HENRY VAN DE VELDE Das Magazin der Kulturstiftung der Länder 2 2018 - Kulturstiftung der Länder
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Das Magazin der Kulturstiftung der Länder 2 2018 HENRY VAN DE VELDE MÖBEL UND DESIGN FÜR WEIMAR UND KÖLN BALTHASAR VAN DER AST IN AACHEN SAARLAND: DER SAMMLER FRANZ JOSEF KOHL-WEIGAND
EDITORIAL gante Wohnentwürfe. Die von ihm in Weimar gegrün- dete Kunstgewerbeschule mündete so selbstverständlich in das erste Bauhaus wie sein eigener linearer Jugendstil Eine Frage des Stils allmählich einer klassisch-modernen Formgebung wich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten die Bauhaus- Möbelklassiker langsam wieder Einzug in deutsche Wohnungen, doch die gefühlige Muffigkeit der 50er- und 60er-Jahre sowie das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer jüngsten Vergangenheit spielten eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung einer ganz anderen „Reform-Kunst“, derjenigen der 68er. Eine große Ausstellung in Aachen zeigt, mit welcher Dyna- mik, Vehemenz und Rigorosität Künstler aller Sparten die gängigen ästhetischen Standards in Frage stellen, schockieren und die Kunst aus den Reservaten Markt und Museum herauskatapultieren wollten. Im Inter- view zu unserem Schwerpunkt erläutert der Kunstsozio- loge Wolfgang Ullrich seine Sicht auf die Entwicklung Frank Druffner, kommissarischer Generalsekretär der jüngeren Kunstproduktion zwischen Autonomie der Kulturstiftung der Länder und Markt. Jedes Kunstwerk ist seiner Zeit verhaftet und be- Liebe Leserin, lieber Leser, sitzt seine eigene Biografie, so auch die Objekte in den öffentlichen Sammlungen des Saarlandes, dem dieses die Fresken aus einer römischen Villa, die unter einer Heft gewidmet ist. Die Geschichte der Stiftung Saar- saarländischen Kirche gefunden wurden und mittler- ländischer Kulturbesitz beginnt mit einem Sammler, weile dringend der Restaurierung bedürfen; das nie- dessen Bestände in Teilen problematische Provenienzen derländische Blumenstillleben, das als Diebesgut nach aufweisen und jetzt gewissenhaft erforscht werden. Die Übersee gelangt war und nun an seinen angestamm- Sammlung des Berliner Zeitungsverlegers Rudolf Mosse ten Platz in einem deutschen Museum zurückkehren hingegen muss nach Entzug und Versteigerung erst konnte; die in einer Krefelder Ausstellung gewürdigte wieder mühsam rekonstruiert werden, um ihr Profil zu „Corporate Identity“, die Peter Behrens für den AEG- umreißen und die Wege der einzelnen Werke nachvoll- Konzern entwickelte – sie alle zeugen vom Anspruch ziehbar zu machen. Auch hier waren Kunst und Leben, der Kunst, die Lebenswelt des Menschen ästhetisch zu Kunstwerk und Sammler aufs engste ineinander ver gestalten. Sich mit schönen Dingen zu umgeben, war woben – bis diese gewachsene Verbindung durch das immer der Anspruch der Eliten, seien dies kirchliche NS-Regime brutal zerschlagen wurde. Würdenträger als Auftraggeber sakraler Objekte, Dy- nasten aus fürstlichem Haus, die ihre Töchter mit auf- Ihr wändigen Mitgiften in den Ehestand verabschiedeten, oder vermögende Bürger, die ihre favorisierten Künstler in großem Stil in ihrer Wohnumgebung versammelten. Kunst und Leben in ein harmonisches, womög- lich erzieherisch wirksames Verhältnis zueinander zu setzen war insbesondere das Ziel jener Reformbewe- gungen, die in den Jahrzehnten um 1900 ein gesamt europäisches Phänomen darstellten, von Arts and Crafts und Glasgow Style über Jugendstil, Art Nouveau oder Secessionsstil bis hin zu Werkbund und Bauhaus. Es ist im Vorfeld des Bauhaus-Jubiläums 2019 mehr als angemessen, mit diesem Heft einen der großen Gestal- ter und Architekten zu würdigen, der für den Übergang vom Jugendstil zur „Moderne“ steht. Henry van de Renaissance-Jungfrauenbecher Velde, von dem unter der Mithilfe der Kulturstiftung S i l b er, vergoldet der Länder ein bedeutendes Werkkonvolut für die Klas- H e r m anns tad t (S ie be nbürge n) , um 1600 sik Stiftung Weimar gesichert werden konnte, steht für handwerkliche Qualität, delikate Formgebung und ele- Henry van de Velde, um 1908 Peter Petr us Ero s em ( M ei s ter 1 58 8 - 1600) H ö he: 28 cm, G ewi c ht: 4 8 8 g G alerie N eus e Kuns thandel G mb H , Ac him N eus e Vo lker Wurster ARSPROTOTO 2 2018 3 Co ntres c arp e 1 4 , 2 8 2 03 Bremen, Tel. : 042 1 3 2 56 42 , w w w. galerie neuse .com
AUTOREN IMPRESSUM INHALT der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Arsprototo Das Magazin der Kulturstiftung der Länder 3 EDITORIAL TITELTHEMA HENRY VAN DE VELDE Karlsruhe verließ er 2015 nach fast 20 Jahren Lützowplatz 9, 10785 Berlin DIE LINIE IST den akademischen Raum. Eine zunehmende Entfremdung von der Institution bewegte Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 8914251 4 AUTOREN / IMPRESSUM 20 den promovierten Kunstwissenschaftler dazu, Redaktion 030 - 89 36 35-27 als selbstständiger Autor zu arbeiten. Sei es E-Mail arsprototo@kulturstiftung.de 8 OCHZEITSSERVICE H EINE KRAFT in seiner Kolumne „Bildseminar“ im Kunst Internet www.kulturstiftung.de magazin ART, in seinen Texten für das der Prinzessin Charlotte von Preußen NZZ-Folio oder in Arsprototo: Wolfgang Herausgeber Prof. Dr. Frank Druffner, kommissa Ullrichs Blick auf Kunst, Kultur und Luxus- rischer Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder phänomene ist ebenso erfrischend wie Projektleitung Dr. Stephanie Tasch 10 WEI ALTARTAFELN Z Henry van de Velde: vom Jugendstil provozierend. ––– Seite 32 Chefredakteurin Carolin Hilker-Möll von Hans Schäufelin zum Bauhaus — von Ingeborg Becker Geschäftsführender Redakteur Johannes Fellmann T YPOGRAFIE UND Redaktionelle Mitarbeit Jenny Berg, Antonia Kölbl, THOMAS FÖHL Theresa Thaller 12 WERBEGRAPHIK Das Bauhaus kennen alle, doch wie kam Senior Editor Dieter E. Beuermann es eigentlich zur Weimarer Moderne? Im Konzeption und Gestaltung Stan Hema mit Masterplan „Kosmos Weimar“ wird neben Vladimir Llovet Casademont, www.stanhema.com den Hausheiligen Goethe, Schiller & Co. Anzeigen Jenny Berg, Telefon 030 - 89 36 35-21 von Peter Behrens auch die Vorgeschichte des Bauhauses zum Thema: Die Entstehung des zweiten Abonnements Arsprototo – Abonnementservice, Museumsquartiers um das „neue bauhaus Bessemerstraße 51, 12103 Berlin museum“ und das „Neue Museum“ begleitet E-Mail abo@kulturstiftung.de und prägt Thomas Föhl als Sonderbeauf Telefon 030 - 89 36 35-29 Fax 030 - 26 55 56‑71 tragter des Präsidenten der Klassik Stiftung Jahresabonnement: 20 Euro