2 Entscheiden - 7 Intuition und Werte machen es aus - bso
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2 I N H A L T 3 EDITORIAL 4 AKTUELL T H E M A I M P R E S S U M 5 Erkenne die Umwelt Entscheiden mit ökologischer Rationalität Journal bso Nr. 2/2017 Entscheiden Niklas Keller und Martin Capelle Intuition und Werte machen es aus 10 «Heirate eine Wahlmöglichkeit!» Erscheinungstermin: 24. Mai 2017 Die Philosophin Ruth Chang zu Coaching und Holzfällen Nächste Ausgabe Nr. 3/2017 Sandro Küng Massstäbe Redaktionsschluss: 21. Juni 2017 14 Von Brüterinnen und Schnellentscheidern Inserateschluss: 14. Juli 2017 Entscheidungstypen im Vergleich Erscheinungstermin: 24. August 2017 Annette M. Diedrichs und Maja Storch Auflage 1700 Expl. 18 Machen Sie, was Sie wollen Erscheint viermal jährlich Diese Einsichten helfen Ihnen dabei Herausgeber Falko E. P. Wilms Berufsverband für Coaching, Supervision und Organisationsberatung bso 23 Was ist nun das Geschenk? Rita Sidler Erfahrungsbericht einer Beraterin Redaktionskommission Susanne Gerber Sandro Küng Heike Osenger 28 L I T E R A T U R Silvio Sgier Elisabeth Sperandio 30 V E R B A N D Francesca Tommasi P R A X I S Redaktion Monika Joss, mj 33 Die Therapie beginnt vor dem Computer info@monikajoss.ch Thomas Berger im Interview Bilder Monika Joss © Marco Zanoni www.marcozanoni.ch S E R V I C E Layout und Druck rubmedia, 3084 Wabern /Bern 36 Weiterbildung 41 Intervision Administration /Inserate Patricia Gfeller, bso 42 M A R K T Schwarztorstrasse 22, CH-3007 Bern Tel. [+41] 031 382 44 82 Fax [+41] 031 382 44 39 E-Mail: info@bso.ch Bezugspreise Jahresabonnement CHF 44.– Einzelnummer CHF 11.– Jahresabonnement Ausland CHF 60.– Einzelnummer Ausland CHF 15.– Inserate Preise auf der Basis einer druckfertigen Vorlage 1 /4 Seite CHF 250.– 1 /2 Seite CHF 500.– 1 /1 Seite CHF 900.– Inserate auf Umschlagseiten 3 und 4 im 4-Farben-Druck: 3. Umschlagseite 20% Zuschlag 4. Umschlagseite 30% Zuschlag
E D I T O R I A L 3 Entscheiden Sie selbst S chön, dass Sie sich entschieden haben, dieses Editorial zu lesen. Ist Ihnen diese Entscheidung leichtgefallen? Oder haben Sie gezögert, auf die Uhr geschaut, Alternativen verglichen und erst dann zum bso-Journal gegriffen, als Sie es als die beste Option im Vergleich mit allem anderen erachteten? Doch Moment mal. Zu glauben, wir könnten nur analytisch und rational gut entscheiden, scheint sich als Irrglaube herauszustellen. Davon berichten Niklas Keller und Martin Capelle im Leitartikel. Sie zeigen Schritte auf, die helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, besser aus Fehlern zu lernen, und erklären, wie wir das Potenzial unserer Intuition entfalten können. Harte Entscheidungen lassen sich nicht rational fällen, da uns keine Informationen im Aussen sagen, welche Option besser, schlechter oder gleich gut ist. Warum für die Philosophin Ruth Chang harte Entscheidungen genau deshalb ein Segen sind, erklärte sie mir im Interview. Welchem Entscheidertyp entsprechen Sie? Der langsamen Brüterin, dem Körperlosen, der Schnellentscheiderin oder dem Zerrissenen? Die Psychologinnen Annette M. Diedrichs und Maja Storch stellen uns ihre Ty- pologie vor. Die Voraussetzungen für gutes Entscheiden sind weitgehend erlernbar. Diese und weitere hilfreiche Einsichten zur Entscheidungshilfe vermittelt uns Falko Wilms. Auch als Beratungsperson fällen wir laufend Entscheidun- gen. Für oder gegen die Annahme eines Auftrages, für diese oder jene Intervention. Wie sie als Beraterin Entscheidungen fällt und über ihren Sandro Küng, Organisations- und Umgang mit Intuition berichtet uns Susanne Gerber. Kommunikationsberater bso / MAS ZFH, Mitglied der Redaktions Entscheiden Sie selbst, welcher Beitrag Sie überzeugt. Ich wünsche kommission Ihnen gutes Entscheiden und eine kurzweilige Lektüre.
4 A K T U E L L Höhere Fachprüfung für Beratungspersonen: Erste August 2017 Prüfungen in diesem Jahr 21. – 25. August 2017 ANSE Summer University Mitglieder bso – Ort: Rotterdam Maja Iseli – Nun ist es so weit: Am 20. Juni dieses Jahres können die ersten 31. August – 3. September 2017 ordentlichen höheren Fachprüfungen für Beratungspersonen in den Fach- HSP Kongress richtungen Supervisor/in, Coach und Organisationsberater/in durchge- Interessierte – Ort: Münsingen führt werden. Für bereits erfahrene Beratungsfachleute, insbesondere auch bso- Oktober 2017 Mitglieder, finden am 24. und 25. Oktober die ersten verkürzten Prüfungen 31. Oktober statt. Die Anmeldefrist für diese Prüfungssession ist der 31. Mai 2017. Regiotreffen Alle Informationen zu den höheren Fachprüfungen finden sich unter Nordwestschweiz Mitglieder bso – Ort: Basel www.hfpberatung.ch, darunter auch die Bedingungen für die Zulassung zu den verkürzten Prüfungen (hfpberatung.ch > Gleichwertigkeit) sowie die Januar 2018 nächsten Termine für ordentliche Prüfungen. Mit weiterführenden Fragen 18. Januar 2018 wenden Sie sich am besten direkt ans Prüfungssekretariat (hfpberatung.ch > Jahrestagung ARS-bso Kontakt) oder an Maja Iseli, Vertreterin des bso in der Prüfungskommission zum Thema «Vulnérabilité – (maja.iseli@bso.ch). Verletzlichkeit» Interessierte – Ort: Bern 25. /26. Januar 2018 Changetagung Interessierte – Ort: Basel Vertragliche Ausbildungspartnerschaft April 2018 Neues Aufnahmeverfahren 14. April 2018 Mitgliederversammlung bso Mitglieder – Ort: Bern bewährt sich Regula Villari – Seit Januar 2014 setzt die Aufnahme- und Qualitätskommis- sion des bso in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Aufnahme und Qualität das Reglement für die vertragliche Ausbildungspartnerschaft um. Dieses ersetzt das bisherige Aufnahme- und Anerkennungsreglement. Der Prozess für die vertragliche Ausbildungspartnerschaft gestaltet sich durch das zweistufige Verfahren – einerseits Dokumentenbegutachtung, andererseits Gespräche sowohl mit Lehrgangsleitung, Dozierenden/Super- vidierenden und Studierenden – lebendig und auf Augenhöhe. Unter den Ausbildungsinstituten finden sich Fachhochschulen wie auch private Anbieter. Die jeweiligen Institute zeichnen sich durch unterschied- liche Spezifizierung aus, und alle bilden dabei die Anforderungen des bso bestens ab. Vielfalt ist somit gegeben, Interessierte können die für sich am besten passende Weiterbildung wählen und ihr Portfolio umfassend ergänzen. Ab Sommer 2017 sind nun voraussichtlich sämtliche 15 Ausbildungsins- titute, die auf der Website des bso aufgeführt sind, nach dem neuem Regle- ment vertragliche Ausbildungspartner. Damit hat das Reglement längstens seine Umsetzbarkeit bewiesen und zudem einen vertieften und kompetenz orientierten Austausch zwischen dem bso und den Ausbildungsinstituten ermöglicht.
