Landesnachrichten NRW 178 - DFGDeutsch Finnische Gesellschaft NRW e.V - Aus dem Inhalt: Finnland mit Leib und Seele - Die Juden von Lammi 52 ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ihre Kundennummer: 8319835 Landesnachrichten NRW 178 Mai 2020 DFG Deutsch Finnische Gesellschaft NRW e.V. Saksalais - Suomalainen Seura r.y. Aus dem Inhalt: - Finnland mit Leib und Seele - Die Juden von Lammi - 52 Stunden bis Helsinki
3 Liebe Freundinnen und Freunde, Liebe Freundinnen und Freunde In meiner Tageszeitung fand ich unter der Überschrift „Ich habe Zweifel“ einen Gastbeitrag des Musikwis- senschaftlers Mathias Döpfner. Er schreibt zur aktuel- len Lage folgenden Satz:„Die Corona-Pandemie hat unseren Alltag radikal verändert. Das musste sein. Aber der Ausnahmezustand muss auch wieder enden. Bald.“ Ja, das Coronavirus hat uns alle wie ein Tsunami überrollt und wird uns wei- terhin in Atem halten. Das Virus hat unsere Pläne durchkreuzt, unsere Vor- haben blockiert, auch die Planungen der Deutsch-Finnischen Gesellschaft. Außer der Bundeshauptversammlung der Deutsch-Finnischen Gesellschaft in Wiesbaden und der Landesarbeitstagung der DFG-NRW in Düsseldorf muss- ten viele Musikveranstaltungen, Lesungen, Vorträge und gemeinsame Tref- fen abgesagt werden. Die Coronakrise hat uns weitgehend in die Isolation geschickt, doch nicht nur uns, das Virus verbreitet sich ja weltweit. Gilt die Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, nur für kurze Zeit, für wenige Wochen? Keiner weiß es! Können wir da planen? Können wir uns da etwas vornehmen? Ja, das müssen und sollten wir! Nach dieser Krise werden wir sicherlich dankbar sein, dass wir sie gesund überwunden haben. Wir werden hoffentlich gelernt haben, wie wichtig und richtig es ist, sich freundlich und verständnisvoll zu begegnen und sich an einfachen Dingen erfreuen zu können. Hoffentlich lehrt uns die Krise auch, vieles nicht als selbstverständlich zu betrachten, unsere Freiheit, unsere Ge- selligkeit, unsere Reiselust und auch unser Zuhause. Es wäre schön, wenn die Freude über die überstandene Krise dann auch unter den Mitgliedern der DFG zum Ausdruck käme. Schon jetzt aber dürfen wir uns freuen auf Finn- land, auf einen schönen Urlaub im Mökki am See, Angeln und vieles mehr, hoffentlich noch in diesem Sommer. Mit dem nun folgenden Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach wünsche ich Euch, liebe Mitglieder, alles Gute und weiterhin Wohlergehen. „In jede hohe Freude mischt sich eine Empfindung der Dankbarkeit!“ Mai 2020 Elfi Heua (Vorsitzende)
4 Inhalt Seite Editorial.................................................................................... 3 Finnland mit Leib und Seele ein Leben lang................................ 5 Die Juden von Lammi...................................................................... 12 52 Stunden bis Helsinki.................................................................. 17 Sampo Lassila Narinkka - Finnish Klezmer................................ 24 Absage Juhannus Feier......................................................... 28 In Gedenken.......................................................................... 29 Berichte und geplante Veranstaltungen ................................... 30 Impressum......................................................................................... 38 Schreibe Deutsch-Finnische Geschichten! Das Redaktionsteam freut sich über Artikel oder Artikel-Ideen, eigene Reiseschilderungen oder Erlebnisse in Finnland und natürlich über Berichte der Bezirksgruppen! Abgabetermine Redaktionsschluss: Ausgabe Sept. LN - 179: 15.07.2020 Ausgabe Nov. LN - 180: 15.10.2020 Ausgabe Febr. LN - 182: 15.01.2021
Finnland mit Leib und Seele 5 „Finnland mit Leib und Seele“ Ein Land ideal für abenteuersuchende Individualisten und unternehmenslustige Familien Text und Fotos: Norbert Handke Fischsuppe Ich habe mein Herz vor mehr als vier eher „ein unbeschriebenes Blatt“, so Jahrzehnten an Finnland verloren. richtig wusste man nicht, was auf ei- Damals, zu Beginn dieser innigen nen zukommt und worauf man sich Beziehung, waren jedoch andere bei der Fahrt in den europäischen Beweggründe ausschlaggebend, die Norden einlässt. Der Anlass, dort zu dieser Faszination an Land und „hoch“ zu fahren und die Sommer- Menschen geführt haben, andere ferien im Norden Europas zu ver- als die, die ich heute an Finnland so bringen, war rein zufälliger Art: man schätze. Der Beitrag ist in 4 Berichte hatte das Jahr zuvor auf einem Cam- gegliedert. pingplatz in Barcelona zwei nette Finninnen kennengelernt, die für das Wie alles begann: kommende Jahr eine herzlicheEinla- Tavastia-Klubi&Rockabilly-Sturm- dung nach Finnland aussprachen. und Drangzeit Es wurde ein sehr schöner und span- nender Sommerurlaub, viele herrli- Damals, d.h. genau gesagt ab dem che Urlaube sollten aufgrunddieser Jahre 1978, war es zunächst mehr „initialenErlebnisse“noch folgen.Zu Abenteuerlust, das Bestreben, was Beginn dieser Zeit hielten wir uns absolut Neues kennen zu lernen. vornehmlich in Helsinki auf, besuch- Finnland war seiner Zeit für mich ten u.a.die für uns so einzigartigen
6 Finnland mit Leib und Seele Jugend- und Studentenclubs, wie nördlich von Helsinki, in Städten wie z.B. den „TavastiaKlubi“. Derartig gro- Turku, Tampere, Savonlinna, Ou- ße, über mehrere Stockwerke sich tokumpu, etc. diese hübschen und ausdehnende Jugendzentren kann- gestylten italienischen Jungs nicht ten wir nicht. Wir waren einfach nur mehr angetroffen hatte. Es zeigte begeistert: Livemusik, riesige Tanz- sich, dass junge Italiener gern nach flächen, Damen- und Herrenwahl, ihrem Helsinki-Aufenthalt auf direk- gemütliche Sitzecken, wo man sich tem Wege zum Nordkap gereist sind in Ruhe unterhalten konnte, Ess- und und haben Finnland dann relativ Snackgelegenheiten, Billardtische, schnell den Rücken gekehrt; das ließ etc. Diese spannenden Abende bzw. unsere Chancen auf den Tanzböden Nächte dauerten zumeistbis zum an- Mittelfinnlands deutlich und spürbar deren Morgen. Abends, vornehmlich steigern. Wir blieben also! an den Wochenenden, fuhren an diesen Clubs und Kneipen blitzblank- geputzte amerikanische Straßen- kreuzer vor, Oldtimer aus den 60er Jahren. Rockabilly-Musik ertönte aus den Karossen; viele Jugendliche wa- ren im 60er Jahre Style gekleidet und hatten ihre Frisuren entsprechend aufbereitet. Die Jugendlichen stan- den zusammen, unterhielten sich. Tolle Campingplätze, finnisches Je- Eine unglaublich tolle Atmosphäre dermannsrecht auch in den Straßen, an Kiosken und Wir hatten uns häufig auf dem stadt- Parks. So offen, kommunikativ, leb- nahen Campingplatz bzw. Zeltplatz haft und liebenswert hatten wir uns einquartiert. Die Ausstattung dieser Finnland nicht vorgestellt. Plätze war hervorragend, wir hatten Geärgert hatten wir uns über die Kochgelegenheiten, saubere sanitä- Jugendlichen aus Italien, die uns in re Einrichtungen. Auch hier lernte den Jugendclubs bei der Damen- man in angenehmer Atmosphäre wahl kaum eine Chance ließen. Die unzählige Menschen, auch anderer finnischen Mädchen bevorzugten Nationen, kennen. eindeutig die braungebrannten, Das Autofahren über Finnlands Stra- schwarzhaarigen, charmanten und ßen macht sehr viel Spaß, Staus zuvorkommenden italienischen haben wir in Finnland nie kennen- Jungs. Wir konnten mit unserer et- gelernt. Da wir zu Anfang unserer was schroffen und stoffelig-studenti- Finnland-Aufenthalte noch Studen- schen Art keinen Eindruck erwecken. ten waren, wenig Geld in der Tasche Das Gute wiederum war, dass man hatten, sind wir über die längere und
