2 Entscheiden - 7 Intuition und Werte machen es aus - bso

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2 Entscheiden - 7 Intuition und Werte machen es aus - bso
2
       Entscheiden
2017

       Intuition und Werte machen es aus
2 Entscheiden - 7 Intuition und Werte machen es aus - bso
2                I N H A L T

                                           3 EDITORIAL

                                           4 AKTUELL

                                          		 T H E M A

I M P R E S S U M                          5 Erkenne die Umwelt
                                          		 Entscheiden mit ökologischer Rationalität
Journal bso Nr. 2/2017
Entscheiden
                                          		 Niklas Keller und Martin Capelle
Intuition und Werte machen es aus
                                          10 «Heirate eine Wahlmöglichkeit!»
Erscheinungstermin: 24. Mai 2017
                                          		 Die Philosophin Ruth Chang zu Coaching und Holzfällen
Nächste Ausgabe
Nr. 3/2017
                                          		 Sandro Küng
Massstäbe
Redaktionsschluss: 21. Juni 2017
                                          14 Von Brüterinnen und Schnellentscheidern
Inserateschluss: 14. Juli 2017            		 Entscheidungstypen im Vergleich
Erscheinungstermin: 24. August 2017       		 Annette M. Diedrichs und Maja Storch
Auflage
1700 Expl.
                                          18 Machen Sie, was Sie wollen
Erscheint viermal jährlich                		 Diese Einsichten helfen Ihnen dabei
Herausgeber                               		 Falko E. P. Wilms
Berufsverband für Coaching, Supervision
und Organisationsberatung bso             23 Was ist nun das Geschenk?
Rita Sidler                               		 Erfahrungsbericht einer Beraterin
Redaktionskommission                      		 Susanne Gerber
Sandro Küng
Heike Osenger                             28 L I T E R A T U R
Silvio Sgier
Elisabeth Sperandio                       30 V E R B A N D
Francesca Tommasi
                                          		 P R A X I S
Redaktion
Monika Joss, mj                           33 Die Therapie beginnt vor dem Computer
info@monikajoss.ch                        		 Thomas Berger im Interview
Bilder                                    		 Monika Joss
© Marco Zanoni
www.marcozanoni.ch                        		 S E R V I C E
Layout und Druck
rubmedia, 3084 Wabern /Bern
                                          36 Weiterbildung
                                          41 Intervision
Administration /Inserate
Patricia Gfeller, bso                     42 M A R K T
Schwarztorstrasse 22, CH-3007 Bern
Tel. [+41] 031 382 44 82
Fax [+41] 031 382 44 39
E-Mail: info@bso.ch
Bezugspreise
Jahresabonnement CHF 44.–
Einzelnummer CHF 11.–
Jahresabonnement Ausland CHF 60.–
Einzelnummer Ausland CHF 15.–
Inserate
Preise auf der Basis
einer druckfertigen ­Vorlage
1 /4 Seite CHF 250.–
1 /2 Seite CHF 500.–
1 /1 Seite CHF 900.–
Inserate auf Umschlagseiten
3 und 4 im 4-Farben-Druck:
3. Umschlagseite 20% Zuschlag
4. Umschlagseite 30% Zuschlag
E D I T O R I A L                        3

                                  Entscheiden Sie selbst

                                  S
                                             chön, dass Sie sich entschieden haben, dieses Editorial zu lesen. Ist
                                             Ihnen diese Entscheidung leichtgefallen? Oder haben Sie gezögert,
                                             auf die Uhr geschaut, Alternativen verglichen und erst dann zum
                                      bso-Journal gegriffen, als Sie es als die beste Option im Vergleich mit
                                      allem anderen erachteten? Doch Moment mal.
                                          Zu glauben, wir könnten nur analytisch und rational gut entscheiden,
                                      scheint sich als Irrglaube herauszustellen. Davon berichten Niklas Keller
                                      und Martin Capelle im Leitartikel. Sie zeigen Schritte auf, die helfen, ­bessere
                                  Entscheidungen zu treffen, besser aus Fehlern zu lernen, und erklären, wie
                                  wir das Potenzial unserer Intuition entfalten können.
                                          Harte Entscheidungen lassen sich nicht rational fällen, da uns keine
                                    ­Informationen im Aussen sagen, welche Option besser, schlechter oder
                                      gleich gut ist. Warum für die Philosophin Ruth Chang harte Entscheidungen
                                      genau deshalb ein Segen sind, erklärte sie mir im Interview.
                                          Welchem Entscheidertyp entsprechen Sie? Der langsamen Brüterin,
                                      dem Körperlosen, der Schnellentscheiderin oder dem Zerrissenen? Die
                                   ­Psychologinnen Annette M. Diedrichs und Maja Storch stellen uns ihre Ty-
                                      pologie vor.
                                          Die Voraussetzungen für gutes Entscheiden sind weitgehend erlernbar.
                                  Diese und weitere hilfreiche Einsichten zur Entscheidungshilfe vermittelt
                                      uns Falko Wilms. Auch als Beratungsperson fällen wir laufend Entscheidun-
                                      gen. Für oder gegen die Annahme eines Auftrages, für diese oder jene
                                     ­Intervention. Wie sie als Beraterin Entscheidungen fällt und über ihren
Sandro Küng, Organisations- und   Um­gang mit Intuition berichtet uns Susanne Gerber.
Kommunikationsberater bso / MAS
ZFH, Mitglied der Redaktions­             Entscheiden Sie selbst, welcher Beitrag Sie überzeugt. Ich wünsche
kommission                        ­Ihnen gutes Entscheiden und eine kurzweilige Lektüre.
4   A K T U E L L

    Höhere Fachprüfung für
    Beratungspersonen: Erste                                                       August 2017

    Prüfungen in diesem Jahr                                                       21. – 25. August 2017
                                                                                   ANSE Summer University
                                                                                   Mitglieder bso – Ort: Rotterdam
    Maja Iseli – Nun ist es so weit: Am 20. Juni dieses Jahres können die ersten
                                                                                   31. August – 3. September 2017
    ordentlichen höheren Fachprüfungen für Beratungspersonen in den Fach-          HSP Kongress
    richtungen Supervisor/in, Coach und Organisationsberater/in durchge-           Interessierte – Ort: Münsingen
    führt werden.
        Für bereits erfahrene Beratungsfachleute, insbesondere auch bso-­          Oktober 2017
    Mitglieder, finden am 24. und 25. Oktober die ersten verkürzten Prüfungen      31. Oktober
    statt. Die Anmeldefrist für diese Prüfungssession ist der 31. Mai 2017.        Regiotreffen
       Alle Informationen zu den höheren Fachprüfungen finden sich unter           Nordwestschweiz
                                                                                   Mitglieder bso – Ort: Basel
    www.hfpberatung.ch, darunter auch die Bedingungen für die Zulassung zu
    den verkürzten Prüfungen (hfpberatung.ch > Gleichwertigkeit) sowie die         Januar 2018
    nächsten Termine für ordentliche Prüfungen. Mit weiterführenden Fragen
                                                                                   18. Januar 2018
    wenden Sie sich am besten direkt ans Prüfungssekretariat (hfpberatung.ch >
                                                                                   Jahrestagung ARS-bso
    Kontakt) oder an Maja Iseli, Vertreterin des bso in der Prüfungskommission     zum Thema «Vulnérabilité –
    (maja.iseli@bso.ch).                                                           Verletzlichkeit»
                                                                                   Interessierte – Ort: Bern

                                                                                   25. /26. Januar 2018
                                                                                   Changetagung
                                                                                   Interessierte – Ort: Basel
    Vertragliche Ausbildungspartnerschaft
                                                                                   April 2018

    Neues Aufnahmeverfahren
                                                                                   14. April 2018
                                                                                   Mitgliederversammlung bso
                                                                                   Mitglieder – Ort: Bern

    bewährt sich
    Regula Villari – Seit Januar 2014 setzt die Aufnahme- und Qualitätskommis-
    sion des bso in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Aufnahme und Qualität
    das Reglement für die vertragliche Ausbildungspartnerschaft um. Dieses
    ersetzt das bisherige Aufnahme- und Anerkennungsreglement.
        Der Prozess für die vertragliche Ausbildungspartnerschaft gestaltet sich
    durch das zweistufige Verfahren – einerseits Dokumentenbegutachtung,
    andererseits Gespräche sowohl mit Lehrgangsleitung, Dozierenden/Super-
    vidierenden und Studierenden – lebendig und auf Augenhöhe.
        Unter den Ausbildungsinstituten finden sich Fachhochschulen wie auch
    private Anbieter. Die jeweiligen Institute zeichnen sich durch unterschied-
    liche Spezifizierung aus, und alle bilden dabei die Anforderungen des bso
    bestens ab. Vielfalt ist somit gegeben, Interessierte können die für sich am
    besten passende Weiter­bildung wählen und ihr Portfolio umfassend ergänzen.
        Ab Sommer 2017 sind nun voraussichtlich sämtliche 15 Ausbildungsins-
    titute, die auf der Website des bso aufgeführt sind, nach dem neuem Regle-
    ment vertragliche Ausbildungspartner. Damit hat das Reglement längstens
    seine Umsetzbarkeit bewiesen und zudem einen vertieften und kompetenz­
    orientierten Austausch zwischen dem bso und den Ausbildungsinstituten
    ermöglicht.
U
                                                                                              T H E M A              5

        Erkenne
     die
                      Umwelt
                                  Entscheiden mit ökologischer Rationalität

                                  Logisches Entscheiden wird zwar oft gefordert, ist
                                  aber in vielen Entscheidungssituationen auf-
                                  grund mangelnder Informationen gar nicht möglich.
                                  Hier sind Entscheidungsmodelle nützlicher,
                                  die sich der Intuition bedienen. Intuition kann im
                                  passenden Lernumfeld erworben werden.