U T H E M A 5 Erkenne die Umwelt Entscheiden mit ökologischer Rationalität Logisches Entscheiden wird zwar oft gefordert, ist aber in vielen Entscheidungssituationen auf- grund mangelnder Informationen gar nicht möglich. Hier sind Entscheidungsmodelle nützlicher, die sich der Intuition bedienen. Intuition kann im passenden Lernumfeld erworben werden. Niklas Keller und Martin Capelle S eiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein Rest bleibt …» Was ist eine gute Entscheidung? Für heutige Verhältnisse ist dies vielleicht in Viele glauben, dass eine gute Entscheidung so viele puncto Liebe etwas extrem, sind zwischenmensch Daten wie möglich beinhalten und analytisch und liche Verhältnisse doch einige der wenigen «galli- logisch sein sollte. «Denke, dann handle!» oder «Erst schen Dörfer», die dem Joch der Rationalität weiter- wägen, dann wagen!» wird in Büchern und populär- hin verbitterten Widerstand leisten. Dass eine gute wissenschaftlichen Artikeln über rationales Ent- Entscheidung alle Informationen beinhalten und alle scheiden immerfort gepredigt. Diese Tradition geht Alternativen sorgfältig gegeneinander abwägen sollte, weit zurück. Benjamin Franklin, amerikanischer wird in den meisten anderen Lebenslagen jedoch als Gründervater, der einst von seinem verzweifelten unumstösslich betrachtet. Seit zwei Jahrzehnten häu- Neffen um Rat für oder wider das Heiraten gebeten fen sich allerdings Indizien, dass dies ein Irrglaube wurde, riet Folgendes: ist. Von dieser Evidenz, und was sie uns zeigt, berich- «Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und tet dieser Artikel. contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf Die zentrale Logik dabei ist so einfach, dass sie einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei nahezu banal scheint: Es gibt keine optimale Ent- Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die scheidungsmethode für alle Situationen. Die Frage, manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, wel- ob eine Entscheidungsstrategie gut oder schlecht ist, che Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in kann immer nur im Kontext ihrer Anwendung beant- der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu wortet werden. Diese simple Erkenntnis führt jedoch eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –, dazu, dass wir klassische Vorstellungen rationalen und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden Entscheidens grundlegend überarbeiten müssen.
6 T H E M A Weniger ist mehr Um diese «ökologische Rationalität» (Goldstein, D. G./ Gigerenzer, G. 2002) zu veranschaulichen, beginnen wir mit einer einfachen Frage: Welche Stadt hat mehr Einwohner, Milwaukee oder Detroit? Diese Frage w urde amerikanischen und deutschen Studierenden gestellt. Die amerikanischen Studierenden gaben zu 60% die richtige Antwort: Detroit. Verblüffend war jedoch, dass die Deutschen, die wesentlich weniger über die beiden Städte wussten (die meisten hatten noch nie von Milwaukee gehört), zu 92% die richtige Antwort gaben (Goldstein et al. 2002)! Wie kann we- niger Wissen zu einem besseren Ergebnis führen? Die Antwort liegt darin, dass nicht alle Informati- onen gleich gut sind. Die Deutschen verwendeten eine einfache Faustregel, im Fachjargon Heuristik genannt: Erkennst du den Namen der einen Stadt und nicht den der anderen, gehe davon aus, dass diese Stadt grösser ist. Die amerikanischen Studierenden konnten diese Faustregel nicht anwenden. Sie kannten beide Städte und wussten einiges über sie. Die vielen Fakten trüb- ten ihr Urteil und hinderten sie d aran, die richtige Antwort zu finden. Wiedererkennung korreliert stark mit Städtegrösse, andere Informationen jedoch weni- ger. Es gibt also Situationen, in denen weniger Infor- mationen zu besseren Entscheidungen führen können. Die zentrale Aufgabe eines ökologisch rationalen Ent- scheidens ist daher die korrekte Klassifikation einer Entscheidungssituation und darauffolgend die Selek- tion der passenden Entscheidungsstrategie. Erkenne die Umwelt Zentral dabei ist die Unterscheidung zwischen quan- tifizierbarem Risiko – wo alle Alternativen, deren Kon- sequenzen und Eintrittswahrscheinlichkeiten genau bekannt sind – und nicht quantifizierbarer Unsicher- heit – bei welcher diese Faktoren nicht bekannt sind. Befindet man sich in einer Situation quantifizierbaren Risikos, kann man sogenannte Optimierungsmodelle verwenden, die versuchen, mit komplexen Methoden das Maximum aus gegebenen Informationen heraus zuholen. Je grösser der Grad der Unsicherheit, desto weniger sollte man jedoch auf Maximierung setzen und anfangen, sich wohl zu überlegen, ob man gewisse Informationen überhaupt in die Entscheidung mit ein- fliessen lassen sollte. Bei extremer Unsicherheit sollte man sich so aufstellen, dass man auch im Falle von gänzlich unvorhersehbaren Schocks weiterhin hand- lungsfähig bleibt (siehe Abb. 1, Andrew Lo 2010). Risiko: Das System ist probabilistisch, aber alle Wahrscheinlichkeiten sind stabil und bekannt. Hier kann man statistische und Optimierungsmodelle ver- wenden. Ein Beispiel sind Glücksspiele wie Würfeln oder Roulette.
T H E M A 7 Vollständig reduzierbare Unsicherheit: Exakte Intuition und Unsicherheitsmanagement Wahrscheinlichkeiten sind nicht bekannt, aber das Überraschenderweise sind Menschen gar nicht System ist stabil, d. h., mit weiterer Datensammlung schlecht in genau dieser Komplexitätsreduktion im kann die Unsicherheit vollständig zur obigen Casino- Angesicht von Unsicherheit. Heuristiken sind effek- Situation reduziert werden. Beispiele sind hochkom- tive Methoden zur Unsicherheitsreduktion dadurch, plexe / hoch standardisierte Produktionsprozesse dass sie Informationen ignorieren und sich auf das oder auch Aggregatmodelle, mit welchen Lebensver- Wesentliche konzentrieren. Wir wissen heute eben- sicherungen arbeiten. falls, dass unsere Intuition stark auf diesen Heuris Teilweise reduzierbare Unsicherheit: Kausale tiken aufbaut. So konnten Sie im obigen Beispiel viel- Modelle bestehen nur für Teile des Systems. Zum Bei- leicht nicht genau sagen, warum sie Detroit gewählt spiel kann es zu unvorhersehbaren Zustandsverände- haben, aber es schien richtig. rungen kommen. Ein Beispiel ist das Wetter – unsere Intuition ist gefühltes Wissen, das rasch im Be- kurzfristigen Modelle liefern gute Vorhersagen und wusstsein auftaucht und dessen tiefere Gründe uns langfristige Klimamodelle können grobe Trends ver- nicht bewusst sind, das aber stark genug ist, dass wir lässlich widerspiegeln. Aber deren Interaktion ist d anach handeln möchten. Auch viele Manager und noch nicht verstanden. Auch der internationale Bör- Managerinnen sind sich intuitiv bewusst, dass sie sich senmarkt fällt in diese Kategorie. meistens in Situationen fundamentaler oder nur teil- Fundamentale Unsicherheit: Es gibt kein weise reduzierbarer Unsicherheit befinden, und las- k ausales Modell (oder zu viele, nicht differenzierbare sen sich von den ihrer Intuition zugrunde liegenden kausale Modelle) der Umwelt, welches eine gute Vor- Heuristiken leiten. In anonymen Umfragen unter Ma- hersage ermöglicht. Hiermit beschäftigen sich wissen nagern und Managerinnen deutscher DAX-Unterneh- schaftliche und künstlerische Prozesse der Theorie- men im Rahmen unserer Beratungstätigkeiten gaben bildung und Falsifikation. viele zu, dass sie in etwa der Hälfte ihrer wichtigen Entscheidungen auf ihre Intuition hören. Vor allem ein ungutes Bauchgefühl löst starke Besorgnis aus Weniger Informationen können zu und führt oft zu einer genauen Prüfung der Lage. besseren Entscheidungen führen. Wann kann ich meiner Intuition vertrauen? Obwohl Intuition auf einfachen Heuristiken basiert, Abbildung 1 zeigt, welche Strategien in den unter- macht sie sich auch komplexe Informationsverarbei- schiedlichen Situationen Anwendung finden. Das tungsprozesse wie die Mustererkennung zunutze. Ein Schlagwort hier ist Unsicherheitsmanagement, zu Beispiel aus der Evolution ist das menschliche Wie- betrachten als eine übergeordnete Klasse des Risiko- dererkennungsgedächtnis. Aber komplexe Informa- managements. Unsicherheit sollte soweit wie möglich tionsverarbeitung basiert oft auch auf langjähriger reduziert werden (z. B. über das Sammeln von Daten Erfahrung. In der Medizin spiegelt sich Erfahrung im oder Recherchieren guter kausaler Modelle), dann je- sogenannten «klinischen Blick» wider, welcher auf doch muss sie anerkannt und gemanagt werden (z. B. unterbewusster Mustererkennung beruht. So zeigte über die Vereinfachung von Modellen oder die Ent- eine Studie in der Notaufnahme der Uniklinik Basel, wicklung robuster Strukturen). dass die subjektive Einschätzung von Notärzt/innen, Abb. 1
