LANIK - FLUCHT UND STADT - SOSE 2016, NR. 75 - DER PROJEKTRAT

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LANIK - FLUCHT UND STADT - SOSE 2016, NR. 75 - DER PROJEKTRAT
¶lanik       SoSe 2016, Nr. 75

Flucht und Stadt
LANIK - FLUCHT UND STADT - SOSE 2016, NR. 75 - DER PROJEKTRAT
2        Planik 75 : SoSe 2016 :: Hinter der Bleiwüste...

    Inhalt
Schwerpunkt: Flucht und Stadt
»» Seite 4 Geflüchtete im Ausnah-
                                     Hinter der Bleiwüste...
   mezustand

                                     V
»» Seite 6 Hinter Deutschen Wän-
   den – Flucht ins Frauenhaus               ier Jahre Stille, jetzt ist sie wieder erwacht: Die Planik! Aufgeweckt von
                                             Projekträt*innen. Doch das Aufstehen ist ein langwierig mühsamer
»» Seite 8 Das BauGB zwischen                Prozess. Das jetzige Redaktionsteam hat sich uneigennützig am Anfang
   Unterbringung von Asylsuchen-     des Prozesses an die Bleistiftspitze der Planik-Bewegung gesetzt. Jetzt dürfen
   den und Innenentwicklung          wir zwar diktatorisch über das Layout, die Schriftarten und die Bilder entschei-
                                     den, auf der anderen Seite sind wir aber auch irgendwie dafür verantwortlich,
»» Seite 10 Flucht rettet Leben      dass der Publikationsprozess über die Bühne gleitet, dass das Thema gefunden
                                     wird, dass die Artikel geschrieben werden und dass überhaupt Menschen da
»» Seite 11 Auch Flüchtlingskinder   sind, die Artikel schreiben möchten.
   haben Rechte
                                     Warum tut sich das überhaupt jemand an, sich so viel Verantwortung aufzu-
»» Seite 12 Formen der Unterbrin-    bürden, mit dem einzigen Vorteil, über unnötige Kleinigkeiten wie Schriftzei-
   gung in Berlin                    chen zu entscheiden? Nun, vielleicht sollten wir das Pferd von hinten aufzäu-
                                     men und die rhetorische Frage anders stellen: Wer weiß über die Vorgänge im
»» Seite 14 Der Lange Weg zur        Institut Bescheid? Was passiert eigentlich im Projektrat? Wie war das letzte
   eigenen Wohnung                   Planer*innen-Treffen? Eine ganze Menge Fragen, die – wie wir finden – beant-
                                     wortet gehören. Nicht im kleinen Projektratskämmerlein, wo eh nur die einge-
»» Seite 16 Die in Vergessenheit     weihten Mitglieder mit Sicherheitsschlüssel Zugang haben, nein, diese Fragen
   geratene Unterkunft für Ge-       und Diskurse gehören in die studentische Öffentlichkeit getragen.
   flüchtete
                                     Eine weitere Schiene, die uns dazu bewogen hat, die Planik wieder aufzuwe-
Panorama                             cken, ist die allgemeine Krise der Zeitungslandschaft. Überall auf der Welt
»» Seite 17 Radbahn U1               sterben die Zeitungen wie die Fliegen, die Printmedien sind in einer schweren
                                     Krise. Überall? Nein, in Berlin, in einem kleinen Studiengang, widersetzen sich
»» Seite 18 Die Finanzierung von     die Menschen hartnäckig der drohenden digitalen Übermacht und bringen eine
   sozialem Wohnraum im Berliner     Zeitung heraus.
   Baulandmodell
                                     Der Projektrat, ursprünglich als revolutionäre Organisation gegründet, steht
Der Projektrat                       da natürlich wieder auf der Seite der Unterdrückten und hat sich mit Haut und
»» Seite 21 Der Projektrat           Haaren dem Zeitungsmachen verschrieben.

»» Seite 22 Institutsrat |           In diesem Sinne, möchten wir allen Beteiligten, die an der Zeitung in irgendei-
   Fakultätsrat                      ner Form mitgewirkt haben (und sei es finanziell), sehr höflich bedanken und
                                     wünschen eine angenehme Lektüre.
»» Seite 23 Die Fachausbildungs-
   kommission |                      Euer Planik-Redaktionsteam
   Prüfungsausschuss und mehr        Jakob, Laura, Lis

»» Seite 24 Bundesfachschaftsrat        Impressum                                       Titelbild: Lisa Wagner

»» Seite 25 Hochschultag             PLANIK – Die Zeitung der Studie-            Das Titelbild zeigt drei unter-
                                     renden am Institut für Stadt- und           schiedliche Grundrisse für Flücht-
»» Seite 26 Derbe nah am Glück –     Regionalplanung an der Technischen          lingsunterkünfte (v.o.n.u.):
   PlanerInnentreffen in Hamburg     Universität Berlin                          MUF, Modulare Unterkuft für
                                     Auflage: 500 Stück                          Flüchtlinge. Bald mehrfach in
»» Seite 28 Beratung vom AStA        Erscheinungsweise: halbjährlich             Berliner Bezirken
                                     Post: Hardenbergstr. 40a, 10623 Berlin      Wohnmodule aus Holz. Pla-
»» Seite 30 Café PlanWirtschaft      Telefon: (030) 314-28057                    nungsvorschlag von AG „Zu-
                                     E-Mail: planik@projektrat.de                kunftsvillage Tempelhof“.
»» Seite 31 Termine                  Netz: www.projektrat.de                     Container-Unterkunft für Asyl-
                                     Herausgeberin: Der Projektrat               bewerber von hansabaustahl
                                     Quod scripsi, scripsi...
LANIK - FLUCHT UND STADT - SOSE 2016, NR. 75 - DER PROJEKTRAT
Editorial :: Planik 75 :: SoSe 2016                          3

Thema: Flucht und Stadt

                                                                                                               Foto: Lisa Selmar

M
         enschen sind ständig in Be-     einen anderen Kontinent – begeben,         Frauenhäuser für Schutzsuchende
         wegung, auf dem Weg in die      weil das Leben am eigenen Ort durch        wichtig sind. Der AStA erinnert uns
         Uni, auf die Arbeit oder in     Kriege, Zerstörung oder Diskriminie-       daran, dass Flucht uns schon lange
der Freizeit. Es werden weite Stre-      rung bedroht ist. Um diese Form der        beschäftigt und Deutschland mit dem
cken zurückgelegt, um dorthin zu         menschlichen Bewegung, der Flucht,         zweiten Weltkrieg eine besondere
kommen, wo man nicht ist und das         soll es in dieser Ausgabe mehrheitlich     Verantwortung besitzt.
zu erreichen, was es an diesem Ort       gehen.
nicht gibt. Was treibt uns dazu das                                                 Die Zeitung soll verschiedene Posi-
Wohlbekannte hinter uns zu lassen?       Für uns als Redaktion geht es da-          tionen und Aspekte der Flucht zu-
Die Sehnsucht nach einem ange-           bei keinesfalls um Grundsatzfragen,        sammentragen und zum Diskutieren
nehmen, geschützten Ort. Mit dem         denn es steht fest: Das Recht auf          anregen – auch über den universitä-
Ortswechsel können viele Erwartun-       Asyl ist ein Menschenrecht und da-         ren Kontext hinaus. Zudem kann die
gen verbunden sein. Gründe für das       her nicht verhandelbar. Das Thema          Planik ein Austauschforum für die
Aufbrechen an einen anderen Ort gibt     Flucht möchten wir dennoch nicht           Studierenden sein. Wir bedanken uns
es mannigfaltig: Eine wirtschaftliche    ausschließlich in den jetzigen Kriegs-     an dieser Stelle bei den vielen Leuten,
Perspektivlosigkeit kann Menschen        kontext setzen. Daher freuen wir uns       die in Form eines Artikels oder ande-
dazu bringen sich woanders hinzu-        sehr, eine breite Palette an Artikeln in   rer Arbeit zu diesem Austausch bei-
begeben, ein Ortswechsel aufgrund        unserer Rubrik „Schwerpunkt“ zum           getragen haben. ¶
von vermutlich besseren Berufspers-      Thema Flucht und Stadt abdrucken
pektiven kann natürlich auch freiwil-    zu können. Neben baurechtlichen                      Nächste Ausgabe
lig geschehen. Andere Bewegungen         Erläuterungen und theoretischen Ab-
passieren weniger freiwillig, es wird    handlungen über Flüchtlinge, dürfen         Redaktionstreffen zur Ausgabe 76
sich an einen anderen Ort – in eine      wir auch ein Studienprojekt vorstel-        am Mo., 2. Mai, 19 Uhr
andere Stadt, in ein anderes Land, auf   len und uns daran erinnern, dass auch
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4       Planik 75 : SoSe 2016 :: Schwerpunkt