Niklas Keller und Martin Capelle                           ­S eiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein
                                                           Rest bleibt …»
Was ist eine gute Entscheidung?                                  Für heutige Verhältnisse ist dies vielleicht in
Viele glauben, dass eine gute Entscheidung so viele         ­puncto Liebe etwas extrem, sind zwischenmensch­
Daten wie möglich beinhalten und analytisch und            liche Verhältnisse doch einige der wenigen «galli-
­logisch sein sollte. «Denke, dann handle!» oder «Erst       schen Dörfer», die dem Joch der Rationalität weiter-
wägen, dann wagen!» wird in Büchern und populär-           hin verbitterten Widerstand leisten. Dass eine gute
wissenschaftlichen Artikeln über rationales Ent-           Entscheidung alle Informationen beinhalten und alle
 scheiden immerfort gepredigt. Diese Tradition geht        Alternativen sorgfältig gegeneinander abwägen sollte,
weit zurück. Benjamin Franklin, amerikanischer             wird in den meisten anderen Lebenslagen jedoch als
Gründervater, der einst von seinem verzweifelten             unumstösslich betrachtet. Seit zwei Jahrzehnten häu-
Neffen um Rat für oder wider das Heiraten gebeten            fen sich allerdings Indizien, dass dies ein Irrglaube
wurde, riet Folgendes:                                     ist. Von dieser Evidenz, und was sie uns zeigt, berich-
    «Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und        tet dieser Artikel.
 contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf             Die zentrale Logik dabei ist so einfach, dass sie
 einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei      nahezu banal scheint: Es gibt keine optimale Ent-
Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die             scheidungsmethode für alle Situationen. Die Frage,
 manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, wel-          ob eine Entscheidungsstrategie gut oder schlecht ist,
 che Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in       kann immer nur im Kontext ihrer Anwendung beant-
 der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu          wortet werden. Diese simple Erkenntnis führt jedoch
 eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –,     dazu, dass wir klassische Vorstellungen rationalen
 und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden            Entscheidens grundlegend überarbeiten müssen.
6   T H E M A

                Weniger ist mehr
                Um diese «ökologische Rationalität» (Goldstein, D. G./
                 Gigerenzer, G. 2002) zu veranschaulichen, beginnen
                 wir mit einer einfachen Frage: Welche Stadt hat mehr
                 Einwohner, Milwaukee oder Detroit? Diese Frage
                ­w urde amerikanischen und deutschen Studierenden
                 gestellt. Die amerikanischen Studierenden gaben zu
                60% die richtige Antwort: Detroit. Verblüffend war
                 jedoch, dass die Deutschen, die wesentlich weniger
                 über die beiden Städte wussten (die meisten hatten
                 noch nie von Milwaukee gehört), zu 92% die richtige
                Antwort gaben (Goldstein et al. 2002)! Wie kann we-
                 niger Wissen zu einem besseren Ergebnis führen?
                      Die Antwort liegt darin, dass nicht alle Informati-
                 onen gleich gut sind. Die Deutschen verwendeten eine
                 einfache Faustregel, im Fachjargon Heuristik genannt:
                 Erkennst du den Namen der einen Stadt und nicht den
                 der anderen, gehe davon aus, dass diese Stadt grösser
                 ist. Die amerikanischen Studierenden konnten diese
                 Faustregel nicht anwenden. Sie kannten beide Städte
                 und wussten einiges über sie. Die vielen Fakten trüb-
                 ten ihr Urteil und hinderten sie ­d aran, die richtige
                Antwort zu finden. Wieder­erkennung korreliert stark
                 mit Städtegrösse, andere Informationen jedoch weni-
                 ger. Es gibt also Situationen, in denen weniger Infor-
                 mationen zu besseren Entscheidungen führen ­können.
                Die zentrale Auf­gabe eines ökologisch rationalen Ent-
                 scheidens ist daher die korrekte Klassifikation einer
                 Entscheidungssituation und darauffolgend die Selek-
                 tion der passenden Entscheidungsstrategie.

                Erkenne die Umwelt
                 Zentral dabei ist die Unterscheidung zwischen quan-
                 tifizierbarem Risiko – wo alle Alternativen, deren Kon-
                 sequenzen und Eintrittswahrscheinlichkeiten genau
                 bekannt sind – und nicht quantifizierbarer Unsicher-
                 heit – bei welcher diese Faktoren nicht bekannt sind.
                 Befindet man sich in einer Situation quantifizierbaren
                 Risikos, kann man sogenannte Optimierungsmodelle
                verwenden, die versuchen, mit komplexen Methoden
                 das ­Maximum aus gegebenen Informationen heraus­
                 zu­holen. Je grösser der Grad der Unsicherheit, desto
                ­weniger sollte man jedoch auf Maximierung setzen
                 und an­fangen, sich wohl zu überlegen, ob man gewisse
                 Informationen überhaupt in die Entscheidung mit ein-
                 fliessen lassen sollte. Bei extremer Unsicherheit sollte
                 man sich so aufstellen, dass man auch im Falle von
                 gänzlich unvorherseh­baren Schocks weiterhin hand-
                 lungsfähig bleibt (siehe Abb. 1, Andrew Lo 2010).
                     Risiko: Das System ist probabilistisch, aber alle
                Wahrscheinlichkeiten sind stabil und bekannt. Hier
                 kann man statistische und Optimierungsmodelle ver-
                 wenden. Ein Beispiel sind Glücksspiele wie Würfeln
                 oder Roulette.
T H E M A              7

