Einheit in der Fuge zurück. In dieser
Fuge wird das Thema auch transponiert, aber nicht grundlegend motivisch verändert; als
enge Verbindung zur Passacaglia treten auch hier zwei obligate Gegenfiguren auf. Diese        Charles-Marie Widor
Verkoppelung von Variations- und Imitationsform hauchte der alten, im Schematismus            Der unumstrittene Grandseigneur der Orgelmusik um die vorletzte Jahrhundertwende
der Form erstarrten Passacaglia ein letztes Mal neues Leben ein, das aber von der Nach-       und Vater der Orgelsymphonie prägte in seinem langen und intensiven Leben (24. Feb-
welt nicht als Neuanfang verstanden wurde: Bachs Nachfolger erstarrten wiederum im            ruar 1844 Lyon – März 1937 Paris) Generationen von Organisten und Komponisten. Der
formalistischen und schematischen Kopieren seines Vorbilds. Große Passacaglien finden         aus einer Musikerfamilie mit elsässisch-ungarischen Wurzeln stammende Komponist
sich dann jedoch wieder in den Orgelwerken Max Regers wie auch Joseph Gabriel Rhein-          und Organist erhielt Unterricht bei François-Joseph Fétis und Jacques-Nicolas Lemmens
bergers u. a. Bachs spätestens um 1714 vollendete Passacaglia war ihren Vorbildern zeit-      in Brüssel, jedoch niemals am Pariser Conservatoire, was ihm von vielen lebenslang
lich noch recht nahe, so den Ciacconen und der Passacaglia Buxtehudes (die im Andreas-        nachgetragen wurde. Von 1869/70 bis 1933 (!) war er Organist an der großen Cavaillé-
Bach-Buch – einer frühen Studiensammlung für Johann Sebastian Bach –, enthalten               Coll-Orgel in St-Sulpice, seit 1890 lehrte er am Conservatoire Orgel, später Kontrapunkt

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und Fuge, seit 1896 Komposition; unter seiner Leitung wurde die Betonung verstärkt auf        zu beleuchten. Die Musik ist zwar intensiv thematisch durchgestaltet (und im ganzen
das Instrumentalspiel, seine technische Grundlage und als Folge derselben die künstleri-      Zyklus innerlich miteinander verwandt), der Zuhörer kann jedoch manchmal unter die-
sche Interpretation gelegt. Auch durch seine Ausstrahlung als Lehrer so bedeutender           sen vielen Trillern, Arpeggien und glitzernden Skalen kaum die Themen erkennen. Die
Schüler wie Marcel Dupré, Louis Vierne, Charles Tournemire und Albert Schweitzer war          Gliederung des zweiten Satzes, Moderato cantabile allerdings ist wegen seines liedartigen
er von ganz entscheidendem Einfluss auf die französische Musik, der er insbesondere die       Themas klar zu verfolgen, ebenso auch das spritzige Thema des Final. Das Moderato
Werke Bachs, aber auch Mendelssohns nahebrachte, ebenso auf Deutschland, weil man             cantabile steht in der Subdominanttonart E-Dur; eine zarte Solomelodie der Flötenstim-
dort wieder Instrumente erbaute, die dem französisch-romantischen Klangideal folgten.         men zu begleitenden, harfenartigen Arpeggienfiguren der Streicher und leisen Doppel-
Als Konzertorganist war Widor weithin berühmt; seine Virtuosität schlug sich auch in          pedal-Noten erinnert an Mendelssohns lyrische Sätze vom Typus Solo mit Begleitung
seinen zahlreichen Orgelwerken nieder, in deren Zentrum die insgesamt zehn Orgelsym­          (»Lied ohne Worte«), auch durch seine ausdrucksstarken Vorhaltsbildungen auf den
phonien stehen – Kompositionen einer Gattung, als deren Schöpfer man ihn zu Recht             Schwerpunkten der Takte. Ein lebhafterer Mittelteil in der Gegenklang-Tonart C-Dur
betrachtet.                                                                                   (»Poco animato«) bringt als Thema eine Variante des Themenbeginns, die begleitet wird
Widor wollte mit seinen Orgelsymphonien keineswegs den Orchesterklang imitieren, son-         von zunächst punktierten, dann triolischen Figuren. Durch den Themeneintritt in der
dern den symphonischen Klang auf der Orgel darstellen: Die Inspiration zur Komposi-           Mittelstimme leitet der Komponist zum ersten Teil zurück.
