Länderanalyse: Das doppelte Russland - Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen - Bibliothek der ...
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Internationale Politikanalyse International Policy Analysis Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen Die Russische Föderation hat in den 17 Jahren der Transformation einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Trotz schwerer politischer und wirtschaft- licher Rückschläge hat sich das größte Land der Erde stabilisiert. Der poli- tische Rahmen ist dabei eng gezogen, Stabilität und Sicherheit haben höchste Priorität. Der beeindruckende wirtschaftliche Aufschwung dauert seit Jahren an. Zu einem großen Maße beruht er auf dem Verkauf von Rohstoffen. Von der dringenden Notwendigkeit, die Wirtschaft zu diversifizieren und zu modernisieren, den Aufbau der weiterverarbeitenden Industrie zu fördern und die klein- und mittelständischen Betriebe zu unterstützen, ist die Regierung überzeugt, doch die Umsetzung ist mangelhaft. Russland läuft Gefahr, zu einem sozial ungerechten Land zu verkom- men. Der Staat versteht es nicht, die mit einem Wirtschaftsboom einher- gehende Ungleichheit zu verringern. Dringend bedürfen die sozialen Siche- rungssysteme wie Renten- und Krankenversicherung einschneidende Reformen, genauso wie das Bildungswesen. Außenpolitisch hat Russland durch den Wirtschaftsboom an Gewicht gewonnen. Moskau ist entschlossen, mehr Einfluss auf die internationale Politik zu nehmen und eigene Interessen zu verfolgen. Vorrangiges Ziel ist es, an der Architektur einer neuen Weltordnung mitzuwirken. Dabei scheut die russische Führung nicht davor zurück, wie der Krieg in Georgien ein- drucksvoll beweist, Waffen einzusetzen. Trotzdem: Eine Eindämmungspoli- tik oder Ausgrenzung Russlands wäre fatal. Impressum Bestellungen Alle Texte sind online verfügbar: SEPTEMBER 2008 Friedrich-Ebert-Stiftung Friedrich-Ebert-Stiftung www.fes.de/ipa Internationale Politikanalyse Internationale Politikanalyse Die in dieser Publikation zum Ausdruck Abteilung Internationaler Dialog Astrid Hill kommenden Meinungen sind die des D-10785 Berlin D-53170 Bonn Autors / der Autorin und spiegeln nicht www.fes.de/ipa E-Mail: info.ipa@fes.de notwendigerweise die Meinung der E-Mail: info.ipa@fes.de Fax: +49 (228) 883-625 Friedrich-Ebert-Stiftung wider. ISBN 978-3-89892-973-8
Russland auf einen Blick in Zahlen 2005 2006 2007 2008 2009 Reales BIP-Wachstum, % 6,4 7,4 8,1 7,0 6,2 Jährliche Inflationsrate, % 12,7 9,7 9,0 12,5 9,0 Saldo des Staatshaushalts, 8,1 8,4 5,1 5,0 2,5 % BIP Arbeitslosigkeit, % 7,6 7,2 6,4 6,2 6,1 Leistungsbilanzsaldo, % BIP 11,0 9,5 6,1 7,0 3,5 Daten zur Verfügung gestellt von D&B Country Risk Services (Zahlen für 2008 und 2009 als Prognosen) Wechselkursentwicklung*1 2005 2006 2007 2008*2 1 Rubel in Euro 0,029 0,029 0,028 0,028 1 Euro in Rubel 34,03 34,72 36,07 36,09 Demografie 2005*3 2006 2007 2008*4 Einwohnerzahl in 1000 143.953 143.221 – 140.702 Anteil über 65-Jähriger an der 13,8 – – 14,1 Gesamtbevölkerung, % Anteil unter 15-Jähriger an der – – – 14,6 Gesamtbevölkerung USA Russland Deutschland 5 Gini-Koeffizient* 0,408 0,399 0,283 (2007/2008) Militärausgaben 2007 im 546,79 Mrd. 35,37 Mrd. 36,93 Mrd. Vergleich*6 US-Dollar US-Dollar US-Dollar (4,0% BIP) (3,6% BIP)*7 (1,4% BIP) Frauenanteil in Führungs- 42% 39% 37% positionen 1999–2005*8 Korruptionsindex 2007*9 Platz 20 Platz 143 Platz 16 Anmerkungen 1) Quelle: http://www.oanda.com/convert/classic (Wechselkurse jeweils zum 31.12.). 2) August 2008 3) Quelle: http://stats.oecd.org/wbos/viewhtml.aspx?queryname=492&querytype=view&lang=en (besucht am 17.09.08). 4) Quelle: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html (besucht am 17.09.08). 5) Quelle: http://hdrstats.undp.org/indicators/147.html (besucht am 17.9.2008). 6) Quelle: http://milexdata.sipri.org/result.php4 (besucht am 17.09.08). 7) Kennziffer aus dem Jahr 2006 8) Quelle: http://hdrstats.undp.org/indicators/282.html (besucht am 17.09.2008). 9) Quelle: http://www.transparency.de/Tabellarisches-Ranking.1084.0.html (besucht am 18.9.08).
Internationale Politikanalyse 1 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Historischer Einblick – Transformation unter Jelzin und Putin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Innenpolitik – Reform und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Wirtschaftspolitik – Staatliche Einmischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialpolitik – Wachsende Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Außenpolitik – Unbändiges Streben nach Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ausblick – Eine Großmacht auf dem Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Internationale Politikanalyse 3 Einleitung tion. Deshalb die ausgeprägte Abneigung der russi- schen Regierung, sich einem Bündnis anzuschließen, Öffentliche Briefe an den russischen Präsidenten sind sei es die EU oder die Nato. Denn Russland würde selten. Es sei denn, der Verfasser heißt Alexander Min- Eigenständigkeit verlieren, so die Befürchtung, und kin, einer der bekanntesten Journalisten des Landes, anderen Staaten hinterher eilen. Russland versteht der für die auflagenstärkste Tageszeitung Moskovskij sich aber als eine treibende, nicht als getriebene Komsomolez schreibt. Er darf es wagen, sich im Na- Macht. men der Leser an Dmitrij Medvedjev zu wenden und Das »doppelte« Russland wird innen- und außen- behaupten, dass »wir Sie überhaupt nicht kennen«. politisch genau beobachtet: Hat es eine gute oder Frech fragt der Journalist weiter: »Im Allgemeinen, eine schlechte Regierung, ist es eine gelungene oder was macht der Mensch so auf dem Gipfel der Macht?« eine gescheiterte Transformation, ist es im Ausland Denn höher, so Minkin, stehe ja nur noch Gott. angesehen oder gefürchtet? Symbolisch, so die Hoff- Diese Frage kommt unerwartet. Abgesehen davon, nung einiger russischer Analytiker, könnte für diese dass über 70 Prozent der Wahlberechtigten den Prä- Fragen schon jetzt das Tandem Präsident Dmitrij sidenten im März 2008 ins Amt wählten und eine Medvedjev (43) und Premier Vladimir Putin (56) ste- Vorstellung von ihm haben sollten, gilt die russische hen. Beide verfolgen ein Ziel, aber möglicherweise auf Presse im Allgemeinen als handzahm. Besonders unterschiedlichen Wegen. Im besten Fall könnte die wenn es daran geht, die höchsten staatlichen Stellen Machtteilung der Anfang einer milden Form öffent- zu karikieren oder kritisieren. Wie lässt sich die Chuzpe licher politischer Konkurrenz in Russland sein. des Herrn Minkin erklären? Einen Diskurs der Ideen braucht das größte Land Der Kreml am Roten Platz besitzt viele Türme, um der Erde dringend – in der Politik, in der Wirtschaft, genau zu sein, sind es 20. Eine eigentlich banale Tat- in der Sozialpolitik und in den internationalen Bezie- sache, auf die jedoch politische Beobachter in Moskau hungen. Wo steht das Land und wo will es hin, wel- besonders in jüngster Zeit sehr gern hinweisen, denn chen Weg und welche Instrumente will es benutzen, die schmalen Wehrbauten symbolisieren unterschied- um Probleme zu lösen, für die nicht immer nationale liche Interessen innerhalb des russischen Machtzent- Konzepte ausreichen? rums. Eine solche Konstellation findet sich in vielen Län- dern wieder. Doch im Russland des 21. Jahrhunderts Historischer Einblick – Transformation erscheinen die Lager und die damit verbundenen unter Jelzin und Putin Ansichten so widersprüchlich, dass es erlaubt ist, von einem »doppelten« Russland zu sprechen. Die Ansich- Es war eine fulminante Rede des Präsidenten. Vladimir