     Vollständig reduzierbare Unsicherheit: Exakte        Intuition und Unsicherheitsmanagement
Wahrscheinlichkeiten sind nicht bekannt, aber das         Überraschenderweise sind Menschen gar nicht
 System ist stabil, d. h., mit weiterer Datensammlung     schlecht in genau dieser Komplexitätsreduktion im
kann die Unsicherheit vollständig zur obigen Casino-­ Angesicht von Unsicherheit. Heuristiken sind effek-
 Situation reduziert werden. Beispiele sind hochkom- tive Methoden zur Unsicherheitsreduktion dadurch,
 plexe / hoch standardisierte Produktionsprozesse          dass sie Informationen ignorieren und sich auf das
 oder auch Aggregatmodelle, mit welchen Lebensver- Wesentliche konzentrieren. Wir wissen heute eben-
 sicherungen arbeiten.                                    falls, dass unsere Intuition stark auf diesen Heuris­
     Teilweise reduzierbare Unsicherheit: Kausale         tiken aufbaut. So konnten Sie im obigen Beispiel viel-
Modelle bestehen nur für Teile des Systems. Zum Bei- leicht nicht genau sagen, warum sie Detroit gewählt
 spiel kann es zu unvorhersehbaren Zustandsverände- haben, aber es schien richtig.
 rungen kommen. Ein Beispiel ist das Wetter – unsere           Intuition ist gefühltes Wissen, das rasch im Be-
kurzfristigen Modelle liefern gute Vorhersagen und        wusstsein auftaucht und dessen tiefere Gründe uns
langfristige Klimamodelle können grobe Trends ver- nicht bewusst sind, das aber stark genug ist, dass wir
lässlich widerspiegeln. Aber deren Interaktion ist        ­d anach handeln möchten. Auch viele Manager und
 noch nicht verstanden. Auch der internationale Bör- Managerinnen sind sich intuitiv bewusst, dass sie sich
 senmarkt fällt in diese Kategorie.                       meistens in Situationen fundamentaler oder nur teil-
     Fundamentale Unsicherheit: Es gibt kein              weise reduzierbarer Unsicherheit befinden, und las-
­k au­sales Modell (oder zu viele, nicht differenzierbare sen sich von den ihrer Intuition zugrunde liegenden
 kausale Modelle) der Umwelt, welches eine gute Vor- Heuristiken leiten. In anonymen Umfragen unter Ma-
 hersage ermöglicht. Hiermit beschäftigen sich wissen­ nagern und Managerinnen deutscher DAX-Unterneh-
 schaftliche und künstlerische Prozesse der Theorie- men im Rahmen unserer Beratungstätigkeiten gaben
 bildung und Falsifikation.                               viele zu, dass sie in etwa der Hälfte ihrer wichtigen
                                                          Entscheidungen auf ihre Intuition hören. Vor allem
                                                          ein ungutes Bauchgefühl löst starke Besorgnis aus
    Weniger Informationen können zu                       und führt oft zu einer genauen Prüfung der Lage.
   besseren Entscheidungen führen.
                                                         Wann kann ich meiner Intuition vertrauen?
                                                         Obwohl Intuition auf einfachen Heuristiken basiert,
Abbildung 1 zeigt, welche Strategien in den unter-       macht sie sich auch komplexe Informationsverarbei-
schiedlichen Situationen Anwendung finden. Das           tungsprozesse wie die Mustererkennung zunutze. Ein
Schlagwort hier ist Unsicherheitsmanagement, zu          Beispiel aus der Evolution ist das menschliche Wie-
betrachten als eine übergeordnete Klasse des Risiko-     dererkennungsgedächtnis. Aber komplexe Informa-
managements. Unsicherheit sollte soweit wie möglich      tionsverarbeitung basiert oft auch auf langjähriger
reduziert werden (z. B. über das Sammeln von Daten       Erfahrung. In der Medizin spiegelt sich Erfahrung im
oder Recherchieren guter kausaler Modelle), dann je-     sogenannten «klinischen Blick» wider, welcher auf
doch muss sie anerkannt und gemanagt werden (z. B.       unterbewusster Mustererkennung beruht. So zeigte
über die Vereinfachung von Modellen oder die Ent-        eine Studie in der Notaufnahme der Uniklinik Basel,
wicklung robuster Strukturen).                           dass die subjektive Einschätzung von Notärzt/innen,

Abb. 1
8

     ob ein Patient, eine Patientin «krank aussieht» oder             Expertise effektiv entwickeln und identifizieren
     nicht, das aussagekräftigste Einzelmerkmal ist, um               Wir wissen nun, dass Intuition auf einfachen Heuris-
     das Risiko eines Patienten mit nichtspezifischen                 tiken beruht, dass diese Heuristiken effektive Stra-
    ­B eschwerden vorauszusagen ( Jenny, M. A. / Hertwig,­            tegien zum Umgang mit Unsicherheit sind und dass
     R. /Ackermann, S.  / Messmer, A. S.   / Nickel, Ch. H.   /Bin-   eine gute Intuition und gute Heuristiken jahrelanger
     gisser, R. 2015).                                                Erfahrung und Auseinandersetzung mit einem Sach-
         Um eine gute Intuition entwickeln zu können,                 verhalt in einer guten Lernumwelt bedürfen. Eine
     müssen jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein.                 ­offensichtliche Methode, um Expertise in einer Or-
     Zum einen erfordert eine gute Intuition langjährige               ganisation zu entwickeln, ist also die Verbesserung
     Erfahrung mit dem Sachverhalt, um den es geht. Man                der Lernumwelt (Ihrer eigenen wie auch der von Mit-
     redet oft von 10 Jahren oder 10 000 Stunden Erfah-               arbeitenden). Gibt es Möglichkeiten, diesen regel-
     rung, obwohl es hier grosse interindividuelle Unter-             mässig und zeitnah Feedback zu ihren Entscheidun-
     schiede gibt (Ericsson, K.  A .   / Krampe, R.  T.   / Tesch-­    gen zu geben? Ist dieses Feedback symmetrisch, d. h.,
     Romer, C. 1993). Wichtig ist jedoch, dass es der                 wird es sowohl bei Erfolg als auch Misserfolg gege-
     Entscheidungsperson möglich ist, herauszufinden,                 ben? Vor allem in höheren Positionen besteht oft Ge-
     ob eine momentan angewandte Entscheidungsregel                   fahr, dass sich eine fehlgebildete Intuition ent­w ickelt,
                                                                       da man seltener mit negativem Feedback konfron-
                                                                      tiert wird.
       In höheren Positionen kann
                                                                      Intuition zulassen
       sich eine fehlgebildete Intuition                              Mit der Identifikation und Entwicklung von Expertise
       entwickeln.                                                    ist es jedoch leider nicht getan. Man muss in einer Or-
                                                                      ganisationskultur sein, die Intuition auch zulässt.
                                                                      Obwohl gute Intuition auch die komplexesten Re-
    auch wirklich bessere Entscheidungen zum Ergebnis                 chenmodelle schlagen kann, ist sie im geschäftlichen
    hat. Dies führt zum zweiten entscheidenden Punkt: der             Kontext oft tabuisiert. Der Grund ist genau der zu-
    Lernumwelt. Nur in einer effektiven Lernumwelt, die               letzt erwähnte: Wir haben meist keinen Einblick in
    sowohl positive als auch negative Rückmeldung zu-                 die unserer Intuition zugrunde liegenden Informati-
    lässt, in der die Rückmeldungen mit wenig Zeitver­                onsverarbeitungsprozesse und können diese nicht
    zögerung erfolgen und in der Neues aus­probiert wer-              verbalisieren. Dies macht es in einem geschäftlichen
    den kann, kann sich Intuition optimal entwickeln und              Kontext schwer, Entscheidungen zu erklären oder zu
    zu wirklicher Expertise führen (Hogarth, R. M. 2001).             rechtfertigen.
T H E M A                 9

    Erst in einer konstruktiven Kommunikations-                             Fazit
und Fehlerkultur kann Intuition ihr Potenzial ent­                          Lassen Sie uns die Kernthesen nochmals zusammen-
falten. Eine konstruktive Fehlerkultur ist eine, in der                     fassen:
Fehler als Lernmöglichkeit wahrgenommen werden                              • Bevor Sie sich entscheiden, überlegen Sie sich,
und nicht auf Individuen reduziert, sondern aus or-                            welche Art der Entscheidung Sie gerade treffen
ganisatorischer Perspektive betrachtet werden. Eine                            (müssen): ist es quantifizierbares Risiko oder
einfache und effektive Methode, Intuition in geregel-                          nicht-quantifizierbare Unsicherheit?
ten Massen zuzulassen, ist die Einführung von soge-                         • Reduzieren Sie identifizierte Unsicherheit soweit
nannten «Gefängnisfreikarten». Als Expertinnen                                 es geht durch Datensammlung und zu Nutze
und Experten in ihrem Gebiet betrachtete Individuen                            ­m achen von vorhandener Expertise. ­Verbleibende
in einer Organisation oder einem Team dürfen diese                              Unsicherheit muss anerkannt und gemanagt
Karten einsetzen, wenn sie eine intuitive Entschei-                             ­werden, z. B. durch robuste Strategien, Systeme
dung fällen und als solche deklarieren. D. h., diese                             und Prozesse.
Personen geben offen zu: «Ich kann nicht genau sagen                        • Vermeiden sie «Scheinquantifizierung» (Un­
warum, aber ich habe ein schlechtes / gutes Gefühl                               sicherheit durch Zahlen verschleiern)!
bei dieser Sache.» Falls eine solche Entscheidung                           • Evaluieren Sie Ihre eigene und die Lernumwelt
dann nicht zum gewünschten Ergebnis führt, muss                                  Ihrer Mitarbeitenden auf regelmässigen, zeit­
sich die Person nicht mit Gründen rechtfertigen, son-                            nahen, und symmetrischen Feedback und versuchen
dern kann ihre «Gefängnisfreikarte» einsetzen. Die                               Sie nachzubessern, wo Sie können.
Einführung solcher Karten liefert auch Daten über                           • Entfalten Sie durch eine konstruktive Fehler­
die Verteilung konstruktiver Fehlerkulturen in der                               kultur das Potential Ihrer Intuition und das Ihrer
Organisation. Wenn in einem bestimmten Team auch                                 Mitarbeitenden.
Jahre nach der Einführung noch immer keine Frei­                            Diese Schritte werden Ihnen helfen, bessere Entschei-
karten eingelöst wurden, kann dies ein Indiz einer                          dungen zu treffen, besser aus Fehlern zu lernen, und
destruktiven Fehlerkultur sein.                                             Expertise in Ihrer Organisation oder Ihrem Team ef-
                                                                            fektiv auszubilden und nutzbar zu machen.

