Internationaler Orgelsommer 2012 - Stiftskirche Stuttgart - of /bach-vokal
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Internationaler Orgelsommer 2012 Stiftskirche Stuttgart
Inhaltsverzeichnis Vorwort … 5 Konzert 1: 6.7. Elisabeth Zawadke (Luzern) … 7 Konzert 2: 13.7. Martin Baker (London) … 17 Konzert 3: 20.7. Kay Johannsen (Stuttgart) … 27 Konzert 4: 27.7. Thierry Escaich (Rosny-sous-Bois) … 31 Konzert 5: 3.8. Michael Schöch (Innsbruck) … 39 Konzert 6: 10.8. Ben Van Oosten (Den Haag) … 49 Konzert 7: 17.8. Yuka Ishimaru (Niigata) … 57 Konzert 8: 24.8. David Enlow (New York) … 65 Konzert 9: 31.8. Arvid Gast (Lübeck) … 73 Biografien der Interpreten … 81 Daten zur Geschichte der Stiftsorgeln … 89 Disposition der Mühleisen-Orgel … 90 Die Organistinnen und Organisten der letzten 9 Jahre … 92 Die schönsten Zitate aus dem Orgel-Gästebuch … 94 Diskographie Kay Johannsen … 96 Internationaler Orgelsommer im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik Eine Konzertreihe der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart, gefördert von der Stadt Stuttgart, dem Regierungspräsidium Stuttgart und dem Verein »Freunde der Stiftsmusik Stuttgart e.V.« Künstlerische Leitung: Stiftskantor KMD Kay Johannsen Geschäftsführung: Sabeth Flaig Musikalische Assistenz: Felix Mende Redaktion des Programmheftes, Einführungstexte: Elsie Pfitzer Werbung, Öffentlichkeitsarbeit: Dagmar Hahn, Corinna Reimold Fotos und Abbildungen: Archiv Stiftsmusik Stiftsmusik Stuttgart Altes Schloss, Schillerplatz 6, 70173 Stuttgart Telefon 0711–226 55 81, Fax 0711–226 26 31 info@stiftsmusik-stuttgart.de, www.stiftsmusik-stuttgart.de Eintrittspreise 8 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 4 Euro) 10er Karte: 64 Euro (Schüler, Studenten, Schwerbehinderte 32 Euro) Vorverkauf dieser nicht nummerierten Karten am Infostand in der Stiftskirche: Mo–Do 10–19 Uhr, Fr & Sa 10–16 Uhr. Abendkasse jeweils am Freitag ab 18.30 Uhr. Zehnerkarte für »Freunde der Stiftsmusik e.V.« 56 Euro (nur an der Abendkasse). Die Eintrittskarten gelten zeitlich unbegrenzt auch für die regulären Konzerte der »Stunde der Kirchenmusik«.
Vorwort Pünktlich mit dem ersten Freitag im Juli bricht in der Stiftskirche der Internationale Orgelsommer an und bietet Ihnen bis zum letzten Freitag im August neun spannende Orgelkonzerte mit Interpreten aus acht Ländern. Die internationale Besetzung macht unsere Sommerkonzerte nicht nur äußerlich »bunt« oder sorgt für mitunter erhei- ternde Kommunikationsprobleme bei den anschließenden KünstlerTreffs, die unter- schiedliche Herkunft und Prägung der Interpreten bringt auch verschiedene und damit bereichernde Sichtweisen auf die Musik mit sich. Unsere Mühleisen-Orgel wird gewiss ein inspirierender Partner für die durchweg renommierten Künstler sein: Die große Mischfähigkeit der 81 Register erlaubt sehr individuelle Klangkombinationen und Farbmischungen, so dass sich in den Konzerten immer wieder überraschende Hör eindrücke einstellen werden. Erstmals zu Gast in der Stiftskirche sind Martin Baker (Musikdirektor an der Londoner Westminster Cathedral), der Orgelvirtuose, erfolgreiche Komponist und Improvisator Thierry Escaich (Rosny-sous-Bois), der junge ARD-Preisträger Michael Schöch (Inns- bruck), die Chartres-Gewinnerin Yuka Ishimaru (Niigata), der mit vielen Preisen bedachte David Enlow (New York) und der Lübecker Orgelprofessor Arvid Gast. Die Luzerner Pro- fessorin Elisabeth Zawadke hat unsere Mühleisen-Orgel schon einmal bei einer Orgel musik zum Weihnachtsmarkt und in der Stunde gespielt. Ben van Oosten (Den Haag), der Großmeister der französischen Orgelsymphonik, war schon zu Gast im Orgelsommer, spielte damals aber noch an der früheren Walcker-Orgel. Stiftskantor Kay Johannsen setzt seinen Widor-Zyklus mit der VI. Symphonie fort. Natürlich wird er auch wieder improvi- sieren – mit seiner freien, oft sehr rhythmisch geprägten Musik hat er jüngst das chine- sische Publikum in den Konzertsälen von Beijing und Shanghai in Begeisterung versetzt! Wieder haben wir alle Konzerte in einem informativen Programmbuch zusammen- gefasst, das nicht nur alle neun Programme samt Einführungen in die Werke bietet, sondern auch viele zusätzliche Informationen rund um unsere Mühleisen-Orgel bis hin zu den amüsanten und oft sehr persönlichen Zitaten aus unserem Orgel-Gästebuch für Sie bereit hält. Wie schon in den letzten Jahren bieten wir nach jedem Konzert den KünstlerTreff auf der Orgelempore an, so dass Sie wieder Gelegenheit haben, die Interpreten näher kennen zu lernen und etwas über ihre Programme und ihren Alltag als Musiker zu erfahren. In Erwartung eines spannenden Orgelsommers und mit besten musikalischen Grüßen, Ihr Stiftskantor 4 5
Konzert 1 Programm Elisabeth Zawadke (Luzern) Johann Sebastian Bach (1685–1750) Freitag, 6. Juli, 19 Uhr Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Sonate c-Moll/C-Dur op. 65, 2 Paul Hindemith (1895–1963) Sonate II Lebhaft Ruhig bewegt Fuge. Mäßig bewegt, heiter Max Reger (1873–1916) Zweite Sonate d-Moll op. 60 Improvisation: Allegro con brio (ma non troppo vivace) Invocation: Grave con duolo (doch nicht schleppend) Introduction und Fuge anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore 6 7
Johann Sebastian Bach als jede norddeutsche »Durezza« der vergangenen Zeit, ungeachtet dessen, dass Frot- Die Werkgruppe Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 gilt schon seit dem Bach- scher diesen Abschnitt als »ganz buxtehudisch« bezeichnete. Biographen Philipp Spitta als ein »Modell italienischer Konzerte« – weniger als ein Inbe- Die Fuge ist gleichbleibend spielerisch-polyphon, latent homophon, mit einfacher Tonar- griff der »Toccata«. Bach brachte jedoch in Weimar im Zuge seiner intensiven Beschäf- tengliederung: ein jauchzendes, stufig gebautes Motiv wird von einem zirkulierenden tigung mit den italienischen Orchesterkonzerten von Albinoni, Vivaldi, Taglietti u. a. Kontrapunkt begleitet, häufig herrschen Terz- und Sextparallelen vor. Man sieht Matthe- hier auch die Freizügigkeit der Toccata mit ein, wie sie sich seit ihren Anfängen heraus- sons Tonarten-Charakteristik in diesem C-Dur-Satz erfüllt: »C-Dur ist … aber nicht unge- gebildet hatte, das freie und virtuose Spiel mit Laufwerk und Akkorden, um die Möglich- schickt, wo man Freude ihren Lauf lässt.