Weimar seit vielen Jahren: Ab April 2019 ist Erscheinungsweise Viermal jährlich in diesem Parcours zu erleben, wie sich aus Erscheinungstermin dieser Ausgabe: 14.6.2018 den fortschrittlichen Ansätzen der Weimarer ANTONIA KÖLBL Gedruckte Auflage dieser Ausgabe: 16.000 Kunsthochschule, dem Wirken Friedrich Nietzsches, dem Kreis um Harry Graf Kessler In Paris und in Wien schwelgte sie auf Nachdruck von Bildern und Artikeln, auch und Henry van de Velde die revolutionäre Studienreisen in den grandiosen Bauten der auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung Verknüpfung von Kunst und Handwerk Weltstädte, doch erst durch die Ruinen der der Redaktion. im Staatlichen Bauhaus entwickelte. Doch Bronx fand Antonia Kölbl ihre kunsthisto Litho Mega-Satz-Service, Berlin wichtige Frühwerke Henry van de Veldes, der rische Bestimmung: Der als Architekt aus- Herstellung Buch- und Offsetdruckerei in Weimar die Kunstgewerbeschule begrün- gebildete Gordon Matta-Clark schnitt in den H. Heenemann GmbH & Co., Berlin dete, fehlten. Jetzt gelang es Thomas Föhl mit 1970er-Jahren aus abrissreifen Häusern in der Vertrieb OML KG , Berlin der Klassik Stiftung Weimar, eine exquisite Bronx Stücke aus und dokumentierte seine ISSN 1860 - 3327 künstlerischen Interventionen fotografisch. SCHÖNER Sammlung mit Silberarbeiten, Keramiken, Porzellan, Schmuck und Möbeln des bel- In ihrer Abschlussarbeit am Institut für Arsprototo erscheint mit Unterstützung des 27 gisch-flämischen Architekten und Designers Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt- Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder. anzukaufen. ––– Seite 27 Universität zu Berlin rekonstruierte Kölbl, WOHNEN wie Matta-Clark den strukturellen Rassismus hinter der Zerstörung des Stadtteils sichtbar Kulturstiftung der Länder macht. Für Arsprototo ergründet die Volon- Stiftung bürgerlichen Rechts tärin der Kulturstiftung der Länder, welche Lützowplatz 9, 10785 Berlin höchst erfolgreiche Verbindung die ange- Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 89 14 251 Neue Erwerbungen aus dem Œuvre Henry wandte Kunst mittlerweile mit der bildenden E-Mail kontakt@kulturstiftung.de van de Veldes für die Klassik Stiftung Kunst eingegangen ist. Wie schmal ist der Internet www.kulturstiftung.de Weimar und das Museum für Angewandte Grat zwischen bildender und angewandter Kommissarischer Generalsekretär Kunst in Köln — von Thomas Föhl Kunst heute? Und wie agieren Künstler als Prof. Dr. Frank Druffner 14 SPÄTMITTELALTERLICHE Dezernentinnen Dr. Britta Kaiser-Schuster, Global Player auf dem internationalen Luxusmarkt?, fragt Kölbl den Kulturwissen- Dr. Stephanie Tasch HANDSCHRIFT schaftler Wolfgang Ullrich. ––– Seite 32 Leiter Kommunikation Johannes Fellmann Leiter der Verwaltung Ronny Günther 15 ABSCHRIFT EINER Finanzbuchhalterin Angela Neumann-Bauermeister Titel: Henry van Sekretariat Gabriele Lorenz, Monika Michalak KOMPOSITIONSPARTITUR de Velde, um 1913, Referentin des Vorstands Jenny Berg von Georg Philipp Telemann WOLFGANG ULLRICH fotografiert von Mineralwasser als Champagner-gleiches Louis Held Informationsgemeinschaft zur Feststellung Luxusgetränk, Selfie-Apps als Theatermaske der Verbreitung von Werbeträgern e.V. 16 S KULPTUR SUSANNA unserer Zeit, Kunst und Design als State- ment-Deko? Wolfgang Ullrich deckt zeitge- von Reinhold Begas 32 AUFTRAG: KUNST nössische Trends mit detektivischem Gespür Ein Gespräch mit Wolfgang Ullrich über und kulturwissenschaftlicher Rhetorik auf. zeitgenössische Künstler zwischen Autonomie Mit der Niederlegung seiner Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie an und Markenproduktion — von Antonia Kölbl 4 ARSPROTOTO 2 2018 5
INHALT LÄNDERPORTRÄT SAARLAND 46 ALLES ÜBER MAX SLEVOGT, ALBERT WEISGERBER UND KUNST HANS PURRMANN BRAUCHT 36 SCHEINKAMPF IM PORTIKUS FREUNDE Die Gesellschaft zur Förderung des Saarländischen Das Museum für Vor- und Frühgeschichte Saar Kulturbesitzes e.V. ist ein Freundeskreis, der es sich brücken braucht Ihre Unterstützung bei der zur Aufgabe gemacht hat, die Kunstschätze und Restaurierung einer römischen Wandmalerei die Museen der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz IM ZEICHEN 38 zu unterstützen und zu fördern. DER FLIEGE Damit leistet die Gesellschaft einen wichtigen Beitrag für Erhalt und Profilierung der saarländischen Kunst-- Mit der Übernahme der Privatsammlung Kohl-Weigand und Kulturlandschaft. beginnt die Geschichte der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz — von Uta Baier Werden auch Sie Freund/--in der Kunst im Saarland! 52 KUNST UND KULTUR IN DEN LÄNDERN Werden Sie Mitglied in der Gesellschaft zur Förderung 56 AKTIONISTISCHE PROPHETEN des Saarländischen Kulturbesitzes! Weitere Informationen unter www.gfsk-sb.de. Ein Stillleben von Balthasar van der Ast kehrt nach Aachen zurück — von Stephanie Tasch 42 IE STUNDE DER MATROSEN D Das Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseum rekonstruiert in einer großen Sonderausstellung die historischen Ereignisse vom November 1918 — von Jenny Berg Das Ludwig-Forum Aachen zeigt die Kunst der 68er — von Johannes Fellmann 44 NEUE BÜCHER 60 IE ZUKUNFT DER HERKUNFT D 45 FREUNDESKREIS / SERVICE / BILDNACHWEIS Ein Gespräch mit Meike Hoffmann über die Rekonstruktion der Kunstsammlung von Rudolf Mosse 64 NACHRICHTEN 66 S CHÖN IM DEPOT Roger Münch mit einem fahrbaren Druckzentrum im Depot des Deutschen Zeitungsmuseums in Wadgassen 6
ERWERBUNGEN Preußischen Porzellanmanufaktur (KPM) zur Hochzeit ein Tafel- und Dessertservice der Anerkennung des preußischen Königs für den Meininger Erbprinzen als Mitglied anfertigen, von dessen ursprünglich über der preußischen Armee. PRUNKVOLL 500 Teilen mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder nun drei Prunkvasen und 34 Ge- Drei Prunkvasen des Tafelaufsatzes für das schirrteile nach Meiningen zurückkehrten. Tafel- und Dessertservice der Prinzessin Dabei ist die Dekoration zugleich die Charlotte von Preußen und des Erbprinzen PREUSSISCH Botschaft: Kündete das prachtvolle Service als Ganzes vom hohen Stand der jungen Ehefrau, so konnten die mit Veduten nach Carl Daniel Freydanck (1811–1887) kunst- Georg von Sachsen-Meiningen, 1850, Höhe: 81 cm (l. u. r.) und 91,5 cm; Meininger Museen; Bildmotive v. l. n. r.: Palais des Prinzen Albrecht in der Wilhelmstraße in Wenn Prinzessinnen „ausheirateten“, voll bemalten Prunkvasen des Tafelaufsatzes Berlin / Kampf der Dithmarscher und verließen sie nicht nur Hof und Familie, sie an die Orte ihrer Kindheit und Jugend Dänen auf dem Teufelsdamm in der Schlacht sondern trugen mit ihrer Mitgift das Pres- in Berlin und Potsdam erinnern. Schließlich von Hemmingstedt / Schloss Sanssouci in tige ihrer Geburt auch in ihre neue Umge- zeugt die – für einen Tafelaufsatz eher Potsdam, rechts die rückseitige Darstellung: bung. So geschah es auch im Fall von Prin- ungewöhnliche – Bemalung der zentralen Schloss Babelsberg in Potsdam; Meininger zessin Charlotte von Preußen (1831–1855), Vase mit einer historischen Schlachtszene Museen einer Nichte König Friedrich Wilhelms IV. nach eigenhändigem Entwurf Georgs von (1795 –1861), die 1850 den Erbprinzen von Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung Sachsen-Meiningen, den späteren Herzog der Länder, Ernst von Siemens Kunst Georg II. (1826 –1914) ehelichte. Ihr stiftung, Land Thüringen königlicher Onkel ließ von der Königlich- 8 ARSPROTOTO 2 2018 9