  Niklas Keller ist geschäftsführender                                         Martin Capelle hat über 20 Jahre
  Gesellschafter und Gründungs­                                                Erfahrung als Verhaltenstrainer
  mitglied der Simply Rational GmbH                                            und Coach, erst in einem weltweit
  sowie wissenschaftlicher Mit­                                                agierenden Trainingsunternehmen
  arbeiter der Charité-Universitäts-                                           und seit 2011 als Freiberufler.
  medizin und assoziierter Wissen-                                             Davor kann er auf eine 6-jährige
  schaftler am Max-Planck-Institut                                             Karriere als Marineoffizier auf
  für Bildungsforschung in Berlin.                                             einem U-Boot der Bundeswehr zu-
  niklas.keller@simplyrational.de                                              rückblicken.
                                                                               mc@bitraining.de

 LITERATUR                                                                  •	Hogarth, R. M. (2001): Educating intuition. Chicago: University
 •	Ericsson, K. A. / Krampe, R. T. / Tesch-Romer, C. (1993): The Role of      of Chicago Press.
    Deliberate Practice in the Acquisition of Expert Performance.           •	Jenny, M. A. / Hertwig, R. / Ackermann, S. / Messmer, A. S. / Nickel,
    Psychological Review, Vol. 100. No. 3, 363–406.                            Ch. H. / Bingisser, R. (2015): Are morbidity and mortality predic­t­
 •	Gigerenzer, G. / Selten, R. (Hrsg.). (2001): Bounded rationality.          able in patients presenting with nonspecific complaints using
    The adaptive toolbox. Cambridge, MA: MIT Press.                            routine variables? In: Academic Emergency Medicine, 22:1155–
 •	Goldstein, D. G. / Gigerenzer, G. (2002): Models of ecological ratio-      1163.
    nality: The recognition heuristic. In: Psychological Review. 109(1):    •	Lo, A. (MIT Sloan School) / Mueller, M. (2010): Warning: Physics
    75–90. doi:10.1037/0033-295X.109.1.75. PMID 11863 042,                     Envy May be Hazardous to Your Wealth! In: Journal of Investment
    1 January.                                                                 Management, Volume 8, Number 2, Second Quarter.
H
10   T H E M A

            «Heirate
            eine
                                             Wahl-
                      möglichkeit!»
                       Die Philosophin Ruth Chang zu Coaching und Holzfällen

                       Es geht bei Entscheidungen nicht immer darum, die bessere oder
                       schlechtere Option zu wählen, sondern vielmehr, sich zu einem
                       Wert zu verpflichten. Damit werden wir zu einzigartigen Individuen.

     Sandro Küng                                            in Ihrem Leben führt, auch schwierig ist. Wo sollen
                                                            Sie wohnen? Wen soll ich heiraten? Soll ich Kinder be-
     Wozu brauchen wir eine philosophische Betrachtung      kommen? Aber eine Entscheidung ist natürlich nicht
     über Entscheidungen?                                   deshalb schwierig, weil sie gross ist. Das sehen wir
     Wenn Sie nicht wissen, was Entscheidungen sind, wie    sofort, wenn wir uns einige einfache grosse Entschei-
     wollen Sie das Phänomen dann psychologisch oder        dungen ansehen. Sie gewinnen im Lotto. Glück-
     neurowissenschaftlich untersuchen? Wie wollen Sie      wunsch! Die Entscheidung, Ihren Lottoschein einzu-
     als Coach jemandem einen guten Ratschlag geben?        lösen, ist eine grosse Entscheidung, denn Ihr Leben
     Meiner Meinung nach wird im Grossteil der populär-     wird danach nicht mehr das Gleiche sein. Aber die
     wissenschaftlichen Literatur über Entscheidung der     Entscheidung selbst ist denkbar einfach: Es ist besser,
     Karren vor das Pferd gespannt. Leute erzählen einem    den Schein einzulösen, als dies nicht zu tun.
     voreilig, was Menschen in schwierigen Entschei-
     dungssituationen tun oder tun sollten, ohne dass sie   Was ist das zweite Missverständnis?
     eine klare Vorstellung vom Wesen schwieriger Ent-      Das zweite Missverständnis lautet, dass eine Ent-
     scheidungen haben. Da kann die Philosophie hilfreich   scheidung aufgrund unserer mangelnden Fähigkeiten
     sein, denn sie untersucht das Wesen der Dinge.         schwierig ist, denn wir wissen nicht, was bei den Al-
                                                            ternativen am Ende herauskommt. Hätten wir nur
     Was sind gängige Missverständnisse in Bezug            eine Glaskugel wie die Wahrsager, dann wäre die Ent-
     auf schwierige Entscheidungen?                         scheidung leicht. Aber selbst ein allwissender Gott
     Das erste Missverständnis lautet, dass jede grosse     steht vor schwierigen Entscheidungen. Selbst ein all-
     Entscheidung, die zu einer erheblichen Veränderung     wissender Gott, der genau weiss, wie Ihre beiden
T H E M A              11

möglichen Zukünfte aussehen – in der einen heiraten        dann verwenden wir unsere Zeit und Energie darauf,
Sie Ned und in der anderen Ted –, könnte feststellen,      herauszufinden, welche dieser drei Beziehungen vor-
dass es sich um eine schwierige Entscheidung han-          liegt. Es gibt aber nicht nur drei Arten, wie die Alter-
delt. Das liegt daran, dass die beiden zukünftigen         nativen zueinander in Beziehung stehen können.
­L ebenswege sich im Wert sehr unterscheiden. Sie          «Ebenbürtig» zu sein ist eine vierte, einzigartige Art
 ­h aben einen so unterschiedlichen Wert, dass keiner      der Beziehung. Ich glaube, dass die Alternativen bei
  besser als der andere ist. Es wäre aber auch falsch,     schwierigen Entscheidungen ebenbürtig sind. Zu-
  daraus zu schliessen, dass sie gleich gut sind und man   gleich kann man sie vergleichen – es ist also nicht so,
  eine Münze werfen könnte. So kommen wir zu einer         dass sie gar nicht miteinander vergleichbar wären.
  radikal anderen Betrachtungsweise von schwierigen        Und das macht die Entscheidung schwierig.
  Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind nicht
  deshalb schwierig, weil es uns an Informationen          Warum wird eine Entscheidung durch die Eben­
  fehlt, sondern aufgrund der Art, wie die Alternativen    bürtigkeit schwierig?
  zueinander in Beziehung stehen.                          Nehmen wir an, dass Sie als Coach arbeiten. Sie könn-
                                                           ten aber auch Holzfäller sein. Diese beiden Laufbah-
Wie sollten wir über schwierige Entscheidungen             nen haben einen sehr unterschiedlichen Wert. Wenn
nachdenken?                                                Sie sie aber richtig konkretisieren, könnten sie im sel-
Das Problem ist, dass wir annehmen, es gebe bei einer      ben Wertebereich liegen. Nehmen Sie zunächst ein-
schwierigen Entscheidung nur drei Arten der Bezie-         mal an, es gäbe eine Holzfällerkarriere, in der Sie
hung zwischen den Alternativen: Eine muss besser           mickrige 5000 Dollar im Jahr verdienen, die ganze
sein oder schlechter sein oder sie sind gleich gut. Und    Zeit Blasen vom pausenlosen Holzhacken bekommen,
12   T H E M A