« Dennoch läuft das Thema nicht Gefahr, in keiten des Instruments und seines Spielers zu präsentieren. So entstand neben seinen belangloses »Gekicher« auszuarten, weil es von Hemiolenbildungen (= versteckten Zwei- zahlreichen Konzertbearbeitungen und sonstigen Werken nach italienischen Vorbildern ergliederungen im Dreiertakt) abgeschlossen wird. In ihrer bemerkenswerten Leichtig- auch die Originalkomposition der Toccata C-Dur, sein wohl eindeutigster Versuch, die keit und ihrem Fluss, mit ihren offen dialogisierenden (konzertierenden) Motiven bildet dreiteilige Form des italienischen Konzerts auf die Orgel zu übertragen – und damit die Fuge einen Konzert-Schluss-Satz »con brio« par excellence. Andererseits klingen ihr etwas ganz Eigenständiges und Neues. Die Konzertform tritt vor allem im Adagio hervor, abrupter Schluss und die übermäßige Quart drei Takte zuvor wieder stark an die »nord- das wie ein langsamer Satz aus einem Violinkonzert wirkt, aber auch in der Toccata, deutsche« Schule (mit ihren plötzlichen Überraschungseffekten) an: Man sieht, Bach wenn nach den Manualfigurationen und Pedalsolo-Takten des Beginns der volle verarbeitet – wie stets – Einflüsse und Stilelemente aller Traditionen und Richtungen auf »Orchestersatz« anhebt. Als ganz »orgelmäßige und deutsche« Beigaben allerdings eine ganz und gar eigenständige Weise zu etwas Neuem, Originellem und Individuellem. können die Toccatenläufe und die Zweiteiligkeit des Beginns gelten, die siebenstimmi- Davon zeugt auch der Schluss, der sich höchst wirkungsvoll quasi ins Nichts verflüchtigt gen Dissonanzketten am Schluss des Adagios (»Grave«, vgl. Buxtehude!) und die an (ähnlich wie in der – allgemein sowie speziell in der lockeren Art der Themenbildung und Kuhnau gemahnende Schlussfuge »mit ihrem köstlichen Humor, in der die Philister -kontrapunktierung verwandten – Fuge D-Dur BWV 532, 2). durch Quintparallelen geärgert werden« (Hermann Keller). Die Toccata wirkt zwar wie improvisiert, ist jedoch formal, rhythmisch und harmonisch genau durchstrukturiert, von den angetupften Orgelpunkten auf C im Pedal über die Figurationen in Triolen und Felix Mendelssohn Bartholdy Zweiunddreißigsteln im Manual wie in den Pedalsoli bis zum kadenzartigen Tonarten- Der musikalisch hochbegabte, in jungen Jahren bereits als Wunderkind bekannte Kom- plan; die Themen sind untereinander verwandt und bereiten auch die Motive der nach- ponist widmete sich schon früh dem Orgelspiel, komponierte bereits mit elf Jahren seine folgenden Teile vor. ersten Orgelwerke und war später einer der wich- Der dann folgende Konzertsatz ist wohl der konventionellste Concerto grosso-Satz unter tigsten Vertreter der im Barock so blühenden, allen Bach-Praeludien. In sechstaktigen Gruppen (a–a–b) konzertieren Geigenfiguren mittlerweile jedoch weitgehend darniederliegen- zwischen Sopran und Tenor. Die Gliederung in Ritornelle von vier Takten und Episoden den Orgelkunst, gerühmt von so bedeutenden von zwei bis zu zwölf Takten, die orthodoxe Formerfüllung durch Beibehaltung des Zeitgenossen wie Samuel Sebastian Wesley oder unveränderten Ritornells und anderes mehr weisen darauf hin, dass hier eine der frühen Johann Wolfgang von Goethe. Was sich dabei an Bachschen Übertragungen der Konzertform auf ein Tasteninstrument vorliegt. So nimmt seinem gesamten Schaffen als charakteristisch man wohl zu Recht an, dass das Werk in Weimar entstand, auch wenn seine Überliefe- herauskristallisieren sollte, lässt sich bereits an rung erst nach 1720 einsetzte. Die Bestimmung des außergewöhnlichen Werkes ist unter den frühen Studien erkennen: die Bipolarität zwi- den Forschern umstritten; plausibel erscheint jedoch, dass Bach es im Rahmen seiner schen seinem hauptsächlich an Johann Sebastian immer zahlreicheren Orgelgutachten für Präsentationszwecke schrieb, denn in den Bach orientierten historisierenden Zug und sei- unterschiedlich gestalteten Abschnitten lassen sich alle Möglichkeiten eines Instruments ner individuellen, deutlich der Romantik zuge- (und Spielers !) hervorragend darstellen. neigten Emotionalität. Gerade in den Orgelwer- Das Adagio, der zweite Satz, ist nur in seinem »Grave«-Teil vom toccateneigenen »con ken, wo – abgesehen von einigen Choralzitaten in discrezione«-Vortrag bestimmt. Das Adagio selbst ist sicherlich ein (nahezu) einzig daste- den Sonaten I, III und VI – das Wort als Wegwei- hender Versuch, das Prinzip »Melodie mit Begleitung« auf der Orgel darzustellen; allen- ser für den Stimmungsgehalt fehlt, sind diese bei- falls kurze Abschnitte im »großen« e-Moll-Praeludium von Nicolaus Bruhns erinnern den bestimmenden Pole besonders deutlich aus- noch an diese Idee. geprägt. An Orgelwerken hinterließ Mendelssohn Auch der »Grave«-Teil ist durch die konsequente Verwendung einer musikalischen Idee jedoch relativ wenig, neben einigen einzeln über- (Harmonieketten über chromatischem Bass mit überstehender verminderter Sept) weiter Das Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy lieferten Stücken und den Praeludien und Fugen 8 9
op. 37 hauptsächlich die Sechs Sonaten op. 65. Bei seiner Berühmtheit als Orgelvirtuose, und Giovanni Ricordi (Mailand) vorbereiten konnte – ein weiteres Indiz für die Bedeu- vor allem in England, wo er als Sensation gefeiert wurde – war doch die englische Tradi- tung, die er selbst diesem Opus zumaß. tion der Orgelmusik lange Zeit fast ausschließlich auf die Manuale ausgerichtet … –, Die Entstehung der Stücke als bewusste »Compositionen«, nach Art von Collagen, wurde verwundert es nicht, dass er 1844 von seinem Verleger Coventry, bei dem er kurz zuvor u. a. auch von Robert Schumann gewürdigt, der das Neue in den Sonaten erkannte, die er 44 kleine Choralvorspiele von Johann Sebastian Bach herausgegeben hatte, um die Publi- »in ihrem Vorwärtsstreben« als »ächt poetische Formen« pries, »wie sie sich in jeder kation einer Sammlung eigener Kompositionen für die Orgel gebeten wurde. Der Verleger Sonate zum vollkommenen Bild runden …«. seinerseits ging wohl von den in England so beliebten freien »Voluntaries« aus, Mendels- Der Zeitgenosse empfand also innerhalb des traditionalistischen, oft mechanisch-schul- sohn zunächst eher von einer Art Orgelschule – oder eben »Orgelsonaten«. Eine Gattung mäßigen Orgelschaffens seiner Zeit Mendelssohns Orgelstil als aktuell und neu. dieser Art gab es zu der Zeit eigentlich nicht; Stücke, die als »Orgelsonaten« bezeichnet Sonate II c-Moll / C-Dur wirkt formal zyklisch gegliedert, aber die Teile sind nicht so eng wurden, waren Übertragungen barocker Concertosätze oder klassischer Symphonien – zusammengehörig wie in der klassischen Sonatenform. Die Sonate wird von einem Grave insbesondere in England, wo Transkriptionen von jeher besonders intensiv gepflegt wur- eingeleitet, das kräftige, kurze Akkordmotive wie Fragen in den Raum stellt; die Akkorde den. Mendelssohn verstand unter der Bezeichnung »Sonate« ebenfalls nicht die klassische türmen sich im doppelten Kontrapunkt immer weiter auf. Allmählich werden die Phra- zyklische Form, denn er stellte die Sechs Orgelsonaten op. 65 schließlich aus 24 kleineren sen länger, bis es auf der Dominante zu einem Halt kommt. Stücken zusammen, die in der Zeit zwischen dem 21. Juli 1844 und dem 2. April 1845 Aus dem gehaltenen Ton g2 wird sodann der erste Ton des getragenen Adagios (c-Moll, entstanden waren; sie wurden zuletzt mit noch früher komponierten Sätzen kombiniert. 