Geflüchtete im Ausnahmezustand
“He who has been banned is not, in fact, simply set outside the law and made indifferent to it
but rather abandoned by it, that is, exposed and threatened on the threshold in which life and
law, outside and inside, become indistinguishable.” (Giorgio Agamben 1998:28)
Text: Fabian Deter

I
    m öffentlichen Diskurs wird der      eine Person transportiert, die diese      annulliert wurde – er steht in einer
    derzeitige Zustrom von Geflüchte-    Voraussetzungen nicht erfüllt, die        Beziehung der inklusiven Exklusion
    ten nach Deutschland und Europa      auch kein Asyl erhält und der nicht       zum Recht. Durch seinen Ausschluss
häufig als „Krise“ charakterisiert. In   die Flüchtlingseigenschaften nach         vom Recht wird der ‚homo sacer‘
der Krise – einem Ausnahmezustand        der Genfer Flüchtlingskonvention          zu ‚bare life‘ – bloßem Leben ohne
– sind jedoch nicht nur die Aufnah-      zuerkannt werden, so hat das Unter-       politische Signifikanz. Die hier wir-
me- und Versorgungsstrukturen in         nehmen alle hierdurch entstehenden        kenden Strukturen sind die des Aus-
Deutschland, sondern vor allem die       Kosten zu übernehmen. Das Deut-           nahmezustandes – den der Souverän
Geflüchteten selber. Nicht nur stellt    sche Aufenthaltsgesetz kennt sogar        erklärt, indem er das Recht suspen-
sich für Geflüchtete die Flucht und      das generelle Verbot des Transportes      diert – die ‚sovereign exception‘. Ex-
deren Ursachen ganz überwiegend          von Ausländern ohne ausreichenden         emplarisch nennt Agamben das Lager
als Ausnahmesituation dar, ihr Leben     Aufenthaltstitel in das Bundesge-         – zum Beispiel die Konzentrationsla-
wird völlig vom Ausnahmezustand          biet – auch im Falle von begründeten      ger im Nationalsozialismus oder auch
geprägt (Jonathan Darling 2009).         Asylgesuchen. Der Text der Richtlinie     das US-Lager Guantanamo – als den
                                         schließt zwar explizit mit der Behaup-    Ort der ‚sovereign exception‘. Die
Entrechtung auf EU-Ebene                 tung, die Anwendung der Genfer            hier wirkenden Logiken des Camps
Der europäische Teil des Weges der       Flüchtlingskonvention nicht zu be-        sind jedoch nicht auf eine spezifi-
Geflüchteten beginnt damit, dass die     einflussen. Durch das damit verbun-       sche, räumlich abgegrenzte Einheit
Menschen in den allermeisten Fäl-        dene hohe finanzielle Risiko verwei-      beschränkt, wie Julia Schulze Wessel
len gezwungen werden, die Außen-         gern Fluggesellschaften jedoch in der     (2014) und Mark B. Salter (2008) ar-
grenzen der Europäischen Union auf       Praxis die Mitnahme von Passagieren       gumentieren. Sie sehen vor allem die
rechtlich nicht vorgesehenem und         ohne den erforderlichen Aufenthalts-      Grenze als permanenten Ausnahme-
gefährlichem Wege zu überqueren -        titel – den Menschen wird das Recht       raum des Rechts, wie obiges Beispiel
oftmals in nicht seetüchtigen Booten.    genommen, die Genfer Flüchtlings-         geeignet ist zu illustrieren.
Doch inwiefern werden Refugees ge-       konvention für sich in Anspruch zu
zwungen? Warum besteigen Sie nicht       nehmen.                                   Die Grenze im Wandel
einfach ein Flugzeug, beispielsweise                                               Die Grenze tritt zunehmend nicht
von der Türkei in eine beliebige deut-   Homo Sacer                                mehr nur als fixe territoriale Linie auf
sche Stadt? Am Preis des Flugtickets     Dieses vom Recht ausgeschlossen           – sie ist einerseits im Rahmen u.a. des
liegt dies nicht, immerhin kostet die    werden bezeichnet der italienische        Schengener Abkommens Deterritori-
ungemein gefährliche Schlauchboot-       Philosoph Giorgio Agamben als ‚so-        alisierungsprozessen im Inneren aus-
passage typischerweise ein Vielfaches    vereign abandonment‘ und die vom          gesetzt und wird andererseits an den
eines selbst spontan gekauften Flugti-   Recht ausgeschlossenen Menschen           Außengrenzen des Schengenraumes
ckets. Es liegt vielmehr an Richtlinie   als ‚homini sacri‘ (singular: ‚homo sa-   bzw. der Europäischen Union forti-
2001/51/EG der Europäischen Union.       cer‘). Er referenziert damit eine Figur   fiziert bzw reterritorialisiert (Nick
Diese besagt, dass Fluggesellschaften    des römischen Rechtes, die außerhalb      Vaughan-Williams 2009). Zusätzlich
(und andere Transportdienstleister),     der Gemeinschaft stand und straflos       ist eine Externalisierung der Grenz-
die Menschen in die EU transportie-      getötet werden konnte. Der ‚homo          funktionen im Sinne der Auslage-
ren, sicherstellen müssen, dass ihre     sacer‘ steht jedoch nicht außerhalb       rung von Kontrollpflichten an private
Passagiere die formellen Einreisebe-     des Rechts in dem Sinne, dass er keine    Transportdienstleister zu beobachten.
stimmungen erfüllen, in den meis-        Beziehung zu ihm aufwiese. Vielmehr
ten Fällen also ein Schengen-Visum       wurde er vom Recht verlassen bzw.         Wenn nun Grenzen und ihre Funk-
vorweisen können müssen. Wurde           exkludiert, ohne dass das Recht selbst    tionen – wie jene, Individuen (per-
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manent) Zutritt zum Territorium zu         für Gesundheit und Soziales kommt        fugee air), die es sich zum Ziel gesetzt
gewähren oder zu verweigern – de-          es seit Jahren zu langen Schlangen       hat, Refugees mit syrischer Staatsan-
territoralisiert sind (also zum Beispiel   mit teils wochenlangen Wartezeiten.      gehörigkeit per Charterflug aus Län-
sowohl an Flughäfen weit außerhalb         Im Sommer 2015 gewährte das Lan-         dern des nahen Ostens nach Europa
des Territoriums ausgeübt werden,          desamt hunderten neu angekomme-          zu fliegen und damit Linienfluggesell-
als auch im Inneren des Territoriums       nen Geflüchteten gleichzeitig keine      schaften demonstrieren möchte, dass
in Form von beispielsweise Behörden        Unterkunft und auch keine sonsti-        es kein rechtliches Risiko ist, zumin-
die über Asylanträge entscheiden),         gen Leistungen zur Sicherung bei-        dest bestimmte Gruppen von Refu-
dann folgt daraus eine Deterritoriali-     spielsweise der Ernährung und der        gees nach Europa zu transportieren
sierung des Ausnahmezustandes (Eti-        Gesundheit. Dies führte dazu, dass       - sind alles Initiativen, die potentiell
enne Balibar 2002). Er tritt jetzt nicht   regelmäßig hunderte Geflüchtete in       geeignet scheinen, das Recht bzw. sei-
mehr nur an der physischen Grenz-          umliegenden Parks campieren muss-        ne Geltung und die Figur des Geflüch-
linie auf, sondern an allen Orten,         ten. Bereits im Winter 2014/15 muss-     teten einander anzunähern.
an denen Grenzbeamte Grenzfunk-            te das Landesamt zugeben, geltendes
tionen ausüben. Je nach Dauer des          Bundesrecht nicht umzusetzen – be-       Andere Initiativen, zum Beispiel die
Vorganges und je nach Gruppenzu-           gründet wurden diese Umstände je-        Verteilung von witterungsangepass-
gehörigkeit (William Walters (2002)        weils mit dem exzeptionellen Termi-      ter Kleidung oder von Essen, haben
unterscheidet exemplarisch u. a. in        nus der Krise.                           zwar unzweifelhaft einen (unmittel-
die „kinetische Klasse“ und ihre Anti-                                              baren) positiven Effekt für Geflüch-
these, die „Deportationsklasse“) kann      Dauerhaft rechtlos                       tete und sind daher momentan un-
das dem Ausnahmezustand ausge-             Doch selbst wenn Geflüchtete             verzichtbar, haben jedoch nicht das
setzt sein sehr unterschiedlich wahr-      schließlich untergekommen und mit        Transformationspotential der vorge-
genommen werden bzw. sich sehr un-         den ihnen nach dem Asylbewerber-         nannten Initiativen.
terschiedlich auswirken.                   leistungsgesetz zustehenden Leistun-
                                           gen versorgt sind, so sind sie weiter-   Akteursanalytisch          betrachtet,
Die regelmäßige Reduktion von Ge-          hin vom Ausnahmezustand betroffen,       scheint sich bei den refugeeRefu-
flüchteten zu bare life bzw. deren         der mit der Grenzkontrollfunktion        gee-Protesten sowie den Klagen vor
Ausgeschlossenheit vom Recht fin-          des Asylprozesses, in dem sie sich       dem Sozialgericht ein Mix aus Re-
det seinen Ausdruck zum Einen in           befinden, zusammenhängt. Die Er-         fugee-Akteur*innen sowie lokalen
der weitgehenden Gleichgültigkeit,         teilung eines positiven Bescheides       Aktivist*innen feststellen zu lassen,
mit der die europäische Öffentlich-        des Bundesamtes für Migration und        wohingegen das refugee air Projekt
keit und Politik die tausenden Toten       Flüchtlinge – sofern er überhaupt        allein von europäischen Aktivist*in-
der letzten Jahre auf dem Mittelmeer       erteilt wird – dauert in den meisten     nen durchgeführt wird. Insbesondere
hinnahm und hinnimmt. Zum ande-            Fällen viele Monate.                     die Klagen vor dem Sozialgericht so-
ren findet es Ausdruck in der will-                                                 wie refugee air verfolgen sehr kon-
kürlichen Art und Weise, mit der Ge-       Agamben selbst sieht den Ausnah-         krete Ziele, die jeweils das Potential
flüchtete, die (nicht nur) im zweiten      mezustand, der ursprünglich eine         für über den konkreten Fall hinaus-
Halbjahr 2015 unter teilweise beacht-      temporäre Suspendierung des Rechts       reichende, positive Veränderungen
lichem Medieninteresse von Grie-           darstellte, nun als das „dominante       für Refugees zu haben.
chenland aus durch Süd-Ost-Europa          Regierungsparadigma gegenwärtiger
zogen, von den unterschiedlichen           Politik“ erscheinen und zunehmend        Fazit
Staaten behandelt wurden. Wäh-             ein festes und dauerhaftes räumliches    Als alltagstaugliches Ergebnis dieser
rend die Europäische Rechte laut die       Arrangement annehmen. (Giorgio           Kurzanalyse ließe sich konstatieren,
Durchsetzung dieses oder jenen (rest-      Agamben 2005:2)                          dass Agambens Konzept des ‚homo
riktiven) Rechtes forderte, herrschten                                              sacer‘, so zutreffend es an einigen
Zustände, die die Inanspruchnahme          Auswege                                  Stellen zu sein scheint, nicht zur al-
irgendeines Rechtes durch Refugees         Doch was bedeutet die Charakteri-        leinigen Charakterisierung der Figur
entlang ihrer Transitroute verunmög-       sierung des Refugees als Homo Sacer      des Geflüchteten ausreicht. Gut las-
lichten. Es ist hier, dass der Ausnah-     für diesen? Haben Geflüchtete keine      sen sich mit dem Konzept des ‚homo
mezustand, das vom Souverän verlas-        Möglichkeit, der passiven Rolle, die     sacer‘ die Exklusion von Geflüchteten
sen worden sein, deutlich zutage tritt.    Agamben mit der des Homo Sacer für       repräsentieren; die Perspektive des in
                                           sie vorsieht, zu entkommen? Der Re-      der Rolle des ‚Homo Sacer‘ verharren
Ausnahmezustand in Berlin                  fugee-Protest vor wenigen Jahren in      müssens erscheint jedoch, auch ange-
Das dem Ausnahmezustand ausge-             Berlin; die Tatsache dass seit Herbst    sichts obiger Beispiele, als überzeich-
setzt sein endet nicht mit der Ankunft     2015 eine immer größer werdende          net. Unterstützung von Geflüchteten
in Berlin. Vor dem für die Gewährung       Zahl von Geflüchteten die ihnen vom      sowie deren Eigeninitiative haben
von Leistungen für die Unterkunft          Senat zustehenden Leistungen vor         durchaus das Potential, dem ‚aban-
und den Lebensunterhalt von Ge-            dem Berliner Sozialgericht einklagt      donment‘ dem Geflüchtete ausgesetzt
flüchteten zuständigem Landesamt           sowie eine schwedische Initiative (re-   sind, entgegenzuwirken. ¶
LANIK - FLUCHT UND STADT - SOSE 2016, NR. 75 - DER PROJEKTRAT
6       Planik 75 : SoSe 2016 :: Schwerpunkt