Finnland mit Leib und Seele 7 beschwerlichere, jedoch preiswer- man insbesondere in Mittelfinnland tere Vogelfluglinie nach Finnland überall in den Wäldern finden kann. gereist. Von Helsingborg nach Stock- Es gibt Blaubeeren, Preiselbeeren, holm hatte unser Opel-Kadett schon die außergewöhnlichen Allackerbee- Schwerstarbeit zu verrichten, die ren und Moltebeeren, aus denen wir Strecke nahm kein Ende. Ausgleich leckerste Desserts und Marmeladen und Ruhe bildeten die schönen Rast- zubereiteten und dem Joghurt un- stätten Schwedens. Damals existier- termischten.Damals begann ja die te in Schweden weitestgehend noch Müslizeit, jeder mischte seine Porti- keine Autobahn auf dem Weg nach on selber mit individuell ausgesuch- Stockholm, man fuhr durch ländlich ten Zutaten nach eigenem Rezept, geprägte Ortschaften, zum Teil ha- da waren die frischen Beeren will- ben uns schwedische Bürger vom kommen, um auch Geschmack an Straßenrand als Willkommensgruß das „Trockenfutter“ zu bekommen. zugewunken. Das empfanden wir als DasLand der „Tausend Seen“inspiriert unheimlich rührend. Es war ein Leich- zur Naturverbundenheit tes, kurz zu einem Zwischenstopp an einer der vielen kleinen Seen anzu- halten, um baden zu gehen. Zeit hat- te man genug, kein Stress kam auf - man mussteja erst gegen 17 Uhr im Fährhafen Stockholms sein. In Finnland angekommen war man dann auf den Landstraßen froh, über- haupt mal ein Auto und eine Tank- stelle anzutreffen. Hin und wieder hatte unser „Kadettchen“ technische Die finnischen Seen sind nach wir Probleme bereitet: die Autowerk- vor die saubersten der Welt: nach stätten hatten sich dann schon mal 3 einer Zeltnacht ist es insofern äu- bis 4 Tage Bedenk- und Reparaturzeit ßerst erfrischend, in einem See ein- erbeten. Wir haben in so einem Fall zutauchen und sich wieder frisch in der Nähe einer Auto-Werkstatt zu machen. Beim Schwimmen kann unser Zelt aufgebaut. Zum Glück gilt man vom kühlen Nass herrlich kos- ja in Finnland das Jedermannsrecht: ten. Man bekommt mit der Zeit eine man darf nahezu überall zelten, so- intensive Naturverbundenheit, man fern man die Natur und Fremdeigen- hat das Gefühl, „Eins“ mit der Natur tum respektiert und nicht beschä- zu werden. Auch das Zähneputzen digt. Das Jedermannsrecht erlaubt im See will geübt und gelernt sein auch, Pilze und die vielen unter- – gerade das ist an einem Abend schiedlichen Beeren zu sammeln, die bei untergehender Sonne ein ganz
8 Finnland mit Leib und Seele besonderes Erlebnis. Bei etwas län- einzigartig schön, zumindest für uns geren Aufenthalten an einem Ort Finnlandbegeisterte.Elche sieht man haben wir Paddelbootfahrten unter- nur äußerst selten, und dann auch nommen. nur rein zufällig, z.B. plötzlich auf einem einsamen Waldweg stehend. Ähnlich verhält es sich auch mit den Bären: es spricht sich schnell herum, wenn einer mal gesichtet worden ist, selbst hat man aber noch nie einen angetroffen (vielleichtzum Glück). Im Verlauf der Jahre lernten wir in- tensiv die finnische Landschaft, die Insbesondere die „Eichhörnchen- Menschen und die Kultur kennen. Route“(„Oravareitti“) in der Gegend Die finnischen Städte galten damals vonSulkava und Juva hat uns immer wie heute zu den saubersten und wieder sehr gut gefallen und Spaß friedlichsten der Welt. Uns hat rück- gemacht. Es handelt sich um eine blickend Karelien und insbesondere ca. 60km lange Kanustrecke, zum die Gegend um Sulkava / Lohilahti Teil ausgestattet mit an den Ufern am besten gefallen. aufgestellten, informativenErläute- rungs- und Hinweisschildern,bzgl. Und natürlich die Stadt Helsinki. Route, Botanik und Tierwelt. Kanu- ausrüstung kann man sich an einigen Stellen der Strecke ausleihen. Es sind auch Teilstücke wählbar. In Helsinki konzentrierten wir uns in den ersten Jahren nach 1978 auf Besuche der Innenstadt, des Hafen- Schön ist es auch, einfach nur in der gebietes und der Kunstszene, immer Sonne zu liegen und den Fischen im wieder wurden neue Ausstellungen klaren Wasser zuzusehen oder die angeboten. „Esplanadi“ war und ist Wolken am Himmel zu beobachten. bei Helsinki-Besuchen unser primä- Das Spiel der Wolken an dem tief rer Aufenthaltsort, dort lernt man in blauen Himmel in Finnland ist eh einer sehr gemütlichen Atmosphäre
Finnland mit Leib und Seele 9 nette Menschen kennen. Als „Esp- oder zum ungestörten Lesen einer lanadi“ werden ja die zwei parallel deutschen Zeitung, die man in dem verlaufenden Straßen bezeichnet, besagten Buchladen zuvor gekauft im Herzen Helsinkis, mit dazwischen hatte. Dazu gibt es finnischen Kaffee liegenden Parks. Hier pulsiert eine und Karjalanpiirakka, ein karelisches spezielle, möglicherweise nur im Gebäck. Norden Europas zu erlebendeAt- Immer wieder erstaunt sind wir in mosphäre. „Esplanadi“ ist für uns Helsinki von den modernen Mode- stets Ausgangs- bzw. Einstiegspunkt und Designergeschäften. Die Pro- für weitere Unternehmungen und dukte z.B. der Marken Marimekko, Besuchsprogramme, z.B. der Be- Arabia, Iittala, Artek, TRE oder Minna sichtigung der Altstadt oder dem Parikka sind farbenfroh, zeitlos und Besuch des Buchladens („Akateemi- es ist immer wieder ein Genuss, an nen Kirjakauppa“) neben dem Kauf- den Schaufenstern dieser Geschäfte haus Stockmann oder dem Besuch vorbei zu flanieren, zum Beispiel mit der Festung „Suomenlinna“, die auf einer herrlichen finnischen Mango- mehreren untereinander verbunde- Melone- oder Lakritz-Eiswaffel. Was nen Inseln vor Helsinki liegt und über Süßigkeiten betrifft, hat Finnland Fähren, die am Marktplatz ablegen, auch was Tolles zu bieten: die finni- erreicht werden kann oder der Insel sche Fazer-Schokolade und das ty- Seurasaari, welche u.a. ein Freilicht- pisch salzige Lakritz gehören zum Ur- museum beherbergt mit bis zu 400 laub ebenso wie die Seen und Sauna. Jahre alten Holzgebäuden. Viele dieser typisch finnischen Le- bensmittel und Spezialitäten wer- den in der „Alten“ Markthalle ange- boten, die ein wunderschönes Flair ausstrahlt. Wegen der dort auf der Insel her- umstreunenden, handzahmen Eich- hörnchen bezeichnen wir diese auch heute noch salopp als Eichhörnchen- insel. Bezahlen kann man überall mit Giro- Es gibt überall kleine urige Cafés, oder Kreditkarte, selbst in den klei- perfekt für ein kleines Pläuschchen nen Kiosken auf dem Land.