Vereinte Auf engstem Raum scharen sich die der Passion Christi. Über Jahrhunderte zusammenhängende Flügelinnenseiten für das Museum, während die beiden Hans Schäufelin, Passionsaltar, 1506/07, Schergen um den gefesselten Christus, hinweg blieben die beiden Tafeln von der eines zur privaten Kontemplation ge- anderen Tafeln das Ensemble als Dauer- links: Geißelung Christi, rechts: Dornen sie holen zu kräftigen Schlägen aus, dann Fachwelt unentdeckt, ehe sie ab 2014 – dachten Altarretabels identifiziert wer- leihgabe ergänzen. Mit den bereits seit krönung Christi, beide 23,5 × 18 cm; Passion pressen sie mit wuchtigen Holzstäben die neben zwei weiteren Darstellungen – den. In der Berliner Gemäldegalerie 1821 in der Berliner Gemäldesammlung Staatliche Museen zu Berlin, Gemälde- Dornenkrone auf sein Haupt. Auf jeweils nach und nach als Werke eines anonymen feiern Schäufelins kostbare Tafeln nach befindlichen Außenseiten der Flügel galerie 23,5 × 18 cm verdichtete der Maler Hans Malers auf dem Kunstmarkt auftauchten. rund 200 Jahren ihre Wiedervereini- präsentieren sich damit erstmals wieder Schäufelin (um 1482/83 –1539/40) mit Schon bald konnten die vier Tafelbilder gung: Der Kaiser Friedrich Museums alle erhaltenen Teile dieses wichtigen Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung den Darstellungen der Geißelung und der dem in Nördlingen tätigen Dürer-Schüler verein erwarb die „Dornenkrönung“ und Zeugnisses der deutschen Frührenais- der Länder, Kaiser Friedrich Museums- 10 Dornenkrönung zwei dramatische Szenen zugeschrieben und als ursprünglich die „Geißelung Christi“ des Triptychons sance gemeinsam der Öffentlichkeit. verein 11
KUNST AUF LAGER A LLES E IN G ESTALTER Dem deutschen Volke: Die berühmtesten deutschen Buchstaben sind von ihm entwor- fen, seine Mitarbeiter im Architekturbüro waren Walter Gropius, Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe, er war Typograph und Designer, gilt als der bedeutendste Indus triearchitekt seiner Zeit. Und er erfand das einheitliche Erscheinungsbild: Als Gestalter aller Produkte für die Berliner A.E.G. ab 1907 wird er vollends zum Pionier modernen De- signs, von der Schriftgestaltung bis zur Werbe- graphik. Die Kunstmuseen Krefeld besitzen rund 250 Arbeiten von Peter Behrens (1868 – 1940) – u. a. Typografie, Graphik, Gläser, Tapetenentwürfe, Plakate, Holzschnitte, Foto- grafien aus der Zeit von 1900 bis 1912. Sie illustrieren die rasante Entwicklung des Multi- talents vom Jugendstilkünstler zum Industrie- designer. Im 1897 gegründeten Krefelder Kaiser Wilhelm Museum hatte man früh Kunst und Kunstgewerbe miteinander verbunden, gab sich den Reformbewegungen in Deutsch- land gegenüber aufgeschlossen. Der Behrens- Bestand an Typografie und Werbegraphik wurde über die Jahrzehnte jedoch selten prä- sentiert: Im Rahmen der Initiative „Kunst auf Lager“ konnten nun durch aufwändige konser- vatorische Maßnahmen die Lithografien und Fotoarbeiten vorsichtig aus ihren historischen Montierungen auf Pappen gelöst werden, um weitere Schädigungen durch chemische Pro- zesse und Klebemittel zu verhindern. Säurefreie Passepartout-Kartons machen die kostbaren Zeugnisse wieder nutzbar für Ausstellungen: So zeigt das Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld noch bis zum 14. Oktober den mit Unterstüt- zung der Kulturstiftung der Länder geretteten Design-Schatz von Peter Behrens unter dem Titel „Das Praktische und das Ideale“. Peter Behrens, Umschlag des Ausstellungsführers „Deutsche Schiffbau-Ausstellung 1908“ der AEG, Berlin, 1908; Sammlung Kunstmuseen Krefeld Förderer dieser Restaurierung: Kulturstiftung der Länder 12
TELEMANNS ERWERBUNGEN Lehrer über die Kernfragen des Glaubens 19. Jahrhundert hinein hatte das Kloster – spiegelt den Geist der damaligen in Hildesheim Bestand und hortete Fromme Reformbewegungen wider. Den Verfüh- kostbare geistige Schätze der damaligen rungen der äußeren Welt widerstehend, besinnt sich der aufgeklärte Gläubige Zeit. Schließlich führte die Säkularisa- tion zur Auflösung des Klosters und LÖWEN Frucht einer Innerlichkeit, in der die vollkom- damit zur teilweisen Zerstreuung des Die Grube, die man anderen gräbt: Bis mene Hinwendung zu Gott liegt. Adres- wertvollen Konvoluts. In jenen stürmi- zum unheilvollen Ende illustriert die saten des religiösen Wegweisers waren schen Zeiten verschlug es den dritten Geschichte von Daniel in der Löwen- nicht nur Würdenträger der Kirche, Band der Hildesheimer Handschrift grube das alttestamentarische Sprich- Seine Wirkung war unvorhersehbar: sondern auch die städtische Laienbe nach England in die Abtei Ampleforth. wort. Denn schließlich sind es die persischen Ränkeschmiede selbst, die Nationale und gesellschaftliche Grenzen wegung, die ihre Stimme in religiösen Als er schließlich im Dezember 2017 bei zwischen den Reißzähnen der Raub- hat er überwunden, religiöse Dogmen Fragen erhob. In ihrem Anspruch, sich einer Auktion in London zum Verkauf katzen ihr Ende finden. Der gottes- in Frage gestellt. Der „Malogranatum“ jenseits der theologischen Gelehrtendis- stand, nutzte die Dombibliothek Hildes- fürchtige Israelit Daniel jedoch bleibt (dt. Granatapfel), im 14. Jahrhundert im kussion einem größeren Leserkreis zu heim die Gunst der Stunde und holte unversehrt. Georg Philipp Telemanns (1681–1767) Vertonung dieser Erzäh- Zisterzienserkloster Königsaal bei Prag öffnen, erlangte die literarische Frucht das seltene Zeugnis spätmittelalterlicher lung gehört in einen 1730/31 entstan- aus der Feder eines Mönchs