Länderanalyse: Das doppelte Russland - Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen - Bibliothek der ...

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Internationale Politikanalyse
                                                                                                             International Policy Analysis

                                                                                                             Reinhard Krumm

                                                                                                             Länderanalyse: Das doppelte Russland
                                                                                                             Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen

                                                                                                             „ Die Russische Föderation hat in den 17 Jahren der Transformation einen
                                                                                                             erstaunlichen Wandel vollzogen. Trotz schwerer politischer und wirtschaft-
                                                                                                             licher Rückschläge hat sich das größte Land der Erde stabilisiert. Der poli-
                                                                                                             tische Rahmen ist dabei eng gezogen, Stabilität und Sicherheit haben
                                                                                                             höchste Priorität.

                                                                                                             „ Der beeindruckende wirtschaftliche Aufschwung dauert seit Jahren an.
                                                                                                             Zu einem großen Maße beruht er auf dem Verkauf von Rohstoffen. Von
                                                                                                             der dringenden Notwendigkeit, die Wirtschaft zu diversifizieren und zu
                                                                                                             modernisieren, den Aufbau der weiterverarbeitenden Industrie zu fördern
                                                                                                             und die klein- und mittelständischen Betriebe zu unterstützen, ist die
                                                                                                             Regierung überzeugt, doch die Umsetzung ist mangelhaft.

                                                                                                             „ Russland läuft Gefahr, zu einem sozial ungerechten Land zu verkom-
                                                                                                             men. Der Staat versteht es nicht, die mit einem Wirtschaftsboom einher-
                                                                                                             gehende Ungleichheit zu verringern. Dringend bedürfen die sozialen Siche-
                                                                                                             rungssysteme wie Renten- und Krankenversicherung einschneidende
                                                                                                             Reformen, genauso wie das Bildungswesen.

                                                                                                             „ Außenpolitisch hat Russland durch den Wirtschaftsboom an Gewicht
                                                                                                             gewonnen. Moskau ist entschlossen, mehr Einfluss auf die internationale
                                                                                                             Politik zu nehmen und eigene Interessen zu verfolgen. Vorrangiges Ziel ist
                                                                                                             es, an der Architektur einer neuen Weltordnung mitzuwirken. Dabei scheut
                                                                                                             die russische Führung nicht davor zurück, wie der Krieg in Georgien ein-
                                                                                                             drucksvoll beweist, Waffen einzusetzen. Trotzdem: Eine Eindämmungspoli-
                                                                                                             tik oder Ausgrenzung Russlands wäre fatal.

Impressum                          Bestellungen                    Alle Texte sind online verfügbar:
                                                                                                                                                                         SEPTEMBER 2008
Friedrich-Ebert-Stiftung           Friedrich-Ebert-Stiftung        www.fes.de/ipa
Internationale Politikanalyse      Internationale Politikanalyse
                                                                   Die in dieser Publikation zum Ausdruck
Abteilung Internationaler Dialog   Astrid Hill
                                                                   kommenden Meinungen sind die des
D-10785 Berlin                     D-53170 Bonn
                                                                   Autors / der Autorin und spiegeln nicht
www.fes.de/ipa                     E-Mail: info.ipa@fes.de         notwendigerweise die Meinung der
E-Mail: info.ipa@fes.de            Fax: +49 (228) 883-625          Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
ISBN 978-3-89892-973-8
Russland auf einen Blick in Zahlen

                                      2005               2006              2007              2008           2009
 Reales BIP-Wachstum, %                6,4                7,4               8,1               7,0            6,2
 Jährliche Inflationsrate, %           12,7               9,7               9,0               12,5           9,0
 Saldo des Staatshaushalts,            8,1                8,4               5,1               5,0            2,5
 % BIP
 Arbeitslosigkeit, %                   7,6                7,2               6,4               6,2            6,1
 Leistungsbilanzsaldo, % BIP           11,0               9,5               6,1               7,0            3,5

Daten zur Verfügung gestellt von D&B Country Risk Services (Zahlen für 2008 und 2009 als Prognosen)

 Wechselkursentwicklung*1             2005               2006              2007             2008*2
 1 Rubel in Euro                      0,029             0,029              0,028             0,028
 1 Euro in Rubel                      34,03             34,72              36,07             36,09

 Demografie                          2005*3              2006              2007             2008*4
 Einwohnerzahl in 1000               143.953           143.221               –              140.702
 Anteil über 65-Jähriger an der        13,8                –                 –                14,1
 Gesamtbevölkerung, %
 Anteil unter 15-Jähriger an der        –                  –                 –                14,6
 Gesamtbevölkerung

                                       USA            Russland         Deutschland
                   5
 Gini-Koeffizient*                    0,408             0,399              0,283
 (2007/2008)
 Militärausgaben 2007 im           546,79 Mrd.        35,37 Mrd.        36,93 Mrd.
 Vergleich*6                        US-Dollar          US-Dollar         US-Dollar
                                    (4,0% BIP)       (3,6% BIP)*7        (1,4% BIP)
 Frauenanteil in Führungs-            42%                39%               37%
 positionen 1999–2005*8
 Korruptionsindex 2007*9             Platz 20          Platz 143          Platz 16

Anmerkungen
1)   Quelle: http://www.oanda.com/convert/classic (Wechselkurse jeweils zum 31.12.).
2)   August 2008
3)   Quelle: http://stats.oecd.org/wbos/viewhtml.aspx?queryname=492&querytype=view&lang=en (besucht am 17.09.08).
4)   Quelle: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html (besucht am 17.09.08).
5)   Quelle: http://hdrstats.undp.org/indicators/147.html (besucht am 17.9.2008).
6)   Quelle: http://milexdata.sipri.org/result.php4 (besucht am 17.09.08).
7)   Kennziffer aus dem Jahr 2006
8)   Quelle: http://hdrstats.undp.org/indicators/282.html (besucht am 17.09.2008).
9)   Quelle: http://www.transparency.de/Tabellarisches-Ranking.1084.0.html (besucht am 18.9.08).
Internationale Politikanalyse   1

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Historischer Einblick – Transformation unter Jelzin und Putin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Innenpolitik – Reform und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Wirtschaftspolitik – Staatliche Einmischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Sozialpolitik – Wachsende Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Außenpolitik – Unbändiges Streben nach Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Ausblick – Eine Großmacht auf dem Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Internationale Politikanalyse                          3