Hinter deutschen Wänden –
Flucht ins Frauenhaus
Menschen flüchten: nicht nur von Land zu Land, sondern auch innerhalb einer Stadt. Viele Frau-
en*, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, suchen Zuflucht in Frauenhäusern.

Text: Bruna Rohling

D
        ie Institution „Frauenhaus“       aufgabe der Frauenhäuser ist es, den      so die Schätzungen der Weltgesund-
        gibt es noch nicht lange. Die     Frauen* und Kindern, welche von           heitsorganisation (WHO), diese geht
        erste Einrichtung wurde 1971      physischer und psychischer Miss-          auch von jährlich 800.000 Todesfällen
in einem Londoner Vorort gegründet,       handlung in ihrem Zuhause betroffen       aus.
das erste autonome Frauenhaus der         sind, sofortigen Schutz zu bieten.
BRD entstand 1976 in Westberlin.                                                    In den meisten Fällen handelt es sich
Dessen Eröffnung stieß jedoch im          Hinter deutschen Wänden –                 dabei um Gewalt, die Männer* an
Berliner Senat zunächst auf Unver-        Häusliche Gewalt                          Frauen* verüben. Es sind aber auch
ständnis. Denn 1975 war zwar das          Häusliche Gewalt ist die weltweit         Männer* von häuslicher Gewalt be-
„Internationale Jahr der Frau“ und        häufigste Form von Gewalt und wird        troffen. (SenIntArbSoz o. J.) In der
damit der offiziellen Gleichberechti-     mittlerweile als Menschenrechtsver-       Öffentlichkeit wird diese Problematik
gung zwischen den Geschlechtern,          letzung geahndet (SenIntArbSoz o. J.).    jedoch nach wie vor kaum diskutiert.
die gesellschaftliche Benachteiligung     Rechtsverbindliche Instrumente, um        Grund dafür ist u. a., dass sie von vie-
der Frau* zeichnete sich jedoch auch      dieser entgegenzuwirken, wurden re-       len Betroffenen geleugnet wird. Mitt-
in Deutschland noch deutlich ab:          gional jedoch erst ab 1994/95 geschaf-    lerweile gibt es aber auch Schutzhäu-
Nicht nur, dass gute Ausbildungs-         fen (Follmar-Otto o. J.). Häusliche Ge-   ser für Männer*. (Lenz 2004)
und Arbeitsplätze den Männern* vor-       walt betrifft alle sozialen Schichten.
behalten waren, auch Themen wie           Definiert wird sie als „Ausnutzung        Ankunft und Unterstützung im
häusliche Gewalt gegenüber Frauen*        eines Machtverhältnisses durch die        Frauenhaus
waren gesellschaftlich gewisserma-        strukturell stärkere Person“ (SenIn-      In Berlin gibt es sechs Frauenhäuser.
ßen toleriert.                            tArbSoz o. J.), wobei die betroffene      Darin haben im Jahr 2014 insgesamt
                                          Person entweder in ihrer physischen       1.781 Frauen* und Kinder Zuflucht
Anspruch der ersten Frauenhäuser          oder psychischen Integrität verletzt      gefunden. (SenIntArbSoz 2014) Wich-
war deshalb zunächst die Verbindung       wird. Das kann von Drohungen, Er-         tig ist, dass die genauen Standorte
von politischer Praxis und individu-      niedrigung und Isolation über sexuel-     der Frauenhäuser nicht bekannt sind
eller Emanzipation. Den betroffenen       le oder körperliche Gewalt bis hin zu     und die Ankunft im Frauenhaus nur
Frauen* sollte nicht nur Schutz ge-       Morddelikten reichen. (SenIntArbSoz       telefonisch vereinbart werden kann.
boten werden, sondern diese sollten       o. J.)                                    Außerdem gilt, dass grundsätzlich
auch die Möglichkeit erhalten, sich                                                 jede Frau*, die Gewalterfahrungen
politisch stärker für die Stellung der    Die Dunkelziffer von häuslicher Ge-       gemacht hat, ohne Ausnahme und
Frau* einzusetzen. Bald wurde jedoch      walt ist generell hoch einzuschätzen.     unabhängig von Herkunft oder Auf-
klar, dass es den geflüchteten Frau-      In Berlin registrierte die Polizei im     enthaltsstatus, aufgenommen wird.
en* in erster Linie um den Schutz vor     Jahr 2014 rund 15.250 Fälle von häus-
dem eigenen Partner ging. Und auch        licher Gewalt. Aus einer Studie des       Die Flucht ins Frauenhaus gestal-
nach einer Trennung von diesem und        Bundesministeriums für Familie, Se-       tet sich in vielen Fällen schwierig.
einem geglückten Neuanfang war            nioren, Frauen und Jugend (BMFSF)         Egal ob diese aus eigenem Antrieb,
das Interesse an politischer Aktivität,   von 2004 geht jedoch hervor, dass in      mit Hilfe von Freunden oder sogar
vonseiten der betroffenen Frauen*,        der Bundesrepublik Deutschland jede       durch Eingreifen der Polizei gelingt,
gering. Der soziale Aspekt wurde in       vierte Frau* im Alter von 16 bis 80       bei der Ankunft im Frauenhaus be-
der Programmatik der Frauenhäuser         Jahren mindestens einmal in ihrem         finden sich die meisten Frauen* in
folglich maßgebender als der poli-        Leben häusliche Gewalt erfahren hat.      einer starken Krisensituation. (Ber-
tische. (Albrecht-Ross 2003) Dieser       Weltweit ist rund ein Drittel der Frau-   liner Mieterverein e. V. 2014) Nach
Fokus erhält sich bis heute: Haupt-       en* von häuslicher Gewalt betroffen,      Ankunft im Frauenhaus geht es also
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Schwerpunkt :: Planik 75 :: SoSe 2016                                      7