gesprossen, große Popularität im Spätmittelalter. Schriftkunst zurück. Vorzüglich gearbei- denen Jahrgang, der als Novum inner- entpuppte sich als eine revolutionäre Über Ländergrenzen hinweg und in tet in wohl originalem Ledereinband, halb der protestantischen Musik gelten Schrift. Denn als eine Art Tutorial für mehrere Sprachen übersetzt verbreitete demonstrieren die kunstvollen floralen kann: Zugrunde liegen den Werken dieses Zyklus’ nicht die Formprinzipien ein frommes Leben richtete sich das sich der „Malogranatum“ des böhmi- Initialen die außerordentliche Qualität einer Kirchenkantate, sondern Gat- gelehrte Buch auch an die christliche schen Mönchs in zahlreichen Kopien des Objekts. Der erste Band befindet tungsmerkmale des Oratoriums. Ein Avantgarde jener Zeit. Der Inhalt rasant. So ist es nicht verwunderlich, sich in der Staats- und Universitäts besonders schönes Beispiel ist die – ein Dialog zwischen dass 1459 eine dreibändige Abschrift bibliothek Göttingen, der zweite Band theatralische Festmusik „Der aus der einem Schüler und auch in Hildesheim für die reformfreu wartete bereits in der Dombibliothek Löwengrube errettete Daniel“. Alter- nierend treiben die Protagonisten das seinem digen Augustinerinnen im Kloster St. Hildesheim auf den Nachzügler aus Geschehen voran, rufen allegorische Maria Magdalena angefertigt wurde. England. Personifikationen die Gemeinde zur Über die Reformation hin- Reflektion auf. weg bis in das frühe Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung Die Nachricht von der klangmächtigen Vertonung bild- und affektreicher der Länder, Bistum Hildesheim, Kloster Libretti, gedichtet von Albrecht Jakob kammer Hannover Zell (1701–1754), hallte über die Stadtgrenzen Hamburgs bis nach Berlin. Von hier erbat sich der Hof- komponist Johann Friedrich Agricola (1720 –1744) Telemanns Kompositio- nen, um sie zu kopieren. Das Wissen um den Urheber dieses Michaelis- Oratoriums ging bei einer weiteren, um 1780 in Berlin entstandenen Abschrift des professionellen Schrei- bers F. Baumann verloren. Erst jüngst korrigierte die Forschung die auf dem Titelblatt notierte Zuschreibung „Von Herrn: Händel“. Die 84 Seiten umfas- sende Abschrift ist derzeit die älteste bekannte und der Kompositionsparti- tur wohl am nächsten stehende Hand- schrift, die dieses Oratorium über liefert. Das vom Arbeitskreis „Georg Philipp Telemann“ Magdeburg e.V. erworbene Manuskript stellt ein wahres Rarissimum dar, zumal nur selten Werke des Komponisten auf dem Musikantiquariatsmarkt auftauchen. Glücklich daher, dass die bedeutende Abschrift der Forschung sowie der Öffentlichkeit in der Bibliothek des Zentrums für Telemann-Pflege und -Forschung zugänglich wird. Förderer dieser Erwerbung: Kultur stiftung der Länder, Land Sachsen- Anhalt, Stiftung Kloster Unser Lieben Frauen 14 15
ERWERBUNGEN DER FREUNDESKREIS DER KULTURSTIFTUNG WIEDER GERETTET DER LÄNDER — IMMER AUF DER SEITE DER KUNST www.kulturstiftung.de/freundeskreis „Er trat mitten unter sie und sagte: Seid ihr so töricht, ihr Söhne Israels? Ohne Verhör und ohne Prüfung der Beweise habt ihr eine Tochter Israels verurteilt.“ Tausendfach gemalt, gemeißelt oder gegossen: Dem Tod geweiht ist Susanna, die nackt badende Frau des Babyloniers Jojakim – die beliebte erotische Bibel geschichte erzählt eine Parabel auf die Gottesfurcht: Zwei alte Richter lauern Susanna im Garten auf, um sie zum Beischlaf zu zwingen. Der Plan schlägt fehl, doch mit einer falschen Aussage erreichen die Männer die Todesstrafe. Susanna vertraut auf Gottes Hilfe und wird gerettet: Gott erweckt den heiligen Geist in Daniel und er entlarvt die fal- schen Aussagen der Richter. „Da schrie die ganze Gemeinde laut auf und pries Gott, der alle rettet, die auf ihn hoffen.“ Reinhold Begas, Schüler des berühmten Bildhauers Christian Daniel Rauch, erneuerte mit seinem Schaffen die Ber liner Bildhauerei: Seine bewegten, neu barocken Formen setzten sich ab vom erstarrten Klassizismus. Ursprünglich wahrscheinlich ein privater Auftrag, zeigte der berühmte Berliner Verleger Rudolf Mosse die Skulptur Susanna ab 1908 in seiner großen, öffent lichen Ausstellung im Stadtpalais am Leipziger Platz. Die Nachfah- ren Mosses wurden von den Natio- nalsozialisten aus Deutschland vertrieben, die über tausend Objekte umfassende Kunstsammlung enteignet. Die „Susanna“ befand sich danach in einer Privatsammlung in Berlin, von dort transportierte sie nach Kriegsende eine sowjetische Trophäenkommission ab, erst 1978 tauchte sie bei Rückgaben von Kunstwerken in die DDR wieder auf. 1996 gelangte die Figur schließlich in die Alte Nationalgalerie Berlin und wurde dort als Fremdbesitz aufgenommen. Die Provenienzforscher der Stiftung Preußi- scher Kulturbesitz (SPK) recherchierten die Herkunft aus der Sammlung Mosse, die Skulptur wurde restituiert. Anfang Mai 2018 gab die SPK zusammen mit der Erbengemeinschaft Mosse bekannt, dass ein Ankauf für die Alte Nationalgalerie möglich wurde (siehe auch unser Inter- view zur Sammlung Mosse auf S. 60). Reinhold Begas, Susanna, 1869 –1872, 127 × 91 × 67 cm mit Plinthe; Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, die Beauftragte der Bundes regierung für Kultur und Medien 16
Ingeborg Becker über Henry van de Veldes Entwicklung TITELTHEMA HENRY VAN DE VELDE vom Jugendstil zum Bauhaus — Seite 20 AM VORABEND Thomas Föhl über neue Erwerbungen aus dem Œuvre Henry van de Veldes für die Klassik Stiftung Weimar und das Museum für Angewandte Kunst in Köln DES BAUHAUSES — Seite 27 Wolfgang Ullrich über zeitgenössische Künstler zwischen Autonomie und Markenproduktion — Seite 32 Henry van de Velde in einer Möbeltischlerei in Brüssel; links eine Schreibtischanfertigung von van de Velde für seinen Freund Dr. Hubert Clerckx in Uccle (s. S. 27), daneben im Anschnitt ein Bibliotheks- und Noten- schrank für den Textilunternehmer Herbert E. Esche (s. S. 31), Foto um 1898 18 ARSPROTOTO 2 2018 19