Einleitung                                                  tion. Deshalb die ausgeprägte Abneigung der russi-
                                                            schen Regierung, sich einem Bündnis anzuschließen,
Öffentliche Briefe an den russischen Präsidenten sind       sei es die EU oder die Nato. Denn Russland würde
selten. Es sei denn, der Verfasser heißt Alexander Min-     Eigenständigkeit verlieren, so die Befürchtung, und
kin, einer der bekanntesten Journalisten des Landes,        anderen Staaten hinterher eilen. Russland versteht
der für die auflagenstärkste Tageszeitung Moskovskij        sich aber als eine treibende, nicht als getriebene
Komsomolez schreibt. Er darf es wagen, sich im Na-          Macht.
men der Leser an Dmitrij Medvedjev zu wenden und                Das »doppelte« Russland wird innen- und außen-
behaupten, dass »wir Sie überhaupt nicht kennen«.           politisch genau beobachtet: Hat es eine gute oder
Frech fragt der Journalist weiter: »Im Allgemeinen,         eine schlechte Regierung, ist es eine gelungene oder
was macht der Mensch so auf dem Gipfel der Macht?«          eine gescheiterte Transformation, ist es im Ausland
Denn höher, so Minkin, stehe ja nur noch Gott.              angesehen oder gefürchtet? Symbolisch, so die Hoff-
    Diese Frage kommt unerwartet. Abgesehen davon,          nung einiger russischer Analytiker, könnte für diese
dass über 70 Prozent der Wahlberechtigten den Prä-          Fragen schon jetzt das Tandem Präsident Dmitrij
sidenten im März 2008 ins Amt wählten und eine              Medvedjev (43) und Premier Vladimir Putin (56) ste-
Vorstellung von ihm haben sollten, gilt die russische       hen. Beide verfolgen ein Ziel, aber möglicherweise auf
Presse im Allgemeinen als handzahm. Besonders               unterschiedlichen Wegen. Im besten Fall könnte die
wenn es daran geht, die höchsten staatlichen Stellen        Machtteilung der Anfang einer milden Form öffent-
zu karikieren oder kritisieren. Wie lässt sich die Chuzpe   licher politischer Konkurrenz in Russland sein.
des Herrn Minkin erklären?                                      Einen Diskurs der Ideen braucht das größte Land
    Der Kreml am Roten Platz besitzt viele Türme, um        der Erde dringend – in der Politik, in der Wirtschaft,
genau zu sein, sind es 20. Eine eigentlich banale Tat-      in der Sozialpolitik und in den internationalen Bezie-
sache, auf die jedoch politische Beobachter in Moskau       hungen. Wo steht das Land und wo will es hin, wel-
besonders in jüngster Zeit sehr gern hinweisen, denn        chen Weg und welche Instrumente will es benutzen,
die schmalen Wehrbauten symbolisieren unterschied-          um Probleme zu lösen, für die nicht immer nationale
liche Interessen innerhalb des russischen Machtzent-        Konzepte ausreichen?
rums.
    Eine solche Konstellation findet sich in vielen Län-
dern wieder. Doch im Russland des 21. Jahrhunderts          Historischer Einblick – Transformation
erscheinen die Lager und die damit verbundenen              unter Jelzin und Putin
Ansichten so widersprüchlich, dass es erlaubt ist, von
einem »doppelten« Russland zu sprechen. Die Ansich-         Es war eine fulminante Rede des Präsidenten. Vladimir
ten fundieren auf zwei unterschiedlichen Wahrneh-           Putin trat am 8. Februar diesen Jahres – also nach den
mungen der Realität, beide auf ihre Art richtig, doch       Dumawahlen und vor den Präsidentschaftswahlen –
selektiv. Daraus erwächst die schwierige Lage ein Land      vor den Staatsrat im Kreml und stellte die »Strategie
zu analysieren, in dem unterschiedliche Lebenswelten        der Entwicklung Russlands bis zum Jahr 2020«1 vor.
und deren Protagonisten parallel existieren.                Nach einem kritischen Rückblick auf die Arbeit seines
    Da sind zum einen die Liberalen, die einen Jahrhun-     Vorgängers Boris Jelzin und einer wohlwollenden Bi-
derte alten Streit mit den konservativen Kräften aus-       lanz seiner eigenen Tätigkeit als Präsident schaute er
tragen, ob in Russland eine freie Gesellschaft und ein      nach vorn.
stabiler Staat vereinbar sind. Unter Jelzin gelang             Während er den »ambitionierten« Weg Russlands
Anfang der neunziger Jahre ein kurzer Aufbruch, mit         skizzierte, kam er auf die Probleme zu sprechen. Ganz
zweifelhaftem Ausgang. Die Widersacher damals und           im Stile des russischen Oberhauptes, das sich mit
heute heißen Siloviki. Es sind Machtpolitiker, die an       Politik als Staatskunst beschäftigt, nicht aber für die
einen starken Staat glauben, welchen, so ihre feste,        Umsetzung der Tagespolitik verantwortlich ist, kriti-
traditionell russische Überzeugung, eine Zivilgesell-       sierte er die »höchst ineffektive« Wirtschaft, die
schaft nur schwächt. Der Staat kontrolliert den Bürger,     »maßlose Zentralisierung« und den »phänomenalen«
indem er ihn bürokratisiert und gesellschaftspoli-          Unterschied zwischen den Gebieten in Russland.
tisches Engagement von oben initiiert.                         Präsident Putin forderte die Modernisierung der
    Es ist die historische Auseinandersetzung zwischen      Produktion, Konkurrenzfähigkeit auf dem Gebiet der
westlich orientierten Reformern und denjenigen, die         Hochtechnologie, den Ausbau der Infrastruktur, Her-
                                                                                                                              Reinhard Krumm
Russland als unabhängiges Machtzentrum sehen, das                                                                             ist Landesvertreter
einen Sonderweg zu gehen hat, um erfolgreich zu             1 Nachzulesen auf der offiziellen Website des Kreml unter www.    der Friedrich-Ebert-
sein – Westler gegen Ostler, Aufbruch gegen Tradi-            ru/text/appears/2008/02/159528.shtml (August 2008).             Stiftung in Moskau
4   Reinhard Krumm                                                                       Länderanalyse: Das doppelte Russland

    stellung von Chancengleichheit für die Bürger, Eigen-            Ein »doppeltes« Russland, das zum Aufbruch be-
    ständigkeit und Verantwortlichkeit für die staatliche        reit, doch in der Tradition gefangen ist. Zwei Richtun-
    Verwaltung und unabhängige Richter. Ziel des zu-             gen, die kaum in Einklang zu bringen sind. Gleichwohl
    künftigen politischen Systems sei es, »Millionen un-         ist noch einmal daran zu erinnern, dass seit dem Zer-
    serer Bürger zu individueller Freiheit und sozialer Ge-      fall der Supermacht Sowjetunion nicht einmal zwei
    rechtigkeit« zu führen.                                      Dekaden vergangen sind. Und in dieser relativ kurzen
        Trotz Jelzin und wegen Putin, so die selbstbewusste      Zeitspanne ist das Land nach dem Zusammenbruch
    Nachricht des damaligen Präsidenten Putin, stehe die         der Supermacht, der wirtschaftlichen Schocktherapie
    Russische Föderation vor dem Sprung in ein erfolgrei-        1992, dem staatlichen Panzerangriff auf das Parla-
    ches 21. Jahrhundert. Auch wenn einige Ziele wie die         ment 1993 und der schweren Wirtschaftskrise 1998
    Erhöhung der Mittelschicht auf bis zu 70 Prozent, von        vom Boden der politischen Bühne aufgestanden.
    heute etwa 15 Prozent, sehr gewagt sind, so legt                 Geschah dies aufgrund der Regierungszeit von
    seine Kritik den staatlichen Finger auf die Wunden der       Vladimir Putin oder trotz seiner Regentschaft? Diese
    Transformation. Nun, implizierte Putin, beginne die          Frage formulierten zwei US-amerikanische Wissen-
    Etappe der Regenerierung.                                    schaftler und gaben in ihrer Artikelüberschrift gleich
        Es ist der Versuch, die schwierige Zeit des Um-          die Antwort: »Der Mythos des autoritären Modells«2.
    bruchs der vergangenen 17 Jahre seit dem Zusam-              Sie stellen die faktenreiche These auf, dass Russland
    menbruch der Sowjetunion für beendet zu erklären.            sich viel weiter hätte entwickeln können, wäre das
    Sie war zum Teil chaotisch (Schocktherapie), verbre-         Land einen demokratischeren Weg gegangen. Ein
    cherisch (Teile der Privatisierung), brutal (Tschetsche-     autokratisches Modell sei keine Alternative zur Demo-
    nienkrieg) und ernüchternd (Verlust außenpolitischen         kratie, es bremse nur das Potential eines Landes.
    Gewichts). Das Volk wurde auf eine Achterbahnfahrt               Bei der Thesenformulierung blieben offensichtlich
    geschickt, auf der es zunächst nur bergab, später            die historischen Erfahrungen des Landes sowie die
    auch wieder bergauf ging.                                    Stimmung unberücksichtigt. Diese verlangten nach
        Deshalb fällt die Bewertung der Ergebnisse der           den Jelzin-Jahren einen starken Staat, den starken
    Transformation sehr unterschiedlich aus. Zum einen           Mann. Nur er ist in der Lage, so der Wunsch der Be-
    ergibt sich ein sehr positives Bild eines Landes, das sich   völkerung, dringend notwendige Reformen in die
    nach den Jahren der Wirren unter Boris Jelzin bis zum        Wege zu leiten. Diese Überzeugung hat sich nicht nur
    Jahre 2000, dann unter Vladimir Putin bis zum Jahre          deshalb herausgebildet, weil der Staat diese Meinung
    2008, erstaunlich entwickelt hat. Die Kritiker behaup-       formt.
    ten hingegen, dass in den letzten Jahren viele der klei-         Noch immer verbindet die Mehrheit der Russen mit
    nen Inseln gesellschaftspolitischer und unternehmeri-        den Reformen von Michail Gorbatschov (77) und Boris
    scher Freiheiten durch die Flut staatlich kontrollierter     Jelzin wenig Positives. Ihr Leben hatte sich auf der
    Modernisierung untergegangen sind.                           materiellen Glücksangebotsseite zwar verbessert,
        Zu den Errungenschaften gehören sicherlich der           aber ihnen standen nur geringe Mittel zur Verfügung,
    wirtschaftliche Aufschwung mit jährlich etwa sieben          es zu beschaffen. Die Vergünstigungen der Sowjetzeit
    Prozent Wachstum, die damit zusammenhängende                 wie kostenlose Wohnungen und Ferienreisen began-
    Zunahme ausländischer Direktinvestitionen, der Auf-          nen schnell zu schwinden. Gleichwohl sind ihnen die
    bau von Fabriken internationaler Unternehmen, eine           Hintergründe dieses Wandels nicht bekannt. Das
    politische Stabilität, die einen verfassungsmäßigen          Wissen über die Misswirtschaft der Sowjets und die
    Wechsel des Staatsoberhaupts aushält sowie die               entsprechend schlechte wirtschaftliche Lage des
    Rückgabe eines gewissen Vertrauens in die Zukunft.           Riesenreiches am Ende des 20. Jahrhunderts, die dann
    Zudem hat Russland außenpolitisch an Einfluss ge-            zum Kollaps führte, ist gering. Obwohl gerade in den
    wonnen.                                                      90er Jahren darüber viel publiziert worden ist.
        Dem ist entgegenzusetzen, dass der wirtschaftliche           Stattdessen hat sich in das Bewusstsein festgesetzt,
    Boom zu einem sehr großen Teil auf dem hohen Erd-            dass sowohl für das Ende der Sowjetunion als auch
    ölpreis beruht (statt 16 US-Dollar pro Barrel unter Jel-     für den damit zusammenhängenden Niedergang
    zin, nun fast 150 US-Dollar pro Barrel), dass sich noch      Russlands in den 90er Jahren zu einem nicht geringen
    immer einige Wenige bereichern, der Staat die Un-            Teil der Westen verantwortlich ist. Der habe beim Re-
    gleichheit ungenügend ausgleicht und die Gesell-             formprozess Russlands komplett versagt. Versehent-
    schaft dadurch unnötig gestresst wird, dass die poli-
    tische Stabilität an die der Sowjetunion erinnert und        2 Michael McFaul and Kathryn Stoner-Weiss: The Myth of the
    dass von freien Wahlen oder einer Gewaltenteilung              Authoritarian Model, in: Foreign Affairs, January / February
    keine Rede sein kann.                                          2008, Washington, Seite 68 bis 84.
Internationale Politikanalyse   5