2/4-Takt) vom Typ Solomelodie mit Begleitung, von starkem Affekt des wehmütigen Dia- Die neu komponierten Sätze betrachtete er als Belege dafür, dass er »das Instrument logs zwischen tiefer (: Tenorlage) und hoher (: Sopranlage) Solostimme. Die Tonart bleibt anders und besser behandelt habe als bisher«. Die so entstandenen, ursprünglich – dieser Stimmung entsprechend – bis zum Schlussakkord c-Moll, von einer aufhellen- »Studien« titulierten Zyklen nannte er in einem Brief an seinen Freund Klingemann vom den Wirkung zur Durparallele Es im mittleren Teil abgesehen, und die häufig chromati- 15. Februar 1845 erstmals »Sonaten«. Aus dieser Entstehungsgeschichte erklärt sich die sche Stimmführung verstärkt den elegischen Charakter. unterschiedliche Anordnung der Sätze und Kompositionsart – die den Sonaten häufig als Im sich anschließenden Allegro maestoso e vivace (C-Dur, 3/4-Takt), von punktierten Stilbruch angelastet wurden. Neben deutlichen Rückbezügen auf Johann Sebastian Bach Rhythmen vorwärtsgetrieben, mit der »attacca« folgenden Fuge setzt sich macht- und (so vor allem in den Zyklen mit Choralthematik) stehen eindeutig romantische Sätze nach schwungvoll die Durvariante C mit ihrem hellen Glanz und der Stimmung strahlend- Art der »Lieder ohne Worte«. Auch folgen die einzelnen Sätze der Zyklen keineswegs der sieghafter Freude (vgl. verschiedene C-Dur-Werke wie zum Beispiel Anton Bruckners »Sonatenhauptsatzform« der Klassik. Genau durch diese Zusammenstellungen jedoch Te Deum u. v. a.) durch. Relativ »weltlich«-marschartig wirkt das Allegro maestoso, das aus sind die Sechs Sonaten – vielleicht mehr noch als die Chorwerke – typische Kompositionen dem ersten Teil eines in Rom geschriebenen Orgel-»Nachspiels« in D-Dur von 1831/32 des Romantikers Mendelssohn, und dass er selbst bei aller Heterogenität der Gestaltung hervorgegangen ist. Die Fuge (im Allabrevetakt notiert) jedoch scheint danach an das der Einzelsätze seine Sonaten doch ganz bewusst als Einheit (»als ein Werk«) verstanden bekannte tröstliche Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius und wissen wollte, da sie seine »Art, die Orgel zu behandeln und für dieselbe zu denken«, dessen Weise von J.A.P. Schulz anzuklingen und strömt zunächst in der Durchführung repräsentieren, belegt sein Brief an den Verleger des deutschen Musikverlags Breitkopf & des dementsprechend kantablen Themas eher »sakralen« Frieden aus, bis ein neuer Härtel vom 10. April 1845. Auch in der englischen Verlagsanzeige wurden die Sonaten Kontrapunkt in Achtelbewegung zunehmende Bewegungsimpulse bringt, die durch die angekündigt als »Beispiele für das, was der Komponist selbst als seinen ganz persönlichen Sequenzierung des Themenkopfes verstärkt werden. Zuletzt wird die Fuge zu einer gro- Orgelstil betrachtet.« Also ist die stilistische Zwiespältigkeit der Orgelsonaten, die Mischung ßen Schluss-Steigerung geführt, die über Orgelpunkten im Pedal zu Achtelfigurationen von historisierenden und spezifisch romantischen Stilelementen, offenkundig nicht ihr der Manualstimmen bzw. die umgekehrte Konstellation in eine letzte Themenpräsenta- aus Flüchtigkeit des Komponisten resultierender Mangel, sondern ihr beabsichtigtes und tion (mit angedeuteter Themen-Engführung und -Umkehrung) und Schlusskadenz wichtigstes Charakteristikum. Auch ihre häufig improvisatorisch wirkende Struktur ist mündet. typisch Mendelssohn, der ja nicht nur für sein konzertantes (vorwiegend Bach-) Spiel, sondern auch für seine Improvisationskunst geschätzt war. Manch ein Sonatensatz könnte durchaus auf solch eine Improvisation zurückgehen. Für die Publikation dieses für ihn so Paul Hindemith wichtigen Werks mit größter Genauigkeit, was u. a. genaue Phrasierungsbögen sowie – Geboren am 16. November 1895 in Hanau, konnte Paul Hindemith durch ein Stipendium erstmals in einer Orgel-Partitur – Metronom-Angaben betraf, setzte er sich in den folgen- seit 1909 Violine studieren (bei A. Rebner), seit 1912 Komposition bei Arnold Mendels- den Monaten mehrfach ein, sodass er nach Abschluss aller Korrekturen und Überprüfung sohn und Bernhard Sekles am Hochschen Konservatorium in Frankfurt/M., wo er seit der Sonaten für den 15. September 1845 die gleichzeitige Publikation als Opus 65 bei 1915 dann als Konzertmeister am Opernhaus tätig war. Seit 1917 entstanden seine ersten Coventry & Hollier (London), Breitkopf & Härtel (Leipzig), Maurice Schlesinger (Paris) Kompositionen, die er von 1919 an publizierte und die auf großes Interesse trafen, weil 10 11
sie in ihrer klaren, transparenten – wenn auch immer polyphon orientierten ! – Struktur Im zweiten Satz stehen sich nicht zwei Themen, sondern zwei Klangebenen (Oberwerk und spielerisch wirkenden Leichtigkeit gegenüber den spätromantischen Werken der und Hauptwerk) in einem sanft schwingenden Siciliano gegenüber. damaligen Zeit erfrischend neu wirkten. Hindemith wurde rasch Inbegriff der musikali- Als dritter Satz folgt eine sehr locker und leicht wirkende Fuge, die mit rhythmisch unter- schen Avantgarde in Deutschland, war aber darüber hinaus – was heute häufig gegenüber schiedlich charakterisierten Motiven spielt; sie ist hinter dieser vordergründigen Fassade seiner Bedeutung als Komponist in den Hintergrund tritt – auch als solistisch wie im jedoch zweifellos ganz bewusst kontrapunktisch intensiv und streng gestaltet (auf diese Streichquartett, dem »Amar-Quartett«, konzertierender Bratschist international höchst Kunst verstand sich Hindemith ja, wie u. a. sein Ludus tonalis beweist !), denn versteckt erfolgreich. Seit 1927 lehrte er Komposition in Berlin, musste aber nach 1933, von den und aufgeteilt in ihrem Thema ist das »B-A-C-H«-Thema zu erkennen, das dann in Takt Nationalsozialisten als Schöpfer »entarteter Kunst« diffamiert, emigrieren, 1938 in die 32 mit einem markanten Pedaleinsatz in seiner Gesamtgestalt zu vernehmen ist, sodass Schweiz, 1940 in die USA. Dort lehrte er an der renommierten Yale University Komposi- die ganze Fuge zu einer Art »Hommage à Bach« wird – somit erklingt im 1. Konzert ein tion und war als Dirigent tätig, seit 1946 amerikanischer Staatsbürger. Nach Kriegsende erstes derartiges Stück, das beantwortet werden wird im Abschlusskonzert mit Zsigmond ließ er sich nach mehreren Europareisen 1953 endgültig in der Schweiz nieder. Bis 1957 Szathmárys B-A-C-H »Hommage à …«. unterrichtete er in Zürich Komposition, war häufig als Dirigent auf Konzertreisen unter- wegs und komponierte weiter, ungeachtet der Ablehnung, die ihm die damalige Avant- garde entgegenbrachte, weil er sich seit 1950 wieder mehr der Tonalität zugewandt hatte. Max Reger Sein Schaffen ist jedoch von bleibender Bedeutung durch seine handwerkliche und tech- Die 2. Sonate d-Moll op. 60 entstand 1901, ein Jahr nach der 1. Orgelsonate fis-Moll op. 33. nische Souveränität in allen Gattungen. Paul Hindemith starb am 28. Dezember 1963 in Bei seinem Opus 16, Suite e-Moll hatte Reger im Konzept noch den Titel »Sonate« gewählt, Frankfurt am Main. war dann aber doch davor zurückgeschreckt: »Unsere Orgelsonaten sind doch mehr Sui- Zur Orgelmusik steuerte er nicht nur 3 Sonaten, sondern auch ein Konzert für Orgel und ten«, schrieb er in einem Brief an Karl Wolfrum. Und noch den Titel seiner 1. Sonate op. Orchester bei. Der Impuls hierfür ging von seinem Kontakt mit der Orgelbewegung aus, 33 wählte er nur als »Kollektivtitel«, da die suitenähnliche Satzfolge an die alte Sonaten- die er interessiert verfolgte, jedoch nicht in allen Aspekten gutheißen konnte. 