10 Finnland mit Leib und Seele An sonnigen Tagen haben wir uns tografierte, er versuchte offensicht- häufig auf dem Senatsplatz und an lich unter Anstrengung, Trabi und dem weißen imposanten Dom aufge- gleichzeitig den imposanten, ober- halten, derdas Wahrzeichen Helsin- halb der Treppenstufen stehenden kis ist. Auf den Treppenstufen hoch Dom fotografisch-perspektivisch zum Dom kann man herrlich sitzen auf einer Bildaufnahme abzulich- und die Aussicht genießen, das bun- te Treiben bewundern und das Kom- ten. men und Gehen der Touristen aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt betrachten. Anfang der 80-iger Jahre hatten wir das Glück, von den Domtreppen Filmdreharbeiten bei- wohnen zu dürfen, und zwar zum Film „Gorky Park“, der u.a. mit Lee Marvin spielt. Die finnische Musik- gruppe „Leningrad-Cowboys“ hat hier im Jahre 1993 gemeinsam mit dem „Roten Armee Chor“ ein legen- Die ganze Szene war so skurril, dass däres Konzert vor 70.000 Zuschau- ich dort hingegangen bin. Dann ern gehalten. habe ich gesehen, dass der Trabi ein deutsches Kennzeichen aufwies, so dass ich den Typen, der dort fo- Trabi auf dem Senatsplatz in tografierte und offensichtlich der Helsinki Fahrer des Trabis war, auf Deutsch Im Mai 2006 hatte ich frühmorgens fragte: „Was machst du denn hier gegen 8 Uhr auf dem noch men- in Herrgottsfrühe, auf dem Senats- schenleeren Senatsplatz in Helsinki platz liegend“? Mit Tränen in den ein Erlebnis der ganz besonderen Augen hat er mir dann verraten, Art erfahren dürfen. Dort stand mit- dass er auf diesen Augenblick vie- ten auf dem Senatsplatz, etwas ver- le Jahre hat warten müssen: er hat loren auf dieser ehrwürdigen, riesi- ein Leben lang davon geträumt, gen Fläche, unweit vom Denkmal im Land seiner Liebe, eben Finn- des russischen Zaren Alexander II, land, einmal als freier Mensch auf ein Trabi. Ich war etwas verwun- dem Senatsplatz in Helsinki sein dert und schaute genauer hin: dann zu dürfen, gemeinsam mit seinem entdeckte ich einen Menschen, der Trabbi. Wir haben uns dann in den auf dem Bauchliegend den Trabi fo- Arm genommen, jedoch danach nie
Finnland mit Leib und Seele 11 mehr gesehen! Im Nachhinein ein dere an Läufer erinnern, die kein unglaublich schönes und rührendes Geld für passendes Schuhwerk auf- Ereignis! Sowas ist nur in Finnland bringen konnten und barfuß den möglich. Lauf-Wettbewerb bestritten hatten, und die Ziellinie als letzter Läufer überschritten. Das Olympiastadion hat getobt vor Freude. Einfach ein herrliches und unvergessliches Er- lebnis. Die finnische Makkara Bis zu diesem Zeitpunkt kannten wir nur aus den deutschen Fußball- stadien und vom heimischen Grill Leichtathlethik-WM 1983 die klassische deutsche Bratwurst: Ein ganz besonderes Highlight so waren wir anfangs irritiert, als war der Besuch der Leichtathletik- wir feststellen mussten, dass die Weltmeisterschaft in Helsinki, die finnische „Makkara-Wurst“ nach in August 1983 stattfand. Wir zo- dem Aussehen mehr der deutschen gen vormittags vom Esplanadi zum sog. Fleischwurst ähnelt, und dann Olympiastadion und warteten dann, noch im Stadion ohne Brötchen ge- bis das Tagesprogramm startete: reicht wird! Nachdem wir realisiert die Eintrittskarten wurden bereits hatten, dass diese Wurst was ganz eine halbe Stunde nach dem Öffnen Spezielles und mit unserer Brat- der Tore am Olympia-Stadion von wurst nicht vergleichbar ist, haben Händlern zu äußerst erschwingli- wir die Makkara schätzen gelernt, chen Niedrig-Preisen angeboten, natürlich nur in Verbindung mit was unserer Studentenkasse sehr dem finnischen „Turun-Sinappia“ positiv zu Gute kam. 153 Nationen Senf der Klasse „strong“! nahmen damals teil; gefeiert wur- den zum Teil die vermeintlichen Zu den Erlebnissen und Erfahrun- Verlierer der Wettkampfdisziplinen, gen, Finnland mit der Familie erle- bald mehr, als die, die anschließend ben zu dürfen, im nächsten Bericht auf dem Sieger-Treppchen standen. mehr. So ein Zuschauerverhalten war für uns neu. Ich kann michinsbeson- Fortsetzung folgt!
12 Die Juden von Lammi Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich in diesem Jahr zum 75. Mal. Um der Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu entge- hen, flohen Juden auch nach Finnland. An das Schicksal eines Teils dieser Flüchtlinge jüdischen Glaubens erinnert der folgende Bericht. Die Juden von Lammi Die Kirche von Lammi Gammelgård, ein weiteres, altes Text: Albrecht Winkler Gutshaus, das mit seinem Slogan Lammi, eine Gemeinde in der Pro- „Einen Augenblick losgelöst vom vinz Häme/Südfinnland könnte man Alltag“ („Hetkiirtiarjesta“) zu einem vom ersten Eindruck her für ge- Besuch einlädt, und Jagdabenteuer schichts- und gesichtsloslos halten, verspricht, verstärken den positiven wäre da nicht seine mittelalterliche Eindruck, dass die Zeit Lammi ge- Kirche, gebaut aus grauen Feldstei- prägt, dem Ort ein Gesicht gegeben nen. Auch PorkkalanKartano, ein al- hat. Dort in Gammelgård kann man tes Gutshaus, gelegen in einem herr- nicht nur an der Jagd teilnehmen, lichen Park, den man ebenso wie das es werden auch Kurse in Etikette Gutshaus im Sommer besichtigen angeboten, in denen erlernbar ist, kann, macht ebenfalls deutlich, dass Menschen stilvoll zu bewirten. Mit Lammi, zu dem viele kleine Dörfer Sicherheit existierte in früheren Zei- gehören, in einem alten Kulturland- ten eine breite gesellschaftliche Kluft strich am Ufer eines schönen Sees, zwischen den an Etikette gewöhn- dem Ormajärvi, liegend, einen Be- ten und sie pflegenden Gutsherren such lohnt. von Gammelgård und der einfachen Landbevölkerung. Und doch muss etwas an höfischer Etikette abge- färbt sein auf die Großbauern, denn bis heute beherbergen sie gern Fe- riengäste aus Helsinki, Hämeenlinna oder Tampere. Von unserem finnischen Sommer- häuschen aus gesehen liegt Lammi fast nebenan in knapp 30 km Entfer- nung. So war es auch kein Wunder, dass uns in unserem Lokalblättchen „Hämeenkulma“ im letzten Som- mer ein Hinweis auffiel: „Heute 19.8.2019um 18 Uhr Pauli Riihilah-