ten fundieren auf zwei unterschiedlichen Wahrneh- Putin trat am 8. Februar diesen Jahres – also nach den mungen der Realität, beide auf ihre Art richtig, doch Dumawahlen und vor den Präsidentschaftswahlen – selektiv. Daraus erwächst die schwierige Lage ein Land vor den Staatsrat im Kreml und stellte die »Strategie zu analysieren, in dem unterschiedliche Lebenswelten der Entwicklung Russlands bis zum Jahr 2020«1 vor. und deren Protagonisten parallel existieren. Nach einem kritischen Rückblick auf die Arbeit seines Da sind zum einen die Liberalen, die einen Jahrhun- Vorgängers Boris Jelzin und einer wohlwollenden Bi- derte alten Streit mit den konservativen Kräften aus- lanz seiner eigenen Tätigkeit als Präsident schaute er tragen, ob in Russland eine freie Gesellschaft und ein nach vorn. stabiler Staat vereinbar sind. Unter Jelzin gelang Während er den »ambitionierten« Weg Russlands Anfang der neunziger Jahre ein kurzer Aufbruch, mit skizzierte, kam er auf die Probleme zu sprechen. Ganz zweifelhaftem Ausgang. Die Widersacher damals und im Stile des russischen Oberhauptes, das sich mit heute heißen Siloviki. Es sind Machtpolitiker, die an Politik als Staatskunst beschäftigt, nicht aber für die einen starken Staat glauben, welchen, so ihre feste, Umsetzung der Tagespolitik verantwortlich ist, kriti- traditionell russische Überzeugung, eine Zivilgesell- sierte er die »höchst ineffektive« Wirtschaft, die schaft nur schwächt. Der Staat kontrolliert den Bürger, »maßlose Zentralisierung« und den »phänomenalen« indem er ihn bürokratisiert und gesellschaftspoli- Unterschied zwischen den Gebieten in Russland. tisches Engagement von oben initiiert. Präsident Putin forderte die Modernisierung der Es ist die historische Auseinandersetzung zwischen Produktion, Konkurrenzfähigkeit auf dem Gebiet der westlich orientierten Reformern und denjenigen, die Hochtechnologie, den Ausbau der Infrastruktur, Her- Reinhard Krumm Russland als unabhängiges Machtzentrum sehen, das ist Landesvertreter einen Sonderweg zu gehen hat, um erfolgreich zu 1 Nachzulesen auf der offiziellen Website des Kreml unter www. der Friedrich-Ebert- sein – Westler gegen Ostler, Aufbruch gegen Tradi- ru/text/appears/2008/02/159528.shtml (August 2008). Stiftung in Moskau
4 Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland stellung von Chancengleichheit für die Bürger, Eigen- Ein »doppeltes« Russland, das zum Aufbruch be- ständigkeit und Verantwortlichkeit für die staatliche reit, doch in der Tradition gefangen ist. Zwei Richtun- Verwaltung und unabhängige Richter. Ziel des zu- gen, die kaum in Einklang zu bringen sind. Gleichwohl künftigen politischen Systems sei es, »Millionen un- ist noch einmal daran zu erinnern, dass seit dem Zer- serer Bürger zu individueller Freiheit und sozialer Ge- fall der Supermacht Sowjetunion nicht einmal zwei rechtigkeit« zu führen. Dekaden vergangen sind. Und in dieser relativ kurzen Trotz Jelzin und wegen Putin, so die selbstbewusste Zeitspanne ist das Land nach dem Zusammenbruch Nachricht des damaligen Präsidenten Putin, stehe die der Supermacht, der wirtschaftlichen Schocktherapie Russische Föderation vor dem Sprung in ein erfolgrei- 1992, dem staatlichen Panzerangriff auf das Parla- ches 21. Jahrhundert. Auch wenn einige Ziele wie die ment 1993 und der schweren Wirtschaftskrise 1998 Erhöhung der Mittelschicht auf bis zu 70 Prozent, von vom Boden der politischen Bühne aufgestanden. heute etwa 15 Prozent, sehr gewagt sind, so legt Geschah dies aufgrund der Regierungszeit von seine Kritik den staatlichen Finger auf die Wunden der Vladimir Putin oder trotz seiner Regentschaft? Diese Transformation. Nun, implizierte Putin, beginne die Frage formulierten zwei US-amerikanische Wissen- Etappe der Regenerierung. schaftler und gaben in ihrer Artikelüberschrift gleich Es ist der Versuch, die schwierige Zeit des Um- die Antwort: »Der Mythos des autoritären Modells«2. bruchs der vergangenen 17 Jahre seit dem Zusam- Sie stellen die faktenreiche These auf, dass Russland menbruch der Sowjetunion für beendet zu erklären. sich viel weiter hätte entwickeln können, wäre das Sie war zum Teil chaotisch (Schocktherapie), verbre- Land einen demokratischeren Weg gegangen. Ein cherisch (Teile der Privatisierung), brutal (Tschetsche- autokratisches Modell sei keine Alternative zur Demo- nienkrieg) und ernüchternd (Verlust außenpolitischen kratie, es bremse nur das Potential eines Landes. Gewichts). Das Volk wurde auf eine Achterbahnfahrt Bei der Thesenformulierung blieben offensichtlich geschickt, auf der es zunächst nur bergab, später die historischen Erfahrungen des Landes sowie die auch wieder bergauf ging. Stimmung unberücksichtigt. Diese verlangten nach Deshalb fällt die Bewertung der Ergebnisse der den Jelzin-Jahren einen starken Staat, den starken Transformation sehr unterschiedlich aus. Zum einen Mann. Nur er ist in der Lage, so der Wunsch der Be- ergibt sich ein sehr positives Bild eines Landes, das sich völkerung, dringend notwendige Reformen in die nach den Jahren der Wirren unter Boris Jelzin bis zum Wege zu leiten. Diese Überzeugung hat sich nicht nur Jahre 2000, dann unter Vladimir Putin bis zum Jahre deshalb herausgebildet, weil der Staat diese Meinung 2008, erstaunlich entwickelt hat. Die Kritiker behaup- formt. ten hingegen, dass in den letzten Jahren viele der klei- Noch immer verbindet die Mehrheit der Russen mit nen Inseln gesellschaftspolitischer und unternehmeri- den Reformen von Michail Gorbatschov (77) und Boris scher Freiheiten durch die Flut staatlich kontrollierter Jelzin wenig Positives. Ihr Leben hatte sich auf der Modernisierung untergegangen sind. materiellen Glücksangebotsseite zwar verbessert, Zu den Errungenschaften gehören sicherlich der aber ihnen standen nur geringe Mittel zur Verfügung, wirtschaftliche Aufschwung mit jährlich etwa sieben es zu beschaffen. Die Vergünstigungen der Sowjetzeit Prozent Wachstum, die damit zusammenhängende wie kostenlose Wohnungen und Ferienreisen began- Zunahme ausländischer Direktinvestitionen, der Auf- nen schnell zu schwinden. Gleichwohl sind ihnen die bau von Fabriken internationaler Unternehmen, eine Hintergründe dieses Wandels nicht bekannt. Das politische Stabilität, die einen verfassungsmäßigen Wissen über die Misswirtschaft der Sowjets und die Wechsel des Staatsoberhaupts aushält sowie die entsprechend schlechte wirtschaftliche Lage des Rückgabe eines gewissen Vertrauens in die Zukunft. Riesenreiches am Ende des 20. Jahrhunderts, die dann Zudem hat Russland außenpolitisch an Einfluss ge- zum Kollaps führte, ist gering. Obwohl gerade in den wonnen. 90er Jahren darüber viel publiziert worden ist. Dem ist entgegenzusetzen, dass der wirtschaftliche Stattdessen hat sich in das Bewusstsein festgesetzt, Boom zu einem sehr großen Teil auf dem hohen Erd- dass sowohl für das Ende der Sowjetunion als auch ölpreis beruht (statt 16 US-Dollar pro Barrel unter Jel- für den damit zusammenhängenden Niedergang zin, nun fast 150 US-Dollar pro Barrel), dass sich noch Russlands in den 90er Jahren zu einem nicht geringen immer einige Wenige bereichern, der Staat die Un- Teil der Westen verantwortlich ist. Der habe beim Re- gleichheit ungenügend ausgleicht und die Gesell- formprozess Russlands komplett versagt. Versehent- schaft dadurch unnötig gestresst wird, dass die poli- tische Stabilität an die der Sowjetunion erinnert und 2 Michael McFaul and Kathryn Stoner-Weiss: The Myth of the dass von freien Wahlen oder einer Gewaltenteilung Authoritarian Model, in: Foreign Affairs, January / February keine Rede sein kann. 2008, Washington, Seite 68 bis 84.