8 ob ein Patient, eine Patientin «krank aussieht» oder Expertise effektiv entwickeln und identifizieren nicht, das aussagekräftigste Einzelmerkmal ist, um Wir wissen nun, dass Intuition auf einfachen Heuris- das Risiko eines Patienten mit nichtspezifischen tiken beruht, dass diese Heuristiken effektive Stra- B eschwerden vorauszusagen ( Jenny, M. A. / Hertwig, tegien zum Umgang mit Unsicherheit sind und dass R. /Ackermann, S. / Messmer, A. S. / Nickel, Ch. H. /Bin- eine gute Intuition und gute Heuristiken jahrelanger gisser, R. 2015). Erfahrung und Auseinandersetzung mit einem Sach- Um eine gute Intuition entwickeln zu können, verhalt in einer guten Lernumwelt bedürfen. Eine müssen jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein. offensichtliche Methode, um Expertise in einer Or- Zum einen erfordert eine gute Intuition langjährige ganisation zu entwickeln, ist also die Verbesserung Erfahrung mit dem Sachverhalt, um den es geht. Man der Lernumwelt (Ihrer eigenen wie auch der von Mit- redet oft von 10 Jahren oder 10 000 Stunden Erfah- arbeitenden). Gibt es Möglichkeiten, diesen regel- rung, obwohl es hier grosse interindividuelle Unter- mässig und zeitnah Feedback zu ihren Entscheidun- schiede gibt (Ericsson, K. A . / Krampe, R. T. / Tesch- gen zu geben? Ist dieses Feedback symmetrisch, d. h., Romer, C. 1993). Wichtig ist jedoch, dass es der wird es sowohl bei Erfolg als auch Misserfolg gege- Entscheidungsperson möglich ist, herauszufinden, ben? Vor allem in höheren Positionen besteht oft Ge- ob eine momentan angewandte Entscheidungsregel fahr, dass sich eine fehlgebildete Intuition entw ickelt, da man seltener mit negativem Feedback konfron- tiert wird. In höheren Positionen kann Intuition zulassen sich eine fehlgebildete Intuition Mit der Identifikation und Entwicklung von Expertise entwickeln. ist es jedoch leider nicht getan. Man muss in einer Or- ganisationskultur sein, die Intuition auch zulässt. Obwohl gute Intuition auch die komplexesten Re- auch wirklich bessere Entscheidungen zum Ergebnis chenmodelle schlagen kann, ist sie im geschäftlichen hat. Dies führt zum zweiten entscheidenden Punkt: der Kontext oft tabuisiert. Der Grund ist genau der zu- Lernumwelt. Nur in einer effektiven Lernumwelt, die letzt erwähnte: Wir haben meist keinen Einblick in sowohl positive als auch negative Rückmeldung zu- die unserer Intuition zugrunde liegenden Informati- lässt, in der die Rückmeldungen mit wenig Zeitver onsverarbeitungsprozesse und können diese nicht zögerung erfolgen und in der Neues ausprobiert wer- verbalisieren. Dies macht es in einem geschäftlichen den kann, kann sich Intuition optimal entwickeln und Kontext schwer, Entscheidungen zu erklären oder zu zu wirklicher Expertise führen (Hogarth, R. M. 2001). rechtfertigen.
T H E M A 9 Erst in einer konstruktiven Kommunikations- Fazit und Fehlerkultur kann Intuition ihr Potenzial ent Lassen Sie uns die Kernthesen nochmals zusammen- falten. Eine konstruktive Fehlerkultur ist eine, in der fassen: Fehler als Lernmöglichkeit wahrgenommen werden • Bevor Sie sich entscheiden, überlegen Sie sich, und nicht auf Individuen reduziert, sondern aus or- welche Art der Entscheidung Sie gerade treffen ganisatorischer Perspektive betrachtet werden. Eine (müssen): ist es quantifizierbares Risiko oder einfache und effektive Methode, Intuition in geregel- nicht-quantifizierbare Unsicherheit? ten Massen zuzulassen, ist die Einführung von soge- • Reduzieren Sie identifizierte Unsicherheit soweit nannten «Gefängnisfreikarten». Als Expertinnen es geht durch Datensammlung und zu Nutze und Experten in ihrem Gebiet betrachtete Individuen m achen von vorhandener Expertise. Verbleibende in einer Organisation oder einem Team dürfen diese Unsicherheit muss anerkannt und gemanagt Karten einsetzen, wenn sie eine intuitive Entschei- werden, z. B. durch robuste Strategien, Systeme dung fällen und als solche deklarieren. D. h., diese und Prozesse. Personen geben offen zu: «Ich kann nicht genau sagen • Vermeiden sie «Scheinquantifizierung» (Un warum, aber ich habe ein schlechtes / gutes Gefühl sicherheit durch Zahlen verschleiern)! bei dieser Sache.» Falls eine solche Entscheidung • Evaluieren Sie Ihre eigene und die Lernumwelt dann nicht zum gewünschten Ergebnis führt, muss Ihrer Mitarbeitenden auf regelmässigen, zeit sich die Person nicht mit Gründen rechtfertigen, son- nahen, und symmetrischen Feedback und versuchen dern kann ihre «Gefängnisfreikarte» einsetzen. Die Sie nachzubessern, wo Sie können. Einführung solcher Karten liefert auch Daten über • Entfalten Sie durch eine konstruktive Fehler die Verteilung konstruktiver Fehlerkulturen in der kultur das Potential Ihrer Intuition und das Ihrer Organisation. Wenn in einem bestimmten Team auch Mitarbeitenden. Jahre nach der Einführung noch immer keine Frei Diese Schritte werden Ihnen helfen, bessere Entschei- karten eingelöst wurden, kann dies ein Indiz einer dungen zu treffen, besser aus Fehlern zu lernen, und destruktiven Fehlerkultur sein. Expertise in Ihrer Organisation oder Ihrem Team ef- fektiv auszubilden und nutzbar zu machen. Niklas Keller ist geschäftsführender Martin Capelle hat über 20 Jahre Gesellschafter und Gründungs Erfahrung als Verhaltenstrainer mitglied der Simply Rational GmbH und Coach, erst in einem weltweit sowie wissenschaftlicher Mit agierenden Trainingsunternehmen arbeiter der Charité-Universitäts- und seit 2011 als Freiberufler. medizin und assoziierter Wissen- Davor kann er auf eine 6-jährige schaftler am Max-Planck-Institut Karriere als Marineoffizier auf für Bildungsforschung in Berlin. einem U-Boot der Bundeswehr zu- niklas.keller@simplyrational.de rückblicken. mc@bitraining.de LITERATUR • Hogarth, R. M. (2001): Educating intuition. Chicago: University • Ericsson, K. A. / Krampe, R. T. / Tesch-Romer, C. (1993): The Role of of Chicago Press. Deliberate Practice in the Acquisition of Expert Performance. • Jenny, M. A. / Hertwig, R. / Ackermann, S. / Messmer, A. S. / Nickel, Psychological Review, Vol. 100. No. 3, 363–406. Ch. H. / Bingisser, R. (2015): Are morbidity and mortality predict • Gigerenzer, G. / Selten, R. (Hrsg.). (2001): Bounded rationality. able in patients presenting with nonspecific complaints using The adaptive toolbox. Cambridge, MA: MIT Press. routine variables? In: Academic Emergency Medicine, 22:1155– • Goldstein, D. G. / Gigerenzer, G. (2002): Models of ecological ratio- 1163. nality: The recognition heuristic. In: Psychological Review. 109(1): • Lo, A. (MIT Sloan School) / Mueller, M. (2010): Warning: Physics 75–90. doi:10.1037/0033-295X.109.1.75. PMID 11863 042, Envy May be Hazardous to Your Wealth! In: Journal of Investment 1 January. Management, Volume 8, Number 2, Second Quarter.