A TITELTHEMA HENRY VAN DE VELDE m 3. April 1863 wurde Henry Clemens van de Josef Hoffmann, Liege- Velde in Antwerpen geboren, 1957 starb er nach fauteuil „Sitzmaschine“, um 1905, 110 × 80 cm; einem langen arbeitsreichen und kreativen Leben MAK – Österreichisches hochbetagt in Zürich. Sein Lebensweg, der ihn durch Museum für angewandte zahlreiche Länder Europas geführt hatte, zeichnet auch Kunst / Gegenwartskunst, DIE LINIE Wien die Kunst- und Stilbewegung des 20. Jahrhunderts nach. „Ein Gefühl von Unruhe und mangelnder Befriedi- gung beherrschte uns um 1890 so allgemein“, beschrieb van de Velde 1902 in seinem Buch „Kunstgewerbliche Laienpredigten“ die Zäsur seiner Laufbahn, als eine IST EINE künstlerische Sinnkrise den bereits als neo-impressio nistisch bekannten Maler zur angewandten Kunst hinführte. Das Postulat des englischen Arts & Crafts- Künstlers und Sozialreformers William Morris (1834 – René Lalique, Schmuck- 1896), der Kunst ihren elitären Charakter abzusprechen kamm „Chrysanthe- KRAFT men“, 1899 –1900, und die angewandte Kunst der Malerei vorzuziehen, 16,2 × 9 cm; Museum hatte auf van de Velde in dieser Zeit einen fundamen für Kunst und Gewerbe talen Eindruck gemacht. 1892 entstand van de Veldes Hamburg erste Arbeit in dieser neuen Sparte, der Bildteppich „Engelwache“ (Abb. S. 23). Mit seiner „Bekehrung“ zum Kunstgewerbe war er um 1900 nicht allein. Die Objektkunst rückte inter national in den allgemeinen Fokus, die Malerei verlor Henry van de Velde: vom Jugendstil zeitweilig den Vorrang, den sie in der herkömmlichen zum Bauhaus Hierarchie der Künste eingenommen hatte. Viele Jene „Unruhe“, die van de Velde konstatierte, hatte zu Künstler, die ursprünglich als Maler begonnen hatten, einer gesamteuropäischen Stilbewegung geführt, die von Ingeborg Becker wandten sich von der Bildkunst ab. Sie wurden als sich an der Schnittstelle vom 19. zum 20. Jahrhundert Entwerfer für eine neuartige Architektur und Innenaus- manifestierte und unter dem Rubrum „Jugendstil“, stattung tätig, kreierten aber auch Dinge des täglichen „Art Nouveau“, „Secessionsstil“ oder „Modernismus“ Gebrauchs aus Porzellan, Glas, Keramik und Textil als Epochenbegriff Eingang in die Kunstgeschichte und sowie Möbel und Metallarbeiten im neuen Stil. auch in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. Die neue Stilkunst zeigte eine eigentümliche Ambi- valenz und Ambiguität. Janusköpfig, durchaus noch rückwärts dem 19. Jahrhundert zugewandt, gleichzeitig jedoch schon die Spannung und Dynamik des 20. Jahrhunderts widerspiegelnd, reflektierte Art Nouveau Phänomene eines an sich kurzen Übergangsstils, der aus vielfältigen Strömungen gespeist wurde. So wurden Elemente der Gotik wie die dynamische vertikale Linie und auch die skelettartige Konstruktion für Jugendstil-Architektur und Möbel übernommen, ebenso erwiesen sich die verspielten eleganten Linien- schwünge des Rokoko als kompatibel. Als ganz besonders einflussreich stellte sich aber die zunehmende Kenntnis der japanischen Kunst heraus. Die daraufhin grassierende Japan-Begeisterung traf im zeitlichen Zwischenbereich von Historismus und Ju- gendstil in Europa ein. Charakteristika wie Stilisierung, Abstraktion und Flächigkeit in der Darstellung beson- ders von Flora und Fauna ermöglichten neue Sehwei- sen, und das traditionelle japanische Kunstgewerbe – von exklusivem Material und ästhetischer Raffinesse Henry van de Velde, Stuhl Modell Haus Bloemenwerf, 1895, Bubinga- Hector Guimard, „Metropolitain“, Eingang zur Pariser Métrostation, – faszinierte, da es den industriellen Massenerzeug holz mattiert, Sitz aus Binsengeflecht, Typ B, Porte Dauphine, um 1900, Foto um 1965 von Paul Almasy nissen Europas diametral gegenüberstand. Höhe 93,5 cm; Bröhan-Museum Berlin ARSPROTOTO 2 2018 21 20
Henry van de Velde, Speise Henry van de Velde, und Außen, von Architektur, Dekoration, Mobiliar, Linie wurde zum elementaren plastischen Ausdrucks- zimmer von Harry Graf Kessler Kandelaber, 1898/99, Beleuchtung, von Kleidung und Lebensstil der Be träger. in Weimar, um 1906 Höhe 58,5 cm; Bröhan-Museum wohner ließ eine neue, vorbildhafte kulturelle Identität 1900 erfolgte auf Betreiben seiner Freunde und Berlin entstehen. Verehrer die Übersiedlung van de Veldes und seiner Aus Deutschland kamen prominente Besucher, um Familie nach Berlin. Es war der Beginn einer lebens das Haus „Bloemenwerf“ zu besichtigen, wie etwa der langen Wanderschaft, sein Haus „Bloemenwerf“ in Mäzen und Kunstliebhaber Harry Graf Kessler, der Uccle sah er niemals wieder. einflussreiche Kunstkritiker Julius Meier-Graefe und Durch die Vermittlung Kesslers hatte van de Velde Eberhard von Bodenhausen, Unternehmer und Bewun- nicht nur vermehrt künstlerische Arbeiten für Raum derer der modernen Stilkunst: ein Triumvirat, das für gestaltungen ausgeführt, sondern auch seine Vortrags van de Veldes weiteren Weg entscheidend werden sollte tätigkeit, sein „Apostolat“ in Berlin begonnen. Mit und das als mäzenatischer Auftraggeber seinen künst missionarischem Eifer versuchte er, seine Überzeugun- lerischen Erfolg, vornehmlich in Deutschland, erst gen vom „neuen Stil“ und der Kraft der Linie einem ermöglichte. So erwies sich van de Veldes Wohnungs- meist gesellschaftlich elitären Zirkel nahezubringen. einrichtung für Harry Graf Kessler in Berlin 1897/98 Diese Vorträge wurden in den Folgejahren publiziert als Initialzündung für eine Reihe von bedeutenden und geben einen einzigartigen emotionalen und intel- Aufträgen, die seinen Ruhm weiter verbreiteten. lektuellen Einblick in seine Kunstphilosophie. Die Intention zum Gesamtkunstwerk zeigte sich in Die für van de Velde erfolgreiche und glückliche dem für ihn charakteristischen gespannten, ornament- Berliner Zeit setzte sich nach nur zwei Jahren durch losen Liniengefüge, das dem Raum ebenso wie allen seine Berufung als künstlerischer Berater des Großher- Einrichtungsgegenständen Gestalt gab. Für van de zogs von Sachsen-Weimar-Eisenach mit der Übersied- Velde war die Dynamik der Linie alleinbestimmend, lung in die Residenzstadt Weimar zunächst fort. „Was wir wollen ist das, was der Japaner immer getan etwas spätere, sogenannte Wiener Secessions- sein Credo „Eine Linie ist eine Kraft […] sie entlehnt Van de Veldes Auftrag sah vor, generell das regio- hat. Wer würde sich irgendein Werk japanischen Kunst- stil bezog sich wiederum auf das Vorbild der ihre Kraft der Energie dessen, der sie gezogen hat“, nale Gewerbe zu fördern und zu modernisieren. Bereits gewerbes maschinell hergestellt vorstellen können?