Internationale Politikanalyse 5 lich aus Hybris, oder absichtlich, um Russland zu tät. Wohlstand für Viele muss her, gepaart mit dem schwächen. Erst als Russland sich auf seine eigenen so schwer greifbaren Gemeinschaftsgefühl. Tugenden besann, starker Staat und kontrollierte Der Rückgriff auf den bisher einenden Sieg im Modernisierung von oben, sei es wieder aufwärts ge- 2. Weltkrieg, der in diesem Jahr seit langer Zeit wieder gangen. mit einer gemeinsamen Militärparade und Kriegs- Diese Schuldzuweisung kulminierte in einem Do- geräteschau auf dem Roten Platz gefeiert wurde, wird kumentarfilm, ausgestrahlt zur besten Sendezeit im für die jüngere Generation nicht mehr lange als Ideo- Staatsfernsehen, der großes Aufsehen erregte und in logie-Ersatz ausreichen. Jedoch haben die Jahre der den Medien diskutiert wurde. Am Beispiel von Byzanz Transformation bisher kein anderes Ereignis hervorge- wurde der »Tod eines Imperiums« analysiert. Grund bracht, das ein so heterogenes Volk verbinden des Zerfalls waren, so die Analyse, Oligarchen und könnte. westlicher Einfluss. Das dürfe sich in keinem Fall wie- derholen. Deshalb ist Filmautor Vater Tichon, religiö- ser Beichtvater Putins, davon überzeugt, dass »Russ- Innenpolitik – Reform und Widerstand land nur als Imperium existieren kann«. Die Erweiterung der Nato 1999 und 2004 sowie Folgende Überschrift vermittelt dem russischen Leser die bunten Revolutionen in der Ukraine und Georgien klar doch wenig spektakulär die politische Lage im bestärkten in Russland die alte Angst vor der Einkrei- Land: »Medvedjev kam, Putin blieb«. Doch wie steht sung. Das Verhältnis zu den USA ist schwierig, das zur es mit dem Kräfteverhältnis zwischen Präsident und EU nach deren Erweiterung bisweilen angespannt, zu- Premier? Da bedient sich die Unabhängige Zeitung mindest in den bilateralen Beziehungen zu den balti- (Nezavissimaja Gazeta) einer dreispaltigen Fotogra- schen Staaten und Polen. fie, um etwaige Zweifel auszuräumen: Ein vor Kraft Eine Alles-oder-Nichts-Mentalität ist vielleicht be- strotzendes Kampfflugzeug symbolisiert Putin, ein zeichnend für das Russland, das sich unter Vladimir kleines Sportflugzeug mit Propeller seinen Nachfol- Putin stabilisiert hat: entweder Freund oder Feind. Zu- ger. mindest benutzt der Staat diesen Ansatz, um eine Auf den ersten Blick wirkt das Bild wie eine Schmon- Ideologie aufzubauen, die sich deutlich von so ge- zette, die dem Bürger aber aus der Seele spricht und nannten westlichen Werten wie Menschenrechte, sein Unverständnis bestärkt: Welche politischen Inst- Demokratie und persönlicher Selbstbestimmung ab- rumente stehen dem neuen unerfahrenen Präsiden- grenzt. Zwar sind diese Werte alle in der russischen ten zur Verfügung? Füllt sein Vorgänger doch die Po- Verfassung verankert, aber Russland will sie nach sitionen des ersten Piloten aus, die des Konstrukteurs eigenen Vorstellungen mit Inhalt füllen. des fliegenden Tandems und in gewissem Sinne auch Wie ein demokratisches Staatswesen auszusehen die des Bordcomputers. hat, definiert Russland selbst. Unter Jelzin, so der Vor- Um seine Nachfolge zu bestellen, spielte Vladimir wurf, seien westliche Modelle benutzt worden. Das Putin verschiedene Varianten durch; alle waren mit sei Gebrauchtware gewesen, für andere Länder kon- Risiken verbunden. Er verzichtete auf die dritte Amts- zipiert und auf Russland nicht anwendbar. Gleichwohl zeit und achtete damit die Verfassung. Aber ganz liegt ein Konzept, wie ein vaterländisches Instrumen- abtreten wollte er auch nicht, denn sein Nachfolger tarium auszusehen hat, dass in einer globalisierten Medvedjev benötigt Unterstützung bei der Austarie- Welt mit hohem Konkurrenzdruck erfolgreich ange- rung der Balance unterschiedlicher Interessengrup- wendet werden kann, nicht vor. pen, insbesondere der Siloviki gegen die Liberalen. Der russische Reflex des starken Staates mag nicht Auch könnte Putins Sicherheit in Gefahr geraten, mehr ausreichend sein, um Innovation und Wohlstand würde er sich ganz aus der Politik zurückziehen und zu fördern. Denn wie will man im Menschen den Un- Einfluss verlieren. ternehmergeistunterstützen, jedoch den dabei zu er- Putins Gefolgsleute haben sich nun aufgeteilt. wartenden Willen nach politischer Verantwortung Einige, wie der erste Stellvertreter des Ministerpräsi- beugen? denten Igor Schuvalov (41) und der stellvertretende Die Rede Putins im Kreml, eine Mischung aus Tra- Ministerpräsident Igor Setschin (48), sind vom Kreml dition und Warnruf nach Aufbruch, gibt keine Ant- ins Weiße Haus, dem Amtssitz der Regierung, umge- worten. Wie lassen sich beide Richtungen vereinen? zogen. Andere, wie der Leiter der Präsidialadministra- Eine gemeinsame Identität könnte das Bindeglied tion Sergej Naryschkin (54), sind den umgekehrten sein. Doch die fehlt. Das neue Selbstwertgefühl der Weg gegangen. Einen Austausch der politischen Bürger, das in den letzten Jahren im Entstehen begrif- Eliten wie unter Putin nach der Präsidentschaft von fen ist, wird von Medvedjev mehr fordern als Stabili- Boris Jelzin hat es bisher nicht gegeben und ist unter
6 Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland den jetzigen Voraussetzungen auch unwahrscheinlich verfügt. In Russland kann er das, ohne über eine Mit- für die nahe Zukunft. gliedschaft zu verfügen. Präsident Medvedjev lehnte In den vergangenen acht Jahren der Regierungszeit sie auf dem Parteitag im April vor laufenden Kameras Putin hat sich das Profil der Eliten deutlich gewandelt. ebenfalls ab. Zunächst erhielten über zwei Drittel der politischen Ob allein oder zu zweit: Die zu lösenden Probleme Elite ihre Berufung nach dem Jahr 2000, also unter der russischen Politik sind mannigfaltig und die Zeit ist Putin. Zugenommen hat der Anteil der Petersburger knapp. Denn noch immer sind in Russland die Politiker Elite, fast ein Viertel, zu der auch Medvedjev gehört. damit beschäftigt die Altlasten der Sowjetunion abzu- Und gewonnen haben diejenigen an Einfluss, die zum bauen und gleichzeitig die neuen Herausforderungen einen Erfahrungen in der Geschäftswelt haben und zu meistern. »Lohnt es sich überhaupt, es noch einmal zum anderen aus den so genannten Machtministerien zu versuchen«, fragt rhetorisch Vladislav Surkov (44). wie Armee, Inneres und Geheimdienste kommen. Er ist stellvertretender Leiter der Präsidialadministra- Was die Unternehmer in der politischen Elite betrifft, tion und Erfinder des Begriffs der »Souveränen Demo- so waren es unter Jelzin 1993 etwa 1,5 Prozent, unter kratie«; damit suggeriert Russland, ausgedrückt durch Putin im Jahr 2002 elf Prozent und in diesem Jahr Putin, dass es ein eigenes Verständnis von Demokratie knapp 40 Prozent. Der Anteil der Vertreter der Macht- hat, das sich zwar vom westlichen unterscheidet, aber ministerien an den Eliten hat sich seit 1993 knapp das gleiche Ergebnis anstrebt: individuelle Freiheit und vervierfacht, beobachtet die angesehene Soziologin soziale Gerechtigkeit. Olga Kryschtanovskaja.3 Die Grundlagen dafür sind gegeben, glaubt Igor Bei der neuen Machtkonstellation ist der Aufbau Jurgens (56): »Wir erleben eine der besten wirtschaft- von zwei Machtvertikalen zu erwarten, die in der Fol- lichen, sozialen und politischen Perioden Russlands.