Die Juden von Lammi 13 tis Vortrag „Die Juden von Lammi“ in Peltolehto, Lamminraitti 22 A, Ja, es waren ganz besondere Gäste, Lammi. Die Veranstaltung ist Teil der die die Bauern von Lammi ab dem Lammi-Woche. Veranstalter: Lammi Jahr 1941 auf besondere Anwei- Regional and Cultural Association“ sung hin beherbergen mussten, gut Noch nie hatten wir von Juden in gebildete, vornehm erscheinende, Lammi gehört und waren natürlich fremde Österreicher jüdischen Glau- sofort interessiert zu hören, was es bens, die 1938 nach dem sog. An- damit auf sich haben könnte. Vor- schluss der Republik Österreich an tragender sollte Pauli Riihilahti sein, das sog. Großdeutsche Reich durch der, wie er später angab, zwei Jahre Hitlerdeutschland als Touristen oder alt war bei den Ereignissen, von de- auch heimlich mit falschem Pass nen er berichten wollte. Sein Onkel nach Finnland eingereist waren, zu- Aimo Saarinen, der immerhin schon sammen mit anderen Flüchtlingen ein Schuljunge zu diesem Zeitpunkt jüdischen Glaubens aus Deutsch- im Jahr 1941 war, und Maria Veija- land, Polen und Ungarn. Sie hatten lainen, die im Jahr 2000 ihre Mas- Finnland als Migrationsziel gewählt, terarbeit zu dem Thema „Juden in weil es zu dem Zeitpunkt noch ohne Hauho und Lammi“ verfasst hatte, Visum zu erreichen war. Man schätzt fungierten als Koreferenten. Das die Zahl der Asylsuchenden auf un- Haus „Peltolehdontalo“ war über- gefähr 350 Menschen, die zunächst füllt. So groß war das Interesse an wohl überwiegend in Helsinki leb- dem angekündigten Vortrag, dass ten, gab und gibt es dort ja bis heute immer neue Stühle in den Saal ge- eine relativ große jüdische Gemein- schafft werden mussten, sollten alle de mit einer großen 1906 erbauten sitzend zuhören können, wenn Pauli Synagoge. Riihilahti zu berichten begann, was Vielleicht konnte der eine oder ande- er von seiner Mutter gehört hatte. re trotz Sprachbarriere in Helsinki in seinem Beruf arbeiten als Arzt, Wis- senschaftler, Musiker etc. Als dann aber mit Beginn des sog. finnischen Fortsetzungskrieges im Jahr 1941 Finnland und Hitlerdeutschland ge- meinsam gegen die Sowjetunion kämpften, und eine große Anzahl deutscher Soldaten nach Finnland kam, wurde die Lage für die nach Veranstaltungs-Haus-Peltolehdon Talo Finnland geflüchteten Menschen
14 Die Juden von Lammi jüdischen Glaubens gefährlich, da Erzählungen der Mutter des damals Deutschland ihre Auslieferung ver- zweijährigen Riihilahti, „beherbergt langte. In dieser Situation befahl In- sie, sie kümmern sich um sich selbst. nenminister Urho Kekkonen die in Der zweijährige Pauli sitzt links in der Helsinki und anderen Städten leben- Mitte. Sechs Flüchtlinge wurden mit den jüdischen Flüchtlingen in ländli- demselbenTransport zum Nachbar- chen Gegenden zu verbringen, nach haus gebracht. Alles geschah ohne Hauho, Lammi und Tuulos (alles Ge- die geringste Vorankündigung, völlig meinden in der finnischen Provinz überraschend. Die Juden standen auf Häme) und nach Parkano in West- unserem Hof, und der Dorfpolizist finnland, um Begegnungen mit den (Nimismies) setzte kommentarlos in Helsinki agierenden deutschen seine Reise mit mehreren Dutzenden Militärstäben und den seit 1941 im weiterer Juden fort. In den archivier- Land stehenden deutschen Truppen ten Notizen des Dorfpolizisten findet möglichst zu vermeiden. Und so sich kein einziges Wort darüber, dass kamen diese Menschen jüdischen er selbst jüdische Flüchtlinge nach Glaubens 1941 nach Lammi in das Lammi transportiert hatte, doch Dorf Porraskoski. Es waren Juden, findet man viele andere, die Juden die zum größten Teil ihren gesam- von Lammi betreffende archivierte ten Besitz verloren hatten oder zu Notizen, wie z. B. Reisegenehmigun- Schleuderpreisen verkaufen muss- gen, da Juden ohne Erlaubnis Lammi ten, um ihre Ausreise finanzieren zu nicht verlassen durften“. können. „Eines Nachts klopfte der Dorfpoli- Von 1941 bis 1944, war ein gewis- zist (Nimismies) an die Tür“, berich- ser Arno KalervoAnthoni Chef der tet Pauli Riihilahti in seinem Vortrag. finnischen Staatspolizei (Valpo). Er „Hier sind acht Juden, sagte der war offen antisemitisch und natio- Dorfpolizist (Nimismies)“ nach den nalsozialistisch eingestellt und hat- te enge Beziehungen zur deutschen Sicherheitspolizei. Arno Anthoni hätte am liebsten alle jüdischen Flüchtlinge, also auch die Juden von Lammi, sofort nach Deutschland zu- rückgeschickt, was mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Die finnische Staatspolizei hatte natürlich genaue Das Haus der Familie Riihilahti Kenntnis davon, wo sich Menschen
Die Juden von Lammi 15 jüdischen Glaubens aufhielten. An- Mama erhielt nie eine Zahlung für thoni erstellte eine Liste von unge- ihre Gäste, aber andererseits hatten fähr 150 Personen, die sofort nach wir eine Pension und zehn Zimmer, Hitlerdeutschland zurückzuschicken die leer standen. Porraskoski war seien. Zum Glück kam es dazu nicht, wegen der großen Anzahl von Pensi- denn der Vorsitzende des jüdischen onen in der Region Lammi als neuer Flüchtlingskomitees war Bernhard Zufluchtsort für die jüdischen Flücht- Blaugrund, einer der reichsten Män- linge ausgewählt worden. Unter den ner Finnlands. Blaugrund hatte seine Flüchtlingen, die in das Dorf kamen, Sommer oft in Porraskoski in der Ge- waren ein Hirnforscher, verschiede- meinde Lammi verbracht. Er kannte ne Ärzte, Physiker, Geschäftsleute, dieses Dorf mit seinen Pensionen, Psychologen und ein Bakteriologe. ebenso wie die weitere Umgebung Die handwerklichen Berufe waren Lammis. Irgendwie schaffte Blau- durch einen Automechaniker und grund es, eine vertrauliche Bezie- einen Werbefotografen vertreten“, hung zu Anthoni aufzubauen, konnte weiß Riihilahti zu berichten so gegen die Zeit kämpfen, und Ab- In Lammi/Porraskoski waren sie zu- schiebungen verhindern. nächst in Sicherheit, aber angewie- In seinem Vortrag berichtete Pau- sen auf die Unterstützung anderer, li Riihilahti weiter, dass es wäh- der Dorfbewohner und der jüdi- rend des Aufenthalts der jüdischen schen Gemeinde in Helsinki, die für Flüchtlinge in den Dörfern Lammis die Unterkunft und Verpflegung der keine Spannungen zwischen den meisten Flüchtlinge aufkam. Etwa Dorfbewohnern und den Flüchtlin- 100 Menschen jüdischen Glaubens gen gab: „Natürlich klatschte das hielten sich zwischenzeitlich in Lam- kleine Dorf in Häme keinen Beifall, mi auf. wenn die jüdischen Flüchtlinge in Doch auch aus Lammi wurden diese Anzug und Krawatte die Dorfstraße Flüchtlinge vertrieben, dieses Mal entlang spazierten, doch war über durch die finnische Staatspolizei. die Flüchtlinge nichts Schlimmes „Der relativ sorglose“ Aufenthalt in zu sagen. Sie versuchten, auf den Porraskoski endete im März 1942“, Höfen mitzuarbeiten, waren aber berichtete Riihilahti: „Die finnische zum größten Teil völlig ungeübt in Staatspolizei entschied, dass eine schwerer körperlicher Arbeit. Einige große Anzahl geflüchteter Männer begannen Deutschunterricht zu er- in verschiedenen Teilen des Landes teilten, meine Mutter hat Flüchtlin- zur Arbeit eingesetzt werden soll- ge als Babysitter für mich eingesetzt. ten, weshalb sie unter anderem in