H 10 T H E M A «Heirate eine Wahl- möglichkeit!» Die Philosophin Ruth Chang zu Coaching und Holzfällen Es geht bei Entscheidungen nicht immer darum, die bessere oder schlechtere Option zu wählen, sondern vielmehr, sich zu einem Wert zu verpflichten. Damit werden wir zu einzigartigen Individuen. Sandro Küng in Ihrem Leben führt, auch schwierig ist. Wo sollen Sie wohnen? Wen soll ich heiraten? Soll ich Kinder be- Wozu brauchen wir eine philosophische Betrachtung kommen? Aber eine Entscheidung ist natürlich nicht über Entscheidungen? deshalb schwierig, weil sie gross ist. Das sehen wir Wenn Sie nicht wissen, was Entscheidungen sind, wie sofort, wenn wir uns einige einfache grosse Entschei- wollen Sie das Phänomen dann psychologisch oder dungen ansehen. Sie gewinnen im Lotto. Glück- neurowissenschaftlich untersuchen? Wie wollen Sie wunsch! Die Entscheidung, Ihren Lottoschein einzu- als Coach jemandem einen guten Ratschlag geben? lösen, ist eine grosse Entscheidung, denn Ihr Leben Meiner Meinung nach wird im Grossteil der populär- wird danach nicht mehr das Gleiche sein. Aber die wissenschaftlichen Literatur über Entscheidung der Entscheidung selbst ist denkbar einfach: Es ist besser, Karren vor das Pferd gespannt. Leute erzählen einem den Schein einzulösen, als dies nicht zu tun. voreilig, was Menschen in schwierigen Entschei- dungssituationen tun oder tun sollten, ohne dass sie Was ist das zweite Missverständnis? eine klare Vorstellung vom Wesen schwieriger Ent- Das zweite Missverständnis lautet, dass eine Ent- scheidungen haben. Da kann die Philosophie hilfreich scheidung aufgrund unserer mangelnden Fähigkeiten sein, denn sie untersucht das Wesen der Dinge. schwierig ist, denn wir wissen nicht, was bei den Al- ternativen am Ende herauskommt. Hätten wir nur Was sind gängige Missverständnisse in Bezug eine Glaskugel wie die Wahrsager, dann wäre die Ent- auf schwierige Entscheidungen? scheidung leicht. Aber selbst ein allwissender Gott Das erste Missverständnis lautet, dass jede grosse steht vor schwierigen Entscheidungen. Selbst ein all- Entscheidung, die zu einer erheblichen Veränderung wissender Gott, der genau weiss, wie Ihre beiden
T H E M A 11 möglichen Zukünfte aussehen – in der einen heiraten dann verwenden wir unsere Zeit und Energie darauf, Sie Ned und in der anderen Ted –, könnte feststellen, herauszufinden, welche dieser drei Beziehungen vor- dass es sich um eine schwierige Entscheidung han- liegt. Es gibt aber nicht nur drei Arten, wie die Alter- delt. Das liegt daran, dass die beiden zukünftigen nativen zueinander in Beziehung stehen können. L ebenswege sich im Wert sehr unterscheiden. Sie «Ebenbürtig» zu sein ist eine vierte, einzigartige Art h aben einen so unterschiedlichen Wert, dass keiner der Beziehung. Ich glaube, dass die Alternativen bei besser als der andere ist. Es wäre aber auch falsch, schwierigen Entscheidungen ebenbürtig sind. Zu- daraus zu schliessen, dass sie gleich gut sind und man gleich kann man sie vergleichen – es ist also nicht so, eine Münze werfen könnte. So kommen wir zu einer dass sie gar nicht miteinander vergleichbar wären. radikal anderen Betrachtungsweise von schwierigen Und das macht die Entscheidung schwierig. Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind nicht deshalb schwierig, weil es uns an Informationen Warum wird eine Entscheidung durch die Eben fehlt, sondern aufgrund der Art, wie die Alternativen bürtigkeit schwierig? zueinander in Beziehung stehen. Nehmen wir an, dass Sie als Coach arbeiten. Sie könn- ten aber auch Holzfäller sein. Diese beiden Laufbah- Wie sollten wir über schwierige Entscheidungen nen haben einen sehr unterschiedlichen Wert. Wenn nachdenken? Sie sie aber richtig konkretisieren, könnten sie im sel- Das Problem ist, dass wir annehmen, es gebe bei einer ben Wertebereich liegen. Nehmen Sie zunächst ein- schwierigen Entscheidung nur drei Arten der Bezie- mal an, es gäbe eine Holzfällerkarriere, in der Sie hung zwischen den Alternativen: Eine muss besser mickrige 5000 Dollar im Jahr verdienen, die ganze sein oder schlechter sein oder sie sind gleich gut. Und Zeit Blasen vom pausenlosen Holzhacken bekommen,
12 T H E M A keine Zeit haben, mit Ihren Kindern zu spielen oder men Werte?», würden Sie wahrscheinlich etwas in der Freundschaften zu pflegen usw. Diese Holzfällerlauf- Art sagen wie «Gott» oder «das Gute» oder «was ich bahn unterscheidet sich qualitativ stark von der typi- mir wünsche oder was andere sich wünschen». Sie schen Laufbahn eines Coaches. Aber sie liegt nicht im werden bemerken, dass all diese Antworten sich auf selben Wertebereich wie eine typische Coach-Lauf- etwas draussen in der Welt beziehen. Wenn Sie Ihre bahn – denn was eine Karriere betrifft, ist sie eine Wünsche genauer betrachten, werden Sie merken, lausige Option. Die beiden Alternativen befinden sich dass Sie diese nicht unter Kontrolle haben, sondern also nicht im selben Wertebereich, deshalb sind sie dass es Zustände sind, die Ihnen zustossen. Wenn wir nicht ebenbürtig. Die Coaching-Karriere ist besser. über eine schwierige Entscheidung nachdenken, blicken wir normalerweise nach aussen, um die Eindeutig … Wertequelle zu finden und damit Gründe, die wir für Aber stellen wir uns nun eine andere Holzfällerlauf- eine bestimmte Entscheidung haben. Diese Gründe bahn vor – eine, in der Sie viel Geld verdienen, es ge- sind manchmal ebenbürtig. Wenn sie ebenbürtig niessen, draussen zu sein, angemessene Arbeits sind, dann haben wir die Macht, etwas gänzlich an- zeiten haben, im Einklang mit der Natur leben usw. deres zu tun als das, was wir in Entscheidungssitua- Diese Art der Holzfällerkarriere könnte im selben tion üblicherweise tun: Wir können uns einer Alter- Wertebereich wie die Coaching-Karriere liegen. Diese native verpflichten und dadurch einen neuen Grund beiden spezifischen Karrieren könnten also eben erschaffen, den wir vorher nicht zur Wahl hatten. bürtig sein. Ich glaube, dass schwierige Entscheidun- gen – die, die uns interessieren – Entscheidungen zwi- Können Sie noch genauer erklären, wie man sich schen zwei qualitativ sehr unterschiedlichen Alter- verpflichtet? nativen sind, die sich nichtsdestotrotz im selben all- Die Gründe, die durch eine Verpflichtung entstehen, gemeinen Wertebereich befinden. hängen nicht von den Erwartungen einer anderen Person ab. Verpflichtungen gehen Sie ganz allein ein, Wie können wir eine schwierige Entscheidung treffen? und Sie setzen Ihre Handlungsmacht dafür ein. Wir Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die nutzen die Fähigkeit viel zu wenig, uns zu etwas zu grosse philosophische Frage stellen: Woher kommen verpflichten und dadurch Gründe für unser Handeln Werte? Wenn man Sie fragen würde: «Woher stam- zu erschaffen.