zunächst darum, dass die Frauen* ihr     gezielt nach Wohnungen für die                               auf auch der allgemeine Wohnungs-
psychisches Gleichgewicht wieder-        Frauen* aus Schutzeinrichtungen.                             markt ausgedehnt werden. Entspre-
erlangen und auch physisch genesen       Bei der Vermittlung darf Zahlungs-                           chend verzögert sich der Aufenthalt
können. Dabei werden sie durch So-       unfähigkeit oder Verschuldung der                            für die Bewohnerinnen im Frauen-
zialberater*innen, Psycholog*innen       betroffenen Frauen* kein Hindernis                           haus, was wiederum zur Überbele-
und Ärzt*innen unterstützt. Überdies     darstellen. Die Wohnungen wer-                               gung der Einrichtungen führt.
wird Hilfe in Familien- und Sozial-      den entweder über den freien Woh-
rechtsfragen angeboten.                  nungsmarkt gesucht oder aus dem                              Ausblick
                                         sogenannten „Geschützten Markt-                              Natürlich geht die gesamte Thematik
Die Finanzierung der Mitarbeiterin-      segment“ zur Verfügung gestellt.                             um häusliche Gewalt und Frauenhäu-
nen sowie der Institution insgesamt      (Hestia e. V. o. J.) Der Kooperations-                       ser sehr viel tiefer, umfasst unzählige
erfolgt in fast allen Bundesländern      vertrag „Geschütztes Marktsegment“                           persönliche Schicksale und bringt
über Förderprogramme. Oft reichen        wurde 2003 zwischen den Bezirksäm-                           sicherlich weit mehr (politische wie
diese jedoch nicht aus und gewähren                                                                   funktionelle) Hindernisse mit sich,
den Häusern zudem keine Planungs-                                                                     als die hier Beschriebenen.
sicherheit. Damit die Häuser den-
noch offen gehalten werden können,                                                                    Neben der derzeitigen Flüchtlings-
übernehmen die Kommunen selbst                                                                        problematik gilt es jedoch auch, auf
die restlichen Kosten. Trotzdem oder                                                                  die häusliche Gewalt, als nach wie
gerade deswegen haben viele Ein-                                                                      vor wichtiges Problemfeld, aufmerk-
richtungen Finanzierungsschwierig-                                                                    sam zu machen. Dieses darf nicht
keiten.      (Frauenhauskoordinierung                                                                 unbeachtet sein – insbesondere in
e. V. o. J.) Für die Schutz suchenden                                                                 der Anonymität von Großstädten
Frauen* und Kinder ist das Wohnen                                                                     wie Berlin. In Anbetracht des großen
im Frauenhaus aber grundsätzlich                                                                      Zuwachses an MigrantInnen ist aller-
kostenfrei. Allein für den eigenen Le-                                                                dings auch davon auszugehen, dass
bensunterhalt und den ihrer Kinder                                                                    die zwei Aktionsfelder in Zukunft
muss die Frau* selbst aufkommen.         Die Kampagne des Berliner Senats gegen                       stark neben- und miteinander arbei-
(Berliner Mieterverein e. V. 2014)       häusliche Gewalt. Quelle: www.hinter-deutschen-waenden.de/   ten werden. ¶

Neuanfang und Wohnungsver-               tern Berlin, den Berliner Wohnungs-                          Berliner Mieterverein e.V. (2014): Gewalt an
mittlung                                 unternehmen wie GEWOBAG oder                                 Frauen - Ein Platz für den Neustart ins Leben. //
Im Durchschnitt beträgt die Dau-         HOWOGE sowie dem Landesamt für                               Bessy Albrecht-Ross (2003): Die Geschichte
er eines Aufenthalts im Frauenhaus       Gesundheit und Soziales Berlin (La-                          der Frauenhäuser und Psychiatriebetroffene
drei Monate. (SenIntArbSoz 2014) Sie     GeSo) geschlossen. (LaGeSo 2003)                             Frauen im Frauenhaus. //
hängt davon ab, wie schnell die Wie-                                                                  Frauenhauskoordinierung E.V. (o.J.): Frauen-
dereingliederung der Betroffenen ge-     Das geschützte Marktsegment stellt                           häuser, Finanzierung. //
lingt. Nach Angaben des Datenerhe-       in jedem Berliner Bezirk, Wohnungen                          Hans-Joachim Lenz (2004): Männer als Opfer
bungsberichts zur „Bekämpfung von        für Leute zur Verfügung, die auf dem                         von Gewalt. //
häuslicher Gewalt in Berlin 2014“        freien Wohnungsmarkt keine Chance                            Landesamt für Gesundheit und Soziales (La-
(SenIntArbSoz 2014) ist die Aufent-      hätten, eine Wohnung zu bekommen.                            GeSo) (2003): Kooperationsvertrag des Ge-
haltsdauer in den Frauenhäusern          Das betrifft u. a. Obdachlose sowie                          schützten Marktsegments. //
seit 2010 beträchtlich gestiegen. Als    „aus ambulanten, stationären oder                            Landesamt für Gesundheit und Soziales (La-
Grund wird auch die angespannte          betreuten Einrichtungen oder aus der                         GeSo) (o.J.): Geschütztes Marktsegment. //
Lage auf dem Berliner Wohnungs-          Haft“ Entlassene. (LaGeSo o. J.) Dazu                        Petra Follmar-Otto (o.J): Gewalt gegen Frauen
markt genannt. (SenIntArbSoz 2014)       zählen auch die Bewohnerinnen von                            als Menschenrechtsverletzung: Die Nutzung
Da den betroffenen Frauen allerdings     Frauenhäusern.                                               internationaler Instrumente und Entwicklun-
nicht auf Dauer Unterbringung im                                                                      gen. //
Frauenhaus gewährt werden kann,          Nach § 3 des Vertrages verpflichten                          Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und
hilft die Institution ihren Bewoh-       sich die Wohnungsunternehmen                                 Frauen (SenIntArbSoz) (o.J.): Häusliche Ge-
ner*innen dabei, langfristige Lösun-     „jährlich 1.350 Wohnungen [...] zu                           walt. //
gen für eine zukünftige, sichere und     vermieten, die im Rahmen des Ge-                             Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und
unabhängige Wohnsituation zu fin-        schützten Marktsegmentes vermittelt                          Frauen (SenIntArbSoz) (2014): Bekämpfung
den.                                     wurden“ (LaGeSo 2003). Doch auch                             von häuslicher Gewalt in Berlin. Fortschrei-
                                         der Kooperationsvertrag reicht nicht                         bung Datenerhebung und Statistik 2014. //
Hauptanlaufstelle für die Wohnungs-      aus, um eine erfolgreiche Wohnungs-                          Wohnungsvermittlung Hestia e. V. (o. J.): Hes-
suche der Frauenhausbewohner*in-         vermittlung, für die in Frauenhäusern                        tia-Wohnungsvermittlung.
nen ist in Berlin die „Wohnungsver-      Schutzsuchenden, zu gewährleisten.
mittlung Hestia e. V.“ Diese sucht       Deshalb muss die Wohnungssuche
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8       Planik 75 : SoSe 2016 :: Schwerpunkt

Das BauGB zwischen Unterbringung von
Asylsuchenden und Innenentwicklung
Am 23.Oktober 2015 wurde der § 246 des Baugesetzbuchs (BauGB) erweitert und verändert,
welcher unter anderem die Errichtung von Unterkünften für Geflüchete betrifft.