16 Die Juden von Lammi ein Arbeitslager in Salla/Lappland Vortrags; hinten ganz links neben verbracht wurden. Andere, ungefähr der Tür, der Autor dieses Berichts zwanzig Männer mussten Lammi, in und seine Frau. (Foto rechts oben) Richtung der Landschaft Kainuu in Nordostfinnland verlassen. Männer, die nicht an handwerkliche Arbeit ge- wöhnt waren, arbeiteten nun körper- lich sehr hart, schliefen auf vereisten Böden, mussten in den Arbeitslagern mit schlechtem Essen und schlechter Kleidung auskommen,selbst bei Mi- P.S.: Ich möchte hier noch ein er- nusgraden von bis zu 40 Grad Celsi- staunliches Faktum aus dem Fin- us, immer hinter Stacheldraht. Jeder nisch-Sowjetischen Krieg 1939 -1944 musste arbeiten. Ein finnischer Arzt hinzufügen, was ich auf der Seite der hatte acht Männer aus gesundheitli- jüdischen Gemeinde in Helsinki fand, chen Gründen aus dem Lager geholt, hier ins Deutsche übertragen: „Wäh- um sie in der Gemeinde Kemijärvi rend des Winterkrieges (30. Nov. besser verarzten zu können, aber die 1939 – 13. März 1940) verteidigten oberen Behörden gaben für diese die finnischen Juden ihre Heimat auf menschliche Tat keine Erlaubnis. Die die gleiche Weise wie andere Finnen. Männer wurden ins Lager zurück- Der Fortsetzungskrieg (25. Juni1941 geschickt, mussten weiter arbeiten. bis 19. September1944) brachte eine Ein Mann wurde verrückt und es gab interessante Handlung in die Ge- mindestens einen Selbstmordver- schichte des Zweiten Weltkriegs, als such“, so beschreibt Riihilahti die Be- jüdische Soldaten Seite an Seite mit dingungen im Lager. dem finnischen Verbündeten Nazi- Deutschland gegen die Sowjetunion Doch konnte Riihilahti dann am Ende kämpften. Zum Beispiel gab es an seines Berichtes etwas wirklich Er- der antisowjetischen Front eine Zelt- freuliches mitteilen: „´Die Juden von Synagoge jüdischer Soldaten direkt Lammi´ haben alle Schwierigkeiten unter deutschen Augen. Trotz des und Strapazen überlebt. Sie übersie- starken deutschen Drucks weigerte delten am Ende des Krieges haupt- sich die finnische Regierung, die Bür- sächlich nach Schweden.“ gerrechte ihrer jüdischen Minderheit in irgendeiner Weise zu verletzen.“ Pauli Riihilahtiund sein http://jchelsinki.fi/fi/me/suomalai- Onkel Aimo Saarinen während des sessa_yhteiskunnassa
52 Stunden bis Helsinki 17 Albrecht Winkler Text & Fotos: Rüdiger Sinn 52 Stunden bis Helsinki den Ausland unterwegs: Österreich, Datum: 28.08.2019 Schweiz, Niederlande oder Belgien. Alles gut mit dem Zug erreichbar. Von Tübingen nach Finnland mit Die letzte Flugreise habe ich vor acht Schiff und Zug statt mit dem Flug- Jahren nach Irland unternommen, zeug, geht das? Unser Autor hat es ich versuche nachhaltig zu leben, da ausprobiert. Er hat gearbeitet, Men- passt Fliegen nicht. schen getroffen, geträumt, aus dem Verflixt. Ich überlege, den Termin Fenster geschaut und eine Menge aus ökologischen Gründen sausen zu CO2 gespart. Aus dem Kontext-Ar- lassen. Aber ich will schon gerne hin. chiv, Ausgabe 350, Dezember 2017. Dann kommt mir der Gedanke, ganz anders zu reisen. Warum nicht mit Ausgerechnet Helsinki! Denke ich, als Bahn und Fähre nach Finnland? Vor die Einladung nach Finnland in mei- 20 Jahren war ich zum Auslandsstu- nem Posteingang landet. Eingeladen dium in Stockholm. Billigflieger gab hat eine finnische Holzfirma. Weil es damals noch nicht, uns Studen- ich für eine Fachzeitschrift für Zim- ten blieb der Zug. Mit dem 15-Mark- merer und Dachdecker arbeite, ist Ticket reisten wird zu dritt nach Lü- der Termin für mich relevant. Als Re- beck, um dann mit dem Nachtzug dakteur einer deutschen Zeitschrift durch Dänemark und Schweden zu war ich bislang nur im angrenzen- gondeln. Es war ein Abenteuer, ei-
18 52 Stunden bis Helsinki nen Tag früher oder später ankom- men spielte keine Rolle. Heute bin ich Geschäftsreisender, Zeit ist wertvoll. Ich hadere. Soll ich nicht doch der Einfachheit halber Fliegen? Das Flugzeug fliegt doch sowieso. Aber der Gedanke, die Strecke mit dem Zug zurückzulegen, lässt mich nicht mehr los. Mich inte- ressiert, wie viel umweltfreundlicher ich bin, und auch, wie viel langsa- Hamburg Hauptbahnhof mer, wenn ich so reise. Und ich will zeigen, dass es geht. Als ich die Strecke Tübingen–Helsinki im Bahn-Reiseportal eingebe, spuckt mir die Seite tatsächlich eine Verbin- dung aus. Sie führt früh morgens von meinem Wohnort über Stuttgart, Hamburg nach Kopenhagen. Dort geht es mit dem Nachtzug weiter nach Stockholm, Ankunft früh mor- gens. Die Fähre dort legt um acht Uhr ab und braucht elf Stunden nach Turku in Finnland. Mit dem Zug sind Icon: Freepik es nochmal zwei Stunden bis Helsin- Bearbeitung: ki, wo ich um zehn Uhr abends ein- Kontext treffen würde. Gesamte Reisezeit: 39 Kleine Perlen Stunden. Kaum eine Zeitung im Netz hat ein Ar- Sieben Mal umsteigen macht skep- chiv wie wir: Von der ersten Kontext tisch bis zur aktuellen Nummer sind dort Allerdings nur, wenn alles passt und alle Texte als komplette Ausgaben auf- die Züge pünktlich sind. Sieben Mal rufbar. Viele kleine Perlen schlummern umsteigen macht mich skeptisch. in dieser Sammlung aus acht Jahren Nachtzüge und Fähren warten nicht Kontext. Manche davon einfach schön erzählt, andere aktueller denn je, wie- und fahren nicht jede Stunde, und der andere entlarvend für das Heute. ich möchte meine Fahrt berechen- Bis Mitte September werden wir für bar halten, denn ich muss rechtzeitig unsere LeserInnen jede Woche eine in Helsinki sein. Ich verfeinere meine Geschichte aus dem Archiv holen, die Reise in den nächsten Tagen, komme es wert ist, noch einmal gelesen zu aber wieder ins Grübeln. werden. Bei der Entscheidung, welches Ver-
52 Stunden bis Helsinki 19 kehrsmittel jemand für seine Reise nuten hat er ein Ergebnis. 160 Euro nutzt, ist meistens die Reisezeit aus- sind reine Zugkosten mit Bahncard schlaggebend. Ab etwa 300 Kilome- 50. Ohne wären es 260 Euro. Die tern Entfernung spricht viel für den Fähre kostet rund 54 Euro. Allerdings Flieger, außer auf Schnellbahnstre- ist dem Mann am Schalter die kurze cken. Innerdeutsch erreicht man mit Umsteigezeit in Hamburg nicht ge- der Bahn beispielsweise Köln von heuer. „Wenn es möglich ist, dann Stuttgart aus in Zweieinviertel Stun- planen Sie hier ein wenig Puffer ein“, den, von Frankfurt aus in nur einer empfiehlt er. Er scheint seinen Ar- Stunde. Rechnet man die Check-in- beitgeber zu kennen. Zeiten für Flüge hinzu, ist die Bahn Ich beschließe zwei Zwischenstopps: schneller und der CO2-Ausstoß um Einen in Hamburg, zudem übernach- ein Vielfaches geringer. Bei 39 Stun- te ich bei einem Freund in Flensburg. den mit dem Zug allerdings müsste In Kopenhagen habe ich einen Puffer man normalerweise nicht viel nach- von zwei Stunden. Ich werde also am denken. Montagmorgen