« gezeit zu Doppelloyalitäten führen können. Es gilt das Der erfahrene Wirtschaftsmann weiß, wovon er »Zwei-Schlüssel-Prinzip«4: Sowohl der Präsident als spricht. Als Vizepräsident der Investment-Bank auch der Premier haben die Macht, Veränderungen Renaissance-Capital und ehemaliger hoher Gewerk- im Land sowie in der Außenpolitik durchzuführen. Bis- schaftsfunktionär sitzt er dem von Medvedjev initiier- her fehlen jede Anzeichen dafür, dass es eine Rivalität ten Institut für moderne Entwicklung vor, welches die wie unter Jelzin zwischen Präsidialamt und Parlament Präsidialadministration mit Ideen und Lösungen der geben wird. Neben der Autorität des starken Präsi- anstehenden Probleme versorgen soll. denten, in der Zeit von Jelzin und Putin stets gewach- Die Instrumente der Vergangenheit, davon ist er sen, wird nun mit dem Amt des Premiers in Person überzeugt, werden nicht mehr ausreichen. Ohne von Putin eine zweite Institution aufgebaut, die bisher echte Konkurrenz innerhalb des Systems sind Moder- weit unter den Möglichkeiten der ihr von der Verfas- nisierung und Fortschritt nicht vorstellbar. Doch davon sung zugesprochenen Macht geblieben war. Allein werden nicht alle profitieren. Die Verlierer von morgen Jevgenij Primakov (79), Geheimdienstmann und Nah- werden alles in Bewegung setzen, um diese Pläne zu ostexperte, füllte sie in seiner 243-tägigen Amtszeit vereiteln. 1998/1999 unter Boris Jelzin aus. Beide Seiten werden einen Kompromiss finden Putin unterstellte noch als Präsident den Apparat müssen. Einen New Deal wie in den USA in den drei- der bevollmächtigten Vertreter in den sieben Föderal- ßiger Jahren unter dem damaligen Präsidenten Theo- bezirken dem Regierungschef, also in weiser Voraus- dore Roosevelt schlägt Jurgens vor. Medvedjev, so der sicht auf seine neue Funktion. Das war ein Signal, das Berater, ist der Präsident, der berufen ist, Russland zu darauf schließen lässt, dass nicht der Premier dem modernisieren. Und sein Premier ist aufgrund der Er- Präsidenten, sondern der Präsident dem Premier zur fahrung und Popularität in der Lage, ihm dafür den Seite stehen wird. Diese zumeist hochrangigen Ver- Rücken zu stärken. Die Bürger erwarten Taten und treter sind der lange Arm Moskaus in die Regionen schnelle Resultate, nach langen Jahren der Transfor- zur Kontrolle der Gouverneure. mation ist die Zeit der Versprechen auf eine bessere Politisch ist Premier Putin abgesichert durch den Zukunft vorbei. Vorsitz der Partei Einheitliches Russland, die in der In den Führungsetagen der Russischen Föderation Duma über eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit gibt es Streit darüber, wie eine solche Modernisierung durchgesetzt werden soll. Mit der harten Hand, wie der einflussreiche und Putin nahe Politikberater Gleb 3 Olga Kryschtanovskaja: Putin bez konca i bez kraja (Putin Pavlovskij vorschlägt, oder durch die Liberalisierung ohne Ende und ohne Grenzen), The New Times, 21.4.2008, Moskau, S. 9–12. der politischen Prozesse, wie es das nicht minder ein- 4 Oksana Gaman-Galutwina: Das »Zwei-Schlüssel-Prinzip«, in: flussreiche Institut des Medvedjev nahen Jurgens vor- Russlands Perspektiven, www.fesmos.ru (August 2008). sieht? Bedarf es dafür überhaupt einer Demokratie?
Internationale Politikanalyse 7 Um das zu klären, treffen sich von Zeit zu Zeit deshalb sein Mandat verlor, gehen selbstkritisch mit Experten der Sektion »Unsere Demokratie«, organi- dem eigenen Misserfolg um und beginnen die Krise siert von der Regierungspartei Einheitliches Russland. des Liberalismus in Russland zu analysieren. Fazit: In Demokratie ja, aber in welcher Form, mit welchem den 90er Jahren seien im Namen der liberalen Idee Inhalt. Das Ergebnis eines Treffens war, dass es um die Fehler gemacht worden. Grundvoraussetzung, nämlich qualitativ gute Massen- Auf eine Adaptierung sei verzichtet worden, denn medien im Lande schlecht stehe – und das im Zeit- die Bewegung sei zu autoritär gewesen, zu über- alter der Informationsgesellschaft. Es ist bezeichnend, zeugt von der eigenen Sache. Dabei hätte man die dass der Diskurs über ein so wichtiges Thema nicht Bürger verloren. Eine erstaunliche Wiederholung zwischen Parteien im Parlament, sondern innerhalb der Geschichte. Denn Ähnliches hatte Peter Struve der Regierungspartei in einem Konferenzsaal ausge- (1870–1944), einer der herausragenden politischen tragen wird. Denker des ausgehenden Zarenreichs, der Intelligen- Die schlechten Erfahrungen des Staates mit der zija vorgeworfen. Sie sei ein Spiegelbild des Zarismus Jelzin-Zeit und die guten der Putin-Regentschaft ge- in ihrer Unnachgiebigkeit und Unfähigkeit zum Kom- ben einen engen Rahmen vor. Stabilität ist um jeden promiss.5 Preis zu erhalten; Modernisierung ist nur soweit mög- Die Marginalisierung kritischer politischer Parteien lich, wie sie das bestehende System der Stabilität nicht führte bei einer der ältesten, Jabloko, zu einem Füh- ins Schwingen oder gar ins Wanken bringt. rungswechsel. Der altgediente Ideengeber Grigorij Erneut die uralte russische Gretchenfrage: Stabilität Javlinskij (56) trat zurück, der Vorsitzende der Partei oder Modernisierung, Tradition oder Aufbruch? in Moskau und Abgeordnete der Moskauer Stadt- Inwieweit dürfen konkurrierende Parteien moderni- duma Sergej Mitrochin (45) übernahm den Vorsitz. Es sieren, ohne die Stabilität zu gefährden? Inwieweit ist fraglich, ob er die sehr auf die Führungspersönlich- dürfen die Medien kritisieren, die Menschenrechtler keit Javlinskij ausgerichtete Partei erneuern kann, ja mahnen, das Parlament die Regierung zur Rechen- vielleicht mit den anderen Parteien, darunter auch die schaft ziehen und die Verwaltungsbeamten reformie- Union der Rechten Kräfte, welche er in einem losen ren, um Russland nicht nur wirtschaftlich, sondern Verbund zu vereinigen vermag. auch politisch zu pluralisieren und ins 21. Jahrhundert Derweil streiten oppositionelle Parteien und Bewe- zu katapultieren? gungen sowie Menschenrechtler und Experten darü- Bisher sind vor allem kritische Politiker und Journa- ber, ob man mit dem Staat bei der Lösung von Prob- listen ungern gesehene Teilnehmer des öffentlichen lemen zusammenarbeiten darf. Drei der vier im Parla- Diskurses im staatlichen Fernsehen, ganz zu schwei- ment vertretenen Parteien, Einheitliches Russland, gen von der Duma oder den Administrationen der Gerechtes Russland und die Liberaldemokraten, sind Gebiete. Nur Gleichgesinnten traut der Kreml zu, ei- vereint in der Unterstützung des Präsidenten. Allein nen vorgedachten Fortschritt zu erreichen. Der Oppo- die