lich aus Hybris, oder absichtlich, um Russland zu           tät. Wohlstand für Viele muss her, gepaart mit dem
schwächen. Erst als Russland sich auf seine eigenen         so schwer greifbaren Gemeinschaftsgefühl.
Tugenden besann, starker Staat und kontrollierte               Der Rückgriff auf den bisher einenden Sieg im
Modernisierung von oben, sei es wieder aufwärts ge-         2. Weltkrieg, der in diesem Jahr seit langer Zeit wieder
gangen.                                                     mit einer gemeinsamen Militärparade und Kriegs-
    Diese Schuldzuweisung kulminierte in einem Do-          geräteschau auf dem Roten Platz gefeiert wurde, wird
kumentarfilm, ausgestrahlt zur besten Sendezeit im          für die jüngere Generation nicht mehr lange als Ideo-
Staatsfernsehen, der großes Aufsehen erregte und in         logie-Ersatz ausreichen. Jedoch haben die Jahre der
den Medien diskutiert wurde. Am Beispiel von Byzanz         Transformation bisher kein anderes Ereignis hervorge-
wurde der »Tod eines Imperiums« analysiert. Grund           bracht, das ein so heterogenes Volk verbinden
des Zerfalls waren, so die Analyse, Oligarchen und          könnte.
westlicher Einfluss. Das dürfe sich in keinem Fall wie-
derholen. Deshalb ist Filmautor Vater Tichon, religiö-
ser Beichtvater Putins, davon überzeugt, dass »Russ-        Innenpolitik – Reform und Widerstand
land nur als Imperium existieren kann«.
    Die Erweiterung der Nato 1999 und 2004 sowie            Folgende Überschrift vermittelt dem russischen Leser
die bunten Revolutionen in der Ukraine und Georgien         klar doch wenig spektakulär die politische Lage im
bestärkten in Russland die alte Angst vor der Einkrei-      Land: »Medvedjev kam, Putin blieb«. Doch wie steht
sung. Das Verhältnis zu den USA ist schwierig, das zur      es mit dem Kräfteverhältnis zwischen Präsident und
EU nach deren Erweiterung bisweilen angespannt, zu-         Premier? Da bedient sich die Unabhängige Zeitung
mindest in den bilateralen Beziehungen zu den balti-        (Nezavissimaja Gazeta) einer dreispaltigen Fotogra-
schen Staaten und Polen.                                    fie, um etwaige Zweifel auszuräumen: Ein vor Kraft
    Eine Alles-oder-Nichts-Mentalität ist vielleicht be-    strotzendes Kampfflugzeug symbolisiert Putin, ein
zeichnend für das Russland, das sich unter Vladimir         kleines Sportflugzeug mit Propeller seinen Nachfol-
Putin stabilisiert hat: entweder Freund oder Feind. Zu-     ger.
mindest benutzt der Staat diesen Ansatz, um eine                Auf den ersten Blick wirkt das Bild wie eine Schmon-
Ideologie aufzubauen, die sich deutlich von so ge-          zette, die dem Bürger aber aus der Seele spricht und
nannten westlichen Werten wie Menschenrechte,               sein Unverständnis bestärkt: Welche politischen Inst-
Demokratie und persönlicher Selbstbestimmung ab-            rumente stehen dem neuen unerfahrenen Präsiden-
grenzt. Zwar sind diese Werte alle in der russischen        ten zur Verfügung? Füllt sein Vorgänger doch die Po-
Verfassung verankert, aber Russland will sie nach           sitionen des ersten Piloten aus, die des Konstrukteurs
eigenen Vorstellungen mit Inhalt füllen.                    des fliegenden Tandems und in gewissem Sinne auch
    Wie ein demokratisches Staatswesen auszusehen           die des Bordcomputers.
hat, definiert Russland selbst. Unter Jelzin, so der Vor-       Um seine Nachfolge zu bestellen, spielte Vladimir
wurf, seien westliche Modelle benutzt worden. Das           Putin verschiedene Varianten durch; alle waren mit
sei Gebrauchtware gewesen, für andere Länder kon-           Risiken verbunden. Er verzichtete auf die dritte Amts-
zipiert und auf Russland nicht anwendbar. Gleichwohl        zeit und achtete damit die Verfassung. Aber ganz
liegt ein Konzept, wie ein vaterländisches Instrumen-       abtreten wollte er auch nicht, denn sein Nachfolger
tarium auszusehen hat, dass in einer globalisierten         Medvedjev benötigt Unterstützung bei der Austarie-
Welt mit hohem Konkurrenzdruck erfolgreich ange-            rung der Balance unterschiedlicher Interessengrup-
wendet werden kann, nicht vor.                              pen, insbesondere der Siloviki gegen die Liberalen.
    Der russische Reflex des starken Staates mag nicht      Auch könnte Putins Sicherheit in Gefahr geraten,
mehr ausreichend sein, um Innovation und Wohlstand          würde er sich ganz aus der Politik zurückziehen und
zu fördern. Denn wie will man im Menschen den Un-           Einfluss verlieren.
ternehmergeistunterstützen, jedoch den dabei zu er-             Putins Gefolgsleute haben sich nun aufgeteilt.
wartenden Willen nach politischer Verantwortung             Einige, wie der erste Stellvertreter des Ministerpräsi-
beugen?                                                     denten Igor Schuvalov (41) und der stellvertretende
    Die Rede Putins im Kreml, eine Mischung aus Tra-        Ministerpräsident Igor Setschin (48), sind vom Kreml
dition und Warnruf nach Aufbruch, gibt keine Ant-           ins Weiße Haus, dem Amtssitz der Regierung, umge-
worten. Wie lassen sich beide Richtungen vereinen?          zogen. Andere, wie der Leiter der Präsidialadministra-
Eine gemeinsame Identität könnte das Bindeglied             tion Sergej Naryschkin (54), sind den umgekehrten
sein. Doch die fehlt. Das neue Selbstwertgefühl der         Weg gegangen. Einen Austausch der politischen
Bürger, das in den letzten Jahren im Entstehen begrif-      Eliten wie unter Putin nach der Präsidentschaft von
fen ist, wird von Medvedjev mehr fordern als Stabili-       Boris Jelzin hat es bisher nicht gegeben und ist unter
6   Reinhard Krumm                                                                      Länderanalyse: Das doppelte Russland