T H E M A 13 Können Sie uns ein Beispiel dafür geben, wie das mit Wie können wir in der Politik Verpf lichtungen der Verpflichtung funktioniert? eingehen? Das intuitivste Beispiel einer Verpflichtung finden wir Obama hat diese Begrifflichkeiten benutzt, als er das in Liebesbeziehungen. Sind Sie mit jemandem liiert? Land aufforderte, über folgende Frage nachzudenken: Sollen wir Gesetze verabschieden, die unseren Schutz Ja. vor dem Terrorismus erhöhen, oder sollen wir als li- Okay. Dann nehmen wir einmal an, bei Ihrer Bezie- berale, offene Gesellschaft weitermachen? Er hat hung handelt es sich um eine feste Beziehung. Sie und mehrfach gesagt, dass die Frage letztendlich lautet: Ihre Partnerin setzen ihre jeweilige Handlungsmacht Welche Art von Land wollen wir sein? Ich würde sei- für die Bedürfnisse und Interessen des anderen ein. nen Hinweis ergänzen: Hinter welcher zukünftigen Denken Sie nun einmal darüber nach, wie es dazu ge- Art von Land können wir stehen? Können wir dahin- kommen ist. Sie hatten vermutlich ein paar Verab terstehen, ein Land zu werden, das Sicherheit höher redungen, haben festgestellt, dass Sie sich mögen, schätzt als Offenheit? Wenn wir uns die Zahlen der dass die Chemie stimmt usw. Nehmen Sie nun an, Menschen anschauen, die sich Trumps Politik im dass Ihre Verabredung Ihnen beim dritten Date zwi- ganzen Land widersetzen, scheint die Antwort «nein» schen ein paar Gläsern Wein sagt, dass sie Ihre Niere zu lauten. braucht, weil ihre eigene versagt und Sie ein passen- der Spender sind. Sie würden sich sofort vereinnahmt Sie sagen, dass schwierige Entscheidungen eine fühlen und sich fragen, ob Ihr Getränk vergiftet ist w undervolle Möglichkeit sind. Warum? und Sie morgen in einer Badewanne voller Blut und Versuchen Sie sich ein Leben ohne Ebenbürtigkeit mit einer Niere weniger aufwachen werden. Ihre Re- vorzustellen. Jede Entscheidung hätte dann eine aktion wäre aber ganz anders, wenn jemand, dem Sie b este Antwort oder gleich gute Antworten und Sie sich verpflichtet fühlen – Ihr Lebenspartner, Kind könnten eine Münze werfen. Wenn es immer eine oder Elternteil –, Sie nach demselben Organ fragen beste Antwort gibt, dann sind Sie ein Sklave der Ver- würde. Ihre Verpflichtung gegenüber Ihrer Partnerin nunft und müssen die beste Option wählen. Ihre Auf- hat Gründe geschaffen, die Sie sonst nicht hätten. Die gabe als rationaler Akteur wäre es dann, unaufhör- meisten von uns verstehen den Unterschied zwischen lich danach zu forschen, für welche Handlung es die einer festen und einer ungebundenen Beziehung. besten Gründe gibt. Was für eine furchtbare Vorstel- lung des menschlichen Lebens! Es wäre das Leben ei- ner Rechenmaschine, 24 Stunden am Tag, sieben Tage Wir nutzen die Fähigkeit die Woche. Schwierige Entscheidungen sind die viel zu wenig, uns zu etwas R äume, in denen wir unsere Macht, eigene Gründe zu erschaffen, ausüben können und den Dingen durch zu verpflichten. unsere aktive Verpflichtung Wert verleihen. Indem wir uns selbst Gründe geben, eine Sache einer ande- Wie erschaffen wir Gründe für uns selbst? ren vorzuziehen, sind wir selbst so und so und nicht Sie können einen Wert nicht einfach aus nichts her- anders, und damit übernehmen wir die Kontrolle über aus erschaffen, indem Sie mit den Fingern schnippen. unser Leben. Sie müssen den Gründen folgen, die Ihnen von der Welt gegeben werden. Sie haben die Macht, einen neu- en Wert für sich selbst zu erschaffen und sich zu der Person zu machen, die den besten Grund hat, ein Coach oder ein Holzfäller zu sein. Ebenso wie wir un- seren Lieben Wert verleihen, können wir einer Coa- ching-Karriere Wert verleihen, nämlich indem wir uns ihr verpflichten. Ein Motto für meine Sichtweise lautet: Heirate eine Wahlmöglichkeit! Dieses Einste- hen für etwas erlaubt es uns, zu Autoren und Auto- rinnen unseres eigenen Lebens zu werden. Viele Men- schen in den USA haben sich in der letzten Zeit dem Widerstand gegen Trumps Politik verpflichtet, und Ruth Chang ist Professorin der das ist neu für sie. Und damit machen sie sich selbst Philosophie an der Rutgers University. Ihr TED-Talk «How to Make Hard zu anderen Menschen, als sie es vorher waren, näm- Choices» wurde über 4,5 Millionen lich zu politisch engagierten Menschen. Mal angeschaut.