Text: Laura Bornemann, Georg Stein, Jacob Köppel

D
         ie kriegerischen Auseinan-        lungen in den bisherigen § 246 BauGB     In der Praxis erwiesen sich die Ände-
         dersetzungen und das wirt-        eingefügt. Der § 246 BauGB beinhal-      rungen der 2014er-Novelle jedoch als
         schaftliche Auseinanderdrif-      tet verschiedene Regelungen, die das     nicht weitgehend genug, da von den
ten der Bevölkerungsschichten in           Errichten von Unterkünften sowohl        geschaffenen Möglichkeiten nur zö-
zahlreichen Ländern des Nahen und          im Innen- als auch im Außenbereich       gerlich Gebrauch gemacht wurde. Der
Mittleren Ostens sowie zahlreicher         sowie im Geltungsbereich festgesetz-     § 246 BauGB ist daher dahingehend
afrikanischer und südosteuropäischer       ter Bebauungspläne festlegt.             erweitert worden, als dass aus der
Staaten haben in den letzten zwei                                                   “kann”- gewissermaßen eine “soll”-Vor-
Jahren zu einem enormen Anstieg            Änderungen im Innenbereich               schrift gemacht wurde: Die Kommunen
der Asylsuchendenzahlen unter an-          Die erste Änderung des § 246 BauGB       bzw. Genehmigungsbehörden sind nun
derem auch in Deutschland geführt.         im Jahr 2014 schuf unter anderem         angewiesen, die Möglichkeiten des §
Neben großen gesamtpolitischen Fra-        bereits die Möglichkeit, Einrichtun-     246 BauGB auch zu nutzen.
gestellungen stellte dieser Umstand        gen für Asylbegehrende in Gewer-
vor allem die Gemeinden, welche die        begebieten zu ermöglichen, sofern        Änderungen im Außenbereich
Geflüchteten unterbringen und an-          im Geltungsbereich der jeweiligen        Im Außenbereich nach § 35 BauGB
schließend ins Stadtleben integrieren      Bebauungspläne die Errichtung von        gehen die Regelungen sogar noch
müssen, vor große Herausforderun-          Anlagen für soziale Zwecke min-          weiter. Es wird unterschieden in La-
gen. So stieg die Zahl die jährlichen      destens ausnahmsweise zulässig           gen „in unmittelbaren räumlichen
Asylanträge zwischen 2013 und 2015         ist. Weiterhin wurde der § 31 Abs. 2     Zusammenhang“ zum Innenbereich
von ca. 127.000 auf etwa 476.500 und       BauGB dahingehend geändert, dass         und den Lagen außerhalb davon, die
im sogenannten EASY-System auf ca.         Vorhaben, die im Zusammenhang mit        klassische “grüne Wiese”. Schon mit
1.1 Millionen.                             Asylsuchenden stehen, automatisch        der ersten Novellierung im Jahr 2014
                                           dem Wohl der Allgemeinheit dienen        wurden Vorhaben wie die Umnut-
Die vorrangige Aufgabe der Kommu-          und somit die Möglichkeit gegeben        zung bestehender Gebäude zu Un-
nen ist zunächst die Unterbringung         beispielsweise zugunsten von Auf-        terkünften im unmittelbaren räum-
der Asylbegehrenden, wobei die bis-        nahmeeinrichtungen von den Fest-         lichen Zusammenhang zu bebauten
her vorhandenen Kapazitäten an Auf-        setzungen eines Bebauungsplanes          Gebieten, sprich nahe des beplanten
nahmeeinrichtungen rasch erschöpft         zu befreien, sofern auch die übrigen     oder unbeplanten Innenbereichs nach
waren und auf Zwischenlösungen,            Befreiungsvoraussetzungen      erfüllt   § 30 Abs. 1 bzw. § 34 BauGB, nach §
wie etwa Turnhallen, zurückgegriffen       sind. Die Befreiungen sind hierbei auf   246 Abs. 9 BauGB teilprivilegiert. Die
werden musste. Um die Kapazitäten          drei Jahre zu befristen, sodass - bei    letzte Novelle im Oktober 2015 dehn-
an regulären Aufnahmeeinrichtun-           Erteilung im Dezember 2019 - eine        te die Teilprivilegierung auch auf Ge-
gen zu erhöhen, sollten die mitunter       Nutzung bis Ende 2022 möglich ist.       biete außerhalb dieser Bereiche aus.
sehr langwierigen Genehmigungs-            Im unbeplanten Innenbereich wur-
verfahren für Neubauten stark ver-         de durch § 246 Abs. 8 zudem die bis          Teilpriviligierte Vorhaben...
kürzt werden. Nachdem 2014 bereits         Ende 2019 befristete Möglichkeit ge-
im Asylverfahrensbeschleunigungs-          schaffen, zulässigerweise errichtete      ...sind nach § 35 Abs. 3 BauGB, die
gesetz die Errichtung von Aufnahme-        Gebäude jeglicher Art in Unterbrin-       im Außenbereich zulässig sind,
einrichtungen und Gemeinschaftsun-         gungseinrichtungen       umzunutzen.      trotz entgegenstehender öffentli-
terkünften mithilfe von Aufstellung        Die nach § 34 Abs. 3a bestehende          cher Belange, wie bspw. der FNP
und Änderung von Bebauungsplänen           Privilegierung bestimmter Vorhaben        oder Landschaftspläne, und ohne
eingeführt wurde, wurden am 23. Ok-        im Innenbereich wurde dahingehend         gesicherte Erschließung.
tober 2015 noch weitergehende Rege-        ausgeweitet.
Schwerpunkt :: Planik 75 :: SoSe 2016                         9