    den jetzigen Voraussetzungen auch unwahrscheinlich            verfügt. In Russland kann er das, ohne über eine Mit-
    für die nahe Zukunft.                                         gliedschaft zu verfügen. Präsident Medvedjev lehnte
        In den vergangenen acht Jahren der Regierungszeit         sie auf dem Parteitag im April vor laufenden Kameras
    Putin hat sich das Profil der Eliten deutlich gewandelt.      ebenfalls ab.
    Zunächst erhielten über zwei Drittel der politischen              Ob allein oder zu zweit: Die zu lösenden Probleme
    Elite ihre Berufung nach dem Jahr 2000, also unter            der russischen Politik sind mannigfaltig und die Zeit ist
    Putin. Zugenommen hat der Anteil der Petersburger             knapp. Denn noch immer sind in Russland die Politiker
    Elite, fast ein Viertel, zu der auch Medvedjev gehört.        damit beschäftigt die Altlasten der Sowjetunion abzu-
    Und gewonnen haben diejenigen an Einfluss, die zum            bauen und gleichzeitig die neuen Herausforderungen
    einen Erfahrungen in der Geschäftswelt haben und              zu meistern. »Lohnt es sich überhaupt, es noch einmal
    zum anderen aus den so genannten Machtministerien             zu versuchen«, fragt rhetorisch Vladislav Surkov (44).
    wie Armee, Inneres und Geheimdienste kommen.                  Er ist stellvertretender Leiter der Präsidialadministra-
    Was die Unternehmer in der politischen Elite betrifft,        tion und Erfinder des Begriffs der »Souveränen Demo-
    so waren es unter Jelzin 1993 etwa 1,5 Prozent, unter         kratie«; damit suggeriert Russland, ausgedrückt durch
    Putin im Jahr 2002 elf Prozent und in diesem Jahr             Putin, dass es ein eigenes Verständnis von Demokratie
    knapp 40 Prozent. Der Anteil der Vertreter der Macht-         hat, das sich zwar vom westlichen unterscheidet, aber
    ministerien an den Eliten hat sich seit 1993 knapp            das gleiche Ergebnis anstrebt: individuelle Freiheit und
    vervierfacht, beobachtet die angesehene Soziologin            soziale Gerechtigkeit.
    Olga Kryschtanovskaja.3                                           Die Grundlagen dafür sind gegeben, glaubt Igor
        Bei der neuen Machtkonstellation ist der Aufbau           Jurgens (56): »Wir erleben eine der besten wirtschaft-
    von zwei Machtvertikalen zu erwarten, die in der Fol-         lichen, sozialen und politischen Perioden Russlands.«
    gezeit zu Doppelloyalitäten führen können. Es gilt das        Der erfahrene Wirtschaftsmann weiß, wovon er
    »Zwei-Schlüssel-Prinzip«4: Sowohl der Präsident als           spricht. Als Vizepräsident der Investment-Bank
    auch der Premier haben die Macht, Veränderungen               Renaissance-Capital und ehemaliger hoher Gewerk-
    im Land sowie in der Außenpolitik durchzuführen. Bis-         schaftsfunktionär sitzt er dem von Medvedjev initiier-
    her fehlen jede Anzeichen dafür, dass es eine Rivalität       ten Institut für moderne Entwicklung vor, welches die
    wie unter Jelzin zwischen Präsidialamt und Parlament          Präsidialadministration mit Ideen und Lösungen der
    geben wird. Neben der Autorität des starken Präsi-            anstehenden Probleme versorgen soll.
    denten, in der Zeit von Jelzin und Putin stets gewach-            Die Instrumente der Vergangenheit, davon ist er
    sen, wird nun mit dem Amt des Premiers in Person              überzeugt, werden nicht mehr ausreichen. Ohne
    von Putin eine zweite Institution aufgebaut, die bisher       echte Konkurrenz innerhalb des Systems sind Moder-
    weit unter den Möglichkeiten der ihr von der Verfas-          nisierung und Fortschritt nicht vorstellbar. Doch davon
    sung zugesprochenen Macht geblieben war. Allein               werden nicht alle profitieren. Die Verlierer von morgen
    Jevgenij Primakov (79), Geheimdienstmann und Nah-             werden alles in Bewegung setzen, um diese Pläne zu
    ostexperte, füllte sie in seiner 243-tägigen Amtszeit         vereiteln.
    1998/1999 unter Boris Jelzin aus.                                 Beide Seiten werden einen Kompromiss finden
        Putin unterstellte noch als Präsident den Apparat         müssen. Einen New Deal wie in den USA in den drei-
    der bevollmächtigten Vertreter in den sieben Föderal-         ßiger Jahren unter dem damaligen Präsidenten Theo-
    bezirken dem Regierungschef, also in weiser Voraus-           dore Roosevelt schlägt Jurgens vor. Medvedjev, so der
    sicht auf seine neue Funktion. Das war ein Signal, das        Berater, ist der Präsident, der berufen ist, Russland zu
    darauf schließen lässt, dass nicht der Premier dem            modernisieren. Und sein Premier ist aufgrund der Er-
    Präsidenten, sondern der Präsident dem Premier zur            fahrung und Popularität in der Lage, ihm dafür den
    Seite stehen wird. Diese zumeist hochrangigen Ver-            Rücken zu stärken. Die Bürger erwarten Taten und
    treter sind der lange Arm Moskaus in die Regionen             schnelle Resultate, nach langen Jahren der Transfor-
    zur Kontrolle der Gouverneure.                                mation ist die Zeit der Versprechen auf eine bessere
        Politisch ist Premier Putin abgesichert durch den         Zukunft vorbei.
    Vorsitz der Partei Einheitliches Russland, die in der             In den Führungsetagen der Russischen Föderation
    Duma über eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit              gibt es Streit darüber, wie eine solche Modernisierung
                                                                  durchgesetzt werden soll. Mit der harten Hand, wie
                                                                  der einflussreiche und Putin nahe Politikberater Gleb
    3 Olga Kryschtanovskaja: Putin bez konca i bez kraja (Putin
                                                                  Pavlovskij vorschlägt, oder durch die Liberalisierung
      ohne Ende und ohne Grenzen), The New Times, 21.4.2008,
      Moskau, S. 9–12.                                            der politischen Prozesse, wie es das nicht minder ein-
    4 Oksana Gaman-Galutwina: Das »Zwei-Schlüssel-Prinzip«, in:   flussreiche Institut des Medvedjev nahen Jurgens vor-
      Russlands Perspektiven, www.fesmos.ru (August 2008).        sieht? Bedarf es dafür überhaupt einer Demokratie?
Internationale Politikanalyse   7