tion dieser neuartigen Werke war für ihn nach seinem eigenen Zeugnis nicht der Wunsch,        Der dritte Satz (Allegro) ist dreiteilig, vom Typ her ein Scherzo. Er erinnert stark an Schu-
eine neue Gattung zu begründen, sondern vor allem der Klang der großartigen Cavaillé-         manns berühmten Kanon h-Moll, denn auch hier wird das Thema im Staccato als Oktav-
Coll-Orgeln (besonders »seiner« Orgel in St-Sulpice), auf denen wegen der Neuerungen          kanon der beiden Hände durchgeführt. Widor wünscht für das Récit-Manual hier die
Aristide Cavaillé-Colls im Orgelbau der symphonische Klang adäquat dargestellt werden         Aufhellung durch einen 2’ (Octavin); für den Beginn ist für die rechte Hand keine Manu-
konnte: Widor brachte zusätzlich den virtuosen Orgelstil ein.                                 albezeichnung enthalten, am besten wirkt aber zweifellos das zweimanualige Spiel mit
So widmete er die ersten vier Symphonien, als op. 13 im Jahr 1872 bei Maho (Paris) publi-     der rechten Hand auf dem Récit, sodass der Kanon besser zu hören ist. Der Mittelteil des,
ziert, seinem Freund und Förderer Aristide Cavaillé-Coll. Die zweite Folge der Sympho­        wie erwähnt, dreiteiligen Satzes behandelt – dem zyklischen Prinzip folgend – themati-
nien op. 42 (mit der V. und ihrer bekannten Toccata sowie der monumentalen VIII.) zeigt       sches Material aus dem ersten Satz (Allegro risoluto), das begleitet wird von intensiven
ihn auf dem Höhepunkt seiner kompositorischen Meisterschaft. Die beiden nachfolgen-           Trillerketten, die auch bei der Wiederkehr des ersten Teiles (: des Kanons) fortgesetzt
den Symphonien, mit gregorianischen Themen, die Widor einzeln publizierte, sind dann          werden, wenn Oberstimme und Pedal den Kanon ausführen.
spiritueller und meditativer, von gedämpfterem Klang, und die gregorianischen Themen          Nach dem sanft wiegenden vierten Satz (Variations d-Moll, 6/8-Takt) und dem äußerst
sind wie Leitmotive verwendet, die einzelne Sätze und bei der Symphonie Romane sogar          expressiven fünften (Adagio, Fis-Dur) schließt sich in einem starken und wirkungsvollen
den ganzen Zyklus zusammenfassen. Die beiden Zyklen weisen bereits deutlich auf sei-          Kontrast der sechste und letzte, das Final an: Das – durch zahlreiche Vorschläge spritzig
nen Schüler Charles Tournemire voraus. Die Gregorianik begleitete Widor auch noch bis         wirkende – Thema erklingt im Sopran; es ist marschartig und wird kraftvoll deklamiert,
zu der 27 Jahre nach der Symphonie Romane erschienenen Suite latine op. 86 – mit ihren        mit durch Vorschlägen markanten Akzenten und unterstützenden Akkorden auf den
sechs Sätzen hätte sie durchaus auch »Symphonie« genannt werden können, aber offen-           Taktschwerpunkten, sodass der sieghafte Aspekt der kriegerischen Marschmusik betont
bar wollte Widor zum Dekalog seiner Symphonien keine weitere mehr hinzufügen.                 wird. Phasenweise erscheint ein verhaltenes, lyrisches Thema über auf- und nieder­
Die monumentale Symphonie Nr. VIII H-Dur op. 42, 4 ist allein schon von ihrer Anlage          wogenden Arpeggien; es vermag sich letztlich jedoch nicht durchzusetzen, denn in dem
                                                      in sechs Sätzen her betrachtet ein      rondoartig angelegten Schluss-Satz bleibt das Hauptthema bestimmend.
                                                      großes Gemälde. Unzählige kleine
                                                      Spielfiguren, Melismen, Triller u. ä.
                                                      verleihen ihr zusätzlich den Ein-
                                                      druck eines Frescos, im Bereich
                                                      der Bildenden Kunst der damals
                                                      beliebten Methode der »Pointillis-
                                                      ten« verwandt, deren unzähligen
                                                      farbigen Pinseltupfern viele kleine
                                                      Notenwerte entsprechen, die dem
                                                      jeweiligen Thema beigegeben sind,
Charles-Marie Widor                                   um es in einem bestimmten Licht

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