Kommunisten unter ihrem von vielen politischen sition hängt der Makel der Totalverweigerung an. Sie Niederlagen gezeichneten Vorsitzenden Gennadij würden gegen den Staat arbeiten, also die Macht- Zjuganov (64) erlauben es sich, die Ergebnisse der übernahme mit einem Systemwechsel verbinden. Duma-Wahlen unter dem Vorwurf der Verletzung des Entsprechend nervös war die Macht vor den Parla- Wahlrechts anzufechten. Ohne Erfolg, versteht sich. mentswahlen am 2. Dezember 2007 und den Präsi- Während die Partei Einheitliches Russland unter dentenwahlen am 2. März 2008. Jede noch so kleine dem Vorsitz von Putin als Regierungspartei die Duma Demonstration wurde unter Aufbietung mehrerer und die russische Politik nach bewährter sowjetischer Hundertschaften der nicht zimperlichen Sonderpolizei Manier beherrscht, sind den anderen Parteien ihre OMON unterbunden. Der prominenteste Oppositio- politischen Ausrichtungen mehr oder minder vorge- nelle Garry Kasparov (45) hätte das als brillanter geben worden: Gerechtes Russland soll sich um sozi- Schachspieler eigentlich vorhersehen und eine ent- aldemokratische Politik kümmern, die Liberaldemo- sprechende Taktik entwickeln müssen. Wäre er einst kraten mit ihrem irreführenden Namen um die radikal so unvorbereitet auf dem Brett gegen starke Gegner national gesinnte Bevölkerung und die nach wie vor vorgegangen, er hätte es wohl kaum zum Weltmeis- gut organisierten und vernetzten Kommunisten um tertitel gebracht. Im Lande ist sein Ansehen auch des- die unzufriedenen Verlierer der Transformation. halb in den letzten Monaten unter Gleichgesinnten Von der Medienfreiheit hat sich die Regierung in ramponiert. den letzten Jahren in großen Teilen verabschiedet, Andere oppositionelle Politiker wie Vladimir Ryzhkov (42), langjähriger Duma-Abgeordneter, des- 5 Richard Pipes, Russian Conservatism and Its Critics, Yale sen Republikanische Partei verboten wurde und der 2005, S. 122.
8 Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland ebenso von der Achtung der Menschenrechte, von Die Tageszeitung Kommersant brachte die Meldung demokratischen Regeln wie freie Wahlen, unabhän- auf Seite 1.8 gige Justiz und Gewaltenteilung. So lautet die Ein- Nun wusste schon der unter dem Zaren Nikolaj I. schätzung im »Russland-Bericht 2008« von Freedom berüchtigte Polizeichef Graf Benkendorf, dass House oder im »Länderbericht zur Lage der Men- »Gesetze für Subjekte, nicht für den Staat geschrie- schenrechte 2007« des US-amerikanischen Außen- ben sind«. Das war das 19. Jahrhundert. Im 20. Jahr- ministeriums. Der Trend ist negativ, so Freedom House, hundert hielten es die Sowjets nicht viel anders. Aber auf der Skala der politischen Rechte erhält Russland 6 im 21. Jahrhundert, das hat sich der Jurist Medvedjev (1 steht für frei, 7 für unfrei), bei den Bürgerrechten vorgenommen und wiederholt verkündet, soll der 5. Das vernichtende Urteil: nicht frei. »Rechtsnihilismus« beendet werden; nicht mehr Per- Die Tätigkeit der lokalen Nichtregierungsorganisa- sonen, sondern Gesetze sollen das Land regieren. tionen nach dem 2006 verabschiedeten Gesetz6 sei Russlands skeptische Bürger werden den Neuen an aufgrund bürokratischer Auflagen stark einge- diesem Versprechen messen. schränkt, resümiert das Zentrum für die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in einem Report vom April 2008. Es verweist auf eine Studie Wirtschaftspolitik – der Moskauer Staatsuniversität (MGU), nach der die Staatliche Einmischung Registrierung einer NGO mit Hilfe einer Beratungs- firma – für die Überwindung bürokratischer Hürden – Blitzblank und hochmodern ist die neue Fabrik des 40 Prozent mehr kostet als die einer kommerziellen Autobauers Avtovaz, weltweit unter dem Namen Organisation und zudem doppelt so viel Zeit in An- Lada bekannt, in Togliatti an der Volga. Sie wurde spruch nehme. extra für das neue Kleinwagenmodell Kalina hochge- Trotzdem, versichert ein Teil der kritischen Fach- zogen. Am Fließband stehen fast nur junge Men- leute, sei ein Dialog mit dem Staat notwendig. Denn schen. Die kommen auch deshalb, weil die Löhne an eine Alternative gibt es nicht. Woher soll auch plötz- Attraktivität gewinnen und sie für die Einreichung der lich eine neue und bessere Staatsmacht kommen, Bewerbungsunterlagen nicht mehr wie früher fragt Jevgenij Gontmacher, einer der profiliertesten 200 Stunden Wartezeit und 40 Kilometer Laufwege sozialpolitischen Experten des Landes, und antwortet zu bewältigen haben. mit einer Gegenfrage: »Vom Mond, vom Mars?« Wenn sogar der Autokonzern mit niedrigem Qua- Selbst bei der kleinsten Wahrscheinlichkeit einer Be- litätsniveau modernisiert und Erfolg hat, die Aktie reitschaft des Staates auf einen Informationsaus- stieg um das 6-fache seit 2006, dann sollte das ein tausch und damit verbundenen Positionswechsel Indikator für einen wirtschaftlichen Wandel sein. sollte miteinander gesprochen werden. Avtovaz profitiert von einem boomenden russischen Präsident Medvedjev ist die Hoffnung dieser kons- Automarkt, der im ersten Halbjahr 2008 Deutschland truktiven Kritiker. Er stimuliert sie, indem er ein System vom ersten Platz in Europa im Pkw-Verkauf verdrängt formen will, »wo zivilgesellschaftliche Strukturen teil- hat. Grund ist in erster Linie der Verkauf importierter nehmen an der Ausarbeitung staatlicher Politik und Neuwagen. der Bewertung deren Qualität«.7 In den letzten Freilich befindet sich Avtovaz in staatlicher Hand Wochen haben einige Richter unabhängige Entschei- unter dem Schirm von Rostechnologii, einem Staats- dungen in Fällen getroffen, die einen politischen Hin- konzern, der etwa 400 Unternehmen des Maschinen- tergrund hatten und deren Ausgang so nicht zu er- baus, der Chemie- und Metallindustrie vereinigt. Ziel warten war. So gab die stellvertretende Vorsitzende ist es, diese strategisch wichtigen Industriezweige bei des Höchsten Schiedsgerichtes bei einer Gerichtsver- der Produktion von Hochtechnologie zu unterstüt- handlung zu Protokoll, dass ein Beamter der Präsidi- zen. alverwaltung während eines laufenden Verfahrens Der staatliche Einfluss in der Wirtschaft nimmt zu, Druck ausgeübt habe, ein bestimmtes Urteil zu fällen. er soll es richten. Wenn notwendig, mit Hilfe auslän- discher Investoren. So steigt bei Avtovaz der franzö- sische Konzern Renault ein. In der Erdöl- und Erdgas- 6 Föderales Gesetz der Russischen Föderation »Über nicht branche wird dieser Ansatz ebenfalls praktiziert. Doch kommerzielle Organisationen« vom 12.1.2006, in der Re- je lukrativer das Geschäft, umso mehr fordert der daktion vom 2.2.2006. Staat seinen Anteil. Das dürfte mit ein Grund sein, 7 Dmitrij Medvedjev: K novomy katschestvu grazhdanskogo obschtschestvo (Zu einer neuen Qualität der Bürgergesell- schaft), in: Strategija Rossii, Nr. 4, April 2008, Moskva, 8 Olga Pleschanova, Sud vysschego dostoinstva (Gericht der S. 6–12. höchsten Würde), in: Kommersant, 13. Mai 2008.