“, funktionalen schottischen Arts & Crafts- zeigte sich beispielhaft in seinen frühen Arbeiten: Die 1902, gleich nach seiner Ankunft, gründete er in schrieb Josef Hoffmann 1903 im Manifest der Wiener Bewegung. Das verbindende Element dieser Werkstätte, und van de Velde sah die „japanische Linie“ heterogenen Ausprägungen des neuen Stils gar als „heilbringend“ an. war die Sehnsucht nach Erneuerung. Es Zudem fand jedes Land eine eigene, individuelle zeigte sich, dass Art Nouveau weit über einen künstlerische Ausprägung. Der frühe Art Nouveau ist reinen Kunststil hinausging und als Reform- mit der figürlichen, hauptsächlich floralen, meist sym- bewegung auch ein neues Lebensgefühl bolistisch konnotierten Dekorkunst des französischen anstrebte. Fin de Siècle verbunden. England, besonders Schott- Eine dominierende land, vertrat eine sachlich-geometrische, abstrahierende Rolle im Spektrum der Formensprache, die zum modernen Funktionalismus europäischen Stilbewegun- führte. Beide Länder stehen zeitgleich, bereits vor 1900, gen nahm Belgien ein, ein für den Beginn einer neuen Stilkunst und reklamieren, junger Staat, der erst 1831 als eine selbststän- bei aller Divergenz, Erfinder des neuen Stils zu sein. dige, allerdings von großen sozialen Spannungen Die K.-u.-k.-Monarchie Österreichs war mit ihren bestimmte Nation auftreten konnte. Brüssel als Haupt- Kronländern Ungarn und Tschechien vertreten und der stadt zeigte sehr schnell den modernen Stil, besonders in der Architektur der neuen Metropole, die von Paul Hankar und Victor Horta geschaffen wurde und das Stadtbild um 1900 prägte. Als herausragend erwies sich aber Henry van de Velde, der 1895 – als Autodidakt zwar – zunächst nur ein privates Wohnhaus geschaffen hatte, aber fast schlagartig zur Speerspitze der Reform- bewegung avancieren sollte. Sein Haus „Bloemenwerf“ in Uccle bei Brüssel erwies sich als Grundstein zu seinem internationalen Ruhm, da es sofort von Ken- nern als programmatische Verwirklichung einer ästhe tischen Autarkie empfunden wurde. Beispielhaft zeigte sich, dass Haus und Interieur zum originären, zum eigentlichen Kunstwerk des Henry van de Velde, Ankleidezimmer der Villa Esche in Chemnitz mit Einbauschränken und einem Jugendstils werden sollten. Die Priorität des indivi- Henry van de Velde, Wandteppich „Die Engelwache“, 1893, Frisierstuhl von 1899, fotografiert um 1905 duellen Interieurs, der Zusammenklang von Innen 140 × 233 cm; Museum für Gestaltung Zürich 22 ARSPROTOTO 2 2018 23
Weimar als Annex der Großherzoglichen Kunst- schule das Kunstgewerbliche Seminar, 1907 wurde die Kunstgewerbeschule eröffnet. Mit der Weima- rer Zeit klang auch seine expressive Linienkunst aus und eine mehr klassisch-moderne Formen sprache nahm ihren Anfang. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte van de Velde die Möglichkeit, ein außergewöhn- lich reiches Werk an Architektur, Raumkunst und Objekten der angewandten Kunst zu schaffen. Für den Fabrikanten Herbert Esche in Chemnitz entstand 1902/03 eine monumentale Villa, das erste bedeutende Architekturensemble aus van de Veldes Zeit in Deutschland. 1904/11 erfolgte der Neubau der Kunstschule in Weimar. Für sich und seine Familie entwarf er in Weimar „Haus Hohe Pappeln“(Abb. links u. S. 26), das zweite persön liche Wohnhaus. Ein weiteres Großprojekt war das opulente „Haus Hohenhof“, 1908, für den Kunst- sammler Karl Ernst Osthaus in Hagen, einer der großen Mäzene und Bewunderer van de Veldes. Auch ein spezielles Gebiet der angewandten Kunst, die Buchkunst, übte große Faszination auf van de Velde aus. Die Affinität zur Gestaltung von Druckwerken lässt sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn erkennen. In Zusammenarbeit mit Harry Graf Kessler entstanden aus Verehrung für Friedrich Nietzsche bedeutende bibliophile Kost- barkeiten von den Schriften des 1900 in geistiger Umnachtung gestorbenen Philosophen (Abb. S. 26). Der Umbau des Weimarer Nietzsche-Wohn- hauses als auratische Erinnerungsstätte und Archiv ließ van de Veldes Einfühlung in das Werk des epochalen „Dichters und Denkers“ sichtbar werden. Henry van de Velde, um 1914, fotografiert von Louis Held Henry van de Velde, Haus Hohe Pappeln, Weimar; rekonstruiertes Arbeitszimmer in Teakholz mit Möbeln aus der Sammlung Reuter 24 ARSPROTOTO 2 2018 25
Während die Werkstätten der Kunstgewerbeschule mit TITELTHEMA HENRY VAN DE VELDE einer Fülle von Aufträgen und Entwürfen für Porzellan, Keramik, Textilien, Tapeten, Silberarbeiten und Be- SCHÖNER WOHNEN leuchtungskörpern berühmt wurden, war van de Veldes gesellschaftliche Stellung in Weimar hingegen nicht mehr unangefochten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der Belgier dann explizit zum „feind- lichen Ausländer“ erklärt. 1915, nach bereits längeren Querelen, erfolgte seine Entlassung aus den Großher- zoglichen Diensten, aber erst 1917 konnte van de Velde durch Unterstützung von Freunden ins schweizerische Neue Erwerbungen aus dem Œuvre Henry van de Veldes für die Klassik Exil gehen. Stiftung Weimar und das Museum für Angewandte Kunst in Köln Nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen sozialen Um- von Thomas Föhl wälzungen fand 1919 die Vereinigung von Kunstge M werbeschule und Kunstschule als „Staatliches Bauhaus“ it dem Masterplan „Kosmos Weimar“ hat die Nach der erfolgreichen Ausstellung zum 150. Geburts- statt. Die Leitung übernahm der Architekt Walter Klassik Stiftung 2008 eine Zukunftsperspektive tag van de Veldes, die in Weimar und Brüssel 2013 Gropius, den van de Velde 1915 als seinen Nachfolger vorgestellt, die neben der Epoche um Goethe, mehr als 150.000 Besucher anzog und deren Kataloge empfohlen hatte. Den folgenden internationalen Sieges- Schiller, Wieland und Herder mit ihren Dichterhäu- sich in mehreren Auflagen über 30.000 Mal verkauften, zug des „Bauhauses“ konnte van de Velde nun nicht sern, Schlössern und Parkanlagen nun auch die Mo- reifte im Zuge der Planungen zum „neuen bauhaus mehr für sich und seine Arbeit in Anspruch nehmen. derne mit Nietzsche, van de Velde und dem Bauhaus museum“ der Gedanke an eine weitere Dauerpräsenta- verstärkt in den Fokus rückt. Grundlage hierfür waren tion, die sich der Vorgeschichte der Weimarer Moderne Henry van die vom Bundestag und der Thüringer Landesregierung mit Friedrich Nietzsche, dem Kreis um Harry Graf de Velde, bewilligten Baumittel in Höhe von 80 Millionen Euro, Kessler und Henry van de Velde sowie den fortschritt Beistell- schrank für nicht zuletzt aber auch der Paradigmenwechsel der lichen Ansätzen der Weimarer Kunsthochschule seit die Villa Henry van de Velde und seine Familie vor der Südseite von Klassik Stiftung nach der Fusion mit den Kunstsamm- 1860 widmen wird. In unmittelbarer Nähe zum „neuen Esche in Haus Hohe Pappeln in Weimar-Ehringsdorf, 1912 lungen zu Weimar im Jahr 2003. Hier war neben dem bauhaus museum“ gelegen, bot sich das Neue Museum Chemnitz, Eschenholz, bedeutenden Weimarer