B 14 T H E M A Von Brüterinnen und Schnell- entscheidern Entscheidungstypen im Vergleich Maja Storch vom Institut für Selbstmanage- ment und Motivation Zürich hat eine Typologie von Entscheidungstypen entwickelt, die in der Beratung als reflexionsstimulierende Inter vention genutzt werden kann. Annette M. Diedrichs und Maja Storch Bevor wir schauen, wie Frau Zweifel geholfen wer- den kann, möchten wir zunächst einen Ausflug in die Im Institut für Selbstmanagement und Motivation Neurowissenschaften machen und die Rolle des emo- Zürich (ISMZ) beraten wir immer wieder Menschen, tionalen Erfahrungsgedächtnisses bei Entscheidun- die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen. Sie gen aller Art beleuchten. Die Basis von Entscheidun- möchten entweder in ihrem Privatleben oder in ihrer gen sind Bewertungen, und diese können wir gemäss beruflichen Laufbahn etwas Grundlegendes ändern. dem amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman Beispielsweise kommt Frau Zweifel (Name geän- (2012) anhand von zwei Systemen in unserem Gehirn dert) ins Führungscoaching und berichtet von grosser vornehmen: erstens mit System 1 bzw. dem Verstand Ungerechtigkeit in ihrem Job als Personalleiterin und zweitens mit System 2 bzw. dem «emotionalen eines Pharmaunternehmens. Sie arbeitet zu viel, wird Erfahrungsgedächtnis». Diese beiden Bewertungs- für ihren Einsatz weder entsprechend bezahlt noch systeme funktionieren unterschiedlich. Der Verstand anerkannt, und Spass macht ihr die Tätigkeit auch arbeitet langsam und gründlich nach logischen Ana- schon lange nicht mehr. Seit einigen Monaten trägt lysen und seine Bewertungen können mit Argumen- sie sich mit dem Gedanken zu kündigen. Die Argu- ten sprachlich belegt werden. Zum Beispiel sagt ein mente dafür und dagegen wägt sie regelmässig aufs Marketingleiter: «Die Analyse der Verkaufszahlen er- Neue gegeneinander ab. Sie erhofft sich vom Coa- gibt, dass das neue Produkt den Umsatz nicht um die ching Hilfe für das Treffen einer Entscheidung. erwarteten 5% steigern konnte.» Das emotionale Er-
T H E M A 15 fahrungsgedächtnis reagiert hingegen schnell, liefert dass ein Befragen des Verstandes und etwas mehr Bewertungen innerhalb von 200 Millisekunden ohne Zeit zum Überlegen doch besser gewesen wären als Zutun des Bewusstseins und generiert diffuse Gefühle. die Blitzentscheidung. Typ 4, der Zerrissene, hat ei- Diese nennt der amerikanische Neurowissenschaft- gentlich einen guten Zugang zu seinen somatischen ler Antonio Damasio (1994) somatische Marker. Man Markern, nimmt diese aber nicht ernst. Er sammelt kann sie sich als Markierungen im Körper aufgrund rationale Kriterien, entscheidet auf deren Grundlage von Gefühlen und körperlichen Empfindungen vor- und ärgert sich hinterher, nicht auf das eigene Bauch- stellen. Somatische Marker generieren nur zwei Ar- gefühl gehört zu haben. Dieser letzte Typ hat häufig ten von Bewertungen: «gut für mich, wieder auf früher oder später eine Sinnkrise, da ihn das Hin und suchen» oder «schlecht für mich, in Zukunft meiden». Her im eigenen Leben stark beansprucht. Die Basis der Bewertung liefert der unbewusste Ver- Auch Frau Zweifel, die wir anfangs beschrieben gleich mit früheren Erfahrungen, welche entweder haben, lässt sich Typ 4 zuordnen, da sie die negativen positiv oder negativ im emotionalen Erfahrungs somatischen Marker bezüglich ihres Jobs immer wie- gedächtnis abgespeichert wurden. Der Marketing der wegschiebt und sich selbst anhand von Verstan- leiter kommt damit zu einer Aussage wie: «Ich kann desüberlegungen zum Durchhalten zwingt. Als sie es nicht genau belegen, aber in Bezug auf das neue ins Coaching kommt, schläft sie bereits schlecht, grü- Produkt habe ich ein ungutes Gefühl.» belt nächtens und klagt über verschiedene körper liche Symptome. Frau Zweifel macht eine erste spon- tane Einschätzung ihrer somatischen Marker zu Die Basis von Entscheidungen ihrem Job anhand der Affektbilanz. Dieses Tool sind Bewertungen. haben wir im ISMZ entwickelt, um somatische Marker zu messen und in Sprache zu fassen. Aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen in der Beratung hat Maja Storch (2005) einen Fragebogen entwickelt, den sie als reflexionsstimulierende Inter- vention verstanden wissen will und mit dessen Hilfe sich Personen hinsichtlich ihres Entscheidungs verhaltens einschätzen lassen. Entsprechend unter- scheiden wir im ISMZ vier Typen von Entscheidern: Typ 1, die langsame Brüterin bzw. die Ausgeglichene, setzt beide Bewertungssysteme bei seinen Entschei- dungen ein und koordiniert dadurch das Ergebnis ih- res Verstandes mit dem ihrer somatischen Marker – also mit den Signalen der Körperebene. Falls beide Systeme zur selben Bewertung der Situation kommen, dann wird sofort entschieden. Besteht hingegen eine Diskrepanz in der Bewertung, dann wird so lange nach Lösungen gesucht, bis beide Systeme überein- stimmen. Typ 2, den wir etwas plakativ den Körper- losen nennen, trifft Entscheidungen mit dem Ver- stand, da er nur diesen zur Verfügung hat. Somatische Marker werden nicht wahrgenommen. Dieser Ent- scheidungstyp hat grosse Probleme damit, herauszu- finden, was er selbst eigentlich wirklich will, denn der Zugang zu seinem Selbst, dem Sitz all seiner Le- benserfahrung, ist ihm versperrt. Dadurch entsteht oft eine Orientierung an äusseren Normen, die unter Umständen ins Burnout führen können. Typ 3, die Schnellentscheiderin, fackelt nicht lange rum, son- dern entscheidet schnell dank gutem Zugang zu ihren somatischen Markern sozusagen aus dem Bauch her- aus. Häufig sind andere von dieser Entscheidungs- Abb. 6–1: Affektbilanz mit zwei Skalen, freude begeistert. Manchmal jedoch zeigt das Ergebnis, Diedrichs et al. (2012), S. 60
16 T H E M A Frau Zweifels spontane Einschätzung zeigt ein mehrere Gespräche geführt und ihre Unzufrieden- hohes Mass an negativen und nur einen geringen An- heit zum Ausdruck gebracht. Es geht ihr besser, weil teil an positiven somatischen Markern bezüglich ih- sie aktiv geworden ist, aber an ihrer Situation ändert rer derzeitigen Lage im Job. Wir besprechen, was die sich wenig. Frau Zweifel denkt nach wie vor daran, zu Gründe dafür sein könnten und wie sich ihre Gefühls- kündigen. Sie möchte auch diese Option anhand ihrer lage ändern müsste, damit sie sich in ihrem Job wohl- somatischen Marker prüfen. Die Argumente ihres er fühlt. Gemeinsam überlegen wir mehrere Mass- Verstandes kennt sie ja schon. Überraschenderweise hat sie viel mehr positive somatische Marker bezüg- lich einer Kündigung als negative, und dieses Ergeb- Das emotionale Erfahrungs nis widerspricht der Bewertung, die sie bisher auf- gedächtnis reagiert schnell. grund ihres Verstandes vorgenommen hatte. Dieser Zielkonflikt zwischen Verstand und emotionalem Erfahrungsgedächtnis muss jetzt bearbeitet werden. nahmen, wie beispielsweise ein Gespräch mit dem In mehreren Feedbackschleifen sucht Frau Zweifel Chef für eine Einschränkung ihrer Projekttätigkeit zu nach Lösungen, die beide Systeme in Einklang brin- führen. Frau Zweifel nimmt sich einiges für die gen könnten. Dabei fällt ihr ein, dass ihr ein früherer nächste Woche vor und sieht plötzlich mehr persön- Kollege vor Kurzem einen Teilzeitjob als Personal lichen Handlungsspielraum. Wir treffen uns nach an- verantwortliche in seinem Start-up-Unternehmen gemessener Zeit wieder. In der Zwischenzeit hat sie angeboten hat. Sie beschliesst, diesen Kontakt zu ak-
T H E M A 17 Annette M. Diedrichs ist Diplom- Psychologin, zertifizierte ZRM®- Trainerin und Ausbildungstrainerin und klientenzentrierte Gesprächs psychotherapeutin nach Carl Rogers. Sie war in leitender Funktion im internationalen Personalmanage- ment tätig und wirkt heute selbst ständig als Personalentwicklerin, Trainerin, Beraterin und Coach. Freie Mitarbeit u. a. am ISMZ in Zürich. www.reflaction.ch annette.diedrichs@ismz.ch Dr. Maja Storch ist Diplom-Psycho- login, Psychodramatherapeutin, analytische Psychologin nach C. G. Jung, Mitentwicklerin des Zürcher Ressourcen Modells ZRM®, Inhaberin und wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich ISMZ, eines Spin-off der Universität Zürich, Buchautorin tivieren und sich generell nach einer anderen Stelle und Publizistin. umzusehen, denn eine Kündigung ohne einen neuen www.ismz.ch Job kann sie sich nicht vorstellen. Frau Zweifel lernt maja.storch@ismz.ch im Coaching unter anderem, ihre positiven und nega- tiven somatischen Marker wahrzunehmen, und es gelingt ihr zunehmend, dieses System zusammen mit ihrem Verstand zu berücksichtigen. Sie wird sicherer im Umgang mit ihren Bedürfnissen und trifft am LITERATUR Ende der Beratungssequenz eine für sie kluge Ent- • Damásio, A. R. (1994): Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken scheidung. und das menschliche Gehirn. München: List-Verlag. Mithilfe der Einschätzung ihres Entscheidungs- • Diedrichs, A. / Krüsi, D. / Storch, M. (2012): Durchstarten mit dem typs und der Arbeit mit der Affektbilanz konnte Frau neuen Team: Aufbau einer ressourcenorientierten Zusammen- arbeit mit Verstand und Unbewusstem. Bern: Huber Verlag. Zweifel sehr gut dabei unterstützt werden, eine ent- • Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. scheidende Wende in ihrem Leben herbeizuführen. München: Siedler Verlag. Wir machen in der Beratung immer wieder die Erfah- • Storch, M. / Krause, F. (2014): Selbstmanagement – ressourcen- orientiert: Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit rung, dass unsere Klientinnen und Klienten das Be- dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®), 5. Auflage. Bern: rücksichtigen ihrer somatischen Marker als sehr hilf- H uber Verlag. reiche zusätzliche Informationsquelle für ihre • Storch, M. (2005): Das Geheimnis kluger Entscheidungen. München: Goldmann Verlag. persönliche Entwicklung empfinden.