Genehmigungsfähig sind nun               Einrichtungen für Asylbegehrende          meinden, schnell auf die steigenden
»» a) eine auf drei Jahre befristende    auch im Außenbereich zu errichten,        Zahlen der Asylbegehrenden zu re-
   Errichtung mobiler Unterkünfte        dem städtebaulichen Ziel der Inne-        agieren und die benötigten Unterbrin-
   (§ 246 Abs. 13 S. 1 Nr. 1 i.V.m §     nentwicklung zunächst zuwider läuft.      gungsmöglichkeiten bereitzustellen.
   35 Abs. 4 BauGB) oder                 Angesichts der Summen, die von            Hier muss jedoch zwingend der Gefahr
»» b) eine unbefristete Nutzungsän-      der öffentlichen Hand an die Grund-       einer Ghettoisierung entgegengewirkt
   derung in feste Unterkünfte wie       stücks- bzw. Landeigentümer gegen-        und sowohl um die Eingliederung der
   auch die erforderliche Erweite-       wärtig für die Bereitstellung von Flä-    Asylsuchenden räumlich ermöglicht als
   rung zulässigerweise errichteter      chen und Gebäuden gezahlt werden          auch die Sichtbarkeit in der Stadt und
   Anlagen, die unter Umständen          auf der einen sowie dem immer wei-        damit auch eine Anpassung der Gesell-
   nicht mehr in ursprünglicher          ter wachsenden Bedarf an Unterbrin-       schaft an die neuen Umstände erlaubt
   Nutzung sind (§ 246 Abs. 13 S. 1      gungsmöglichkeiten auf der anderen        werden.
   Nr. 2 BauGB i.V.m. § 35 Abs. 4).      Seite, besteht die deutliche Gefahr des
Hierbei muss nun kein räumlicher         Entstehens von Splittersiedlungen.        Im Außenbereich geht die Novelle hin-
Zusammenhang zwischen bestehen-          Aufgrund der Ferne solcher Anlagen        sichtlich der Genehmigungsfähigkeit
der Bebauung und Vorhaben mehr           zu bestehenden urbanen Strukturen,        von Vorhaben sehr weit. Es besteht die
gegeben sein. Im Fall b) können nach     das Fehlen jeglicher Freizeiteinrich-     Gefahr, dass abgelegene Unterkünfte
der Nutzung als Geflüchtetenun-          tungen,      Beschäftigungsangeboten      für Asylbegehrende entstehen, die so-
terbringung die Gebäude bestehen         und sozialer Infrastruktur besteht        wohl einer gewünschten Integration
bleiben und die vorherige Nutzung        das Risiko, dass “auf der grünen Wie-     dieser zuwiderlaufen können als auch
wieder aufgenommen werden. Jede          se” Ghettos entstehen und die zweite      dem Leitbild der Innenentwicklung
nachfolgende        Nutzungsänderung     wichtige Aufgabe der Gesellschaft,        widersprechen. Die Vereinfachung der
muss jedoch in einem eigenen bau-        nämlich die Integration der Asylsu-       Genehmigungen außerhalb bebauter
planungsrechtlichen Verfahren beur-      chenden, in den Hintergrund rückt.        Ortsflächen hat vermutlich auch die
teilt werden.                            Diese Problematik betrifft auch die       stillgelegten Kasernen der Bundes-
                                         Möglichkeit, Unterbringungseinrich-       wehr im Blick, sodass dazu noch die
Kritische Betrachtung der Novelle        tungen in bestehenden Gewerbe- und        Gefahr von Großunterkünften in der
Vor der Kritik ein Exkurs zum            Industriegebieten zu errichten bzw.       Peripherie besteht.
Leitbild    der    Innenentwicklung:     bestehende Anlagen dahingehend
Schon im Jahr 1987 wurde anerkannt,      umzunutzen. Neben dem auch im             Mit der Novellierung des § 246 im
dass die nachhaltige Nutzung von         Außenbereich fehlenden Anschluss          BauGB wurde von Seiten der Ge-
Grund und Boden einen unschätz-          ans öffentliche Leben, ist hier insbe-    setzgeberin versucht, möglichst viele
baren Vorteil mit sich bringt. Zu ei-    sondere kritisch zu erwähnen, dass        Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
ner nachhaltigen Nutzung gehört          beispielsweise die Erstaufnahmeein-       Er soll den wachsenden Fallzahlen
ein schonender Flächenverbrauch.         richtungen und Unterkünfte als An-        und der immer größeren Knappheit
Im Jahr 2002 setzte sich die Bundes-     lagen für soziale Zwecke betrachtet       an Unterkünften begegnen und pla-
regierung das politische Ziel, das       werden. Für diese sind die Immissi-       nerisch Rechnung tragen. Gleichwohl
Siedlungsflächenwachstum auf 30 ha       onsschutzwerte etwa von Wohnge-           ist die Novelle nicht mehr als ein
pro Tag zu reduzieren, und bis 2050      bäuden nicht anzulegen, obwohl in         Schnellschuss, die insgesamt mehr
auf Null zu reduzieren (Bundesregie-     diesen Einrichtungen unter anderem        Gefahren birgt, als dass sie Lösun-
rung: 68). Neben anderen Leitbildern     auch “gewohnt” wird.                      gen bereithält. Die Auswirkungen
der Raumplanung, wie der kompak-                                                   der Novelle auf die räumliche und
ten Stadt und der Stadt der kurzen       Ein weiterer kritischer Punkt ist die     soziale Entwicklung unserer Städte
Wege, zielt auch das aktuelle Leitbild   durch § 246 Abs. 14 BauGB beste-          sind zur Zeit nur schwer abzuschät-
der Innenentwicklung auf eine Kon-       hende Ermächtigung der höheren            zen. Die mit dem § 246 BauGB gege-
traktion der Stadt nach innen ab. Als    Verwaltungsbehörden, den Gemein-          benen Möglichkeiten müssen daher
planerischer Begriff fordert Innenent-   den die Bereitstellung der Unterbrin-     behutsam und unter Abwägung nicht
wicklung „im bereits (weitestgehend)     gungsmöglichkeiten aus der Hand           nur der aktuellen Situation, sondern
bebauten Siedlungsbereich bestehen-      zu nehmen und sich so über die ge-        auch weitsichtiger Strategien und Be-
de Nutzungspotenziale zu aktivieren      meindliche Planung hinwegzusetzen         langen einer sozial nachhaltigen Pla-
und dabei gleichzeitig auf eine Inan-    bzw. die kommunale Planungshoheit         nung, angewandt werden. ¶
spruchnahme von noch naturhaften         zu übergehen. In wie weit diese Re-
Flächen des Außenbereichs zu ver-        gelung mit der grundgesetzlich ge-        Bundesregierung (o.J.):Perspektiven für
zichten.“ (Mitschang 2013: 324)          schützten kommunalen Selbstverwal-        Deutschland. // Mitschang, Stephan (2013):
                                         tung vereinbar ist, bleibt abzuwarten.    Städtebauliche Planungsinstrumente für die
Nun zur Kritik: Was bedeutet die                                                   Innenentwicklung, in: ZfBR 4/2013. // Mitsch-
Novelle für die Stadtplanung?            Fazit: Auswirkungen auf den Raum?         ang, Stephan (2015): D  as Flüchtlingsunter-
Die im Rahmen der letztjährigen          Im Innenbereich bietet der § 246 BauGB    bringungs-Maßnahmengesetz 2015, in: NVwZ
Novelle eingebrachte Möglichkeit,        ausreichende Möglichkeiten für die Ge-    2015: 1633 – 1640.
10      Planik 75 : SoSe 2016 :: Schwerpunkt

Flucht rettet Leben
Günter Fuchs und Ernst Fuchs wurden als Juden im Nationalsozialismus von Studium und Schule
ausgeschlossen. Einem gelang die Flucht und er überlebte.

Text: Referat für Bildungspolitik des AStAs der TU Berlin

A
        m 10. Februar 2016 wurden           wurde sein Vater Herbert Fuchs in        seines Bruders Ernst, die aus England
        vor dem Haus in der Mei-            „Schutzhaft“ genommen und war in         angereist war.
        nekestraße 4 sechs Stolper-         den Folgejahren in verschiedenen La-
steine für jüdische Bewohner*in-            gern interniert, 1944 wurde er in Aus-   Auch Vertreter*innen des AStAs der
nen verlegt. Vier von ihnen wurden          chwitz ermordet. Günters Schwester       TU haben an der Stolpersteinverle-
durch Nazi-Deutschland ermordet,            Vera Fuchs wurde zunächst auch 1943      gung teilgenommen. Auch weil wir
zwei überlebten. Zu den ermordeten          nach Theresienstadt und 1944 weiter      damit zeigen wollten, dass die nati-
Bewohner*innen gehörte auch der             nach Auschwitz deportiert, danach        onalsozialistischen Verbrechen, die
Maschinenbau-Student an der Tech-           folgte ihre Deportation nach Groß–       an unserer Hochschule in den 1930er
nischen Hochschule Berlin (TH), der         Rosen und später nach Merzdorf, wo       Jahren gegen jüdische Studieren-
heutigen Technischen Universität            sie durch die Befreiung durch die Rote   de und Mitarbeiter*innen begangen
Berlin, Günter Fuchs.                       Armee überlebte. Günters Bruder          wurden, niemals vergessen werden
                                            Ernst Fuchs überlebte, weil ihm 1939     dürfen. Wir danken den Angehörigen
Günter Fuchs wurde am 12. Novem-            noch die Flucht nach England gelang.     der Ermordeten, dass sie die weiten
ber 1938 vom Studium ausgeschlos-                                                    Reisen auf sich genommen haben, um
sen, da man es keinem „[…] deutschen        Ebenfalls wurde am 10. Februar 2016      bei der Stolpersteinverlegung dabei
Lehrer beziehungsweise Schüler zu-          gleichzeitig auch ein Stolperstein für   zu sein und uns aus dem Leben, aber
muten [wollte], mit Juden in einem          Günters Nachbarin Gertrud Daniel         auch von der Verfolgung ihrer Liebs-
Raum zu sitzen“. Günter erhielt sei-        verlegt, die 1942 nach Theresienstadt    ten berichteten zu können. Und wir
nen Ausschluss von der TH durch den         deportiert und dort am 21. Februar       danken auch den Initiator*innen der
amtierenden Rektor Ernst Storm, ein         1944 ermordet wurde. Für die Stolper-    Stolpersteininitiative, die ein dauer-
überzeugter Nationalsozialist und SA–       steinverlegung ist ihre Enkeltochter     haftes Gedenken ermöglicht haben.
Sturmbannführer. Von dem Ausschluss         aus Israel angereist, die bewegende
waren insgesamt 20 jüdische Studieren-      Worte an die Umstehenden richtete.       Die Geschichte der beiden Brüder
de an der TH betroffen. Zudem wurden        Ihre Enkeltochter wuchs bei ihrer        Günter und Ernst Fuchs zeigt deut-
107 jüdische wissenschaftliche Mitar-       Großmutter auf und wohnte ebenfalls      lich, dass niemand freiwillig flieht.
beiter*innen ausgeschlossen. Nicht alle     in der Meinekestraße 4. Sie überlebte    Diese Möglichkeit aber zu haben und
von ihnen konnten später der NS-Tö-         in Berlin, weil sie in einem Kranken-    zu nutzen, bedeutet das eigene Leben
tungsmaschinerie entkommen.                 haus eingesetzt war.                     zu retten. Für Günter Fuchs und sechs
                                                                                     Millionen andere Menschen – die Op-
Im Jahr 1943 wurde Günter Fuchs             Vor dem Erreichen Berlins durch die      fer des deutschen eliminatorischen
nach Theresienstadt deportiert, 1944        Rote Armee, sollte sie im Rahmen         Antisemitismus wurden und auch
erfolgte die weitere Deportation nach       einer Erschießungsaktion ermor-          für noch viele weitere, die verfolgt
Auschwitz. 1945 wurde er auf einen          det werden. Weil sich die deutschen      und ermordet wurden – war es nicht
Todesmarsch gezwungen und wurde             Kämpfer verschätzten, wurde ihr          mehr möglich sich auf die Flucht zu
danach zunächst in Sachsenhausen in-        Leben gerettet, da der Vormarsch         begeben. Ein wichtiger Faktor dafür
terniert. Anschließend wurde er nach        der sowjetischen Truppen in diesem       war, dass viele Länder ihre Grenzen
Mauthausen deportiert und dort am           Bereich schneller voranging, als ver-    für viele Verfolgte geschlossen hat-
31. März 1945 ermordet. Seine Mutter        mutet. Gertrud Daniels Urenkelin, die    ten. Und gerade dieser Umstand sollte
Grete Fuchs wurde 1943 nach Theres-         in Israel geboren ist und heute in den   nachdenklich machen, wenn es dar-
ienstadt deportiert und dort am 22.         Vereinigten Staaten lebt, verlas eben-   um geht Schlüsse und Konsequenzen
Februar 1944 ermordet. Während der          falls bewegende Worte. Ebenso tat        aus den Verbrechen Nazideutschlands
Pogromnacht am 9. November 1938             das auch Günters Nichte, die Tochter     zu ziehen. ¶
Schwerpunkt :: Planik 75 :: SoSe 2016                   11

Auch Flüchtlingskinder haben Rechte
Geflüchtete Kinder und unbegleitete Minderjährige sind besonders schutzbedürftig. Leider
werden die UN-Vereinbarungen auch in Deutschland nicht konsequent beachtet.