1927 form der frühen Zeit erinnert: Fantasie – Intermezzo – Passacaglia. Die 2. Sonate dagegen schrieb er zur Einweihung der neuen Weigle-Orgel im Sendesaal zu Frankfurt die Kam weist mehr Elemente auf, die das klassisch-romantische Sonatendenken bezeugen; auch mermusik Nr. 7 für Bläser, Celli, Kontrabässe und Orgel, im Grunde ein erstes kleines ist der Satz insgesamt schlanker, sonatenartiger. Allerdings kehrt Reger die Funktion der Orgelkonzert. Nach dem Besuch der Freiburger Orgeltagung von 1928 bezeichnete er die einzelnen Teile häufig geradezu ins Gegenteil um. Praetorius-Orgel zwar als »tot, trotz aller Mühen«, zeigte sich jedoch den Idealen der Das Problem der »klassischen« Sonatenform auf der Orgel (das ja die gesamte Orgelmu- Orgelbewegung gegenüber wieder aufgeschlossener, nachdem ihm Hugo Distler 1932 in sik nach der Klassik beschäftigte, man denke nur an Mendelssohn!) war für Reger haupt- Lübeck die Stellwagen-Orgel an St. Jakobi vorgeführt hatte. Sein Versprechen, sich wieder sächlich eine Stilfrage; gegen Rheinbergers »Handhabung« derselben in seinen doch der Orgel zu widmen, löste er mit den 3 Sonaten (I und II 1937; III 1940) und dem Con anerkannt niveauvollen 20 Orgelsonaten äußerte er Vorbehalte wegen ihrer »Zugeständ- certo for Organ and Orchestra ein, das er 1962 nisse an die hypermoderne Weichlichkeit und Sentimentalität« u. ä. und forderte viel- für die neue Orgel im Lincoln Center New mehr, es »müsse der Stil selbst möglichst auf Bachsche Grundlage gestellt werden.« York schrieb und das mit Anton Heiller an der Freilich hinderten diese Vorbehalte Rheinberger gegenüber ihn nicht daran, dem grei- Orgel uraufgeführt wurde. sen Kollegen sein neu erschienenes Opus 33 zuzusenden mit der Bitte um »gütige Sonate II ist dreisätzig: Lebhaft – Ruhig Durchsicht …«. bewegt – Fuge und erfüllt rein äußerlich Reger orientierte sich also in seinem Sonatendenken und -schaffen hauptsächlich an der damit die traditionelle Form. Der große Tech- Formenwelt der Bachzeit; die klassisch-romantische dagegen lag ihm nicht so sehr am niker Hindemith durchbricht sie jedoch in Herzen, obwohl deren Regeln wie zum Beispiel das kontrastierende Gegenüber zweier raffinierter Weise immer wieder, indem er Hauptthemen und ihre Synthese (in der Reprise) der farbenreichen, dynamisch sehr im ersten Satz das Concerto mit Haupt- und flexiblen Orgel seiner Zeit entgegengekommen wären. Die dynamischen Kontraste, die Seitenthema mit dem Sonatenhauptsatz und Reger ja überaus schätzte, projizierte er stattdessen auf die Formenwelt der barocken seiner Reprise verschmilzt. Das Hauptthema Tonsprache. Dieses Auseinanderklaffen zwischen dem Suchen nach neuen Wegen der ist rhythmisch sehr prägnant und intensiv Komposition und dem Festhalten an der Tradition hat bei Reger einen Höhepunkt vorwärtsdrängend, das Seitenthema von kon erreicht. Winfried Zillig, der Schönberg-Schüler, der in Reger einen wichtigen Vorläufer trastierender Motorik geprägt, sodass sich ein der zwölftönigen Musik suchte (und fand), schrieb über Regers Sonaten, dass ihre Sätze Paul Hindemith intensiver Dialog entfaltet. schematisch seien, wenn sie der klassischen Sonatenform folgten, dass er jedoch in 12 13
Werken der Phantasie sich in seiner ungeheuren Erfindungskraft so fortschrittlich da komm ich her« eingeführt: Die Lösung der Klage, des Schmerzes ist für Max Reger zeige, in »völliger Freiheit von jeder formalen, kontrapunktischen, im tonalen Sinne immer ein wesentliches Element seiner Kompositionen. harmonischen, ja sogar von jeder thematischen Bildung«, dass wir uns »tatsächlich Der 3. Satz beschließt die Sonate mit einer Fuge, der eine Introduction vorangestellt ist. bereits auf einem Gebiet« befänden, »das weit über die Tonalität hinausgreift und wo Diese Introduction ist besonders interessant, denn wie im 1. Satz sind auch hier verschie- das Tonmaterial unter ganz neuen Gesichtspunkten geordnet ist, die vielfach erst rück- dene Aspekte abzulesen. Einerseits vertritt die Introduction im 3/8-Rhythmus, der in der wirkend im Hinblick auf die neueste Entwicklung der abendländischen Musik verständ- 4/4-Notation verborgen ist, das Scherzo, den vorletzten Satz im klassischen Sonaten lich sind.« zyklus. Der Scherzo-Charakter ist besonders deutlich in T. 6 ff. und 14 ff. zu erkennen. In der Tat: Der erste Satz der 2. Sonate: Improvisation ist kein überzeugendes Beispiel für Daneben aber finden sich zahlreiche Rückbesinnungen auf die vorangegangenen Teile die spätromantische Kunst im Sinne der klassisch-romantischen Sonate. Die Takte 1–57 und auch zahlreiche Elemente, die auf die Fuge vorausweisen. Wolfgang Stockmeier und 69–121 entsprechen sich weitgehend; die einzigen Unterschiede sind Transpositio- nennt daher die Introduction »die eigentliche Durchführung« der 2. Sonate. Dieser Klas- nen verschiedener Art. Für die eigentliche Durchführung, den zentralen Abschnitt der sifikation widerspricht allerdings der Gesamteindruck des Nachdenklichen und Sprung- motivisch-thematischen Arbeit in der Sonatenform, bleiben gerade 12 Takte! Auch diese haften in der Introduction, während Durchführungen ja stets eine starke Entwicklungs- Tatsache führt Reger zu den Ursprüngen der Sonatenform zurück; seit Beethoven näm- tendenz aufweisen, die sie zum Ziel vorwärtsdrängen lässt – also schuf Reger auch hier lich wurde die Bedeutung der motivisch-thematischen Arbeit in der Durchführung eine Verschmelzung von eigentlich disparaten Elementen. immer größer, sodass diese schließlich den gesamten Satz eroberte und die Durchfüh- Die Fuge als Finale nach der spontan wirkenden Improvisation (Satz 1), der ekstatischen rung des thematischen Materials sogleich in der Exposition begann und auch in der Anrufung und Expression (Satz 2), dem Innehalten der Introduction und ihrem Hin Reprise anhielt. Diesen Umgang mit der motivisch-thematischen Arbeit wiederum greift weisen auf das Folgende ist nun energisch und zielgerichtet, klar gebaut, und strebt ent- Reger auf und wendet ihn in Opus 60 – das formal dem alten, vor-klassischen Sonaten- schlossen auf den Schluss zu (»Allegro energico«). typus entspricht – so extensiv an, dass alle Elemente der »klassischen« Durchführung Die Fuge ist in drei Teile gegliedert: T. 1–38: zwei vollständige Durchführungen des The- bereits in der Exposition erschöpft sind und für die eigentliche Durchführung (T. 57 ff.) mas in den Bereichen von Tonika und Dominante sowie verschiedenen Subdominantbe- fast kein Rest an motivisch-thematischer Arbeit mehr bleibt. Musikalisch ist dieser Sach- reichen (g-, c-, d-Moll). In