    Um das zu klären, treffen sich von Zeit zu Zeit         deshalb sein Mandat verlor, gehen selbstkritisch mit
Experten der Sektion »Unsere Demokratie«, organi-           dem eigenen Misserfolg um und beginnen die Krise
siert von der Regierungspartei Einheitliches Russland.      des Liberalismus in Russland zu analysieren. Fazit: In
Demokratie ja, aber in welcher Form, mit welchem            den 90er Jahren seien im Namen der liberalen Idee
Inhalt. Das Ergebnis eines Treffens war, dass es um die     Fehler gemacht worden.
Grundvoraussetzung, nämlich qualitativ gute Massen-             Auf eine Adaptierung sei verzichtet worden, denn
medien im Lande schlecht stehe – und das im Zeit-           die Bewegung sei zu autoritär gewesen, zu über-
alter der Informationsgesellschaft. Es ist bezeichnend,     zeugt von der eigenen Sache. Dabei hätte man die
dass der Diskurs über ein so wichtiges Thema nicht          Bürger verloren. Eine erstaunliche Wiederholung
zwischen Parteien im Parlament, sondern innerhalb           der Geschichte. Denn Ähnliches hatte Peter Struve
der Regierungspartei in einem Konferenzsaal ausge-          (1870–1944), einer der herausragenden politischen
tragen wird.                                                Denker des ausgehenden Zarenreichs, der Intelligen-
    Die schlechten Erfahrungen des Staates mit der          zija vorgeworfen. Sie sei ein Spiegelbild des Zarismus
Jelzin-Zeit und die guten der Putin-Regentschaft ge-        in ihrer Unnachgiebigkeit und Unfähigkeit zum Kom-
ben einen engen Rahmen vor. Stabilität ist um jeden         promiss.5
Preis zu erhalten; Modernisierung ist nur soweit mög-           Die Marginalisierung kritischer politischer Parteien
lich, wie sie das bestehende System der Stabilität nicht    führte bei einer der ältesten, Jabloko, zu einem Füh-
ins Schwingen oder gar ins Wanken bringt.                   rungswechsel. Der altgediente Ideengeber Grigorij
    Erneut die uralte russische Gretchenfrage: Stabilität   Javlinskij (56) trat zurück, der Vorsitzende der Partei
oder Modernisierung, Tradition oder Aufbruch?               in Moskau und Abgeordnete der Moskauer Stadt-
Inwieweit dürfen konkurrierende Parteien moderni-           duma Sergej Mitrochin (45) übernahm den Vorsitz. Es
sieren, ohne die Stabilität zu gefährden? Inwieweit         ist fraglich, ob er die sehr auf die Führungspersönlich-
dürfen die Medien kritisieren, die Menschenrechtler         keit Javlinskij ausgerichtete Partei erneuern kann, ja
mahnen, das Parlament die Regierung zur Rechen-             vielleicht mit den anderen Parteien, darunter auch die
schaft ziehen und die Verwaltungsbeamten reformie-          Union der Rechten Kräfte, welche er in einem losen
ren, um Russland nicht nur wirtschaftlich, sondern          Verbund zu vereinigen vermag.
auch politisch zu pluralisieren und ins 21. Jahrhundert         Derweil streiten oppositionelle Parteien und Bewe-
zu katapultieren?                                           gungen sowie Menschenrechtler und Experten darü-
    Bisher sind vor allem kritische Politiker und Journa-   ber, ob man mit dem Staat bei der Lösung von Prob-
listen ungern gesehene Teilnehmer des öffentlichen          lemen zusammenarbeiten darf. Drei der vier im Parla-
Diskurses im staatlichen Fernsehen, ganz zu schwei-         ment vertretenen Parteien, Einheitliches Russland,
gen von der Duma oder den Administrationen der              Gerechtes Russland und die Liberaldemokraten, sind
Gebiete. Nur Gleichgesinnten traut der Kreml zu, ei-        vereint in der Unterstützung des Präsidenten. Allein
nen vorgedachten Fortschritt zu erreichen. Der Oppo-        die Kommunisten unter ihrem von vielen politischen
sition hängt der Makel der Totalverweigerung an. Sie        Niederlagen gezeichneten Vorsitzenden Gennadij
würden gegen den Staat arbeiten, also die Macht-            Zjuganov (64) erlauben es sich, die Ergebnisse der
übernahme mit einem Systemwechsel verbinden.                Duma-Wahlen unter dem Vorwurf der Verletzung des
    Entsprechend nervös war die Macht vor den Parla-        Wahlrechts anzufechten. Ohne Erfolg, versteht sich.
mentswahlen am 2. Dezember 2007 und den Präsi-                  Während die Partei Einheitliches Russland unter
dentenwahlen am 2. März 2008. Jede noch so kleine           dem Vorsitz von Putin als Regierungspartei die Duma
Demonstration wurde unter Aufbietung mehrerer               und die russische Politik nach bewährter sowjetischer
Hundertschaften der nicht zimperlichen Sonderpolizei        Manier beherrscht, sind den anderen Parteien ihre
OMON unterbunden. Der prominenteste Oppositio-              politischen Ausrichtungen mehr oder minder vorge-
nelle Garry Kasparov (45) hätte das als brillanter          geben worden: Gerechtes Russland soll sich um sozi-
Schachspieler eigentlich vorhersehen und eine ent-          aldemokratische Politik kümmern, die Liberaldemo-
sprechende Taktik entwickeln müssen. Wäre er einst          kraten mit ihrem irreführenden Namen um die radikal
so unvorbereitet auf dem Brett gegen starke Gegner          national gesinnte Bevölkerung und die nach wie vor
vorgegangen, er hätte es wohl kaum zum Weltmeis-            gut organisierten und vernetzten Kommunisten um
tertitel gebracht. Im Lande ist sein Ansehen auch des-      die unzufriedenen Verlierer der Transformation.
halb in den letzten Monaten unter Gleichgesinnten               Von der Medienfreiheit hat sich die Regierung in
ramponiert.                                                 den letzten Jahren in großen Teilen verabschiedet,
    Andere oppositionelle Politiker wie Vladimir
Ryzhkov (42), langjähriger Duma-Abgeordneter, des-          5 Richard Pipes, Russian Conservatism and Its Critics, Yale
sen Republikanische Partei verboten wurde und der             2005, S. 122.
8   Reinhard Krumm                                                                       Länderanalyse: Das doppelte Russland

    ebenso von der Achtung der Menschenrechte, von                 Die Tageszeitung Kommersant brachte die Meldung
    demokratischen Regeln wie freie Wahlen, unabhän-               auf Seite 1.8
    gige Justiz und Gewaltenteilung. So lautet die Ein-               Nun wusste schon der unter dem Zaren Nikolaj I.
    schätzung im »Russland-Bericht 2008« von Freedom               berüchtigte Polizeichef Graf Benkendorf, dass
    House oder im »Länderbericht zur Lage der Men-                 »Gesetze für Subjekte, nicht für den Staat geschrie-
    schenrechte 2007« des US-amerikanischen Außen-                 ben sind«. Das war das 19. Jahrhundert. Im 20. Jahr-
    ministeriums. Der Trend ist negativ, so Freedom House,         hundert hielten es die Sowjets nicht viel anders. Aber
    auf der Skala der politischen Rechte erhält Russland 6         im 21. Jahrhundert, das hat sich der Jurist Medvedjev
    (1 steht für frei, 7 für unfrei), bei den Bürgerrechten        vorgenommen und wiederholt verkündet, soll der
    5. Das vernichtende Urteil: nicht frei.                        »Rechtsnihilismus« beendet werden; nicht mehr Per-
        Die Tätigkeit der lokalen Nichtregierungsorganisa-         sonen, sondern Gesetze sollen das Land regieren.
    tionen nach dem 2006 verabschiedeten Gesetz6 sei               Russlands skeptische Bürger werden den Neuen an
    aufgrund bürokratischer Auflagen stark einge-                  diesem Versprechen messen.
    schränkt, resümiert das Zentrum für die Entwicklung
    von Demokratie und Menschenrechten in einem
    Report vom April 2008. Es verweist auf eine Studie             Wirtschaftspolitik –
    der Moskauer Staatsuniversität (MGU), nach der die             Staatliche Einmischung
    Registrierung einer NGO mit Hilfe einer Beratungs-
    firma – für die Überwindung bürokratischer Hürden –            Blitzblank und hochmodern ist die neue Fabrik des
    40 Prozent mehr kostet als die einer kommerziellen             Autobauers Avtovaz, weltweit unter dem Namen
    Organisation und zudem doppelt so viel Zeit in An-             Lada bekannt, in Togliatti an der Volga. Sie wurde
    spruch nehme.                                                  extra für das neue Kleinwagenmodell Kalina hochge-
        Trotzdem, versichert ein Teil der kritischen Fach-         zogen. Am Fließband stehen fast nur junge Men-
    leute, sei ein Dialog mit dem Staat notwendig. Denn            schen. Die kommen auch deshalb, weil die Löhne an
    eine Alternative gibt es nicht. Woher soll auch plötz-         Attraktivität gewinnen und sie für die Einreichung der
    lich eine neue und bessere Staatsmacht kommen,                 Bewerbungsunterlagen nicht mehr wie früher
    fragt Jevgenij Gontmacher, einer der profiliertesten           200 Stunden Wartezeit und 40 Kilometer Laufwege
    sozialpolitischen Experten des Landes, und antwortet           zu bewältigen haben.
    mit einer Gegenfrage: »Vom Mond, vom Mars?«                        Wenn sogar der Autokonzern mit niedrigem Qua-
    Selbst bei der kleinsten Wahrscheinlichkeit einer Be-          litätsniveau modernisiert und Erfolg hat, die Aktie
    reitschaft des Staates auf einen Informationsaus-              stieg um das 6-fache seit 2006, dann sollte das ein
    tausch und damit verbundenen Positionswechsel                  Indikator für einen wirtschaftlichen Wandel sein.
    sollte miteinander gesprochen werden.                          Avtovaz profitiert von einem boomenden russischen
        Präsident Medvedjev ist die Hoffnung dieser kons-          Automarkt, der im ersten Halbjahr 2008 Deutschland
    truktiven Kritiker. Er stimuliert sie, indem er ein System     vom ersten Platz in Europa im Pkw-Verkauf verdrängt
    formen will, »wo zivilgesellschaftliche Strukturen teil-       hat. Grund ist in erster Linie der Verkauf importierter
    nehmen an der Ausarbeitung staatlicher Politik und             Neuwagen.
    der Bewertung deren Qualität«.7 In den letzten                     Freilich befindet sich Avtovaz in staatlicher Hand
    Wochen haben einige Richter unabhängige Entschei-              unter dem Schirm von Rostechnologii, einem Staats-
    dungen in Fällen getroffen, die einen politischen Hin-         konzern, der etwa 400 Unternehmen des Maschinen-
    tergrund hatten und deren Ausgang so nicht zu er-              baus, der Chemie- und Metallindustrie vereinigt. Ziel
    warten war. So gab die stellvertretende Vorsitzende            ist es, diese strategisch wichtigen Industriezweige bei
    des Höchsten Schiedsgerichtes bei einer Gerichtsver-           der Produktion von Hochtechnologie zu unterstüt-
    handlung zu Protokoll, dass ein Beamter der Präsidi-           zen.
    alverwaltung während eines laufenden Verfahrens                    Der staatliche Einfluss in der Wirtschaft nimmt zu,
    Druck ausgeübt habe, ein bestimmtes Urteil zu fällen.          er soll es richten. Wenn notwendig, mit Hilfe auslän-
                                                                   discher Investoren. So steigt bei Avtovaz der franzö-
                                                                   sische Konzern Renault ein. In der Erdöl- und Erdgas-
    6 Föderales Gesetz der Russischen Föderation »Über nicht       branche wird dieser Ansatz ebenfalls praktiziert. Doch
      kommerzielle Organisationen« vom 12.1.2006, in der Re-       je lukrativer das Geschäft, umso mehr fordert der
      daktion vom 2.2.2006.
                                                                   Staat seinen Anteil. Das dürfte mit ein Grund sein,
    7 Dmitrij Medvedjev: K novomy katschestvu grazhdanskogo
      obschtschestvo (Zu einer neuen Qualität der Bürgergesell-
      schaft), in: Strategija Rossii, Nr. 4, April 2008, Moskva,   8 Olga Pleschanova, Sud vysschego dostoinstva (Gericht der
      S. 6–12.                                                       höchsten Würde), in: Kommersant, 13. Mai 2008.
Internationale Politikanalyse   9