     keine Zeit haben, mit Ihren Kindern zu spielen oder       men Werte?», würden Sie wahrscheinlich etwas in der
     Freundschaften zu pflegen usw. Diese Holzfällerlauf-      Art sagen wie «Gott» oder «das Gute» oder «was ich
     bahn unterscheidet sich qualitativ stark von der typi-    mir wünsche oder was andere sich wünschen». Sie
     schen Laufbahn eines Coaches. Aber sie liegt nicht im     werden bemerken, dass all diese Antworten sich auf
     selben Wertebereich wie eine typische Coach-Lauf-         etwas draussen in der Welt beziehen. Wenn Sie Ihre
     bahn – denn was eine Karriere betrifft, ist sie eine      Wünsche genauer betrachten, werden Sie merken,
     lausige Option. Die beiden Alternativen befinden sich     dass Sie diese nicht unter Kontrolle haben, sondern
     also nicht im selben Wertebereich, deshalb sind sie       dass es Zustände sind, die Ihnen zustossen. Wenn wir
     nicht ebenbürtig. Die Coaching-Karriere ist besser.       über eine schwierige Entscheidung nachdenken,
                                                               ­blicken wir normalerweise nach aussen, um die
     Eindeutig …                                                ­Wertequelle zu finden und damit Gründe, die wir für
     Aber stellen wir uns nun eine andere Holzfällerlauf-        eine bestimmte Entscheidung haben. Diese Gründe
     bahn vor – eine, in der Sie viel Geld verdienen, es ge-     sind manchmal ebenbürtig. Wenn sie ebenbürtig
     niessen, draussen zu sein, angemessene Arbeits­             sind, dann haben wir die Macht, etwas gänzlich an-
     zeiten haben, im Einklang mit der Natur leben usw.          deres zu tun als das, was wir in Entscheidungssitua-
     Diese Art der Holzfällerkarriere könnte im selben           tion üblicherweise tun: Wir können uns einer Alter-
     Wertebereich wie die Coaching-Karriere liegen. Diese        native verpflichten und dadurch einen neuen Grund
     beiden spezifischen Karrieren könnten also eben­            erschaffen, den wir vorher nicht zur Wahl hatten.
     bürtig sein. Ich glaube, dass schwierige Entscheidun-
     gen – die, die uns interessieren – Entscheidungen zwi-    Können Sie noch genauer erklären, wie man sich
     schen zwei qualitativ sehr unterschiedlichen Alter-       verpflichtet?
     nativen sind, die sich nichtsdestotrotz im selben all-    Die Gründe, die durch eine Verpflichtung entstehen,
     gemeinen Wertebereich befinden.                           hängen nicht von den Erwartungen einer anderen
                                                               Person ab. Verpflichtungen gehen Sie ganz allein ein,
     Wie können wir eine schwierige Entscheidung treffen?      und Sie setzen Ihre Handlungsmacht dafür ein. Wir
     Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die         nutzen die Fähigkeit viel zu wenig, uns zu etwas zu
     grosse philosophische Frage stellen: Woher kommen         verpflichten und dadurch Gründe für unser Handeln
     Werte? Wenn man Sie fragen würde: «Woher stam-            zu erschaffen.
T H E M A      13

Können Sie uns ein Beispiel dafür geben, wie das mit      Wie können wir in der Politik Verpf lichtungen
der Verpflichtung funktioniert?                           eingehen?
Das intuitivste Beispiel einer Verpflichtung finden wir   Obama hat diese Begrifflichkeiten benutzt, als er das
in Liebesbeziehungen. Sind Sie mit jemandem liiert?       Land aufforderte, über folgende Frage nachzudenken:
                                                          Sollen wir Gesetze verabschieden, die unseren Schutz
Ja.                                                       vor dem Terrorismus erhöhen, oder sollen wir als li-
Okay. Dann nehmen wir einmal an, bei Ihrer Bezie-         berale, offene Gesellschaft weitermachen? Er hat
hung handelt es sich um eine feste Beziehung. Sie und     mehrfach gesagt, dass die Frage letztendlich lautet:
Ihre Partnerin setzen ihre jeweilige Handlungsmacht       Welche Art von Land wollen wir sein? Ich würde sei-
für die Bedürfnisse und Interessen des anderen ein.       nen Hinweis ergänzen: Hinter welcher zukünftigen
Denken Sie nun einmal darüber nach, wie es dazu ge-       Art von Land können wir stehen? Können wir dahin-
kommen ist. Sie hatten vermutlich ein paar Verab­         terstehen, ein Land zu werden, das Sicherheit höher
redungen, haben festgestellt, dass Sie sich mögen,        schätzt als Offenheit? Wenn wir uns die Zahlen der
dass die Chemie stimmt usw. Nehmen Sie nun an,            Menschen anschauen, die sich Trumps Politik im
dass Ihre Verabredung Ihnen beim dritten Date zwi-        ganzen Land widersetzen, scheint die Antwort «nein»
schen ein paar Gläsern Wein sagt, dass sie Ihre Niere     zu lauten.
braucht, weil ihre eigene versagt und Sie ein passen-
der Spender sind. Sie würden sich sofort vereinnahmt      Sie sagen, dass schwierige Entscheidungen eine
fühlen und sich fragen, ob Ihr Getränk vergiftet ist      ­w undervolle Möglichkeit sind. Warum?
und Sie morgen in einer Badewanne voller Blut und          Versuchen Sie sich ein Leben ohne Ebenbürtigkeit
mit einer Niere weniger aufwachen werden. Ihre Re-         vorzustellen. Jede Entscheidung hätte dann eine
aktion wäre aber ganz anders, wenn jemand, dem Sie         ­b este Antwort oder gleich gute Antworten und Sie
sich verpflichtet fühlen – Ihr Lebenspartner, Kind          könnten eine Münze werfen. Wenn es immer eine
oder Elternteil –, Sie nach demselben Organ fragen          beste Antwort gibt, dann sind Sie ein Sklave der Ver-
würde. Ihre Verpflichtung gegenüber Ihrer Partnerin         nunft und müssen die beste Option wählen. Ihre Auf-
hat Gründe geschaffen, die Sie sonst nicht hätten. Die      gabe als rationaler Akteur wäre es dann, unaufhör-
meisten von uns verstehen den Unterschied zwischen          lich danach zu forschen, für welche Handlung es die
einer festen und einer ungebundenen Beziehung.              besten Gründe gibt. Was für eine furchtbare Vorstel-
                                                            lung des menschlichen Lebens! Es wäre das Leben ei-
                                                            ner Rechenmaschine, 24 Stunden am Tag, sieben Tage
   Wir nutzen die Fähigkeit                                 die Woche. Schwierige Entscheidungen sind die
   viel zu wenig, uns zu etwas                              ­R äume, in denen wir unsere Macht, eigene Gründe zu
                                                             erschaffen, ausüben können und den Dingen durch
   zu verpflichten.                                          unsere aktive Verpflichtung Wert verleihen. Indem
                                                             wir uns selbst Gründe geben, eine Sache einer ande-
Wie erschaffen wir Gründe für uns selbst?                    ren vorzuziehen, sind wir selbst so und so und nicht
Sie können einen Wert nicht einfach aus nichts her-          anders, und damit übernehmen wir die Kontrolle über
aus erschaffen, indem Sie mit den Fingern schnippen.         unser Leben.
Sie müssen den Gründen folgen, die Ihnen von der
Welt gegeben werden. Sie haben die Macht, einen neu-
en Wert für sich selbst zu erschaffen und sich zu der
Person zu machen, die den besten Grund hat, ein
Coach oder ein Holzfäller zu sein. Ebenso wie wir un-
seren Lieben Wert verleihen, können wir einer Coa-
ching-Karriere Wert verleihen, nämlich indem wir
uns ihr verpflichten. Ein Motto für meine Sichtweise
lautet: Heirate eine Wahlmöglichkeit! Dieses Einste-
hen für etwas erlaubt es uns, zu Autoren und Auto-
rinnen unseres eigenen Lebens zu werden. Viele Men-
schen in den USA haben sich in der letzten Zeit dem
Widerstand gegen Trumps Politik verpflichtet, und           Ruth Chang ist Professorin der
das ist neu für sie. Und damit machen sie sich selbst       Philosophie an der Rutgers University.
                                                            Ihr TED-Talk «How to Make Hard
zu anderen Menschen, als sie es vorher waren, näm-          Choices» wurde über 4,5 Millionen
lich zu politisch engagierten Menschen.                     Mal angeschaut.
B
14   T H E M A

      Von
                  Brüterinnen
      und

                   Schnell-
                   entscheidern
                                     Entscheidungstypen im Vergleich

                                     Maja Storch vom Institut für Selbstmanage-
                                     ment und Motivation Zürich hat eine Typologie
                                     von Entscheidungstypen entwickelt, die in
                                     der Beratung als reflexionsstimulierende Inter­
                                     vention genutzt werden kann.