Takt 8 kommt erstmals ein Staccato-Thema hinzu, das im verhalt auskomponiert durch den Eindruck absoluter Ruhe (in der Durchführung, die weiteren Verlauf – als beibehaltener Kontrapunkt – zunehmende Bedeutung erlangt: es sonst der Gipfelpunkt des »Kampfes« zwischen den gegensätzlichen Themen ist ! …). verbindet nicht nur die einzelnen Themeneinsätze und -durchführungen, sondern auch Gleichzeitig kündigt sich in der »Durchführung« bereits die abschließende Fuge mit den Mittelteil, der den Charakter eines virtuosen, freudig gestimmten Exkurses hat, als ihrem chromatischen Thema an. Der erste Satz hat durch diese Sachverhalte einerseits Kontrapunkt zu den Terzen und Sexten, mit der Fuge. Der ganzen Fuge verleiht es außer- den schwebenden Charakter einer Fantasie, andererseits durch das Wechselspiel zweier dem einen Zug der Straffheit, der viel zur enormen Wirkung und Beliebtheit der 2. Sonate Themenbereiche – des Allegro con brio auszuführenden Eingangsmotivs mit seinem beiträgt. Der heiter-übermütige Exkurs weist auf die Wendung der Stimmung zur freudi- markanten punktierten Rhythmus und des liedartigen Gegenthemas – durchaus Züge gen Gewissheit (nach Martin Weyer) zwar des Sonatensatzes. voraus, muss aber eindeutig Exkurs bleiben, Als 2. Satz folgt ein mystisch-verhaltenes »Grave« mit bewegtem Mittelteil. Die Haltung denn die Stimmung wird endgültig erst im der »Anrufung« (= Invocation) ist zunächst in schmerzliche Klage gekleidet (»Grave con Schlussabschnitt ab Takt 51 erreicht. Mit den duolo«: »mit Schmerz«). Die expressive Melodie ist stark von Chromatik geprägt und lässt Mitteln der Steigerungsfuge (zum Beispiel Reger häufig fast als einen Vertreter der Zwölftonmusik erscheinen. Verzweifelte Auf- Engführungen, Satzverdichtungen, dynami- schreie (Molto più mosso) wechseln mit Momenten der Entsagung ab. Die Harmonik sche Steigerungen) führt er zum großen lässt sich zwar noch tonal bestimmen und einordnen, aber durch die ständigen kleinsten Dur-Schluss der 2. Sonate mit überzeugen- Fortschreitungen wirkt sie nun nicht mehr zusammenhängend, sondern punktuell, nicht der, mitreißender Wirkung. mehr form- noch themenbildend. Die klagende Thematik steht einer Harmoniefolge gegenüber, die die spätere Lösung der Invocation vorwegnimmt. Nach intensiven Ausbrü- chen der Klage, die in der spät- und nachromantischen Musik so häufig sind, erfolgt eine kurze Bewegungssteigerung im »Allegro«, die jedoch rasch wieder abbricht und im Dun- kel verhallt (»sehr dumpfe Registrierung«, T. 44 ff.). Gleichzeitig jedoch erklingt in »sehr lichter Registrierung« zunächst als Einzelton, dann als Choralzitat die Erhörung der Anrufung: »molto espressivo« wird in der Oberstimme der Choral »Vom Himmel hoch, Max Reger 14 15
Konzert 2 Programm Martin Baker (London) Thomas Tallis (1505–1585) Freitag, 13. Juli, 19 Uhr O ye tender babes (aus dem Mulliner Book) Herbert Howells (1892–1983) Master Tallis’s Testament Georg Friedrich Händel (1685–1759) Orgelkonzert B-Dur op. 4 Nr. 2 für Orgel bearbeitet von Marcel Dupré A tempo ordinario Allegro Adagio Allegro ma non presto Johann Sebastian Bach (1685–1750) Passacaglia c-Moll BWV 582 Charles-Marie Widor (1844–1937) Moderato cantabile, Scherzo & Final aus Symphonie H-Dur op. 42, 4 Martin Baker (* 1967) Improvisation über ein gegebenes Thema anschließend KünstlerTreff auf der Orgelempore 16 17
Thomas Tallis Im Mulliner Book sind außerdem Tallis’ weltliche Werke enthalten, Gesänge, die er mög- Der große englische Komponist des 16. Jahrhunderts, der gemeinsam mit dem viel jün- licherweise für Schüler schrieb, wie auch Stücke und Transkriptionen für Tasteninstru- geren William Byrd (1543–1623) zu den einflussreichsten Musikern seiner Zeit gehörte, mente, die durchaus für die bekannteste Spielerin von damals, die Königin selbst, wurde um 1505 geboren; er verstarb am 23. November 1585 in Greenwich. 1532 ist er als bestimmt gewesen sein könnten. O ye tender babes ist ursprünglich ein mehrstimmiges Organist (»joculator organorum«) an der Dover Priory, 1537/38 dann bereits in London, Lied, dessen Originaltext verschollen ist. Da jedoch der Titel »O ye tender babes« aus einer als Organist an der Kirche St Mary-at-the-Hill, Billingsgate, nachgewiesen. In den Jahren damals vielverwendeten Standard-Grammatik für den Lateinunterricht (von William Lily) bis 1540 war er Organist an der Augustinerabtei Holy Cross in Waltham (Essex), bis 1542 stammte, ist anzunehmen, dass der ursprüngliche Text eine didaktisch ausgerichtete wirkte er an der Kathedrale von Canterbury, um dann wieder nach London zurückzukeh- Dichtung war, die die Kinder zum eifrigen Lernen für sich, ihre Eltern und das gesamte ren, wo er Mitglied der Chapel Royal wurde. Außerdem war er als Organist und Kompo- Land anhielt. Der Reduktion dieses Satzes für ein Tasteninstrument im Mulliner Book nist tätig, seit 1570 in enger Zusammenarbeit mit William Byrd; gemeinsam erhielten die steht der kryptische Satz voran »Fond youth is a bubble« – »Die unbeschwerte Jugend ist beiden 1575 für die Dauer von 21 Jahren das königliche Privileg, Noten zu drucken. Ebenso eine (Seifen-) Blase« – ein frühes Plädoyer für eine Kindheit ohne Drill?! wie Byrd komponierte auch Tallis, beide als Katholiken, unter den Monarchen mit wech- Zu Recht beklagte William Byrd den Tod seines Freundes und Kollegen mit den Worten: selnder Konfession für die anglikanische und für die katholische Kirche Englands; in »Tallis ys dead, and Musick dyes.« – »Tallis ist tot, und es stirbt die Musik.« diesen Schaffensphasen wechselte er vom frühen Stil der alten englischen Mehrstimmig- keit zur blühenden Kontrapunktik in den lateinischen Werken (so z. B. in der berühmten 40-stimmigen Motette »Spem in alium«). Während der späten Jahre des Hauses Tudor war Herbert Howells Tallis mit Byrd zweifellos der bedeutendste englische Komponist geistlicher Werke. Der Geboren am 17. Oktober 1892 in Lydney (Gloucestershire) als sechstes Kind eines Orga- Rang der beiden zeigt sich allein schon daran, dass sie als Katholiken zu solchem Anse- nisten, erhielt der musikalisch begabte Komponist schon früh Orgel- und Kompositions- hen gelangen und ihrer Konfession auch am anglikanischen Hof treu bleiben konnten. unterricht und nach Abschluss seiner Schulzeit 1912 ein Stipendium für das Studium Von Tallis’ Instrumentalkompositionen sind leider nicht sehr viele erhalten. Zwei Bei- am Royal College of Music in London bei den bekannten englischen Musikern Charles spiele für sein großes kompositorisches Können und seinen Einfallsreichtum sind die Villiers Stanford, Hubert Parry und Charles Wood, das er in den Jahren von 1912 bis 1917 beiden Variationszyklen über »Felix namque« für Tasteninstrument (Virginal) von 1562– absolvierte. Stanford nannte ihn »seinen Sohn in der Musik« und leitete verschiedene 64, deren Virtuosität in ihrer Zeit einzigartig dasteht (auch wenn sie für das konzentrierte Uraufführungen der frühen Werke seines