Kunstbesitz zudem das Bauhaus als Standort förmlich an. Zusammen mit der Daueraus- 1910 Nach seinem Weggang aus Deutschland, nach Aufent- verortet mit seiner exklusiven historischen Sammlung, stellung der Stiftung Buchenwald im ebenfalls benach- halten in der Schweiz und den Niederlanden, wo er mit die Walter Gropius (1883 –1969) dem Schlossmuseum barten Gauforum zur Problematik der Zwangsarbeit im modernen architektonischen Arbeiten hervorgetreten 1925 übergeben hatte. Zugleich war seit 1993 der Dritten Reich wird in den nächsten Jahren ein zweites war, gründete van de Velde 1927 in Brüssel eine neue Bestand an Arbeiten Henry van de Veldes kontinuier- Museumsquartier entstehen, das im Zuge der „Topo- Kunstschule – „La Cambre“ – als belgisches Pendant lich ausgebaut worden. graphie der Moderne“ außerdem das Stadtmuseum und zum Bauhaus. Puristisches Design und eine sachliche Architektur bestimmten die Spätphase dieses univer salen Künstlers. Noch im Alter von fast 90 Jahren begann er seine Autobiographie, die unter dem Titel „Geschichte meines Lebens“ 1962 auf Deutsch erschien. Henry van de Veldes gewaltiges Œuvre weist eine visionäre Gestaltungskraft auf, die sich immer wieder an die Spitze neuer wegweisender Entwicklungen stellte. Sein Werk ist gekennzeichnet durch die Über- windung von Traditionen, das Ignorieren von Grenzen, welche die Kunst und das Kunstgewerbe betrafen, und er wurde damit zum wesentlichen Begründer des modernen Designs und der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts. Das leidenschaftliche Streben nach Schönheit, das der Ästhetisierung des Menschen im Sinne einer moralischen Erhebung dienen sollte, ist dem Frühwerk eigen, die Synthese von Kunst und Leben blieb aber auch weiterhin eine wesentliche Henry van de Velde, Schreib- raison d’être van de Veldes. tisch für Dr. Hubert Clerckx in Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Uccle bei Brüssel, Mahagoni, Haupttitel, Insel Verlag Leipzig, 1908; Typografie Dr. Ingeborg Becker ist Kunsthistorikerin in Berlin. 1897/98; alle Abb. bis S. 31 von Henry van de Velde oben: Klassik Stiftung Weimar 26 ARSPROTOTO 2 2018 27
Henry van de Velde, Auswahl das „Haus der Weimarer Republik“ in diesen Parcours an Besteckteilen der Modell einbeziehen wird. serien 1 (obere Reihen) und 3 (untere Reihe sowie die sechs Den Weimarer Sammlungen hingegen mangelte es Henry van de Velde, Teile der dritten Reihe rechts); für dieses ambitionierte Vorhaben – trotz der umfang- Servierwagen für Dr. 1903 bzw. 1910 reichen Bestände an Möbeln van de Veldes – an Früh- Hermann Harkort, werken des Künstlers; vor allem fehlten Silberarbeiten, Birnbaum, 1903 Keramiken, Porzellan und Schmuck. Mit dem Œuvre van de Veldes seit Anfang der 1980er-Jahre eng vertraut und Initiator seines Werkverzeichnisses in sechs Bän- den, steht der Verfasser mit nahezu allen Sammlern weltweit in engem Kontakt. Die ersten Gespräche europäischen Zusammenhang. Dieser Aspekt stand für führten allerdings zu keinen Ergebnissen oder scheiter- Helmut Reuter als entscheidendes Kriterium im Vor- ten an überzogenen Preisvorstellungen. Allein Dr. dergrund, uns seine in Jahrzehnten gewachsene Samm- Helmut Reuter signalisierte Interesse, obwohl er über lung exklusiv anzubieten, die zudem eine Reihe groß Jahrzehnte mit Möbeln Henry van de Veldes und zügiger Schenkungen beinhaltet. Ludwig Mies van der Rohes eingerichtet war. Hätte er Mit der Befürwortung drei herausragender An- in früheren Jahren allenfalls Doubletten abgegeben kaufsvorhaben durch unseren Stiftungsrat fanden sich oder getauscht, zeigte er sich vor dem Hintergrund der 2017 die Kulturstiftung der Länder, die Ernst von Neukonzeption aufgeschlossen und unterstützte unsere Siemens Kunststiftung sowie der Freistaat Thüringen Bemühungen, aus seiner van de Velde-Sammlung die einvernehmlich zusammen und haben diesen für Wei- museal bedeutendsten Stücke auszuwählen. Diese mar so wichtigen Ankauf in kurzer Zeit zum Abschluss Haltung beruhte vor allem auf der Perspektive, dass die gebracht. Die Klassik Stiftung ist allen Beteiligten Klassik Stiftung mit dem „neuen bauhaus-museum“ herzlich zu Dank verpflichtet und das Ergebnis wird das und seinem Pendant zur frühen Moderne im Neuen Publikum bei der Eröffnung beider Museen am 5. April Museum eine Planung verfolgt, beide Sammlungskom- 2019 sicherlich gleichermaßen überzeugen, wie sich plexe inhaltlich eng aufeinander abzustimmen und in unsere Begeisterung auf die Zuwendungsgeber hatte den benachbarten Häusern die moderne Lebenswelt übertragen lassen. Henry van de Velde hat seinen hohen und Wohnkultur als Leitthemen zu präsentieren. Diese Rang als Erneuerer der Kunst in Weimar längst wieder museale Setzung stellt ein wichtiges Alleinstellungs- gewonnen und als „Hebamme des Bauhauses“ wird merkmal für Weimar dar, nicht nur im Bauhaus-Kon- er künftig sicher noch stärker im Blickpunkt stehen, text in Hinsicht auf die Partnerinstitute in Dessau und schlug er doch bereits 1915 den noch jungen Architek- Berlin, sondern vielmehr in Bezug auf einen gesamt ten Walter Gropius als seinen Nachfolger in der Direk- tion der Kunstgewerbeschule vor. Dieser konnte dann Henry van de Velde, ab 1919 auf den innovativen Lehrmethoden seines Armlehnstuhl für Vorgängers aufbauen und mit dem Staatlichen Bauhaus Helene Gräfin Har- Weimar eine Institution begründen, die heute als rach, Padouk, 1898 „Marke“ weltweit bekannter ist als manch etablierter Klassiker der beschaulichen Residenzstadt. Wenden wir uns nun konkret der Sammlung Reuter zu, so fällt als erstes ins Auge, dass wir – abge sehen von zwei Keramiken – von allen Stücken die belegten Provenienzen kennen. Neben einer exzellenten Erhaltung war dem Sammler bei jeder Erwerbung dieser Aspekt von Bedeutung, kommen doch ansonsten im Handel immer wieder Verdachtsmomente ins Spiel, es könnte sich bei den angebotenen Werken um Fäl- schungen oder Nachahmungen handeln, die in größerer Zahl vor allem von Hauptwerken der Jahre um 1900 angefertigt wurden. Eine nachweisbare Provenienz tilgt darüber hinaus jegliche Zweifel, es könnte sich um Raubkunst handeln. Das Gros der erworbenen Stücke stammt aus dem Erbe des Textilindustriellen Herbert Esche (1874 – 1962), der van de Velde 1902 als erster Kunde in Deutschland mit dem Bau seiner Villa in Chemnitz 28 ARSPROTOTO 2 2018 29