Text: Anna Volkmer

E
       in Leben mit sozialer Sicherheit,   Ausbeutung und Menschenhandel             richtung in eine Sammelunterkunft
       Schutz, Bildung, Freizeit und       ausgesetzt. Teilweise werden sie auf      kommen. Doch diese sind überfüllt
       Familie ist nach der UN-Kinder-     der Route von ihren Verwandten ge-        und der Umzug verzögert sich oft zu-
rechtskonvention von 1990 das Recht        trennt oder in einem Transitland zu-      sätzlich, weil die Behörden mit der Be-
eines jeden Kindes weltweit. Art. 22       rückgelassen, um später nachgeholt        arbeitung der Anträge überlastet sind.
CRC bezieht sich auf die Rechte von        zu werden.                                Gesetzlich illegale Familien haben au-
Flüchtlingskindern und gewährt „an-                                                  ßerdem oft Angst, dass Schulen oder
gemessenen Schutz und humanitäre           Schaffen sie es bis nach Deutschland,     Kitas von ihrer Meldepflicht gegen-
Hilfe bei der Wahrnehmung der Rech-        müssen sie in Sammelunterkünften          über der Ausländerbehörde Gebrauch
te“. Dies schließt auch die allgemei-      schlafen und ein nicht kindergerech-      machen und sie dann ausgewiesen
nen Rechte für Flüchtlinge u.a. nach       tes Asylverfahren über sich ergehen       werden.
der Genfer Flüchtlingskonvention ein       lassen, um nur einige Probleme zu
und stellt das Kindeswohl bei allen        nennen. Zwar gilt die Kinderrechts-       Aber Kinder haben nicht nur ein Recht
Entscheidungen an oberste Stelle.          konvention seit 2010 für Flücht-          auf Bildung, sondern auch auf Freizeit
                                           lingskinder in Deutschland ohne die       und Spiel (Art. 31 CNC). Denn dies er-
Doch diese Rechte bestehen oft nur         ausländerrechtlichen Vorbehalte der       möglicht kultur- und sprachübergrei-
auf dem Papier. Wegen unhaltbarer          Ratifizierung von 1992. Aber in der       fende Kontakte zwischen Flüchtlings-
Bedingungen in den Flüchtlingscamps        Praxis handeln Verwaltung und Ge-         kindern und einheimischen Kindern.
der Nachbarstaaten von Krisenlän-          richt nicht immer für das Wohl des        Das „grenzenlose“ Spielen befördert
dern und fehlender Bildungs- und           Kindes als oberstes Ziel.                 Freundschaften, die Sprache kann
Freizeitangebote begeben sich immer                                                  spielend erlernt und Vorurteile ver-
mehr Menschen auf die lebensgefähr-        Insbesondere der schnelle und un-         hindert oder abgebaut werden. Daher
liche Flucht nach Europa. Schon An-        komplizierte Zugang zu Unterricht         müssen die räumliche Isolierung in
fang dieses Jahres fanden mehr als 200     und Betreuung ist essentiell um den       Sammelunterkünften aufgehoben und
Menschen durch kenternde Schiffe im        Kindern eine längerfristige Zukunfts-     öffentliche Spiel- und Freiräume für
Mittelmeer ihren Tod oder gelten als       perspektive in Deutschland zu bieten      alle Kinder erhalten und ausgebaut
vermisst, die meisten waren Frauen         und sie dauerhaft zu integrieren. Auf     werden.
und Kinder. Und die Lage spitzt sich       ihrer monate- bis jahrelangen Flucht
zu: Die Zahl der flüchtenden Famili-       konnten viele Kinder keine Schule         Außerdem sollte ermöglicht werden,
en (sogar mit Säuglingen), Frauen und      besuchen und sind teilweise trauma-       dass flüchtende Kinder mit ihren
Kindern hat zugenommen. Alarmie-           tisiert. Daher geht es nicht nur darum,   schon in Europa lebenden Familienan-
rend ist auch die steigende Zahl un-       ihnen Deutsch beizubringen, sondern       gehörigen zusammengeführt werden
begleiteter minderjähriger Flüchtlinge     sie wieder an den Schulalltag zu ge-      können und in dem jeweiligen Land
in Deutschland, die Ende August 2015       wöhnen und eventuelle Defizite/ Lü-       ein Recht auf Asyl haben. Denn jedes
bei 25.000 lag. Im November waren es       cken von Unterrichtsstoff aufzuholen.     Kind sollte geborgen in seiner Fami-
bereits über 57.000.                                                                 lie aufwachsen können. Doch immer
                                           Je nach Bundesland kommen die Kin-        wieder wird von Politikern gefordert
Dabei leiden Kinder besonders un-          der direkt in Regelklassen mit zusätz-    den Familiennachzug gesetzlich ein-
ter den Strapazen der Flucht, sind oft     lichem Unterricht oder in spezielle       zuschränken oder zu verhindern, da
dehydriert und unterernährt und da-        Übergangs-, Willkommens- oder Vor-        Kinder angeblich „vorgeschickt“ wür-
her auch anfälliger für Krankheiten.       bereitungsklassen. Teilweise können       den. Wie wäre die Kindheit dieser
Außerdem sind sie ohne Begleitung          Kinder erst am Unterricht teilnehmen,     Politiker wohl ohne ihre Familie und
schutzlos Gewalt, Raub, Missbrauch,        wenn sie von der Erstaufnahmeein-         eine sichere Heimat gewesen? ¶
12      Planik 75 : SoSe 2016 :: Schwerpunkt

Formen der Unterbringung in Berlin
Die Asylerstaufnahmestelle Motardstraße – Konzipiert als Provisorium besteht die Unterkunft
schon seit über 25 Jahren. Sie ist eine der ältesten und bekanntesten Unterkünfte Berlins.