warum das russisch-britische Joint Venture TNK-BP,            wagen in ein Automobilwerk in das unweit von Mos-
beide Seiten halten 50 Prozent der Aktien, in die             kau gelegene Kaluga. Und auch die Deutsche Post
Schlagzeilen der russischen Presse geriet. Der Sicher-        Tochter DHL baut ihr Netz in Russland aus. So nimmt
heitsdienst mischte sich ein, russische Visa für auslän-      Deutschland den fünften Platz in der Liste der auslän-
dische Mitarbeiter wurden zurückgehalten.                     dischen Investoren ein.
    Nach alter russischer Tradition gibt der Staat und            Die Finanzströme aus den höher platzierten Län-
nimmt der Staat. Der Zar verfügte im Unterschied zu           dern wie Zypern, Holland, Luxemburg und Großbri-
anderen europäischen Königen über kein eigenes                tannien sind »zu einem erheblichen Teil repatriierte
Budget. Ihm gehörte das Land, und er vergab es nach           Gelder«10, im Ausland geparktes russisches Kapital,
Belieben zur Bestellung. Und je nach Bedarf und Be-           das nach Russland zurückfließt. Für alle gilt, so eine
findlichkeit holte er es sich wieder zurück. Diese Ein-       Analyse der Association of European Business in Russ-
stellung schimmert bis heute durch.                           land (AEB), dass der russische Markt nicht einfach ist,
    Das sind keine guten Nachrichten für ausländische         aber »das hohe Gewinn-Risiko-Verhältnis ihn zu
Investoren. Zwar sprudeln die Erdölquellen und zi-            einem außerordentlich attraktiven Angebot für aus-
schen die Erdgasvorräte. 2007 machte Russlands Erd-           ländische Investoren macht«.
ölproduktion 12,6 Prozent der weltweiten Produktion               Russland ist es sehr erfolgreich gelungen, von ei-
aus, gemeinsam mit Saudi-Arabien die höchste Quote.           nem Niedrig-Lohn-Land zu einem Mittel-Lohn-Land
Beim Erdgas steht Russland allein an der Spitze mit           aufzusteigen. Doch die Schwierigkeit liegt darin, nun
20,6 Prozent. Gleichzeitig hat sich der Eigenbedarf an        zu einem Hoch-Lohn-Land zu werden, um vielen sei-
Gas gesteigert auf 15 Prozent des weltweiten Ver-             ner Bürger Wohlstand zu geben. Das ist bisher nur
brauchs (hinter den USA mit 22,6 %). Der Ölverbrauch          ganz wenigen Staaten gelungen, so zum Beispiel
ging leicht zurück auf 3,2 Prozent (weit hinter den           Süd-Korea. Zwar ist es das erklärte Ziel der russischen
USA mit 23,9 % und China mit 9,3 %, in etwa auf der           Regierung, zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht der
Höhe von Indien mit 3,3 % und Deutschland mit                 Welt zu werden, hinter den USA, Japan, Deutsch-
2,8 %).9                                                      land, Großbritannien und Frankreich. Doch weist das
    Doch verlangsamt sich die Produktion, denn es             Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (4.673 US-Dollar) in
mangelt an einer dringend benötigten Modernisie-              eine ganz andere Richtung: Es betrug 2007 etwa ein
rung der Anlagen. Neue Felder in entlegenen Ge-               Zehntel des Betrages von Japan (43.249 US-Dollar).
bieten sind zu erschließen, die Bohrungen werden                  Alexander Lebedjev (49), schwerreicher Unterneh-
technisch anspruchsvoller. Russlands Wirtschaftsauf-          mer und kritischer Bürger, der mit Michail Gorbatschov
schwung hängt zu einem nicht geringen Teil von den            die Zeitung Novaja Gazeta herausgibt, äußert sich zu-
Bodenschätzen ab. Dieses Verhältnis sowie staatliche          rückhaltend ob der allgegenwärtigen Erfolgsmeldun-
Einmischungen kritisierte auf dem St. Petersburger            gen zur russischen Wirtschaft: »Bisher ist, neben einer
Wirtschaftsforum der erste stellvertretende Vizepre-          Stabilisierung und einigen ordentlichen makroökono-
mier Schuvalov in aller Offenheit als gefährliche Fal-        mischen Kennziffern, das Übrige sehr umstritten.«11
len auf dem Weg seines Landes zur wirtschaftlichen                Das Land erhält zwar hohe Investitionen, größten-
Führungsmacht.                                                teils jedoch nur für die Erschließung und den Abbau
    Gleichwohl sind die Erfolge der letzten Jahre ein-        von Rohstoffen. Eine Diversifikation mit dem Ziel eines
drucksvoll. Seit 2003 wächst die Wirtschaft um durch-         langfristigen Aufbaus einer weiterverarbeitenden In-
schnittlich über sieben Prozent pro Jahr, ausländische        dustrie findet zu wenig statt. Zudem steigt die Infla-
Investitionen stiegen seit dem von 6,8 Milliarden auf         tion. Offiziell wird sie mit neun Prozent angegeben,
27,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007. Die damit ver-        tatsächlich aber von den Bürgern als deutlich höher
bundene Summe der Pro-Kopf-Investitionen liegt bei            eingeschätzt. Die Zeitung Izvestija schreibt sogar von
369 US-Dollar, weit über denen der anderen BRIC-              25 Prozent Inflation für die Armen. Denn gerade die
Staaten, Brasilien, Indien und China. Und die Devisen-        zum Existenzminimum notwendigen Produkte wie Le-
reserven stiegen von knapp 80 Milliarden auf 476 Mil-         bensmittel haben sich enorm verteuert.
liarden US-Dollar.                                                Der russische Staat steht vor der schwierigen Auf-
    Deutschland ist Russlands wichtigster Handelspart-        gabe, den in den vergangenen Jahren verfolgten
ner. Waren im Wert von 28 Milliarden Euro wurden
2007 nach Russland geliefert. Deutsche Unternehmen
                                                              10 Russland 2007. Dynamik, Kontinuität und Wandel, Jahres-
investieren in Großprojekte, E.ON mit 4,1 Milliarden
                                                                 bericht der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer,
Euro in den Großkraftwerksbetrieb OGK-4 und Volks-               Moskau 2008, S. 8.
                                                              11 Interview mit Alexander Lebedjev in: Kommersant Vlast,
9 BP Statistical Review of World Energy, June 2008, London.      12. Mai 2008, S. 35.
10   Reinhard Krumm                                                                          Länderanalyse: Das doppelte Russland