     Annette M. Diedrichs und Maja Storch                        Bevor wir schauen, wie Frau Zweifel geholfen wer-
                                                             den kann, möchten wir zunächst einen Ausflug in die
     Im Institut für Selbstmanagement und Motivation         Neurowissenschaften machen und die Rolle des emo-
     Zürich (ISMZ) beraten wir immer wieder Menschen,        tionalen Erfahrungsgedächtnisses bei Entscheidun-
      die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen. Sie       gen aller Art beleuchten. Die Basis von Entscheidun-
      möchten entweder in ihrem Privatleben oder in ihrer    gen sind Bewertungen, und diese können wir gemäss
      beruflichen Laufbahn etwas Grundlegendes ändern.       dem amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman
          Beispielsweise kommt Frau Zweifel (Name geän-      (2012) anhand von zwei Systemen in unserem Gehirn
      dert) ins Führungscoaching und berichtet von grosser   vornehmen: erstens mit System 1 bzw. dem Verstand
     Ungerechtigkeit in ihrem Job als Personalleiterin       und zweitens mit System 2 bzw. dem «emotionalen
     ­eines Pharmaunternehmens. Sie arbeitet zu viel, wird   Erfahrungsgedächtnis». Diese beiden Bewertungs-
      für ihren Einsatz weder entsprechend bezahlt noch      systeme funktionieren unterschiedlich. Der Verstand
      anerkannt, und Spass macht ihr die Tätigkeit auch      arbeitet langsam und gründlich nach logischen Ana-
      schon lange nicht mehr. Seit einigen Monaten trägt     lysen und seine Bewertungen können mit Argumen-
      sie sich mit dem Gedanken zu kündigen. Die Argu-       ten sprachlich belegt werden. Zum Beispiel sagt ein
      mente dafür und dagegen wägt sie regelmässig aufs      Marketingleiter: «Die Analyse der Verkaufszahlen er-
     Neue gegeneinander ab. Sie erhofft sich vom Coa-        gibt, dass das neue Produkt den Umsatz nicht um die
      ching Hilfe für das Treffen einer Entscheidung.        erwarteten 5% steigern konnte.» Das emotionale Er-
T H E M A             15

fahrungsgedächtnis reagiert hingegen schnell, liefert     dass ein Befragen des Verstandes und etwas mehr
Bewertungen innerhalb von 200 Millisekunden ohne          Zeit zum Überlegen doch besser gewesen wären als
Zutun des Bewusstseins und generiert diffuse Gefühle.     die Blitzentscheidung. Typ 4, der Zerrissene, hat ei-
Diese nennt der amerikanische Neurowissenschaft-          gentlich einen guten Zugang zu seinen somatischen
ler Antonio Damasio (1994) somatische Marker. Man        Markern, nimmt diese aber nicht ernst. Er sammelt
kann sie sich als Markierungen im Körper aufgrund         rationale Kriterien, entscheidet auf deren Grundlage
von Gefühlen und körperlichen Empfindungen vor-           und ärgert sich hinterher, nicht auf das eigene Bauch-
stellen. Somatische Marker generieren nur zwei Ar-        gefühl gehört zu haben. Dieser letzte Typ hat häufig
ten von Bewertungen: «gut für mich, wieder auf­           früher oder später eine Sinnkrise, da ihn das Hin und
suchen» oder «schlecht für mich, in Zukunft meiden».     Her im eigenen Leben stark beansprucht.
Die Basis der Bewertung liefert der unbewusste Ver-           Auch Frau Zweifel, die wir anfangs beschrieben
gleich mit früheren Erfahrungen, welche entweder         haben, lässt sich Typ 4 zuordnen, da sie die negativen
positiv oder negativ im emotionalen Erfahrungs­           somatischen Marker bezüglich ihres Jobs immer wie-
gedächtnis abgespeichert wurden. Der Marketing­           der wegschiebt und sich selbst anhand von Verstan-
leiter kommt damit zu einer Aussage wie: «Ich kann        desüberlegungen zum Durchhalten zwingt. Als sie
es nicht genau belegen, aber in Bezug auf das neue        ins Coaching kommt, schläft sie bereits schlecht, grü-
Produkt habe ich ein ungutes Gefühl.»                     belt nächtens und klagt über verschiedene körper­
                                                         liche Symptome. Frau Zweifel macht eine erste spon-
                                                          tane Einschätzung ihrer somatischen Marker zu
   Die Basis von Entscheidungen                           ihrem Job anhand der Affektbilanz. Dieses Tool
   sind Bewertungen.                                     ­haben wir im ISMZ entwickelt, um somatische Marker
                                                          zu messen und in Sprache zu fassen.

    Aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen in der
Beratung hat Maja Storch (2005) einen Fragebogen
entwickelt, den sie als reflexionsstimulierende Inter-
vention verstanden wissen will und mit dessen Hilfe
sich Personen hinsichtlich ihres Entscheidungs­
verhaltens einschätzen lassen. Entsprechend unter-
scheiden wir im ISMZ vier Typen von Entscheidern:
Typ 1, die langsame Brüterin bzw. die Ausgeglichene,
setzt beide Bewertungssysteme bei seinen Entschei-
dungen ein und koordiniert dadurch das Ergebnis ih-
res Verstandes mit dem ihrer somatischen Marker –
also mit den Signalen der Körperebene. Falls beide
Systeme zur selben Bewertung der Situation kommen,
dann wird sofort entschieden. Besteht hingegen eine
Diskrepanz in der Bewertung, dann wird so lange
nach Lösungen gesucht, bis beide Systeme überein-
stimmen. Typ 2, den wir etwas plakativ den Körper-
losen nennen, trifft Entscheidungen mit dem Ver-
stand, da er nur diesen zur Verfügung hat. Somatische
Marker werden nicht wahrgenommen. Dieser Ent-
scheidungstyp hat grosse Probleme damit, herauszu-
finden, was er selbst eigentlich wirklich will, denn
der Zugang zu seinem Selbst, dem Sitz all seiner Le-
benserfahrung, ist ihm versperrt. Dadurch entsteht
oft eine Orientierung an äusseren Normen, die unter
Umständen ins Burnout führen können. Typ 3, die
Schnellentscheiderin, fackelt nicht lange rum, son-
dern entscheidet schnell dank gutem Zugang zu ihren
somatischen Markern sozusagen aus dem Bauch her-
aus. Häufig sind andere von dieser Entscheidungs-        Abb. 6–1: Affektbilanz mit zwei Skalen,
freude begeistert. Manchmal jedoch zeigt das Ergebnis,   Diedrichs et al. (2012), S. 60
16   T H E M A

         Frau Zweifels spontane Einschätzung zeigt ein       mehrere Gespräche geführt und ihre Unzufrieden-
     hohes Mass an negativen und nur einen geringen An-      heit zum Ausdruck gebracht. Es geht ihr besser, weil
     teil an positiven somatischen Markern bezüglich ih-     sie aktiv geworden ist, aber an ihrer Situation ändert
     rer derzeitigen Lage im Job. Wir besprechen, was die    sich wenig. Frau Zweifel denkt nach wie vor daran, zu
     Gründe dafür sein könnten und wie sich ihre Gefühls-    kündigen. Sie möchte auch diese Option anhand ihrer
     lage ändern müsste, damit sie sich in ihrem Job wohl-   somatischen Marker prüfen. Die Argumente ihres
     er fühlt. Gemeinsam überlegen wir mehrere Mass-         Verstandes kennt sie ja schon. Überraschenderweise
                                                             hat sie viel mehr positive somatische Marker bezüg-
                                                             lich einer Kündigung als negative, und dieses Ergeb-
        Das emotionale Erfahrungs­                           nis widerspricht der Bewertung, die sie bisher auf-
        gedächtnis reagiert schnell.                         grund ihres Verstandes vorgenommen hatte. Dieser
                                                             Zielkonflikt zwischen Verstand und emotionalem
                                                             Erfahrungsgedächtnis muss jetzt bearbeitet werden.
     nahmen, wie beispielsweise ein Gespräch mit dem         In mehreren Feedbackschleifen sucht Frau Zweifel
     Chef für eine Einschränkung ihrer Projekttätigkeit zu   nach Lösungen, die beide Systeme in Einklang brin-
     führen. Frau Zweifel nimmt sich einiges für die         gen könnten. Dabei fällt ihr ein, dass ihr ein früherer
     nächste Woche vor und sieht plötzlich mehr persön-      Kollege vor Kurzem einen Teilzeitjob als Personal­
     lichen Handlungsspielraum. Wir treffen uns nach an-     verantwortliche in seinem Start-up-Unternehmen
     gemessener Zeit wieder. In der Zwischenzeit hat sie     angeboten hat. Sie beschliesst, diesen Kontakt zu ak-
T H E M A                 17

                                                          Annette M. Diedrichs ist Diplom-­
                                                          Psychologin, zertifizierte ZRM®-
                                                          Trainerin und Ausbildungstrainerin
                                                          und klientenzentrierte Gesprächs­
                                                          psychotherapeutin nach Carl Rogers.
                                                          Sie war in leitender Funktion im
                                                          internationalen Personalmanage-
                                                          ment tätig und wirkt heute selbst­
                                                          ständig als Personalentwicklerin,
                                                          Trainerin, Beraterin und Coach.
                                                          Freie Mitarbeit u. a. am ISMZ in Zürich.
                                                          www.reflaction.ch
                                                          annette.diedrichs@ismz.ch