M 18 T H E M A Machen Sie, was Sie wollen Diese Einsichten helfen Ihnen dabei Einfache Voraussetzungen helfen uns, gute Entscheidungen zu treffen. Wichtig dabei ist die Einsicht, dass wir über einen Gestaltungsspielraum verfügen und dass wir uns bei kollektiven Entscheidungen gemeinsam darüber austauschen können. Falko E. P. Wilms dieser Sichtweise ausreichend gut entspricht. Daher ist eine Quelle der von mir erlebten Konflikte in der Selbst- Die erste grundlegende Hilfe beim Entscheiden liegt täuschung zu finden, meine Wirklichkeit sei die einzig in der Einsicht über die Freiheit des Menschen, die «wahre» Wirklichkeit. Dass dem nicht so ist, zeigt fol- Viktor Frankl formuliert und die auch dem persischen gende Geschichte: Mystiker al-Rumi (1207–1273) zugeschrieben wird: Zwei Bauersöhne erben eine Kuh und wollen das Zwischen dem wahrgenommenen Reiz und meiner Erbe gerecht miteinander teilen. Die beiden wollen ra- Reaktion darauf liegt ein Freiraum! Das Geschenk des tional handeln und rechnen: 1 Kuh geteilt durch 2 Söhne persönlichen Freiraums zeigt mir, worauf ich mich ergibt genau 0,5 Kuh für jeden. Da sagt der eine: «Lass auch in schwierigen Situationen besinnen kann: auf uns die Kuh schlachten und jeder bekommt die Hälfte. ein (kurzes) Innehalten, indem ich drei meiner Atem- Das ist gerecht.» Darauf der andere: «Vielleicht können züge, so bewusst es mir gerade möglich ist, wahr wir die Kuh kalben lassen, die Kälber und die Milch ver- nehme. Problemlösung heisst auch, sich vom Problem kaufen und den Gewinn aufteilen. Das wäre auch ge- zu lösen. recht.» «Meine L ösung bringt aber sofort etwas ein», meint der erste. «Ja genau, deine Lösung bringt einmal Man kann nicht nicht entscheiden etwas ein. Ich fände es besser, mit der Zeit mehrmals et- Menschen verdichten ihre Erfahrungen zu einer per- was einzunehmen. Da haben wir länger was davon und sönlichen Sicht auf die Welt, die wie ein Wahrnehmungs bekommen auch mehr. Wir müssen lediglich die Kosten filter nur das ins Bewusstsein durchdringen lässt, was für die Lebenshaltung der Kuh vom Gewinn abziehen.»
T H E M A 19 Die zweite hilfreiche Einsicht liegt darin, Wertschöpfung zu dieser Balance führen. Immer geht ergebnisf ixierte und ergebnisoffene Arten der Ent- es dabei um die Übernahme von Verantwortung als scheidungsfindung voneinander zu unterscheiden. Ver-Antwort-ung, also Antwort auf die Frage: «Wie Es gibt viele Möglichkeiten für eine Entscheidung zu- wollen (nicht: können!) Sie mir begründen, was Sie ge- gunsten einer «gerechten» Teilung. Den Brüdern hilft tan haben?» es, in einem ergebnisoffenen direkten Kommunikati- onsprozess eine «für uns jetzt und hier sinnvolle» Entscheidung zu suchen, anstatt mit einer ergebnis- Schalten Sie bewusst Ihren fixierten, mathematisch korrekten Weise die «objek- Autopiloten aus. tiv richtige» Entscheidung zu errechnen. Dabei be- rücksichtigen sie, dass auch das nachweislich korrekt errechnete Optimum einer akzeptierten Interpreta- Vor diesem Hintergrund weise ich meine Klienten tion bedarf: Welche Bedeutung hat «0,5 Kuh»? auf den eingangs zitierten Freiraum hin: «Machen Sie Die dritte hilfreiche Einsicht liegt darin, Vernunft doch, was Sie wollen. Schalten Sie bewusst Ihren Auto und Gemüt miteinander zu versöhnen. Meine Klien- piloten aus. Zwischen den Anforderungen an Sie und tinnen und Klienten verfügen über Führungserfah- Ihrer Reaktion darauf gibt es einen freien Raum. Dort rung und erzielen oft gute Resultate, aber sie können kann eine Begegnung stattfinden mit dem, was Sie in den Weg zu dieser Balance nur schwer finden. Dabei Ihrem Inneren wirklich wollen und nach aussen au- gibt es einfache Werkzeuge, die auch im Kontext von thentisch vertreten können.»
20 T H E M A Quellen der Entscheidungskompetenz Dieses authentische Entscheiden verlangt nur wenig, und – als vierte hilfreiche Einsicht – die Voraus setzungen des guten Entscheidens sind in starkem Masse erlernbar: Mathematische Grundkenntnisse nutzen Bei Entscheidungen aufgrund von Fakten reichen die Grundrechenarten aus, wenn sie angereichert wer- den durch das Rechnen mit Prozentwerten (um Grös- senverhältnisse oder Zinswirkungen zu ermessen) und dem Dreisatz (um proportionale Zusammen hänge zu nutzen). Damit kann ich schon viele erwart- bare Folgen meiner Entscheidungen mit einer ein fachen Tabellenkalkulation ermitteln und später begründet darlegen. Beispiel: Ich notiere in den Spaltenköpfen Getränke und in die Zeilenköpfe schreibe ich Freunde, denen ich G etränke reichen möchte. Dann schätze ich in den Z ellen, wie gut die Freunde die Getränke finden (0 = doof, 1 = geht so, 2 = gut, 3 = toll). In der Spalten summe sehe ich, um wie viel Prozent ein Getränk besser ankommt als andere. Die Gestaltung reflexiver Kommunikationsprozesse kann erlernt werden. Wahrscheinlichkeit verstehen Es ist hilfreich, eine Einstufung von Sachverhalten nach dem Grad der Gewissheit (= Wahrscheinlich- keit) ihres kommenden Eintretens vornehmen zu können. Sind grössere Datenmengen verfügbar, kann ich solche Einstufungen mit mathematischer Fortschreibung ableiten. Auch hier leisten Tabellen- kalkulationen erstaunlich viel. Habe ich keine Da- ten, entwickle ich plausible Schätzungen unter Rückgriff auf meine Expertise, meine begründeten Annahmen, meine Erfahrungen und meine Intuiti- onen. Beispiel: Wahrscheinlichkeiten nutze ich durch Argu mente für meinen Kontostand aufgrund erwarteter Vor fälle am Jahresende. Hierzu erarbeite ich auch Gegenar gumente meiner Erwartungen. Eine Tabellenkalkulation ist auch hierbei hilfreich. Korrelation und Kausalität unterscheiden Den Unterschied zwischen Korrelation und Kausali- tät erkenne ich, indem ich mir klarmache, dass eine Korrelation eine UND-Beziehung ist, hingegen eine Kausalität eine WEIL-Beziehung meint.