Schülers. Howells erkrankte 1915 so schwer an Hören fast zu ausgedehnt sind …). Liturgische Werke von Thomas Tallis sind im Mulliner der Schilddrüse, dass man ihn bereits aufgegeben hatte, doch konnte er – als erster Pati- Book enthalten; einige spätere (u. a. im bekannten Fitzwilliam Virginal Book) stechen ent in England – mit der neuen Strahlentherapie gerettet werden. Trotz seiner bleibenden durch ihre außergewöhnliche Ausdehnung hervor. In der englischen Orgelmusik der Gesundheitsschwäche konnte er verschiedene Ämter als Organist an der Kathedrale von 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts spielten vor allem verschiedene Hymnen und Antiphonen Salisbury (1917) und vor allem später als Musikdirektor und Professor für Komposition eine Rolle, die in der Regel im – damals in England neuen – vierstimmigen Satz vertont am Royal College of Music in London (seit 1920) und Professor für Musik an der Univer- wurden; die gregorianische Weise erscheint als nur leicht umspielter Cantus planus in sität London (seit 1952) versehen. Hoch geehrt und angesehen starb er am 23. Februar langen Notenwerten (Semibreven), und die Motive durchdringen alle Stimmen. In derar- 1983 in London. Als äußerst selbstkritischer Komponist wurde er durch den ausbleiben- tigen Sätzen verwendet Tallis im Vergleich zu kontinentalen Komponisten nicht nur über- den Erfolg seines 2. Klavierkonzerts (1925) zu einer Schaffenspause veranlasst; seine wiegend die archaisch wirkende schöpferische Kraft wurde jedoch durch den tragischen Tod seines neunjährigen Sohnes modale Harmonik, sondern rei- Michael 1935 erneut geweckt, dem er seine bewegende Gedenkmusik Hymnus Paradisi chert sie auch noch mit ungewöhn- (Uraufführung 1950) widmete, eines der bekanntesten seiner von nun an meist geistli- lichen Härten und Dissonanzen chen Werke. an, streng der konsequenten Bear- Seine Orgelmusik ist zum überwiegenden Teil – zumindest in seiner Heimat – sehr beitung des Themas geschuldet. beliebt und vielgespielt. Howells schrieb zwei Folgen von Psalm Preludes, 3 Rhapsodies Seine – eher kurz gefassten – op. 17, Six Pieces (aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, darin enthalten u. a. Master Tallis’s Hymnen und Antiphonen werden Testament) und vor allem 2 Orgelsonaten, deren zweite (1932) mit Sicherheit zu den bedeu- dadurch zu höchst interessanten tendsten Werken der englischen Orgelmusik überhaupt zählt. und charakteristischen Beiträgen Geschrieben 1940, wurden die Six Pieces erst 13 Jahre später publiziert. Das 3. Stück, das zur englischen Orgelmusik seiner im heutigen Konzert erklingt, ist ein hervorragendes Beispiel für den Orgelstil der spezi- Thomas Tallis Zeit. fisch englischen Tradition, die man mit Howells, Vaughan Williams und Gustav Holst 18 19
ansetzt unter dem Titel der »Zweiten englischen Renaissance«, für welche die intensive Die einzelnen Konzerte des Opus 4 und des spä- und vollkommene Verschmelzung von alter Modalität mit der Gefühls- und Ausdrucks- teren Opus 7, das Stücke für die Oratorien-Auf- welt des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist – außerdem ihre Vorliebe für kraftvolle führungen der Jahre nach 1740 enthält, lassen Klänge. Master Tallis’s Testament ist auch unter diesem Aspekt ein typisches Beispiel. For- sich nur zum Teil präzise datieren. Wie bereits mal handelt es sich um ein Thema mit Variationen, die zunehmend intensiver, komplexer erwähnt, wird das Konzert B-Dur op. 4 Nr. 2 mit und klangkräftiger gestaltet werden. Das Thema im modalen g-Moll-Bereich wirkt noch der Aufführung der Esther am 14. April 1733 in beinahe pastoral, zahlreiche chromatische Wendungen gemahnen an Stilmittel der Verbindung gebracht. Wie die übrigen Zyklen Tudorzeit. Mit dem Beginn der vierten Variation (Takt 37) ist das pastorale Element ver- der ersten Sammlung (mit Ausnahme des drei- gessen zugunsten des zunehmend bombastischen, als Vorbereitung des geradezu trium- sätzigen letzten) folgt es dem Vorbild des vier- phal-ekstatischen Schlusses (T. 53–54 ff.), an dem die Kathedralklänge sich in allem Glanz sätzigen Concerto grosso nach Arcangelo entfalten, mit der Wirkung einer Vision der göttlichen Majestät. Als Coda fügte Howell Corelli: langsam – schnell – langsam – schnell. einige Takte im Adagio an, die zur Ausgangsstimmung zurückkehren und die Stürme Die langsamen Einleitungssätze sind überwie- wieder beruhigen, die zuvor entfacht wurden. Interessant ist ein Vergleich des Stückes gend majestätisch-punktiert, die nachfolgenden mit der thematisch verwandten Fantasia on a Theme of Thomas Tallis von Ralph Vaughan schnellen Sätze von lebhaften Figurationen Williams, wie das vorliegende Werk ein Beweis für die zeitlose Bedeutung des großen geprägt, und nach einem (meist sehr kurzen) englischen Komponisten der Tudor-Zeit. Howells wurde durch diese Komposition seines weiteren sehr getragenen Satz (Adagio) schließt verehrten Lehrers, die er sehr schätzte, sicherlich mit zu seiner eigenen »Hommage an sich ein Finalsatz an, der auf Tanzformen (wie Tallis« inspiriert – die dann auch zu einem seiner persönlichen Lieblingsstücke wurde. Georg Friedrich Händel im vorliegenden Fall) aufbaut oder auch einmal eine bewegte Fuge (Nr. 4) ist. In Opus 4 sind nur die Zyklen Nr. 1, 4 und 6 Originalkompositionen; das sehr bekannte Georg Friedrich Händel Konzert F-Dur op. 4 Nr. 5 übernimmt die Sätze der Flötensonate op. 1 Nr. 11, und das Alle- Das Konzert B-Dur für Orgel und Orchester op. 4 Nr. 2 ist das zweite der Orgelkonzerte von gro im Konzert B-Dur des heutigen Programms beispielsweise ist dem Schluss-Satz der Georg Friedrich Händel. Die Stücke dieser Sammlung entstanden in unmittelbarem Triosonate op. 2 Nr. 4 nachgebildet. Zusammenhang mit Aufführungen der Oratorien, wo sie als Zwischenaktmusik erklan- Festlich-pompös, ganz nach Art der »Französischen Ouvertüre« wird das Konzert B-Dur gen. Der vorliegende Zyklus wird mit der Wiederaufführung des ersten Händelschen mit punktierten, markant artikulierten (»… e staccato«) Akkordketten eröffnet, zwei Takte Oratoriums Esther am 14. April 1733 in Verbindung gebracht. Seit der Uraufführung sei- im »Adagio e piano« leiten zum Halbschluss auf der Dominante hin. Der zweite Satz ist nes Oratoriums Deborah am 17. März des Jahres hatte Händel mit dieser Praxis begon- vom ausgedehnten Konzertieren zwischen Solo und Tutti geprägt; Tonwiederholungen, nen, um eine zusätzliche Attraktion für seine Oratorienaufführungen zu schaffen. Die Triller und reiches Laufwerk in Skalen und Arpeggien sowie der Wechsel in Nebentonar- Musikwelt lernte ihn nun erst von einer neuen Seite seines Könnens, als Orgelvirtuose ten (insbesondere die »neapolitanisch« eingefärbte Subdominante der Doppeldominant- kennen, und man rühmte seine neue Spielweise, die zwar nicht der wahre Orgelstil sei, Tonart C) bringen Abwechslung und Farbe in das großangelegte Spiel nach Art des Vival- den ein tiefer Kenner der Musik bewundern würde, aber