Internationale Politikanalyse 9 warum das russisch-britische Joint Venture TNK-BP, wagen in ein Automobilwerk in das unweit von Mos- beide Seiten halten 50 Prozent der Aktien, in die kau gelegene Kaluga. Und auch die Deutsche Post Schlagzeilen der russischen Presse geriet. Der Sicher- Tochter DHL baut ihr Netz in Russland aus. So nimmt heitsdienst mischte sich ein, russische Visa für auslän- Deutschland den fünften Platz in der Liste der auslän- dische Mitarbeiter wurden zurückgehalten. dischen Investoren ein. Nach alter russischer Tradition gibt der Staat und Die Finanzströme aus den höher platzierten Län- nimmt der Staat. Der Zar verfügte im Unterschied zu dern wie Zypern, Holland, Luxemburg und Großbri- anderen europäischen Königen über kein eigenes tannien sind »zu einem erheblichen Teil repatriierte Budget. Ihm gehörte das Land, und er vergab es nach Gelder«10, im Ausland geparktes russisches Kapital, Belieben zur Bestellung. Und je nach Bedarf und Be- das nach Russland zurückfließt. Für alle gilt, so eine findlichkeit holte er es sich wieder zurück. Diese Ein- Analyse der Association of European Business in Russ- stellung schimmert bis heute durch. land (AEB), dass der russische Markt nicht einfach ist, Das sind keine guten Nachrichten für ausländische aber »das hohe Gewinn-Risiko-Verhältnis ihn zu Investoren. Zwar sprudeln die Erdölquellen und zi- einem außerordentlich attraktiven Angebot für aus- schen die Erdgasvorräte. 2007 machte Russlands Erd- ländische Investoren macht«. ölproduktion 12,6 Prozent der weltweiten Produktion Russland ist es sehr erfolgreich gelungen, von ei- aus, gemeinsam mit Saudi-Arabien die höchste Quote. nem Niedrig-Lohn-Land zu einem Mittel-Lohn-Land Beim Erdgas steht Russland allein an der Spitze mit aufzusteigen. Doch die Schwierigkeit liegt darin, nun 20,6 Prozent. Gleichzeitig hat sich der Eigenbedarf an zu einem Hoch-Lohn-Land zu werden, um vielen sei- Gas gesteigert auf 15 Prozent des weltweiten Ver- ner Bürger Wohlstand zu geben. Das ist bisher nur brauchs (hinter den USA mit 22,6 %). Der Ölverbrauch ganz wenigen Staaten gelungen, so zum Beispiel ging leicht zurück auf 3,2 Prozent (weit hinter den Süd-Korea. Zwar ist es das erklärte Ziel der russischen USA mit 23,9 % und China mit 9,3 %, in etwa auf der Regierung, zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Höhe von Indien mit 3,3 % und Deutschland mit Welt zu werden, hinter den USA, Japan, Deutsch- 2,8 %).9 land, Großbritannien und Frankreich. Doch weist das Doch verlangsamt sich die Produktion, denn es Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (4.673 US-Dollar) in mangelt an einer dringend benötigten Modernisie- eine ganz andere Richtung: Es betrug 2007 etwa ein rung der Anlagen. Neue Felder in entlegenen Ge- Zehntel des Betrages von Japan (43.249 US-Dollar). bieten sind zu erschließen, die Bohrungen werden Alexander Lebedjev (49), schwerreicher Unterneh- technisch anspruchsvoller. Russlands Wirtschaftsauf- mer und kritischer Bürger, der mit Michail Gorbatschov schwung hängt zu einem nicht geringen Teil von den die Zeitung Novaja Gazeta herausgibt, äußert sich zu- Bodenschätzen ab. Dieses Verhältnis sowie staatliche rückhaltend ob der allgegenwärtigen Erfolgsmeldun- Einmischungen kritisierte auf dem St. Petersburger gen zur russischen Wirtschaft: »Bisher ist, neben einer Wirtschaftsforum der erste stellvertretende Vizepre- Stabilisierung und einigen ordentlichen makroökono- mier Schuvalov in aller Offenheit als gefährliche Fal- mischen Kennziffern, das Übrige sehr umstritten.«11 len auf dem Weg seines Landes zur wirtschaftlichen Das Land erhält zwar hohe Investitionen, größten- Führungsmacht. teils jedoch nur für die Erschließung und den Abbau Gleichwohl sind die Erfolge der letzten Jahre ein- von Rohstoffen. Eine Diversifikation mit dem Ziel eines drucksvoll. Seit 2003 wächst die Wirtschaft um durch- langfristigen Aufbaus einer weiterverarbeitenden In- schnittlich über sieben Prozent pro Jahr, ausländische dustrie findet zu wenig statt. Zudem steigt die Infla- Investitionen stiegen seit dem von 6,8 Milliarden auf tion. Offiziell wird sie mit neun Prozent angegeben, 27,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007. Die damit ver- tatsächlich aber von den Bürgern als deutlich höher bundene Summe der Pro-Kopf-Investitionen liegt bei eingeschätzt. Die Zeitung Izvestija schreibt sogar von 369 US-Dollar, weit über denen der anderen BRIC- 25 Prozent Inflation für die Armen. Denn gerade die Staaten, Brasilien, Indien und China. Und die Devisen- zum Existenzminimum notwendigen Produkte wie Le- reserven stiegen von knapp 80 Milliarden auf 476 Mil- bensmittel haben sich enorm verteuert. liarden US-Dollar. Der russische Staat steht vor der schwierigen Auf- Deutschland ist Russlands wichtigster Handelspart- gabe, den in den vergangenen Jahren verfolgten ner. Waren im Wert von 28 Milliarden Euro wurden 2007 nach Russland geliefert. Deutsche Unternehmen 10 Russland 2007. Dynamik, Kontinuität und Wandel, Jahres- investieren in Großprojekte, E.ON mit 4,1 Milliarden bericht der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, Euro in den Großkraftwerksbetrieb OGK-4 und Volks- Moskau 2008, S. 8. 11 Interview mit Alexander Lebedjev in: Kommersant Vlast, 9 BP Statistical Review of World Energy, June 2008, London. 12. Mai 2008, S. 35.