um 5.08 Uhr süd- lich von Tübingen in den Bus steigen und zwei Tage später, um 10.23 Uhr Ortszeit in Helsinki sein. Wegen der Zeitverschiebung darf ich eine Stun- de abziehen. Summa Summarum bin ich 52 Stunden unterwegs. Passkontrolle. Das Ticket kostet – inklusive Bahn- fahrt in Finnland – 152,40 Euro. Mit Schleswig-Holstein aus dem Zugfenster Fähre sind es 206,40 Euro. Die güns- tigsten Einfachflüge ohne Zwischen- Ich denke von der anderen Seite: stopp von Frankfurt nach Helsinki Kann ich mir eine 39-Stunden-Tour kosten zwei Wochen im Voraus ge- überhaupt leisten? Demgegenüber bucht um die 160 Euro und dauern steht schließlich nur ein 2,5-stündi- 2,5 Stunden. Bahnfahrkosten von 43 ger Flug? Andererseits ist es ja ein Euro (mit Bahncard) kommen noch Experiment. Ich brauche mehr Zeit, dazu. Ab Stuttgart geht kein Flieger dafür reise ich umweltfreundlicher. direkt, allerdings gibt es von hier ei- Der Mann am Bahnschalter schaut nen Flug mit Stopp in Frankfurt für mich ungläubig an. „Nach Helsinki?“, nur 104 Euro. Die Reisezeit verlän- fragt er nach. Ich nicke. „Setzen Sie gert sich auf vier Stunden. Das wäre sich mal hin, dann rechne ich Ihnen günstiger und um einiges schneller. alles aus“, sagt er. Nach ein paar Mi- Abflug mit dem Bus
20 52 Stunden bis Helsinki Am Tag meiner Abreise kommt der selbst genervt. Ich stehe in Kassel- Bus pünktlich um 5.08 Uhr. Über Wilhelmshöhe und warte auf den IC, Reutlingen, Metzingen, Nürtingen, der kommt verspätet, überfüllt, und Wendlingen, Plochingen und Esslin- die Klos sind verstopft. In Hamburg- gen erreichen wir Stuttgart. Hier gilt Harburg treffe ich schließlich mit fast es, zum ersten Mal flexibel zu sein. zwei Stunden Verspätung ein. Der ICE nach Hamburg fällt aus, ein IC-Ersatzzug wird gestellt, allerdings fehlt das Zugpersonal. Alles verzö- gert sich, und die Reservierung ist natürlich auch weg. Das WLAN, das es seit einiger Zeit im ICE gibt, und das ich zum Arbeiten sehr schätze, bringt mich dazu, nochmal umzu- steigen in einen regulären ICE nach Mannheim. Ein Bahn-Montag zeichnet sich ab. Dänische Landschaft Im ICE werden wegen einer „System- Mein Aufenthalt an der Elbe verkürzt störung“ die Sitzplatzreservierungen sich, denn ich muss noch nach Flens- nicht angezeigt. Der Anschlusszug burg, Endspurt. Die Strecke zum nach Hamburg kommt später an, nördlichsten deutschen Zipfel durch ab Frankfurt hat er eine Verspä- Schleswig-Holstein führt vorbei an tung von 15 Minuten. Kurz vor Ha- Wiesen, Feldern und Windkraftan- nau: Bahnübergang-Störung. Die lagen. Ich schaue aus dem Fenster, Schranke geht nicht runter, der Zug lese, döse vor mich hin. Die Fahrt muss langsam passieren, noch mehr dauert zwei Stunden, dann bin ich Zeitverlust. Ich lausche einer Unter- da, 700 Kilometer Luftlinie von Tü- haltung im Abteil, vier Mitreisende bingen und 13 Stunden nach mei- wollen nach Erfurt und werden ihren ner Abfahrt erreiche ich mein erstes Anschlusszug nicht erreichen. „Man Etappenziel. Ich bin erschöpft und muss eine Zugfahrt immer als Aben- doch gerade erst ein Drittel der Stre- teuerreise sehen“, sagt einer. cke unterwegs. Aber: In Flensburg war ich noch nie. In Kassel steige ich um, weil ich Der zweite Reisetag nach Hamburg-Harburg möchte und Wieder weckt mich der Wecker zu der ICE da nicht hält. „Wegen einer früh. Zwanzig Minuten laufe ich zum technischen Störung gehen die Tü- Bahnhof, dann bin ich wach. Der dä- ren leider nicht auf“, sagt die Stim- nische Zug, ein IC, steht schon am me aus dem Lautsprecher, der Un- Gleis, pünktlich. Ein „Free Wifi“-Zei- terton ist vielsagend, der Schaffner chen empfängt mich, sehr gut, den-
52 Stunden bis Helsinki 21 ke ich mir. Es gibt freie Platzwahl in Durch Schweden mit dem Zug und den bequemen, bunten Sitzen. Der dann aufs Schiff Zugbegleiter begrüßt auf Dänisch, Deutsch und Englisch, kurz darauf erreichen wir schon die Grenze. „Bit- te halten Sie Ihre Pässe bereit“, bit- tet der Schaffner. Grenzkontrollen aufgrund verschärfter Einreisekon- trollen in Europa. Grenzpolizisten steigen ein, ein Mann möchte nach Schweden und hat keine Papiere da- bei. Die Fahrt endet für ihn jäh am ersten dänischen Bahnhof. Auf zum Schiff Es wird hell, über den Wiesen liegt Es ist Mittag. Im Schnellzug nach der erste Nebel, und die wunder- Stockholm treffe ich zwei deutsche schöne dänische Landschaft – Wie- Abiturienten, die mit dem Interrail- sen, Wald, Weide und auch mal eine Ticket unterwegs nach Norwegen Photovoltaik-Feld – begleiten mich sind – Göteborg und dann die Lofo- auf der Fahrt. Einmal muss ich um- ten. Klingt gut. Kurz nach Kopenha- steigen bis Kopenhagen. Die Namen gen nimmt der Zug Fahrt auf, und wir der Haltestellen schreibt man Ting- fahren über die knapp acht Kilome- lev, Roedekro, Vojens, Lunderskov ter lange Öresund-Brücke, die Däne- oder Kolding, sie hören sich in der mark mit Schweden verbindet (oben Lautsprecherdurchsage aber ganz Autoverkehr, unten Bahnverkehr). anders an. Der Zug füllt sich, ge- Mitten drin – auf Höhe einer kleinen nügend Platz zum Arbeiten gibt es Insel – dann die Lautsprecher-Durch- trotzdem, das WLAN funktioniert sage: „Ladies and gentleman, we just und ist superschnell (im Gegensatz passed the border, so very welcome zum ICE in Deutschland, und wir to Sweden.“ befinden uns in einem IC). Es ist ein Von Malmö aus, der ersten großen schönes Reisen in diesem Zug. Stadt in Südschweden, geht die Rei- Kopenhagen empfängt mich bei mil- se weiter gen Norden über Lund, den Temperaturen und einem lauen Hässleholm, Linköping, Norrköping Lüftchen. Ich treffe meine ehemalige und Södertälje nach Stockholm. Bei Mitbewohnerin, und wir verbringen jeder Lautsprecherdurchsage füh- mit ihrem kleinen Sohn den Zwi- le ich mich zurückversetzt in meine schenstopp im Skulpturengarten bei Studienzeit. Die Sitze im Zug sind mitgebrachtem Kaffee und Apfelstü- bequem, und die Beinfreiheit: ex- cken. Kopenhagen ist sehr schön. zellent. Der SJ X2 rast mit rund 250 Und fühlt sich entspannt an! Stundenkilometern über flaches