                                                          Dr. Maja Storch ist Diplom-Psycho-
                                                          login, Psychodramatherapeutin,
                                                          analytische Psychologin nach C. G.
                                                          Jung, Mitentwicklerin des Zürcher
                                                          Ressourcen Modells ZRM®, Inhaberin
                                                          und wissenschaftliche Leiterin des
                                                          Instituts für Selbstmanagement und
                                                          Motivation Zürich ISMZ, eines Spin-off
                                                          der Universität Zürich, Buchautorin
tivieren und sich generell nach einer anderen Stelle      und Publizistin.
umzusehen, denn eine Kündigung ohne einen neuen           www.ismz.ch
Job kann sie sich nicht vorstellen. Frau Zweifel lernt    maja.storch@ismz.ch
im Coaching unter anderem, ihre positiven und nega-
tiven somatischen Marker wahrzunehmen, und es
gelingt ihr zunehmend, dieses System zusammen mit
ihrem Verstand zu berücksichtigen. Sie wird sicherer
im Umgang mit ihren Bedürfnissen und trifft am
                                                         LITERATUR
Ende der Beratungssequenz eine für sie kluge Ent-
                                                         •	Damásio, A. R. (1994): Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken
scheidung.                                                   und das menschliche Gehirn. München: List-Verlag.
    Mithilfe der Einschätzung ihres Entscheidungs-       •	Diedrichs, A. / Krüsi, D. / Storch, M. (2012): Durchstarten mit dem
typs und der Arbeit mit der Affektbilanz konnte Frau         neuen Team: Aufbau einer ressourcenorientierten Zusammen-
                                                             arbeit mit Verstand und Unbewusstem. Bern: Huber Verlag.
Zweifel sehr gut dabei unterstützt werden, eine ent-     •	Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, langsames Denken.
scheidende Wende in ihrem Leben herbeizuführen.              München: Siedler Verlag.
Wir machen in der Beratung immer wieder die Erfah-       •	Storch, M. / Krause, F. (2014): Selbstmanagement – ressourcen-
                                                             orientiert: Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit
rung, dass unsere Klientinnen und Klienten das Be-
                                                             dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®), 5. Auflage. Bern:
rücksichtigen ihrer somatischen Marker als sehr hilf-       ­H uber Verlag.
reiche zusätzliche Informationsquelle für ihre           •	Storch, M. (2005): Das Geheimnis kluger Entscheidungen.
                                                             München: Goldmann Verlag.
persönliche Entwicklung empfinden.
M
18   T H E M A

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                                            was Sie

              wollen Diese Einsichten helfen Ihnen dabei

                     Einfache Voraussetzungen helfen uns, gute Entscheidungen zu treffen.
                     Wichtig dabei ist die Einsicht, dass wir über einen Gestaltungsspielraum
                     verfügen und dass wir uns bei kollektiven Entscheidungen gemeinsam
                     ­darüber austauschen können.

     Falko E. P. Wilms                                         dieser Sichtweise ausreichend gut entspricht. Daher ist
                                                               eine Quelle der von mir erlebten Konflikte in der Selbst-
     Die erste grundlegende Hilfe beim Entscheiden liegt       täuschung zu finden, meine Wirklichkeit sei die einzig
     in der Einsicht über die Freiheit des Menschen, die       «wahre» Wirklichkeit. Dass dem nicht so ist, zeigt fol-
     Viktor Frankl formuliert und die auch dem persischen      gende Geschichte:
     Mystiker al-Rumi (1207–1273) zugeschrieben wird:              Zwei Bauersöhne erben eine Kuh und wollen das
     Zwischen dem wahrgenommenen Reiz und meiner               Erbe gerecht miteinander teilen. Die beiden wollen ra-
     Reaktion darauf liegt ein Freiraum! Das Geschenk des      tional handeln und rechnen: 1 Kuh geteilt durch 2 Söhne
     persönlichen Freiraums zeigt mir, worauf ich mich         ergibt genau 0,5 Kuh für jeden. Da sagt der eine: «Lass
     auch in schwierigen Situationen besinnen kann: auf        uns die Kuh schlachten und jeder bekommt die Hälfte.
     ein (kurzes) Innehalten, indem ich drei meiner Atem-      Das ist gerecht.» Darauf der andere: «Vielleicht können
     züge, so bewusst es mir gerade möglich ist, wahr­         wir die Kuh kalben lassen, die Kälber und die Milch ver-
     nehme. Problemlösung heisst auch, sich vom Problem        kaufen und den Gewinn aufteilen. Das wäre auch ge-
     zu lösen.                                                 recht.» «Meine L­ ösung bringt aber sofort etwas ein»,
                                                               meint der erste. «Ja genau, deine Lösung bringt einmal
     Man kann nicht nicht entscheiden                          etwas ein. Ich fände es besser, mit der Zeit mehrmals et-
     Menschen verdichten ihre Erfahrungen zu einer per-        was einzunehmen. Da haben wir länger was davon und
     sönlichen Sicht auf die Welt, die wie ein Wahrnehmungs­   bekommen auch mehr. Wir müssen lediglich die Kosten
     filter nur das ins Bewusstsein durchdringen lässt, was    für die Lebenshaltung der Kuh vom Gewinn abziehen.»
T H E M A             19

    Die zweite hilfreiche Einsicht liegt darin,            Wertschöpfung zu dieser Balance führen. Immer geht
ergebnis­f ixierte und ergebnisoffene Arten der Ent-       es dabei um die Übernahme von Verantwortung als
scheidungsfindung voneinander zu unterscheiden.            Ver-Antwort-ung, also Antwort auf die Frage: «Wie
Es gibt viele Möglichkeiten für eine Entscheidung zu-      wollen (nicht: können!) Sie mir begründen, was Sie ge-
gunsten einer «gerechten» Teilung. Den Brüdern hilft       tan haben?»
es, in einem ergebnisoffenen direkten Kommunikati-
onsprozess eine «für uns jetzt und hier sinnvolle»
Entscheidung zu suchen, anstatt mit einer ergebnis-           Schalten Sie bewusst Ihren
fixierten, mathematisch korrekten Weise die «objek-           Autopiloten aus.
tiv richtige» Entscheidung zu errechnen. Dabei be-
rücksichtigen sie, dass auch das nachweislich korrekt
errechnete Optimum einer akzeptierten Interpreta-              Vor diesem Hintergrund weise ich meine Klienten
tion bedarf: Welche Bedeutung hat «0,5 Kuh»?               auf den eingangs zitierten Freiraum hin: «Machen Sie
    Die dritte hilfreiche Einsicht liegt darin, Vernunft   doch, was Sie wollen. Schalten Sie bewusst Ihren Auto­
und Gemüt miteinander zu versöhnen. Meine Klien-           piloten aus. Zwischen den Anforderungen an Sie und
tinnen und Klienten verfügen über Führungserfah-           Ihrer Reaktion darauf gibt es einen freien Raum. Dort
rung und erzielen oft gute Resultate, aber sie können      kann eine Begegnung stattfinden mit dem, was Sie in
den Weg zu dieser Balance nur schwer finden. Dabei         Ihrem Inneren wirklich wollen und nach aussen au-
gibt es einfache Werkzeuge, die auch im Kontext von        thentisch vertreten können.»
20   T H E M A

     Quellen der Entscheidungskompetenz
     Dieses authentische Entscheiden verlangt nur wenig,
     und – als vierte hilfreiche Einsicht – die Voraus­
     setzungen des guten Entscheidens sind in starkem
     Masse erlernbar:

     Mathematische Grundkenntnisse nutzen
     Bei Entscheidungen aufgrund von Fakten reichen die
     Grundrechenarten aus, wenn sie angereichert wer-
     den durch das Rechnen mit Prozentwerten (um Grös-
     senverhältnisse oder Zinswirkungen zu ermessen)
     und dem Dreisatz (um proportionale Zusammen­
     hänge zu nutzen). Damit kann ich schon viele erwart-
     bare Folgen meiner Entscheidungen mit einer ein­
     fachen Tabellenkalkulation ermitteln und später
     begründet darlegen.
      Beispiel: Ich notiere in den Spaltenköpfen Getränke und
      in die Zeilenköpfe schreibe ich Freunde, denen ich
      ­G etränke reichen möchte. Dann schätze ich in den
       Z ellen, wie gut die Freunde die Getränke finden
       ­
       (0 = doof, 1 = geht so, 2 = gut, 3 = toll). In der Spalten­
       summe sehe ich, um wie viel Prozent ein Getränk besser
       ankommt als andere.

        Die Gestaltung reflexiver
        ­Kommunikationsprozesse
         kann erlernt werden.