nichtsdestotrotz eine wunder- dischen Konzertsatzes, mit Ritornellen und ausgedehnten Solo-Episoden, in denen der bare Wirkung habe, durch den Kontrast zwischen der vollen Harmonie der Instrumente Solist sein virtuoses Können unter Beweis stellen konnte. Der 3. Satz ist eine kurze, und den sprechenden Solo-Passagen, die Händel zudem geistvoll, mit Sicherheit und improvisatorisch anmutende Kadenz nach Art eines Rezitativs in der parallelen Mollton- beispiellosem Feuer vortrage. art g, die mit dem Halbschluss auf D endet. Das Orchester stützt die expressiven Figura- Der Hinweis auf den »wahren Orgelstil« galt sicher dem leichten, von der Improvisation tionen des Soloparts nur durch kurze »staccato«-Akkorde. Wieder in der Grundtonart inspirierten Spiel Händels im Vergleich zu Bachs tiefgründenden Orgelwerken – sicher setzt das menuettartige Schluss-Allegro (ma non troppo) im 3/8-Takt ein; das Thema wird ist jedoch, dass Händel sein – ganz anders geartetes – Ziel erreichte: Durch die Auf variationsartig behandelt, zunächst in der Grund-, dann in der Dominant-Tonart durch- führung der Konzerte erwarb er sich seinen größten Ruhm als Virtuose, und die Nach- geführt, jeweils mit der Wirkung einer Schluss-Steigerung durch Zweiunddreißigstel- frage nach den Stücken wurde immer größer, sodass er nach Opus 4 eine zweite Folge Skalen vor der Kadenz angelegt. Nach Art einer Coda erklingt zuletzt noch einmal das (Opus 7) vorlegen musste, in der er noch stärker auf eigene Vorlagen – etwa Sätze aus den Hauptthema in ruhigem Tempo und dynamisch zurückgenommen. Dass der große Triosonaten – zurückgreifen musste, um sie befriedigen zu können. Andererseits über- Orgelvirtuose und -komponist Marcel Dupré in seiner Bearbeitung alle Möglichkeiten des nahm Händel später wiederum in seinen Triosonaten oder auch Opern Sätze aus den abwechslungsreichen Konzertierens auf der Orgel mit ihren unterschiedlichen Klang- Orgelkonzerten. kombinationen und -ebenen äußerst wirkungsvoll nützt, versteht sich von selbst. 20 21
Johann Sebastian Bach waren), ferner den recht zahlreichen Passacag Zu Bachs Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 stellte der bekannte Organist und Musik- lien Johann Pachelbels, des Lehrers von Johann wissenschaftler Piet Kee (Haarlem, Niederlande) in verschiedenen internationalen Zeit- Christoph Bach, dem älteren Bruder, der in schriften Forschungen vor, die seine Entdeckung vom bis dato wenig bekannten Hinter- Ohrdruf den verwaisten Johann Sebastian auf- grund dieses Werkes untermauerten: Seinen Untersuchungen zufolge basiert Bachs nahm. Aber die Nähe war nur zeitlicher Natur Passacaglia wahrscheinlich auf dem letzten Buch Andreas Werckmeisters: »Musicalische – denn wie geschildert ließ Bach die Vorbilder Paradoxal-Discourse«. Hierin wird die Bedeutung der sogenannten »Radical-Zahlen« – (oder Inspirationsquellen) weit hinter sich, der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 8 – beschrieben und symbolisch angewendet auf den Text indem er das weit ausgreifende Thema schuf des Vaterunsers. Bach hat Piet Kee zufolge wahrscheinlich Werckmeisters Angaben als und mit der Fuge einen zweiten Teil anfügte, der Basis für seine Komposition verwendet. Dies macht es auch für den Zuhörer möglich, das Werk eher in den Bereich »Praeludium und etwas von der wesentlichen Struktur und der Inspirationsquelle dieser Musik zu erken- Fuge« rückte. So begründete er eine Tradition. nen. Im Passacaglia-Teil kommt das Thema 21 mal vor (bis Satz 12 nur im Bass), verteilt Nach anderen als den von Piet Kee geschilder- auf 7 Gruppen. Jede Gruppe ist inspiriert von einer Bitte des Vaterunsers. Viele Einzelhei- ten Kriterien ließe sich die Passacaglia aufgrund ten in dieser Musik, nach deren Bedeutung man so lange gesucht hatte, fanden womög- der deutlichen Reduktion der Stimmenzahl im lich hier ihren Ursprung und damit ihre Erklärung; und wird die Bachforschung auch Mittelteil (bis hin zur Einstimmigkeit, aller- ständig weiter verfeinert, so ist doch zumindest Piet Kees Analyse als Theorie sehr inter- dings mit latenter Mehrstimmigkeit) in drei essant und einleuchtend. Die Fuge vertritt in dieser Deutung das »Amen« und erscheint große Gruppen von Variationen gliedern, auf- mit ihrem Thema und zwei Kontrasubjekten (= stets wiederkehrenden Gegenstimmen) Johann Sebastian Bach grund des Bassmodells und der motivischen als eine Huldigung der Trinität. wie rhythmischen Gliederung der übrigen Das Thema der großen Bachschen Passacaglia ist teilweise von André Raison inspiriert, Stimmen in eine Folge von vier mal fünf Variationen in jeweils unterschiedlicher Art der wie man annimmt, die charakteristischen Sekundschritte sind jedoch Allgemeingut der Bewegung und der Motivbildung. Gattung im Barock, und Bach geht in der Gestaltung des Themas weit über die traditio- Durch die beiden im kunstvollen mehrfachen Kontrapunkt (sodass sie untereinander nelle Länge von vier Takten hinaus, ja, er erweitert es auf die doppelte Länge: Sein Thema austauschbar sind) beigegebenen Gegenstimmen zum Passacaglienthema ergibt sich im spannt sich über acht Takte, in der ersten Hälfte von der Tonika aufsteigend, in der zwei- Verlauf der unablässig vorwärtsdrängenden Fuge die Möglichkeit des Stimmentauschs. ten auf die tiefe Tonika zurückfallend. Schon die spannungsgeladene Intensität dieses Ein Mittelteil bringt eine Entspannung durch die Reduktion der Stimmenzahl bis zur Themas überragt alle zeitgenössischen Parallelen; zudem aber stellt Bach die Variationen Zweistimmigkeit und den Wechsel nach Dur – aber desto zwingender ist hernach der unter einen architektonischen Plan: Die Passacaglientechnik dient der Entwicklung der gewaltige Schluss, wieder in der Ausgangstonart, der in ein kurzes Adagio mündet. Groß- zentralen musikalischen Idee, der Abwandlung des Affekts, den das Thema symbolisiert. artig ist die Wirkung des überraschend eingesetzten Neapolitanischen Sextakkords kurz Dieses ostinate Thema wird daher im Grunde unverändert beibehalten (ohne Modulatio- vor dem Schluss und die bis an die obere und untere Grenze – c3 im Manual und C im nen !). Nach zwanzig Arten der Veränderung in den verschiedensten Techniken ist nun Pedal – ausgreifende Kadenz, die somit alles umfasst. Auch von diesem Gesichtspunkt aber nicht etwa der Schluss erreicht, nein, als letzte Steigerung folgt das Thema »fuga- – des Allumfassenden – her betrachtet, erscheint Piet Kees Deutung der Bachschen Passa tum«, also in der Technik einer Fuge bearbeitet: Nach dem Prinzip der Mannigfaltigkeit caglia und Fuge sehr einleuchtend. in den Variationen kehren wir nun zum Prinzip der Einheit in der Fuge zurück. In dieser Fuge wird das Thema auch transponiert, aber nicht grundlegend motivisch verändert; als enge Verbindung zur Passacaglia treten auch hier zwei obligate Gegenfiguren auf. Diese Charles-Marie Widor Verkoppelung von Variations- und Imitationsform hauchte der alten, im Schematismus Der unumstrittene