     strengen wirtschaftlichen Konsolidierungsweg fortzu-            rency International, den es mit Togo, Gambia und In-
     führen, gleichzeitig aber die wachsenden sozialen               donesien teilt, einen Platz vor Angola.
     Probleme zu lösen. Kritiker weisen daraufhin, dass die              Zwischen Aufbruch und Tradition hin- und her ge-
     Regierung zu wenig auf die Expertise ausgewiesener              rissen, ordnet der russische Staat bisweilen willkürlich
     Fachleute hört und es an einer öffentlichen Debatte             an, ohne Rücksicht auf Verluste. Avtovaz wird nun in
     fehlt. Denn die Ausgaben werden unweigerlich stei-              Tschetschenien ein Werk aufbauen, um in der maro-
     gen: für den Ausbau der Infrastruktur, für die Moder-           den und vom Krieg gezeichneten Kaukasusrepublik
     nisierung der Staatsbetriebe, für eine Angleichung der          Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist staatlich verordnete
     so unterschiedlichen Niveaus der Gebiete in der rus-            Sozialpolitik, keine wirtschaftlich begründete Stand-
     sischen Föderation.                                             ortpolitik.
         Da bedarf es ungewöhnlicher Lösungen. Nach der
     erstaunlich erfolgreichen 7½-jährigen Gouverneurstä-
     tigkeit des Milliardärs Roman Abramovitsch (42)                 Sozialpolitik – Wachsende Ungleichheit
     schlägt das russische Wochenmagazin Macht (Vlast)
     vor, weitere wohlhabende Geschäftsleute in die ärme-            In der Sozialpolitik hat sich der russische Staat in Gei-
     ren Regionen zu entsenden. Wenn es ihm gelingt,                 selhaft genommen. Er rühmt deren Leistungen zur
     Staatseinnahmen in der sibirischen Region Tschukotka            Zeit der Sowjetunion und ist deshalb aus psychologi-
     um das siebenfache zu erhöhen, zum Teil allein durch            schen Gründen nicht in der Lage sie zu reformieren.
     Versteuerung seiner Einnahmen, dann sollten es auch             Die Regierung hat es versäumt, rechtzeitig mit dem
     andere Oligarchen schaffen, den Staat effizienter zu            Mythos vom sozialen Wohlfahrtsstaat der Räte aufzu-
     gestalten und die Gouvernements zu modernisieren.               räumen und eine den Möglichkeiten Russlands ange-
     Allerdings hat für Abramovitsch diese Art des Staats-           passte Sozialpolitik zu beginnen. Stattdessen unter-
     dienstes vorerst keine Zukunft; er trat im Juli überra-         stützt der Staat weiterhin Viele nach dem Prinzip der
     schend von seinem Posten zurück.                                Gießkanne und erreicht so zu Wenige der wirklich
         Russlands Ministern steht für solche Gedanken-              Bedürftigen.
     spiele keine Zeit zur Verfügung. Sie haben sich auf                Deren Zahl ist hoch. Nach einer gemeinsam von der
     einen Staatshaushalt für die Zeit von 2008 bis 2010             Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-
     geeinigt, in dem sie mit einer Abnahme des Haus-                Ebert-Stiftung durchgeführten Umfrage13 zählen
     haltsüberschusses bei gleichzeitigem Anstieg der                43 Prozent der russischen Bevölkerung zu den wirt-
     Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik              schaftlich Schwachen (monatliches Einkommen be-
     kalkulieren. Unter diesen Umständen muss die öffent-            trägt umgerechnet etwa 160 Euro) und 16 Prozent zu
     liche Hand effektiver haushalten. Das ist durchaus              den Armen (etwa 100 Euro). Sie hat Präsident Med-
     möglich. Nach einer Untersuchung des Internationa-              vedjev vor Augen, wenn er von »spezifisch russischen
     len Währungsfonds könnte der russische Staat im                 Problemen« spricht, von der Bekämpfung der Ar-
     Bereich Gesundheitswesen und Sozialpolitik mit zwei             mut.
     Dritteln der bisher verausgabten Finanzmittel aus-                 Ein schwieriger Aufbruch. Denn die Anzahl derje-
     kommen.12                                                       nigen, die in die Sozialkassen einzahlen, schrumpft.
         Doch wer soll die Kontrolle ausüben? Der Staat              Die arbeitende Bevölkerung wird in den nächsten
     vielleicht, der selbst Teil des Problems ist? Die Duma,         zwanzig Jahren um voraussichtlich zehn Prozent
     die handverlesen ist? Oder die Presse, deren Vertreter          abnehmen, gleichzeitig der Anteil der Menschen mit
     bei Kritik oftmals schon auf der Anklagebank sitzen?            einem Lebensalter über 65 steigen. Eine Gruppe
     Dieses Dilemma zeigt deutlich auf, wie schwer Auf-              hochkarätiger Wirtschaftswissenschaftler kommen in
     bruch und Tradition in Russland miteinander zu ver-             der von ihnen 2007 herausgegebenen Publikation
     einbaren sind.                                                  »Koalition für die Zukunft, Strategie für die Entwick-
         Auf der einen Seite Initiative und Erfolg der priva-        lung Russlands« zu einem historisch einfachen Schluss:
     ten Wirtschaft, auf der anderen Seite die Sorge des             Die Lösung dieser Probleme unterscheide sich in kei-
     Staates zu kurz zu kommen und, schlimmer noch, die              ner Weise von derjenigen, die schon 1991 vor der
     Kontrolle zu verlieren. Dazu ein notorisch korrupter            Politik stand – die Abkehr vom sowjetischen System.
     Staatsapparat, der verantwortlich ist für den 143. Platz        Gleichzeitig muss das Vertrauen der Bürger gewon-
     (von 179) Russlands auf der Rangliste von Transpa-

                                                                     13 Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Sociologii: Ekonomit-
     12 David Hauner, Benchmarking the Efficiency of Public Expen-      scheskoje polozhenie maloobespetschenych slojev naselenija
        diture in the Russian Federation, in: IMF Working Paper,        (Wirtschaftliche Lage der minderbemittelten Schicht der Be-
        Washington 2007.                                                völkerung), Moskau 2008.
Internationale Politikanalyse   11

nen werden, so dass sie staatlichen und gesellschaft-    der Staat finanziert sie nicht ausreichend, und allein
lichen Institutionen trauen.                             kann er es ohnehin nicht richten. Die arbeitende Be-
    Dazu zählt der Glaube der Eltern an die Zukunft      völkerung, die in zehn Jahren in Rente geht, wird aber
ihrer Kinder, an eine gute Ausbildung und beruflichen    ihn zur Rechenschaft ziehen ob der Diskrepanz zwi-
Aufstieg, an eine Karriere. Doch gerade diese Aussicht   schen den niedrigen Renten und dem sagenhaften
trübt sich ein. Denn die Chancengleichheit, wenn es      Staatsgewinn aus dem Erdölboom. Allein die fristge-
sie denn je gegeben hat, nimmt ab. Die in Russland       rechten Zahlungen werden sie nicht mehr befriedi-
so genannten sozialen Lifte stehen im Gegensatz zur      gen.
Jelzin-Zeit oftmals still und können nur mit viel Geld       Viele staatliche Gelder werden von der Bürokratie
in Bewegung gesetzt werden.                              gefressen. Sei es durch Korruption, sei es durch man-
    Der Optimismus fällt gedämpft aus vor dem Hin-       gelhafte Verteilung. Die Autorität des Kremls reicht
tergrund, dass die soziale Ungleichheit in Russland      nicht immer bis in die entlegenen Regionen des
rasant wächst. Immer mehr Superreiche stehen immer       Riesenreichs. Präsident Medvedjev musste sogar ein-
mehr Armen gegenüber. Statistisch wird die ungleiche     gestehen, dass hohe Staatsposten an den Höchst-
Wohlstandverteilung vom Gini-Koeffizienten ermit-        bietenden vergeben werden. So manche soziale Not
telt, der bei Gleichheit gegen Null, bei Ungleichheit    entsteht durch Bürokratie. Herrscht in Moskau Voll-
gegen Eins tendiert. Zum Vergleich: Russland liegt bei   beschäftigung, so suchen Arbeiter im Fernen Osten
0,399 und Deutschland bei 0,283.14 Oder: Der Ver-        und im Kaukasus verzweifelt nach Arbeit. Oftmals
mögensunterschied zwischen den zehn Prozent der          lohnt sich nicht der Sprung in die Selbstständigkeit,
Reichsten und den der Ärmsten beträgt in Russland        weil die Behörden bei jeder passenden Gelegenheit
16,8:1, in Europa bei 8:1. Allein in Moskau leben, so    abkassieren.
dass US-Magazin Forbes, 74 Dollar-Milliardäre, mehr          Sozialpolitik hat auch in Russland nicht nur die Auf-
als das Doppelte wie in London.                          gabe, bei einem solch dramatischen Wachstumspro-
    »Was tun?«, so die oft wiederholte Frage des Re-     zess Ungleichheiten zu dämpfen, sondern auch die
volutionärs Vladimir Lenin. Um die Antworten streiten    Behebung der Ursachen von sozialer Not und Arbeits-
sich die Politiker und Experten. Keine andere Frage      losigkeit anzugehen. Die Experten haben es erkannt,
darf so offen in der Presse diskutiert werden wie die    und die Politiker sollten sie wenigstens als intellektu-
soziale. Denn eine mögliche politische Instabilität      elle Sparringspartner benutzen, als Ersatz für fehlende
könnte gerade in diesem Bereich entstehen. Inzwi-        sozialpolitische Debatten im Parlament.
schen hat die soziale Ungerechtigkeit ein Niveau er-
reicht, welches dem Bild gleicht, das die sowjetischen
Machthaber einst ihrem Volk als mahnendes Beispiel       Außenpolitik – Unbändiges Streben
des dekadenten Westens vorführten.                       nach Einfluss
    Zwar gelang es freien Gewerkschaften in der Auto-
mobilindustrie für die Angestellten bessere Löhne        Das Wetter hatte sich hübsch gemacht für den 9. Mai
herauszuholen. Das geschah bei Ford in St. Peters-       2008. Sonnenschein und blauer Himmel am 63. Jah-
burg, ist jedoch eine Ausnahme. Denn Gewerkschaf-        restag des Sieges über Deutschland. Und Russland
ter in Russland verstehen sich noch immer mehr als       demonstrierte seine Kraft – 29 Militärflugzeuge don-
Staatsdiener denn als Vertreter der Arbeiterschaft.      nerten in einer Höhe von nur 300 Metern über den
Macht und Mitglieder haben sie verloren, nachdem         Roten Platz, Panzer und anderes Kriegsgerät rollten
die großen Staatsbetriebe viele Arbeiter entlassen       am Lenin-Mausoleum vorbei. Das eindeutige Signal
haben. Und die neuen Bosse legen wenig Wert auf          war nicht zu übersehen: Russland fühlt sich wieder
Interessenvertretungen von Arbeitnehmern.                stark.
    Das gesellschaftspolitische Engagement ist gering,      Das bekam im August 2008 Georgien zu spüren,
wenn es daran geht, das in der Verfassung verankerte     als die russische Armee in die de facto unabhängige
Recht auf soziale Gerechtigkeit einzufordern. Dafür      Teilrepublik Süd-Ossetien einmarschierte. Die Ur-
fühlt sich traditionell der Staat verantwortlich. Vier   sachen des nur wenige Tage andauernden Krieges
nationale Projekte wurden im Jahr 2005 von Präsident     werden schwer herauszufinden sein. Schuldig sind
Putin aufgelegt mit den Schwerpunkten Gesundheit,        beide Kriegsparteien: Georgien, das mit Gewalt die
Bildung, Wohnungsbau und Entwicklung ländlicher          kleine Republik an sich binden wollte und Russland,
Regionen. Zuständig war übrigens Medvedjev in sei-       das auf eine solche Möglichkeit nur gewartet hatte,
ner alten Funktion als stellvertretender Premier. Doch   um seine militärische Stärke unter Beweis zu stellen.
                                                            Selbstbewusst heißt es in der neuen Konzeption
14 Quelle: UNDP Human Development Report 2007/2008.      der Außenpolitik der Russischen Föderation vom
12   Reinhard Krumm                                                                               Länderanalyse: Das doppelte Russland