betraute, nachdem der Belgier 1899 bereits dessen schränkchen aus exotischem Padoukholz, das der Berli- Henry van de Velde, getrennt hat, sondern der uns diese zu Preisen angebo- Wohnung eingerichtet hatte. Dies betrifft sowohl ner Maler Curt Herrmann (1854 –1929), van de Veldes Bibliotheks- und ten hat, die weit unter denjenigen liegen, die er im Notenschrank sämtliche Schmuckstücke, Porzellane und die beiden erster deutscher Kunde, 1897 in Auftrag gab. Hier gibt für Herbert Esche, Handel oder auf einer Auktion hätte erzielen können. Besteckserien als auch eine Reihe von Möbeln, die sich der Künstler wieder dem „Dämon“ seiner Linie hin Padouk, 1897/98 Im gleichen Jahr kam mit Hilfe der Kulturstiftung zumeist für Esches Wohnung von 1899 gefertigt wur- und betont zentrale Verbindungspunkte mit orna- der Länder ein weiterer herausragender Ankauf für das den. Weitere Möbel kommen aus dem Besitz der Ber mental ausgebildeten Knoten. Ein weiteres Haupt- Museum für Angewandte Kunst in Köln zustande. Es liner Bankiers Karl Alexander (1871–1946) und Paul werk stellt der elegante Armlehnstuhl dar, ebenfalls handelt sich um eine frühe Jardinière Henry van de Millington-Herrmann (1858 –1935) sowie von Karl von 1898, der sich ursprünglich im Berliner Arbeits Veldes, 1903 gefertigt von Theodor Müller, van de Ernst Osthaus (1874 –1921) in Hagen und aus der zimmer der Gräfin Helene von Harrach (1877–1961) Veldes bevorzugtem Silberschmied in Weimar. Die mit ihm verwandten Familie von Hermann Harkort befand. Wir finden hier erneut van de Veldes Credo Jardinière gehörte zu einer (leider nicht mehr erhalte- (1875 –1917) in Wetter an der Ruhr. „Die Linie ist eine Kraft“ in den an- und abschwellen- nen) Silberausstattung von mehr als 500 Teilen, die als Als wertvollstes und zugleich frühestes Möbel der den Schwüngen von Rücken- und Armlehnen umge- „Brautgeschenk“ der Thüringer Beamtenschaft Groß- Sammlung ist der unikale Schreibtisch anzusprechen, setzt. Diese eher sanfte Formgebung weisen auch die Henry van de Velde, herzog Wilhelm Ernst überreicht worden war. Van de den van de Velde 1897 für seinen Freund und Hausarzt beiden Frisierstühle für Hanni Esche (1879 –1911) auf. Ring mit Brillanten Velde entwarf hierfür außerdem die Besteckserie des Dr. Hubert Clerckx (?–1903) in Uccle bei Brüssel Kraftvoller gestaltet sind dem gegenüber die Armlehn- und Saphir für Modells 1. Zur gleichen Zeit oder nur wenig später ließ Hanni Esche, 1899 entworfen hatte. Allein auf Form und Funktion re stühle für Herbert Esche aus demselben Jahr, die zwar er die Silberarbeit ein weiteres Mal für seine Schwester duziert, weist der für eine freie Aufstellung im Raum der geschilderten Dynamik folgen, gleichwohl mit mehr Jeanne Biart (1859 –1907) fertigen. Über ihre Tochter konzipierte Schreibtisch lediglich auf der Rückseite Volumen auftreten. Als herausragend zu nennen ist ging sie 1942 an Louise Thewys (1912 –2012) über, ein dezentes Spannungselement auf, das mittig den außerdem das zeitgenössisch als „Bibliotheks- und deren Eltern 1913 van de Veldes erstes Eigenhaus Schwung zwischen den Seitenkompartimenten vermit- Nippesschrank“ beschriebene Möbel aus Esches erster Servicen in Blau und Gold auch zwei zugehörige Be- „Bloemenwerf“ in Uccle bei Brüssel erworben hatten. telt. Im Vergleich mit van de Veldes wohl berühmtestem Wohnung von 1899, das nur in zwei weiteren Exempla- steckserien der Modelle 1 und 3 von 1903 bzw. 1910 Waren die ersten Silberarbeiten van de Veldes von Möbel, dem „Secessionsschreibtisch“ von 1899, liegt ren überliefert ist. Bereits auf das Bauhaus verweist ein enthält. Ein geschlossener Zusammenhang der Über 1902 noch merklich der Formensprache des Art Nou- hier eine weitaus funktionalere Lösung vor, die das zugleich schlichter wie eleganter Schrank von 1910, lieferung aus einer Provenienz (Esche) ist im musealen veau verpflichtet, so gewinnt die ebenfalls unikale Möbel als Hauptwerk der ersten Epoche in van de ebenfalls aus Esches Villa in Chemnitz. Kontext bislang einmalig und wird die Klassik Stiftung Jardinière in ihrer nunmehr gestrafften Disziplin skulp- Veldes Œuvre ausweist. Dies zeigt deutlich ein Vergleich Als besonderer Glücksfall ist zu werten, dass die in die Lage versetzen, die Tafelkultur der Zeit in Opu- turale Qualität. Der Corpus besteht nur noch aus Form mit dem zierlichen und ungleich verspielteren Beistell- Sammlung Reuter mit den beiden vielteiligen Meißener lenz zu präsentieren. und „Linie“ und erfährt lediglich durch die Einkerbun- Die fünf Schmuckstücke aus der Familie Esche gen an den Umrisskonturen sowie an den Griffmulden Henry van de stellen als Unikate ebenso einzigartige Rarissima dar eine ebenso dezente wie raffinierte Betonung, die Velde, Beistell- schrank für Curt wie das formschöne Schreibzeug von 1905/06. allerdings die hohe Eleganz des Entwurfs umso stärker Herrmann, An Keramiken, von denen die Klassik Stiftung unterstreicht. Padouk, 1897 bislang über nur wenige Stücke verfügen konnte, Zwei wichtige deutsche Museen konnten um enthält die Sammlung Reuter fünf charakteristische herausragende Exponate bereichert werden. In den Exemplare mit besonders eindrucksvollen Glasuren. letzten Jahren haben sich vermehrt amerikanische wie Der Erwerb der Sammlung Reuter zum Œuvre japanische Sammler und Museen um Arbeiten van de Henry van de Velde, Henry van de Veldes kann und muss als einmalige Veldes bemüht, was den merklichen Anstieg der Preise Silber-Jardinière, Sternstunde für die Klassik Stiftung Weimar hervor erklären mag. Es bleibt zu hoffen, dass Belgien den 1903, 35,5 × 21,5 × 8,5 cm; Museum für Ange- gehoben werden. Unser Dank gilt dem Freund und Rang eines seiner wichtigsten Künstler endlich ebenso wandte Kunst Köln Weggefährten Helmut Reuter, der sich nicht nur von würdigt wie van de Veldes zeitweilige Wahlheimat seinen in Jahrzehnten zusammengetragenen Schätzen Deutschland. Der Erfolg unserer gemeinsamen Ausstel- lung war 2013 auf diesem Weg ein Neubeginn, dem hoffentlich weitere Aktivitäten folgen werden. Klassik Stiftung Weimar Burgplatz 4, 99423 Weimar Telefon 03643 - 545400 www.klassik-stiftung.de MAKK – Museum für Angewandte Kunst Köln An der Rechtschule, 50667 Köln Telefon 0221- 221238-60 Öffnungszeiten: Di – So 10 –18 Uhr www.makk.de Förderer der Erwerbung Sammlung Reuter, Klassik Stiftung Weimar: Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Land Thüringen Förderer der Erwerbung Silber-Jardinière, Museum für Angewandte Kunst Köln: Kulturstiftung der Länder, Stadt Köln 30 ARSPROTOTO 2 2018 31
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