Grandseigneur der Orgelmusik um die vorletzte Jahrhundertwende der Form erstarrten Passacaglia ein letztes Mal neues Leben ein, das aber von der Nach- und Vater der Orgelsymphonie prägte in seinem langen und intensiven Leben (24. Feb- welt nicht als Neuanfang verstanden wurde: Bachs Nachfolger erstarrten wiederum im ruar 1844 Lyon – März 1937 Paris) Generationen von Organisten und Komponisten. Der formalistischen und schematischen Kopieren seines Vorbilds. Große Passacaglien finden aus einer Musikerfamilie mit elsässisch-ungarischen Wurzeln stammende Komponist sich dann jedoch wieder in den Orgelwerken Max Regers wie auch Joseph Gabriel Rhein- und Organist erhielt Unterricht bei François-Joseph Fétis und Jacques-Nicolas Lemmens bergers u. a. Bachs spätestens um 1714 vollendete Passacaglia war ihren Vorbildern zeit- in Brüssel, jedoch niemals am Pariser Conservatoire, was ihm von vielen lebenslang lich noch recht nahe, so den Ciacconen und der Passacaglia Buxtehudes (die im Andreas- nachgetragen wurde. Von 1869/70 bis 1933 (!) war er Organist an der großen Cavaillé- Bach-Buch – einer frühen Studiensammlung für Johann Sebastian Bach –, enthalten Coll-Orgel in St-Sulpice, seit 1890 lehrte er am Conservatoire Orgel, später Kontrapunkt 22 23
und Fuge, seit 1896 Komposition; unter seiner Leitung wurde die Betonung verstärkt auf zu beleuchten. Die Musik ist zwar intensiv thematisch durchgestaltet (und im ganzen das Instrumentalspiel, seine technische Grundlage und als Folge derselben die künstleri- Zyklus innerlich miteinander verwandt), der Zuhörer kann jedoch manchmal unter die- sche Interpretation gelegt. Auch durch seine Ausstrahlung als Lehrer so bedeutender sen vielen Trillern, Arpeggien und glitzernden Skalen kaum die Themen erkennen. Die Schüler wie Marcel Dupré, Louis Vierne, Charles Tournemire und Albert Schweitzer war Gliederung des zweiten Satzes, Moderato cantabile allerdings ist wegen seines liedartigen er von ganz entscheidendem Einfluss auf die französische Musik, der er insbesondere die Themas klar zu verfolgen, ebenso auch das spritzige Thema des Final. Das Moderato Werke Bachs, aber auch Mendelssohns nahebrachte, ebenso auf Deutschland, weil man cantabile steht in der Subdominanttonart E-Dur; eine zarte Solomelodie der Flötenstim- dort wieder Instrumente erbaute, die dem französisch-romantischen Klangideal folgten. men zu begleitenden, harfenartigen Arpeggienfiguren der Streicher und leisen Doppel- Als Konzertorganist war Widor weithin berühmt; seine Virtuosität schlug sich auch in pedal-Noten erinnert an Mendelssohns lyrische Sätze vom Typus Solo mit Begleitung seinen zahlreichen Orgelwerken nieder, in deren Zentrum die insgesamt zehn Orgelsym (»Lied ohne Worte«), auch durch seine ausdrucksstarken Vorhaltsbildungen auf den phonien stehen – Kompositionen einer Gattung, als deren Schöpfer man ihn zu Recht Schwerpunkten der Takte. Ein lebhafterer Mittelteil in der Gegenklang-Tonart C-Dur betrachtet. (»Poco animato«) bringt als Thema eine Variante des Themenbeginns, die begleitet wird Widor wollte mit seinen Orgelsymphonien keineswegs den Orchesterklang imitieren, son- von zunächst punktierten, dann triolischen Figuren. Durch den Themeneintritt in der dern den symphonischen Klang auf der Orgel darstellen: Die Inspiration zur Komposi- Mittelstimme leitet der Komponist zum ersten Teil zurück. tion dieser neuartigen Werke war für ihn nach seinem eigenen Zeugnis nicht der Wunsch, Der dritte Satz (Allegro) ist dreiteilig, vom Typ her ein Scherzo. Er erinnert stark an Schu- eine neue Gattung zu begründen, sondern vor allem der Klang der großartigen Cavaillé- manns berühmten Kanon h-Moll, denn auch hier wird das Thema im Staccato als Oktav- Coll-Orgeln (besonders »seiner« Orgel in St-Sulpice), auf denen wegen der Neuerungen kanon der beiden Hände durchgeführt. Widor wünscht für das Récit-Manual hier die Aristide Cavaillé-Colls im Orgelbau der symphonische Klang adäquat dargestellt werden Aufhellung durch einen 2’ (Octavin); für den Beginn ist für die rechte Hand keine Manu- konnte: Widor brachte zusätzlich den virtuosen Orgelstil ein. albezeichnung enthalten, am besten wirkt aber zweifellos das zweimanualige Spiel mit So widmete er die ersten vier Symphonien, als op. 13 im Jahr 1872 bei Maho (Paris) publi- der rechten Hand auf dem Récit, sodass der Kanon besser zu hören ist. Der Mittelteil des, ziert, seinem Freund und Förderer Aristide Cavaillé-Coll. Die zweite Folge der Sympho wie erwähnt, dreiteiligen Satzes behandelt – dem zyklischen Prinzip folgend – themati- nien op. 42 (mit der V. und ihrer bekannten Toccata sowie der monumentalen VIII.) zeigt sches Material aus dem ersten Satz (Allegro risoluto), das begleitet wird von intensiven ihn auf dem Höhepunkt seiner kompositorischen Meisterschaft. Die beiden nachfolgen- Trillerketten, die auch bei der Wiederkehr des ersten Teiles (: des Kanons) fortgesetzt den Symphonien, mit gregorianischen Themen, die Widor einzeln publizierte, sind dann werden, wenn Oberstimme und Pedal den Kanon ausführen. spiritueller und meditativer, von gedämpfterem Klang, und die gregorianischen Themen Nach dem sanft wiegenden vierten Satz (Variations d-Moll, 6/8-Takt) und dem äußerst sind wie Leitmotive verwendet, die einzelne Sätze und bei der Symphonie Romane sogar expressiven fünften (Adagio, Fis-Dur) schließt sich in einem starken und wirkungsvollen den ganzen Zyklus zusammenfassen. Die beiden Zyklen weisen bereits deutlich auf sei- Kontrast der sechste und letzte, das Final an: Das – durch zahlreiche Vorschläge spritzig nen Schüler Charles Tournemire voraus. Die Gregorianik begleitete Widor auch noch bis wirkende – Thema erklingt im Sopran; es ist marschartig und wird kraftvoll deklamiert, zu der 27 Jahre nach der Symphonie Romane erschienenen Suite latine op. 86 – mit ihren mit durch Vorschlägen markanten Akzenten und unterstützenden Akkorden auf den sechs Sätzen hätte sie durchaus auch »Symphonie« genannt werden können, aber offen- Taktschwerpunkten, sodass der sieghafte Aspekt der kriegerischen Marschmusik betont bar wollte Widor zum Dekalog seiner Symphonien keine weitere mehr hinzufügen. wird. Phasenweise erscheint ein verhaltenes, lyrisches Thema über auf- und nieder Die monumentale Symphonie Nr. VIII H-Dur op. 42, 4 ist allein schon von ihrer Anlage wogenden Arpeggien; es vermag sich letztlich jedoch nicht durchzusetzen, denn in dem in sechs Sätzen her betrachtet ein rondoartig angelegten Schluss-Satz bleibt das Hauptthema bestimmend. großes Gemälde. Unzählige kleine Spielfiguren, Melismen, Triller u. ä. verleihen ihr zusätzlich den Ein- druck eines Frescos, im Bereich der Bildenden Kunst der damals beliebten Methode der »Pointillis- ten« verwandt, deren unzähligen farbigen Pinseltupfern viele kleine Notenwerte entsprechen, die dem jeweiligen Thema beigegeben sind, Charles-Marie Widor um es in einem bestimmten Licht 24 25
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