22 52 Stunden bis Helsinki Land und durch viel Natur, es regnet. Natürlich gibt es einen großen Ein- Ich arbeite an meinem Laptop. kaufsmarkt, ein Kino, eine Bar und Gegenüber hat ein Reisender ei- zur Bespaßung der Kinder ein Bälle- nen köstlich duftenden Kanel-Bullar paradies. Die Überfahrt nach Turku (Zimtschnecke, schwedische Spezia- dauert fast genau elf Stunden, und lität) aus dem Restaurant geholt. Der ich verliere eine Stunde wegen der feine Duft steigt mir in die Nase. Jetzt Zeitverschiebung. In der Viererkabi- ist „Fika“, Kaffeezeit. Ich hole mir ne bin ich alleine, es ist Nachsaison. auch eine Schnecke. In Deutschland Mit dem Brummen der Dieselaggre- gibt‘s die zwar auch bei Ikea, aber gate in den Ohren schlafe ich ein. original in Schweden schmecken sie einfach besser. Sogar im Zug. Um 17.39 Uhr erreichen wir Stock- holm, pünktlich auf die Minute. Ich gehe aus der Central-Station und juble innerlich: Wie schön, so eine Reise machen zu dürfen, egal wie lange sie dauert. Für mich hat es sich jetzt schon gelohnt. Ich schlendere durch Gamla Stan, die Altstadt, vor- bei an der Tunnelbana-Haltestelle Ankunft in Turku (Tunnelbana = schwedische U-Bahn) Am Morgen um 6.30 Uhr stehe ich am rüber zu der Anlegestelle der Viking- Frühstücksbuffet, (für 10 Euro, wenn Line-Fähre, die schon bereit steht man im Voraus bucht), das Schiff ist und ihren Schlund mit Autos füllt. schon im Anlegevorgang. Der Kaffee Es ist schon dunkel, als das Schiff ab- ist tief schwarz und schmeckt nicht legt, der Himmel ist klar. Vom Ober- gut. Dann betrete ich finnischen Bo- deck leuchtet in der Dämmerung den. Der Tag ist grau und der Hafen Stockholm, die Stadt am Wasser, die und die Häuser drum herum sehen auf sieben Inseln gebaut ist. Unter aus wie in einem Kaurismäki-Film: Deck beginnt das Abendprogramm. Einsilbig, melancholisch, ein wenig Irgendwie scheint alles ein wenig traurig. Aber am Horizont geht die aus der Zeit gefallen zu sein. Im Re- Sonne auf. Von der Fähre sind es kei- staurant auf der Bühne unterhält ein ne fünf Minuten bis zu einem klei- finnisches Entertainer-Duo die Gäste nen Bahnhof, der finnische IC nach mit Bingo. Ein Stock tiefer beginnt Helsinki steht schon bereit. Meine der Run aufs Buffet, das ein wenig letzte Etappe führt mich durch finni- lieblos daher kommt. „All you can sche Wälder und über Felder. Ich ge- eat“, 30 Euro, wenn man im Voraus nieße die zwei Stunden, schaue aus bucht. dem Fenster. Um 10.23 Uhr erreiche
52 Stunden bis Helsinki 23 ich Helsinki, fahrplanmäßig. Fußabdruck wieder verschlechtert. Beim Reisen mit dem Zug ist noch Es war eng und laut – ein kurzer Luft nach oben Flug, der mich von der Einsamkeit der finnischen Wälder zurück in die Geschäftigkeit der Zivilisation des Frankfurter Flughafens geworfen hat. Vom Hotel in Helsinki bis nach Hause südlich von Tübingen war ich etwa sieben Stunden unterwegs. Das ging natürlich viel schneller. Trotzdem habe ich aus meiner Reise, meinem kleinen Abenteuer, eines zu- mindest für mich persönlich gelernt: Von Turku nach Helsinki Ich werde auch in Zukunft meine Ter- Mein Fazit: Es war kein kurzer Trip, mine, wann immer das möglich ist, sondern eine richtige Reise. Für die mit dem Zug wahrnehmen. meisten Geschäftsreisenden dürfte der Zug keine Alternative sein, dafür müssen zu viele Annehmlichkeiten zurückgestellt werden: Kostenloses WLAN gibt es immerhin in Deutsch- land schon in ICEs. Es ist allerdings selten stabil und oft langsam. Pünkt- lichkeit, Service und Sauberkeit – das Übliche bei der Deutschen Bahn – könnten verbessert werden. Und gäbe es auf der Fähre von Stockholm Endlich in Helsinki nach Finnland Rückzugsmöglichkei- ten für Geschäftsreisende, könnten Dieser Artikel erschien erstmalig am sie dort arbeiten. Aber für alle, die 28.08.2019 in der„Kontext“Wochen- ein wenig Zeit mitbringen, lohnt es zeitung. sich, langsamer zu reisen, anstatt Der Link: nur im Jet-Set einen Termin abzu- www.kontextwochenzeitung.de haken. Und ich habe CO2 gespart. Sogar eine ganze Menge, je nach Be- rechnung bis zu 500 Kilogramm. Endlich am Ziel: Helsinki. Den Rückweg habe ich mit dem Flieger gemacht und meinen CO2-
24 Sampo Lassila Narinkka - Finnish Klezmer SampoLassila - b., comp., Alexi Trygg - viola, Janne Tuomi - perc. - singender Koffer, Markku Lepistö - acc. Sampo Lassila Narinkka - Finnish der Stille steht, wurden früher Wa- Klezmer ren aller Art gehandelt. (Konzert „geparkt“ wegen Corona) Sampo erzählt, dass es hier offenbar Von Tarja Prüss irgendwann zwischen 1750 und 1927 Sie schluchzt, sie weint, hält einen den ersten Flohmarkt gab. Der Platz vor Begeisterung aber auch kaum hatte die Farben des prallen Lebens auf dem Stuhl: Finnishklezmer. und den Hauch eines schlechten Ru- Aus Jazz, Folk, Klassik, Weltmusik fes. Hier schaute jeder nur auf sich, und speziell Klezmer braut der Kon- Geld war nicht das Wichtigste, son- trabassist SampoLassila die Musik dern vielmehr Überleben bestimmte seines Quartetts Narinkka. Jetzt sind das Tun. auf DFG-Tour in Deutschland. Virtu- ose Musiker, perfektes Zusammen- Ursprung Klezmer spiel, das aber leicht wirkt und voller Harmonie - durchzogen von dunk- „Jede Volksmusik ist schön, aber von len, weichen Tönen und einer guten der jüdischen muss ich sagen, sie ist Portion Wehklang. einzigartig! Sie ist so facettenreich, Die Band aus Finnland ist benannt kann fröhlich erscheinen und in Wirk- nach einem historischen Markt in lichkeit tief tragisch sein. Fast immer Helsinki. Da, wo heute die Kapelle ist es ein Lachen durch Tränen“, so
Sampo Lassila Narinkka - Finnish Klezmer 25 beschreibt Dmitrij Schostakowitsch dann wieder schimmernd grün und Klezmer. Das Wort setzt sich aus den wärmend scheint, irgendwann wie- Begriffen „kley“ (Instrument) und der in ein sanfteres Bett, in dem die „zemer“ (Melodie) zusammen. Töne klingen, gezogen und getragen werden. Die Wurzel dieser Musik liegt in den Und immer habe ich das Gefühl, osteuropäischen Kleinstädten mit die Saiten und Knöpfe erzählen von hohem jüdischen Bevölkerungsan- **Kaiho**. Sie wecken in mir eine teil, die im Spätmittelalter entstan- Sehnsucht nach etwas Unbestimm- den sind, Vertriebene aus Mittel- ten, etwas, das sich dem Versuch, es europa, die in Osteuropa Zuflucht zu fassen, erfolgreich entzieht. Jedes suchten. Dabei nahmen sie nicht nur Mal, wenn ich den Eindruck habe, ihr Hab und Gut, sondern auch ihre jetzt komme ich diesem Gefühl oder Musik mit. Die wichtigsten Klezmer- diesem Ort näher, jetzt bin ich gleich Instrumente sind das Tsimbl (Hack- da, lösen sich die Bilder auf, noch brett), die Geige und die Klarinette. bevor ich sie richtig greifen könnte. Wie Farbschlieren, die sich auf der Die Finnische Variante erkennt man Wasseroberfläche kringeln, bleibt vielleicht schon daran, dass eine an- es seltsam unbestimmt. Nur eines dere Kombination der Instrumen- scheint klar: Sie sind durchzogen von te gewählt wird: Akkordeon, Viola, Sehnsucht, Wehmut und Melancho- Kontrabass, minimalistisches Schlag- lie. zeug. Ausnahmslos warme Töne aus dem kalten Norden. Melancholie und grenzenlose Tragik Musik wie ein Fluss Und wenn die vier dann von dem einen Liebesbrief erzählen, der, den Und ehe man sich versieht, fällt man eine Frau in Polen 1942 an ihren regelrecht in die Harmonien hinein. Mann schrieb, der als Soldat nach Sie wirken wie ein Sog, dem sich die Finnland musste. Dieser Mann, der Ohren nicht entziehen können. Vor dann blieb. Und dieser Brief, der nie allem nicht das Herz. Es lässt sich eine Antwort erhielt. Dieses Stück einfach fallen und von dem musika- Papier, das man ungezählte Jahre lischen Strom mit treiben. Die Musik später - nach seinem Tod - in seiner ist wie ein Fluss, mal langsam und Brieftasche fand. Die nichts anders verschlungen, mal wild und treibend, als diesen Brief enthielt, vergilbt und wie wenn Stromschnellen Fahrt auf- kaum mehr leserlich. nehmen. Und dann kommt dieser Bei diesem Song verschmelzen Er- musikalische Fluss, dessen Wasser fahrungen und Gefühle aller Ge- mal tiefblau, mal Eiswasser-hell, und nerationen jetzt und derer, die vor