10 Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland strengen wirtschaftlichen Konsolidierungsweg fortzu- rency International, den es mit Togo, Gambia und In- führen, gleichzeitig aber die wachsenden sozialen donesien teilt, einen Platz vor Angola. Probleme zu lösen. Kritiker weisen daraufhin, dass die Zwischen Aufbruch und Tradition hin- und her ge- Regierung zu wenig auf die Expertise ausgewiesener rissen, ordnet der russische Staat bisweilen willkürlich Fachleute hört und es an einer öffentlichen Debatte an, ohne Rücksicht auf Verluste. Avtovaz wird nun in fehlt. Denn die Ausgaben werden unweigerlich stei- Tschetschenien ein Werk aufbauen, um in der maro- gen: für den Ausbau der Infrastruktur, für die Moder- den und vom Krieg gezeichneten Kaukasusrepublik nisierung der Staatsbetriebe, für eine Angleichung der Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist staatlich verordnete so unterschiedlichen Niveaus der Gebiete in der rus- Sozialpolitik, keine wirtschaftlich begründete Stand- sischen Föderation. ortpolitik. Da bedarf es ungewöhnlicher Lösungen. Nach der erstaunlich erfolgreichen 7½-jährigen Gouverneurstä- tigkeit des Milliardärs Roman Abramovitsch (42) Sozialpolitik – Wachsende Ungleichheit schlägt das russische Wochenmagazin Macht (Vlast) vor, weitere wohlhabende Geschäftsleute in die ärme- In der Sozialpolitik hat sich der russische Staat in Gei- ren Regionen zu entsenden. Wenn es ihm gelingt, selhaft genommen. Er rühmt deren Leistungen zur Staatseinnahmen in der sibirischen Region Tschukotka Zeit der Sowjetunion und ist deshalb aus psychologi- um das siebenfache zu erhöhen, zum Teil allein durch schen Gründen nicht in der Lage sie zu reformieren. Versteuerung seiner Einnahmen, dann sollten es auch Die Regierung hat es versäumt, rechtzeitig mit dem andere Oligarchen schaffen, den Staat effizienter zu Mythos vom sozialen Wohlfahrtsstaat der Räte aufzu- gestalten und die Gouvernements zu modernisieren. räumen und eine den Möglichkeiten Russlands ange- Allerdings hat für Abramovitsch diese Art des Staats- passte Sozialpolitik zu beginnen. Stattdessen unter- dienstes vorerst keine Zukunft; er trat im Juli überra- stützt der Staat weiterhin Viele nach dem Prinzip der schend von seinem Posten zurück. Gießkanne und erreicht so zu Wenige der wirklich Russlands Ministern steht für solche Gedanken- Bedürftigen. spiele keine Zeit zur Verfügung. Sie haben sich auf Deren Zahl ist hoch. Nach einer gemeinsam von der einen Staatshaushalt für die Zeit von 2008 bis 2010 Akademie der Wissenschaften und der Friedrich- geeinigt, in dem sie mit einer Abnahme des Haus- Ebert-Stiftung durchgeführten Umfrage13 zählen haltsüberschusses bei gleichzeitigem Anstieg der 43 Prozent der russischen Bevölkerung zu den wirt- Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik schaftlich Schwachen (monatliches Einkommen be- kalkulieren. Unter diesen Umständen muss die öffent- trägt umgerechnet etwa 160 Euro) und 16 Prozent zu liche Hand effektiver haushalten. Das ist durchaus den Armen (etwa 100 Euro). Sie hat Präsident Med- möglich. Nach einer Untersuchung des Internationa- vedjev vor Augen, wenn er von »spezifisch russischen len Währungsfonds könnte der russische Staat im Problemen« spricht, von der Bekämpfung der Ar- Bereich Gesundheitswesen und Sozialpolitik mit zwei mut. Dritteln der bisher verausgabten Finanzmittel aus- Ein schwieriger Aufbruch. Denn die Anzahl derje- kommen.12 nigen, die in die Sozialkassen einzahlen, schrumpft. Doch wer soll die Kontrolle ausüben? Der Staat Die arbeitende Bevölkerung wird in den nächsten vielleicht, der selbst Teil des Problems ist? Die Duma, zwanzig Jahren um voraussichtlich zehn Prozent die handverlesen ist? Oder die Presse, deren Vertreter abnehmen, gleichzeitig der Anteil der Menschen mit bei Kritik oftmals schon auf der Anklagebank sitzen? einem Lebensalter über 65 steigen. Eine Gruppe Dieses Dilemma zeigt deutlich auf, wie schwer Auf- hochkarätiger Wirtschaftswissenschaftler kommen in bruch und Tradition in Russland miteinander zu ver- der von ihnen 2007 herausgegebenen Publikation einbaren sind. »Koalition für die Zukunft, Strategie für die Entwick- Auf der einen Seite Initiative und Erfolg der priva- lung Russlands« zu einem historisch einfachen Schluss: ten Wirtschaft, auf der anderen Seite die Sorge des Die Lösung dieser Probleme unterscheide sich in kei- Staates zu kurz zu kommen und, schlimmer noch, die ner Weise von derjenigen, die schon 1991 vor der Kontrolle zu verlieren. Dazu ein notorisch korrupter Politik stand – die Abkehr vom sowjetischen System. Staatsapparat, der verantwortlich ist für den 143. Platz Gleichzeitig muss das Vertrauen der Bürger gewon- (von 179) Russlands auf der Rangliste von Transpa- 13 Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Sociologii: Ekonomit- 12 David Hauner, Benchmarking the Efficiency of Public Expen- scheskoje polozhenie maloobespetschenych slojev naselenija diture in the Russian Federation, in: IMF Working Paper, (Wirtschaftliche Lage der minderbemittelten Schicht der Be- Washington 2007. völkerung), Moskau 2008.
Internationale Politikanalyse 11 nen werden, so dass sie staatlichen und gesellschaft- der Staat finanziert sie nicht ausreichend, und allein lichen Institutionen trauen. kann er es ohnehin nicht richten. Die arbeitende Be- Dazu zählt der Glaube der Eltern an die Zukunft völkerung, die in zehn Jahren in Rente geht, wird aber ihrer Kinder, an eine gute Ausbildung und beruflichen ihn zur Rechenschaft ziehen ob der Diskrepanz zwi- Aufstieg, an eine Karriere. Doch gerade diese Aussicht schen den niedrigen Renten und dem sagenhaften trübt sich ein. Denn die Chancengleichheit, wenn es Staatsgewinn aus dem Erdölboom. Allein die fristge- sie denn je gegeben hat, nimmt ab. Die in Russland rechten Zahlungen werden sie nicht mehr befriedi- so genannten sozialen Lifte stehen im Gegensatz zur gen. Jelzin-Zeit oftmals still und können nur mit viel Geld Viele staatliche Gelder werden von der Bürokratie in Bewegung gesetzt werden. gefressen. Sei es durch Korruption, sei es durch man- Der Optimismus fällt gedämpft aus vor dem Hin- gelhafte Verteilung. Die Autorität des Kremls reicht tergrund, dass die soziale Ungleichheit in Russland nicht immer bis in die entlegenen Regionen des rasant wächst. Immer mehr Superreiche stehen immer Riesenreichs. Präsident Medvedjev musste sogar ein- mehr Armen gegenüber. Statistisch wird die ungleiche gestehen, dass hohe Staatsposten an den Höchst- Wohlstandverteilung vom Gini-Koeffizienten ermit- bietenden vergeben werden. So manche soziale Not telt, der bei Gleichheit gegen Null, bei Ungleichheit entsteht durch Bürokratie. Herrscht in Moskau Voll- gegen Eins tendiert. Zum Vergleich: Russland liegt bei beschäftigung, so suchen Arbeiter im Fernen Osten 0,399 und Deutschland bei 0,283.14 Oder: Der Ver- und im Kaukasus verzweifelt nach Arbeit. Oftmals mögensunterschied zwischen den zehn Prozent der lohnt sich nicht der Sprung in die Selbstständigkeit, Reichsten und den der Ärmsten beträgt in Russland weil die Behörden bei jeder passenden Gelegenheit 16,8:1, in Europa bei 8:1. Allein in Moskau leben, so abkassieren. dass US-Magazin Forbes, 74 Dollar-Milliardäre, mehr Sozialpolitik hat auch in Russland nicht nur die Auf- als das Doppelte wie in London. gabe, bei einem solch dramatischen Wachstumspro- »Was tun?