T H E M A 21 Beispiel: Ich unterscheide durch begründete Thesen und plausible Argumente, ob ich eine konkrete Situati onsbeschreibung eher als Korrelation oder eher als Kau salität ansehe. Eine beispielhafte Beschreibung wäre: «In letzter Zeit arbeite ich eher abends. Mir fällt auf, dass ich meinen Chef jetzt öfter sehe als früher.» Adler- und Froschperspektive benutzen Meine Problemwahrnehmung ist untrennbar verbun- den mit meiner dabei eingenommenen Perspektive. Mit der Adlerperspektive gelingt mir ein Weitblick, der mir einen groben Überblick über die Einbettung des wahrgenommenen Problems in einen übergeord- neten Gesamtzusammenhang ermöglicht. Mit der Froschperspektive gelingt mir ein Durchblick, der mir Einsichten über konkrete Details schenkt. Mit dem Adlerblick betrachte ich zunächst wesentliche Fakto- ren der Fragestellung in ihrem Zusammenspiel und erarbeite eine grobe Lösungsrichtung. Mit dem Froschblick erkunde ich danach notwendige Detailan- passungen und ermittle dazupassende Ankerwerte. Beispiel: Ich optimiere meinen Schreibtisch. Zunächst ermittle ich seine wesentlichen Funktionen (z. B. Info- Zentrale) und Ziele im Arbeitsalltag (z. B. aktueller Info- Stand). Getrennt davon suche ich konkrete Verbesse rungen (z. B. Bereiche der Tischplatte anders belegen). Prioritäten setzen Das Setzen von Prioritäten gelingt mir, wenn ich Ver- gleichsobjekte anhand des Erfüllens bestimmter Merkmale/Anforderungen bewerte. Ist eine Liste mit den Merkmalen einer guten Lösung /Auftragser füllung erstellt, ordne ich den Handlungsmöglich keiten für jedes Erfüllen eines Merkmals einen Plus- punkt zu. (Aufwändiger ist die Ermittlung der Abweichungsgrade bei den einzelnen Merkmalserfül- lungen.) Die Alternative mit den meisten Punkten (bzw. dem geringsten Abweichungsgrad) bekommt dann meine oberste Priorität. Beispiel: Beim Kauf eines Alltagsobjektes fixiere ich die (gewichteten) Merkmale eines guten Kaufs (z. B. Preisobergrenze, Qualitätsuntergrenze etc.) und die Er kennbarkeit der Merkmalserfüllung (z. B. Preis, Verar beitung etc.). Dann wähle ich 2 oder 3 Stücke aus und notiere für jedes Stück, welche Merkmale es erfüllt. Ab schliessend ermittle ich anhand der (gewichteten) Merkmalspunkte den bestmöglichen Kauf. Eigene Werte beherzigen Meine (Normen und) Werte sind meine grundlegen- den ideellen Vorstellungen, nach denen ich mein Den- ken, Tun und Unterlassen ausrichte, um eine lang- fristig (sittlich) gute Lebenshaltung zu erlangen. Sie helfen mir, mich in bestimmte Bezugsgruppen zu in-
22 T H E M A tegrieren, denn unterschiedliche Bezugsgruppen (z. B. tung von «0,5 Kuh» sie wirklich beherzigen wollen Berufsverbände, Kolleginnen oder Freunde) orientie- und können. ren sich an verschiedenen Wertvorstellungen. Per- Eine sechste Erkenntnis ist, dass auch die Gestal- sönliche Werte sind nicht in Stein gemeisselt, son- tung reflexiver Kommunikationsprozesse (Wilms dern ins Leben integriert. Veränderungen in meinem 2016) erlernt werden kann. Es geht dabei nicht nur Leben (z. B. Bildung, Erziehung und eigene Erfahrun- darum, Beobachtungen und Bewertungen strikt von- gen) verändern meine Wertvorstellungen. einander zu trennen und sich über Bedeutungen zu verständigen (Wilms 2015). Das kann ich relativ ein- Beispiel: Ich fülle ehrlichen Herzens meine Patienten fach üben. Aber es geht auch darum, miteinander in verfügung aus oder formuliere meine Grabrede, prüfe sie von Zeit zu Zeit auf ihre Aktualität hin und notiere Kontakt zu kommen und eine Vertrauensbasis zu le- gegebenenfalls Veränderungen. gen. Dann gilt es, den sachlichen, zeitlichen und bud- getären Rahmen abzustecken und Erwartungen zu Authentischer Teil einer Gemeinschaft klären. Erst dann können sachinhaltliche Bearbei- Eine fünfte Erkenntnis ist, dass kollektive Entschei- tungen der Problematik greifen. Aus den Arbeitser- dungen im Wesentlichen derselben erlernbaren Vor- gebnissen sind später konkrete Arbeitspakete und aussetzungen wie individuelle Entscheidungen be- Verantwortlichkeiten abzuleiten und Personen zuzu- dürfen. Möchte ich mit anderen gemeinsam eine ordnen. Abschliessend sind persönliche Selbstver- sinnvolle Entscheidung herbeiführen, dann sollte pflichtungen abzugeben, wozu es der anfangs geleg- zumindest ich meine individuelle Entscheidungs- ten Vertrauensbasis bedarf. Sie verbindet authentisch kompetenz wahrnehmbar authentisch einbringen agierende Beteiligte miteinander zu einer wirklichen können (und dies auch von den anderen erwarten). Gemeinschaft, die wertschätzend miteinander um- In ergebnisoffenen kollektiven Entscheidungs- geht. Das authentische Mitgestalten ergebnisoffener prozessen sind Formen der kommunikativen Verstän- kollektiver Entscheidungen verlangt zwar einen digung zu gestalten: Um zu entscheiden, haben sich durchaus langen Atem des Übens. Aber es ist möglich die erbenden Söhne zu verständigen, welche Bedeu- und überaus segensreich. Falko E. P. Wilms wirkt als Organisa tionsberater, Dialogbegleiter, Coach und Hochschullehrer. Er ist unterwegs als Partner bei der Erkundung von (noch) unbekanntem, oft risikobehaf- tetem Gelände. office@falko-wilms.de LITERATUR • Badaracco, J. L. (2017): Mit fünf Fragen aus dem Dilemma. In: Harvard Business Manager, Feb. 2017, S. 88–93. • Rüegg-Stürm, J. / Grand S. (2015): Das St. Galler Manage- ment-Modell, Bern u. a.: Haupt . • Wilms Falko E. P. (2016): Gestaltung reflexiver Kommunikatio- nen. In: TrainerJournal 06/ 16, S. 25 . • Wilms Falko E. P. (2015): Beobachten und bewerten. In: TrainerJour- nal 02/15, S. 25.
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