     12. Juli 2008: »Wenn die Partner nicht zu gemeinsa-                  vor allem die baltischen Staaten, einst unter Stalin von
     men Handlungen bereit sind, so wird Russland zur                     der Sowjetunion okkupiert, eine umfangreiche Ana-
     Verteidigung seiner nationalen Interessen gezwungen                  lyse der Vergangenheit.
     sein, selbstständig zu handeln, jedoch immer auf                         Und dennoch: Trotz von offizieller europäischer
     Grundlage des internationalen Rechts.«15 Zu den Ins-                 und russischer Seite oftmals geäußerter Zweifel an der
     trumenten der Selbstverteidigung gehören alle »zur                   Notwendigkeit, haben die Verhandlungen zu einem
     Verfügung stehenden wirtschaftlichen Hebel und Res-                  neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
     sourcen sowie Konkurrenzvorteile«.                                   (PKA) am 26. Juni in Chantij-Mansijsk – nicht zufällig
        Die Medvedjevsche außenpolitische Konzeption                      im Houston Russlands – begonnen. Während Russ-
     geht über die vorangegangenen unter Jelzin (1993)                    land an einer pragmatischen Übereinkunft interessiert
     und Putin (2000) hinaus. Energieressourcen sind nun                  ist, will die EU auch über Werte diskutieren, die Russ-
     Teil der russischen Außenpolitik und können im Be-                   land als Mitglied im Europarat und in der Organisation
     darfsfall als Waffe eingesetzt werden. Ziel Moskaus ist              für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
     es, die Architektur einer neu zu definierenden Welt-                 eigentlich mitträgt, aber anders auslegt. Moskau lehnt
     ordnung mitzugestalten und die damit verbundene                      inzwischen jegliche Kooperation, die mit demokra-
     Verantwortung zu übernehmen.                                         tischer Konditionierung verbunden ist, kategorisch
        Das wird schwer fallen. Russland fühlt sich außen-                ab.
     politisch erfolgreicher, als es die Realität wiedergibt.                 Mehr noch. Nach dem Georgien-Krieg titelte die
     Immer wieder stellt es sich außenpolitisch ins Abseits,              Tageszeitung Izvestija »Russland ist wieder da«. Ge-
     wie im Georgien-Krieg oder bei der Blockierung von                   meint ist, dass das Ende der russischen Transformation
     Uno-Sanktionen gegen das Unrechtsregime von                          vorbei ist und Russland am Bau einer neuen Weltord-
     Robert Mugabe in Zimbabwe. Wo sieht das euroasi-                     nung beteiligt sein wird, als aktives und unabhängiges
     atische Land seine ständigen Verbündeten? In China                   Machtzentrum.
     oder in Europa? Und wie steht es dann mit den USA,                       Nun ist es die vorrangige Aufgabe der Länder der
     die besondere Beziehungen eben zu Europa und                         EU und der USA, Russland einzubinden. Und zwar so,
     China pflegen?                                                       dass Moskau Verantwortung übernimmt in einem
        Auch in der Außenpolitik finden sich Elemente des                 europäischen Sicherheitssystem. Dabei sind Rache
     Aufbruchs und der Tradition wieder. Zum einen wurde                  und Vergeltung keine zulässigen Mittel. Ebenso wenig
     in der neuen außenpolitischen Konzeption der Begriff                 wie ein Verhältnis mit Russland, das dessen Sicher-
     der Supermacht gestrichen, auf der anderen Seite be-                 heitsinteressen ignoriert. Eine ständig nach Osten ex-
     harrt Russland indirekt auf einen Sonderstatus, der                  pandierende Nato betreibt jedoch genau das.
     dem der USA sehr ähnlich sieht.                                          Der deutschen Außenpolitik kommt eine beson-
        Mit der EU möchte Russland ein allgemeines euro-                  dere Rolle aufgrund der guten Beziehungen zu. Ent-
     päisches Haus bauen, so wie einst Gorbatschov vor-                   scheidend sind politische und wirtschaftliche Initiati-
     schlug, ohne jedoch Mitglied der EU zu werden. Chef-                 ven, die sowohl für die kritischen EU-Länder wie die
     diplomat Sergej Lavrov (58) kritisiert, dass Länder wie              baltischen Staaten und Polen als auch für Russland
     die Ukraine sich zwischen EU und Russland entschei-                  annehmbar sind. Je konkreter, desto höher die Aus-
     den müssen. Er vergisst dabei, dass die vielen Länder                sichten auf Erfolg. Die oftmals lähmenden Kontrover-
     Osteuropas die EU-Mitgliedschaft gewählt haben als                   sen über die richtige Geschichtsaufarbeitung sind
     Sicherheitsmaßnahme vor russischen Begehrlichkei-                    dabei nicht immer förderlich.
     ten. Da hilft ein 5-Tage-Krieg gegen den Nachbarn                        Die russische Bevölkerung ist derweil einer werte-
     Georgien ebenso wenig wie die verbalen Attacken                      bezogenen Außenpolitik der EU sehr kritisch gegen-
     von Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luzhkov (72),                    über eingestellt.16 Der Vorsitzende im Auswärtigen
     der laut darüber nachdenkt, dass die Halbinsel Krim                  Ausschuss der Duma, Konstantin Kosatschov (46),
     eigentlich russisches Territorium darstellt.                         warnt in einem Artikel sogar, dass bei auswärtigem
        Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen ge-                Druck auf Russland sich »die Position der Befürworter
     stalten die EU-Russland-Beziehungen so schwierig.                    von Isolation und der heimatlichen ›Kriegspartei‹
     Entgegen dem Bestreben in den Anfangsjahren der                      verstärkt«.17
     europäischen Integration nach dem 2. Weltkrieg, die                      Doch Russland und die EU sind wirtschaftlich eng
     Geschichte und deren Aufarbeitung nicht als conditio                 miteinander verbunden. Europa macht am gesamten
     sine qua non guter Beziehungen zu betreiben, fordern
                                                                          16 Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Sociologii: Rossijskaja
                                                                             identitschnost (Russische Identität), Moskva 2007.
     15 Koncepcija vneschnej politiki rossijskoj federacii, nachzulesen   17 Konstantin Kosatschov, Rossija I Zapad (Russland und der
        unter www.mid.ru (August 2008).                                      Westen), in: Izvestija, 26. Mai 2008.
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