«, so die oft wiederholte Frage des Re- zess Ungleichheiten zu dämpfen, sondern auch die volutionärs Vladimir Lenin. Um die Antworten streiten Behebung der Ursachen von sozialer Not und Arbeits- sich die Politiker und Experten. Keine andere Frage losigkeit anzugehen. Die Experten haben es erkannt, darf so offen in der Presse diskutiert werden wie die und die Politiker sollten sie wenigstens als intellektu- soziale. Denn eine mögliche politische Instabilität elle Sparringspartner benutzen, als Ersatz für fehlende könnte gerade in diesem Bereich entstehen. Inzwi- sozialpolitische Debatten im Parlament. schen hat die soziale Ungerechtigkeit ein Niveau er- reicht, welches dem Bild gleicht, das die sowjetischen Machthaber einst ihrem Volk als mahnendes Beispiel Außenpolitik – Unbändiges Streben des dekadenten Westens vorführten. nach Einfluss Zwar gelang es freien Gewerkschaften in der Auto- mobilindustrie für die Angestellten bessere Löhne Das Wetter hatte sich hübsch gemacht für den 9. Mai herauszuholen. Das geschah bei Ford in St. Peters- 2008. Sonnenschein und blauer Himmel am 63. Jah- burg, ist jedoch eine Ausnahme. Denn Gewerkschaf- restag des Sieges über Deutschland. Und Russland ter in Russland verstehen sich noch immer mehr als demonstrierte seine Kraft – 29 Militärflugzeuge don- Staatsdiener denn als Vertreter der Arbeiterschaft. nerten in einer Höhe von nur 300 Metern über den Macht und Mitglieder haben sie verloren, nachdem Roten Platz, Panzer und anderes Kriegsgerät rollten die großen Staatsbetriebe viele Arbeiter entlassen am Lenin-Mausoleum vorbei. Das eindeutige Signal haben. Und die neuen Bosse legen wenig Wert auf war nicht zu übersehen: Russland fühlt sich wieder Interessenvertretungen von Arbeitnehmern. stark. Das gesellschaftspolitische Engagement ist gering, Das bekam im August 2008 Georgien zu spüren, wenn es daran geht, das in der Verfassung verankerte als die russische Armee in die de facto unabhängige Recht auf soziale Gerechtigkeit einzufordern. Dafür Teilrepublik Süd-Ossetien einmarschierte. Die Ur- fühlt sich traditionell der Staat verantwortlich. Vier sachen des nur wenige Tage andauernden Krieges nationale Projekte wurden im Jahr 2005 von Präsident werden schwer herauszufinden sein. Schuldig sind Putin aufgelegt mit den Schwerpunkten Gesundheit, beide Kriegsparteien: Georgien, das mit Gewalt die Bildung, Wohnungsbau und Entwicklung ländlicher kleine Republik an sich binden wollte und Russland, Regionen. Zuständig war übrigens Medvedjev in sei- das auf eine solche Möglichkeit nur gewartet hatte, ner alten Funktion als stellvertretender Premier. Doch um seine militärische Stärke unter Beweis zu stellen. Selbstbewusst heißt es in der neuen Konzeption 14 Quelle: UNDP Human Development Report 2007/2008. der Außenpolitik der Russischen Föderation vom
12 Reinhard Krumm Länderanalyse: Das doppelte Russland 12. Juli 2008: »Wenn die Partner nicht zu gemeinsa- vor allem die baltischen Staaten, einst unter Stalin von men Handlungen bereit sind, so wird Russland zur der Sowjetunion okkupiert, eine umfangreiche Ana- Verteidigung seiner nationalen Interessen gezwungen lyse der Vergangenheit. sein, selbstständig zu handeln, jedoch immer auf Und dennoch: Trotz von offizieller europäischer Grundlage des internationalen Rechts.«15 Zu den Ins- und russischer Seite oftmals geäußerter Zweifel an der trumenten der Selbstverteidigung gehören alle »zur Notwendigkeit, haben die Verhandlungen zu einem Verfügung stehenden wirtschaftlichen Hebel und Res- neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sourcen sowie Konkurrenzvorteile«. (PKA) am 26. Juni in Chantij-Mansijsk – nicht zufällig Die Medvedjevsche außenpolitische Konzeption im Houston Russlands – begonnen. Während Russ- geht über die vorangegangenen unter Jelzin (1993) land an einer pragmatischen Übereinkunft interessiert und Putin (2000) hinaus. Energieressourcen sind nun ist, will die EU auch über Werte diskutieren, die Russ- Teil der russischen Außenpolitik und können im Be- land als Mitglied im Europarat und in der Organisation darfsfall als Waffe eingesetzt werden. Ziel Moskaus ist für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) es, die Architektur einer neu zu definierenden Welt- eigentlich mitträgt, aber anders auslegt. Moskau lehnt ordnung mitzugestalten und die damit verbundene inzwischen jegliche Kooperation, die mit demokra- Verantwortung zu übernehmen. tischer Konditionierung verbunden ist, kategorisch Das wird schwer fallen. Russland fühlt sich außen- ab. politisch erfolgreicher, als es die Realität wiedergibt. Mehr noch. Nach dem Georgien-Krieg titelte die Immer wieder stellt es sich außenpolitisch ins Abseits, Tageszeitung Izvestija »Russland ist wieder da«. Ge- wie im Georgien-Krieg oder bei der Blockierung von meint ist, dass das Ende der russischen Transformation Uno-Sanktionen gegen das Unrechtsregime von vorbei ist und Russland am Bau einer neuen Weltord- Robert Mugabe in Zimbabwe. Wo sieht das euroasi- nung beteiligt sein wird, als aktives und unabhängiges atische Land seine ständigen Verbündeten? In China Machtzentrum. oder in Europa? Und wie steht es dann mit den USA, Nun ist es die vorrangige Aufgabe der Länder der die besondere Beziehungen eben zu Europa und EU und der USA, Russland einzubinden. Und zwar so, China pflegen? dass Moskau Verantwortung übernimmt in einem Auch in der Außenpolitik finden sich Elemente des europäischen Sicherheitssystem. Dabei sind Rache Aufbruchs und der Tradition wieder. Zum einen wurde und Vergeltung keine zulässigen Mittel. Ebenso wenig in der neuen außenpolitischen Konzeption der Begriff wie ein Verhältnis mit Russland, das dessen Sicher- der Supermacht gestrichen, auf der anderen Seite be- heitsinteressen ignoriert. Eine ständig nach Osten ex- harrt Russland indirekt auf einen Sonderstatus, der pandierende Nato betreibt jedoch genau das. dem der USA sehr ähnlich sieht. Der deutschen Außenpolitik kommt eine beson- Mit der EU möchte Russland ein allgemeines euro- dere Rolle aufgrund der guten Beziehungen zu. Ent- päisches Haus bauen, so wie einst Gorbatschov vor- scheidend sind politische und wirtschaftliche Initiati- schlug, ohne jedoch Mitglied der EU zu werden. Chef- ven, die sowohl für die kritischen EU-Länder wie die diplomat Sergej Lavrov (58) kritisiert, dass Länder wie baltischen Staaten und Polen als auch für Russland die Ukraine sich zwischen EU und Russland entschei- annehmbar sind. Je konkreter, desto höher die Aus- den müssen. Er vergisst dabei, dass die vielen Länder sichten auf Erfolg. Die oftmals lähmenden Kontrover- Osteuropas die EU-Mitgliedschaft gewählt haben als sen über die richtige Geschichtsaufarbeitung sind Sicherheitsmaßnahme vor russischen Begehrlichkei- dabei nicht immer förderlich. ten. Da hilft ein 5-Tage-Krieg gegen den Nachbarn Die russische Bevölkerung ist derweil einer werte- Georgien ebenso wenig wie die verbalen Attacken bezogenen Außenpolitik der EU sehr kritisch gegen- von Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luzhkov (72), über eingestellt.16 Der Vorsitzende im Auswärtigen der laut darüber nachdenkt, dass die Halbinsel Krim Ausschuss der Duma, Konstantin Kosatschov (46), eigentlich russisches Territorium darstellt. warnt in einem Artikel sogar, dass bei auswärtigem Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen ge- Druck auf Russland sich »die Position der Befürworter stalten die EU-Russland-Beziehungen so schwierig. von Isolation und der heimatlichen ›Kriegspartei‹ Entgegen dem Bestreben in den Anfangsjahren der verstärkt«.17 europäischen Integration nach dem 2. Weltkrieg, die Doch Russland und die EU sind wirtschaftlich eng Geschichte und deren Aufarbeitung nicht als conditio miteinander verbunden. Europa macht am gesamten sine qua non guter Beziehungen zu betreiben, fordern 16 Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Sociologii: Rossijskaja identitschnost (Russische Identität), Moskva 2007. 15 Koncepcija vneschnej politiki rossijskoj federacii, nachzulesen 17 Konstantin Kosatschov, Rossija I Zapad (Russland und der unter www.mid.ru (August 2008). Westen), in: Izvestija, 26. Mai 2008.
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