26 Sampo Lassila Narinkka - Finnish Klezmer uns da waren, zu einem vielstimmi- der Suche nach Glück und verpass- gen Klang. Ein Klang der verpassten ten Momenten. Chancen, der ungelebten Gefühle und der grenzenlosen Tragik. Suomiklezmer: sentimental, schroff, Ländergrenzen verschmelzen ange- ehrlich sichts dieses universellen Gefühls, - selbst der Coronavirus Hype ist für Sampo Lassila Narinkka ist der Erfin- einen Moment vergessen - und im der von Suomiklezmer. Lassila grün- dunklen Saal scheint jeder für einen dete auch das Helsinki Klezmer Fes- Augenblick versunken zu sein in den tival, das seit 2015 jeden Sommer in Fallstricken, die das Leben bereit- Sysmä über die Bühne geht. hält. Mit Suomiklezmer haben die Musi- ker ihre eigene Sehnsuchtsmusik ge- Dieser Song findet sich auf der CD funden. Eine neue Form des Klezmer *Sampo-Lassila-Narinkka - Suo- - mit viel Leidenschaft und Melan- miklezmer* - also finnischer Klezmer cholie, transformiert in eine urbane - und beim wiederholten Hören fällt zeitgemäße Musik, die viel zu er- man in eine Art angenehme Zeitlo- zählen vermag. Eine Art nordischer sigkeit. Blues, kaum in eine Schublade zu stecken. Sampo bezieht sich dabei Mit Spielwitz und finnischem Humor auch auf den finnischen Komponis- erzählt Sampo kleine Geschichten ten, Arrangeur, Musiker und Produ- auf der Bühne und bringt so Leich- zenten ToivoKärki (1915-1992). tigkeit und Unbeschwertheit in die musikalische Reise. Etwa vom Os- Sampo Lassila: „Narinkkas Musik ist ten Helsinkis und der unschlagbaren ausgesprochen slawisch, sentimen- Kombination von Liebe und Sport tal, schroff, irgendwie rührend ehr- - im Besonderen Nordic Walking. lich, aber plötzlich fast erschreckend Und man meint den gleichmäßigen stark. Die musikalische Verbindung Schritt, das Kratzen der Stöcke auf zwischen den Bandmitgliedern ge- dem Asphalt und das Atmen zu hö- schieht wirklich - auf berührende ren. oder andererseits komische Weise. Die andere Seite, die traditionellen Die CD **„VieraillaMailla“** (engli- Klezmer-Stücke, sind passend zum scher Titel: Strange Lands) - bezieht eigenen Narinkka-Stil arrangiert und seine Themen vom Fremdsein: Fin- erweitern das Live-Erlebnis zu einer ninnen und Finnen im Ausland, an- Art Zeitreiseerlebnis, von den alten dererseits Fremde in Finnland. Hier Bessarabien-Schtetls bis zu moder- werden Geschichten erzählt von nen finnischen Vororten.“ Menschen, von verlorener Heimat, Aber letztendlich basiert die akus-
Sampo Lassila Narinkka - Finnish Klezmer 27 tische Musik, komponiert von Sam- Geplante und jetzt „geparkte“ poLassila NARINKKA, wirklich auf diesem ganz besonderen Moment, in dem sich Zuhörer und Musiker DFG-Tour-Orte in Deutschland: wirklich in der Musik, in der mensch- lichen Musik verbinden können. Stuttgart, Und es wäre wohl nicht finnisch, Linse, wenn es nicht auch Songs gäbe wie Herford, Metsä (Wald), den Narinkka am München, Ende des Konzerts spielt und die Hof, finnischen Wälder in all ihren Fa- Hamburg, cetten so mir nichts dir nichts nach Gernheim, Deutschland holt. Greifswald, Loitz, Fazit: Wenn Blues die Wurzel aller Lübeck, Musik ist, dann ist Suomiklezmer die Bad Segeberg, Wurzel aller gefühlter Sehnsucht. Wilhelmshaven, Bremen, Neuss, **Sampo Lassila** ist in Jazz und Vöhl, Klassik zuhause. Er gilt als einer der Wiesbaden, besten Kontrabassisten Finnlands, Essen ist Mitglied des Symphonieorches- ters von Lahti und hat mit Edvard Ve- sala und Krakatau gespielt. Der Akkordeonist **Markku Lepi- stö** ist ein Weltstar seines Inst- ruments: Er hat mit der Formati- on Pirnales den Folk erneuert und veröffentlicht regelmäßig moderne akustische Musik auf Weltklasse- Niveau. Darüber hinaus hat er ein gutes Jahrzehnt bei Värttinä gespielt. **AleksiTrygg** lässt seine Viola un- endlich ergreifend weinen, aber im- mer weich und sanft. Percussionist **Janne Tuomi**, der mit einem minimalistischen Schlag- zeug spielt und aus einem Koffer un- glaublich variable Klänge herausholt.
28 Absage Juhannus Feier
In Gedenken 29 Nachruf Dr. Norbert Blüm Im Alter von 84 Jahren ist Norbert Blüm an seinem lang- jährigen Wohnort in Bonn gestorben. Über sein öffent- liches Leben wird gerade viel geschrieben. Privat war Norbert Blüm ein großer Finnland-Liebhaber und DFG- Familienmitglied seit dem 1. März 1986. Geprägt durch die Pfadfinder verbrachte er bereits in Jugendjahren mit seiner späteren Frau Marita Ferien in der finnischen Natur. Später folgten regelmäßige Sommerurlaube mit der ganzen Familie in einem einfachen Mökki „umgeben von Beeren und Bären“. Nach dem gemeinsamen Festakt im Bonner Rathaus anlässlich der 100 Jahre finnischer Unabhängigkeit saßen wir noch lange zu- sammen und erfreuten uns an den vielen Anekdoten aus ihren etwa 40 Be- suchen in Finnland, die beide so wunderbar lebhaft und humorvoll erzähl- ten. Deutlich konnte man spüren, wie sie das Leben dort genossen und wie wohl sie sich immer in Finnland gefühlt haben. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie! Wir trauern um unseren Freund und ehemaligen Vorsitzenden Horst Lünenbürger * 30.04.1926 †21.04.2020 Mitglied der Deutsch-Finnischen Gesellschaft seit 01.05.1973, Vorsitzender der Bezirksgruppe Bochum-Witten von 2002 bis 2005 Seine Liebe zu Finnland hat Horst Lünenbürger, ein warmherziger, an Musik und Literatur interessierter Mensch, in seinen Aquarellen immer wieder zum Ausdruck gebracht, in Motiven, die er im Umkreis seines finnischen Sommerhauses fand, das er zusammen mit seiner Frau Aune bewohnte. In seinen Kindern und Enkelkin- dern lebt sein künstlerisches Wesen und Talent weiter. Möge er in Frieden ruhen! Unser aller Mitgefühl gilt seiner Frau und seinen Kindern. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Für die Bezirksgruppe, gez. Elfi Heua, Vorsitzende
Sie können auch lesen