     Wahrscheinlichkeit verstehen
     Es ist hilfreich, eine Einstufung von Sachverhalten
     nach dem Grad der Gewissheit (= Wahrscheinlich-
     keit) ihres kommenden Eintretens vornehmen zu
     können. Sind grössere Datenmengen verfügbar,
     kann ich solche Einstufungen mit mathematischer
     Fortschreibung ableiten. Auch hier leisten Tabellen-
     kalkulationen erstaunlich viel. Habe ich keine Da-
     ten, entwickle ich plausible Schätzungen unter
     Rückgriff auf meine Expertise, meine begründeten
     Annahmen, meine Erfahrungen und meine Intuiti-
     onen.
      Beispiel: Wahrscheinlichkeiten nutze ich durch Argu­
      mente für meinen Kontostand aufgrund erwarteter Vor­
      fälle am Jahresende. Hierzu erarbeite ich auch Gegenar­
      gumente meiner Erwartungen. Eine Tabellenkalkulation
      ist auch hierbei hilfreich.

     Korrelation und Kausalität unterscheiden
     Den Unterschied zwischen Korrelation und Kausali-
     tät erkenne ich, indem ich mir klarmache, dass eine
     Korrelation eine UND-Beziehung ist, hingegen eine
     Kausalität eine WEIL-Beziehung meint.
T H E M A               21

 Beispiel: Ich unterscheide durch begründete Thesen
 und plausible Argumente, ob ich eine konkrete Situati­
 onsbeschreibung eher als Korrelation oder eher als Kau­
 salität ansehe. Eine beispielhafte Beschreibung wäre:
 «In letzter Zeit arbeite ich eher abends. Mir fällt auf,
 dass ich meinen Chef jetzt öfter sehe als früher.»

Adler- und Froschperspektive benutzen
Meine Problemwahrnehmung ist untrennbar verbun-
den mit meiner dabei eingenommenen Perspektive.
Mit der Adlerperspektive gelingt mir ein Weitblick,
der mir einen groben Überblick über die Einbettung
des wahrgenommenen Problems in einen übergeord-
neten Gesamtzusammenhang ermöglicht. Mit der
Froschperspektive gelingt mir ein Durchblick, der mir
Einsichten über konkrete Details schenkt. Mit dem
Adlerblick betrachte ich zunächst wesentliche Fakto-
ren der Fragestellung in ihrem Zusammenspiel und
erarbeite eine grobe Lösungsrichtung. Mit dem
Froschblick erkunde ich danach notwendige Detailan-
passungen und ermittle dazupassende Ankerwerte.
 Beispiel: Ich optimiere meinen Schreibtisch. Zunächst
 ermittle ich seine wesentlichen Funktionen (z. B. Info-­
 Zentrale) und Ziele im Arbeitsalltag (z. B. aktueller Info-­
 Stand). Getrennt davon suche ich konkrete Verbesse­
 rungen (z. B. Bereiche der Tischplatte anders belegen).

Prioritäten setzen
Das Setzen von Prioritäten gelingt mir, wenn ich Ver-
gleichsobjekte anhand des Erfüllens bestimmter
Merkmale/Anforderungen bewerte. Ist eine Liste mit
den Merkmalen einer guten Lösung /Auftragser­
füllung erstellt, ordne ich den Handlungsmöglich­
keiten für jedes Erfüllen eines Merkmals einen Plus-
punkt zu. (Aufwändiger ist die Ermittlung der
Abweichungsgrade bei den einzelnen Merkmalserfül-
lungen.) Die Alternative mit den meisten Punkten
(bzw. dem geringsten Abweichungsgrad) bekommt
dann meine oberste Priorität.
 Beispiel: Beim Kauf eines Alltagsobjektes fixiere ich die
 (gewichteten) Merkmale eines guten Kaufs (z. B.
 Preisobergrenze, Qualitätsuntergrenze etc.) und die Er­
 kennbarkeit der Merkmalserfüllung (z. B. Preis, Verar­
 beitung etc.). Dann wähle ich 2 oder 3 Stücke aus und
 notiere für jedes Stück, welche Merkmale es erfüllt. Ab­
 schliessend ermittle ich anhand der (gewichteten)
 Merkmalspunkte den bestmöglichen Kauf.

Eigene Werte beherzigen
Meine (Normen und) Werte sind meine grundlegen-
den ideellen Vorstellungen, nach denen ich mein Den-
ken, Tun und Unterlassen ausrichte, um eine lang-
fristig (sittlich) gute Lebenshaltung zu erlangen. Sie
helfen mir, mich in bestimmte Bezugsgruppen zu in-
22   T H E M A

     tegrieren, denn unterschiedliche Bezugsgruppen (z. B.       tung von «0,5 Kuh» sie wirklich beherzigen wollen
     Berufsverbände, Kolleginnen oder Freunde) orientie-         und können.
     ren sich an verschiedenen Wertvorstellungen. Per-               Eine sechste Erkenntnis ist, dass auch die Gestal-
     sönliche Werte sind nicht in Stein gemeisselt, son-         tung reflexiver Kommunikationsprozesse (Wilms
     dern ins Leben integriert. Veränderungen in meinem          2016) erlernt werden kann. Es geht dabei nicht nur
     Leben (z. B. Bildung, Erziehung und eigene Erfahrun-        darum, Beobachtungen und Bewertungen strikt von-
     gen) verändern meine Wertvorstellungen.                     einander zu trennen und sich über Bedeutungen zu
                                                                 verständigen (Wilms 2015). Das kann ich relativ ein-
      Beispiel: Ich fülle ehrlichen Herzens meine Patienten­
                                                                 fach üben. Aber es geht auch darum, miteinander in
      verfügung aus oder formuliere meine Grabrede, prüfe
      sie von Zeit zu Zeit auf ihre Aktualität hin und notiere   Kontakt zu kommen und eine Vertrauensbasis zu le-
      gegebenenfalls Veränderungen.                              gen. Dann gilt es, den sachlichen, zeitlichen und bud-
                                                                 getären Rahmen abzustecken und Erwartungen zu
     Authentischer Teil einer Gemeinschaft                       klären. Erst dann können sachinhaltliche Bearbei-
     Eine fünfte Erkenntnis ist, dass kollektive Entschei-       tungen der Problematik greifen. Aus den Arbeitser-
     dungen im Wesentlichen derselben erlernbaren Vor-           gebnissen sind später konkrete Arbeitspakete und
     aussetzungen wie individuelle Entscheidungen be-            Verantwortlichkeiten abzuleiten und Personen zuzu-
     dürfen. Möchte ich mit anderen gemeinsam eine               ordnen. Abschliessend sind persönliche Selbstver-
     sinnvolle Entscheidung herbeiführen, dann sollte            pflichtungen abzugeben, wozu es der anfangs geleg-
     zumindest ich meine individuelle Entscheidungs-             ten Vertrauensbasis bedarf. Sie verbindet authentisch
     kompetenz wahrnehmbar authentisch einbringen                agierende Beteiligte miteinander zu einer wirklichen
     können (und dies auch von den anderen erwarten).            Gemeinschaft, die wertschätzend miteinander um-
         In ergebnisoffenen kollektiven Entscheidungs-           geht. Das authentische Mitgestalten ergebnisoffener
     prozessen sind Formen der kommunikativen Verstän-           kollektiver Entscheidungen verlangt zwar einen
     digung zu gestalten: Um zu entscheiden, haben sich          durchaus langen Atem des Übens. Aber es ist möglich
     die erbenden Söhne zu verständigen, welche Bedeu-           und überaus segensreich.

                                                                   Falko E. P. Wilms wirkt als Organisa­
                                                                   tionsberater, Dialogbegleiter, Coach
                                                                   und Hochschullehrer. Er ist unterwegs
                                                                   als Partner bei der Erkundung von
                                                                   (noch) unbekanntem, oft risikobehaf-
                                                                   tetem Gelände.
                                                                   office@falko-wilms.de

                                                                  LITERATUR
                                                                  •	Badaracco, J. L. (2017): Mit fünf Fragen aus dem Dilemma. In:
                                                                     Harvard Business Manager, Feb. 2017, S. 88–93.
                                                                  •	Rüegg-Stürm, J. / Grand S. (2015): Das St. Galler Manage-
                                                                     ment-Modell, Bern u. a.: Haupt .
                                                                  •	Wilms Falko E. P. (2016): Gestaltung reflexiver Kommunikatio-
                                                                     nen. In: TrainerJournal 06/ 16, S. 25 .
                                                                  •	Wilms Falko E. P. (2015): Beobachten und bewerten. In: TrainerJour-
                                                                     nal 02/15, S. 25.
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