Text: Laurenz Blaser, Paulina Schute, Hannes Steinhauer, Jakob Holzer

I
    m Rahmen des Bachelorprojekts           einrichtung für Flüchtlinge“, wie die     Aufgrund des Sachleistungsprinzips
    „Fürsorgliche Exklusion - Flucht-       Unterkunft Motardstraße auf der           steht den Bewohner_innen nur eine
    migration, kommunale Integrati-         Homepage der Betreiberin, der Arbei-      bestimmte Essenration pro Tag zur
onspolitik und migrantische Lebens-         terwohlfahrt (AWO), offiziell genannt     Verfügung, welche ihnen in einem
verhältnisse“ beschäftigen wir uns          wird. Seit 1989 ist die Unterkunft in     engen Flur ausgeteilt wird. Mit einem
unter der Leitung von René Kreichauf        Betrieb, damals noch für die „Repub-      kleinen Taschengeld können sie auch
mit der Unterbringung von Geflüchte-        likflüchtlinge“ aus der DDR geplant.      eigene Lebensmittel kaufen, die sie in
ten in Berlin. Ein zentraler Bestandteil    1996 übernahm die AWO die Unter-          den Küchenzeilen, die sich auf jeder
unserer stadtsoziologischen Untersu-        haltung des Wohnheims. Sie betreibt       Etage befinden, zubereiten können.
chungen sind die unterschiedlichen          aktuell zehn weitere Flüchtlingsein-      Es gibt weder einen Aufenthaltsraum
Unterbringungsformen, sowie deren           richtungen in Berlin mit über 3.000       für Erwachsene noch einen gemein-
Auswirkungen auf die Integration            Plätzen.                                  samen Essenraum – die Mahlzeiten
von Geflüchteten. Im Zuge dessen ha-                                                  müssen auf den Zimmern verzehrt
ben wir die Erstaufnahmeeinrichtung         Der Zugang von Menschen auf das           werden. Somit wird das eigene Zim-
in der Motardstraße besucht.                umzäunte Gelände wird von einem           mer zum zentralen Lebensraum der
                                            Pförtner geregelt. Wir als Gruppe be-     Bewohner_innen. Die Privatsphäre
24.11.2015, 14.00 Uhr in der Motard-        kommen nur aufgrund des Termins           wird darüber hinaus dadurch be-
straße. Es raucht. Schornsteine ra-         mit der Leitung Eintritt. Auf dem Ge-     schränkt, dass es pro Etage lediglich
gen in den Himmel. Die massiven             lände der Unterkunft kommt uns ein        einen Waschraum gibt. Ein Toiletten-
Kraftwerkbauten strotzen vor nack-          Junge auf einem Fahrrad entgegen. Er      oder Duschgang findet also immer in
tem Beton. Die Erstaufnahmestelle           ruft „Entschuldigung!“ und grinst. Die    unmittelbarer Beobachtung anderer
Motardstraße befindet sich ein paar         Container wirken baufällig, die Innen-    Bewohner_innen und des Personals
Gehminuten von der U-Bahnstation            architektur sehr eng und abgenutzt,       statt.
Paulsternstraße entfernt. Sie liegt im      ebenso wie der Raum, in dem wir uns
Stadtteil Siemensstadt, zwischen dem        mit der Leitung der Unterkunft und        Die Mitarbeiter_innen und die Lei-
Heizkraftwerk Reuter West und ei-           drei Mitarbeiter_innen treffen.           tung machen einen engagierten und
nem Produktionsstandort von Osram.                                                    aufgeschlossenen Eindruck. Sie wis-
Sie fällt in der von Gewerbebauten          Die Motardstraße war und ist immer        sen um die Vorbehalte gegenüber der
und dem Heizkraftwerk dominierten           wieder in der Kritik. Der Flüchtlings-    Motardstraße, versuchen jedoch, das
Gegend nicht weiter auf, denn die           rat Berlin, Politiker_innen und ver-      Beste daraus zu machen. Seit Mitte
Unterkunft besteht aus provisorisch         schiedene Parteien haben wiederholt       November gibt es WLAN und ein In-
wirkenden Baucontainern, die man            die Schließung der maroden Unter-         ternetcafé mit sechs Computern. Es
oft in Gewerbegebieten vorfindet. Die       kunft gefordert: wegen Überbelegung,      werden zu verschiedenen Anlässen
Unterkunft ist vollständig eingezäunt,      den hygienischen Zuständen, offen-        Feste veranstaltet, wie beispielsweise
teilweise sogar mit Stacheldraht. Ein       sichtlichen baulichen Mängeln, dem        zu Weihnachten oder zum Zuckerfest.
hinter der Eingrenzung liegender            ausgelieferten Essen und vielen ande-
Spielplatz ist zunächst der einzige         ren Dingen. Doch mit der Errichtung       Kommen, Gehen und Bleiben
Hinweis darauf, dass hier Menschen          von weiteren Notunterkünften in Ber-      Die Motardstraße ist nicht auf eine
leben.                                      lin aufgrund des erneuten Anstiegs        dauerhafte Unterbringung Geflüch-
                                            der Zahl der Geflüchteten, die oft ei-    teter ausgerichtet. Asylsuchende,
Unterkunft Motardstraße                     nen noch schlechteren Standard als        die nach Berlin kommen, wohnen in
Über 550 Menschen wohnen im                 die Motardstraße bieten, ist die Kritik   der Unterkunft zwischen einem Tag
„Wohnheim Spandau – Aufnahme-               in den Hintergrund gerückt.               und drei Monaten. Aufgrund des An-
Schwerpunkt :: Planik 75 :: SoSe 2016                  13

stieges der Zahl der Geflüchteten in                                                   Freiwillige_r eingestellt zu werden,
Berlin und der Entstehung von Not-                                                     müssen diese ein polizeiliches Füh-
unterkünften gibt es jedoch einen                                                      rungszeugnis ohne Einträge vorwei-
Rückstau Geflüchteter, die rechtlich                                                   sen können. Zusätzlich werden sie
gesehen eigentlich schon in einer Ge-                                                  zu einem Bewerbungsgespräch mit
meinschaftsunterkunft, also einer Un-                                                  Mitarbeiter_innen der AWO eingela-
terkunft, die auf längere Aufenthalte                                                  den. Der Umgang mit Freiwilligen in
ausgerichtet ist, wohnen sollen bzw.                                                   der Motardstraße wirkt professionell.
„dürfen“. So hat sich die Motardstraße                                                 Das breite Angebot zivilgesellschaft-
neben ihrer Hauptfunktion als Erst-                                                    licher Initiativen in der Motardstraße
aufnahmeeinrichtung zu einer Dau-                                                      offenbart aber auch ein grundlegen-
erunterkunft Geflüchteter entwickelt.                                                  des Problemfeld: den Asylsuchenden
                                                                                       bleibt durch ihren Status der Zugang
Eine Sozialarbeiterin berichtet von      Die Unterkunft Motardstraße: Düstere          zu wesentlichen gesellschaftlichen
Geflüchteten, die schon seit sechs       Gänge im Containerbau. Foto: Theresa Kalmer   Ressourcen, wie Sprachbildung und
Monaten oder länger in der Unter-                                                      Arbeitsmarktintegration, durch die
kunft leben. Steht dann der Umzug        Obwohl Geflüchtete in Berlin nach             aktuelle Gesetzgebung verwehrt. Sie
in eine Gemeinschaftsunterkunft an,      drei Monaten auch die Möglichkeit             erhalten kaum staatliche bzw. städ-
werden diese den Mitarbeiter_innen       haben, eine Wohnung anzumieten,               tische Integrations- und Beschäfti-
teilweise sehr kurzfristig durch das     erweist sich die Wohnungssuche als            gungsangebote. Die zivilgesellschaft-
LaGeSo mitgeteilt. Daraus ergeben        problematisch. Die Situation auf dem          liche Hilfe versucht, diese Lücke zu
sich laut den Sozialarbeiter_innen       Wohnungsmarkt ist ohnehin schon               füllen. Ohne sie würde weder die
praktische Schwierigkeiten. Da die       angespannt, und da man für einen              Versorgung noch die Integration von
Geflüchteten das Recht haben, die        Mietvertrag viele Dokumente und               Geflüchteten aktuell und zukünftig
Unterkunft auch für mehrere Tage         Nachweise benötigt, die meist nur             gelingen. Sie übernimmt dabei aber
zu verlassen, sind sie manchmal gar      auf Deutsch verfügbar sind, finden            oftmals Aufgaben, die vom Staat er-
nicht vor Ort, wenn der Umzug statt-     Geflüchtete Wohnungen, wenn über-             wartet werden sollten.
finden soll. Außerdem würden vor         haupt, nur mit Unterstützung.
allem die Kinder unter diesen kurz-                                                    Die Motardstraße ist ein Provisori-
fristigen Umzügen, die auch oftmals      Als wir die Mitarbeiter_innen dazu            um, und das schon seit mehr als 25
einen Schul- bzw. Kita-Wechsel be-       befragen, welche Erfahrungen sie mit          Jahren. Mehrmals wurde angekün-
deuten, leiden, da sie aus ihrem neu-    Abschiebungen machen, reagieren sie           digt, die Motardstraße zu schließen.
en, aber schon gewohntem Umfeld          bedrückt. Es sei immer eine traurige          Zuletzt sollte die Unterkunft in den
gerissen werden.                         Angelegenheit. Meist wissen die Mit-          naheliegenden Rohrdamm umziehen,
                                         arbeiter_innen jedoch schon frühzei-          doch der Deal platzte unverhofft. Die
Wie willkürlich und inhuman die          tig Bescheid, wenn ein_e Bewohner_            AWO ist im Vergleich zu vielen pri-
Umzüge oft durchgeführt werden,          in abgeschoben wird, da diese häufig          vaten Betreiber_innen ein gemein-
veranschaulicht der Bericht einer        mit den Bescheiden zu den Dolmet-             wesensorientierter Verein, der laut
Mitarbeiterin beispielhaft: Nach ei-     scher_innen kommen, die ihnen dann            Selbstdarstellung „mit ehrenamtli-
ner sehr kurzfristigen Ankündigung       die schlechte Nachricht überbringen           chem Engagement und professionel-
des anstehenden Umzugs haben alle        müssen. In letzter Zeit sei dies jedoch       len Dienstleistungen für eine sozial
Betroffenen ihre Zimmer pünktlich        eher selten vorgefallen. Wie so eine          gerechte Gesellschaft“ kämpft. Hier
leergeräumt und warten nun mit ge-       Abschiebung denn abliefe, wollen wir          stellt sich die Frage, inwiefern die
packten Sachen auf die zwei Reise-       wissen. „Da fährt ein Polizeiauto vor,        Ziele der AWO mit den Wohnbedin-
busse, die sie in eine Gemeinschafts-    sie kommen meist am späten Abend,             gungen in der Motardstraße verein-
unterkunft bringen sollen. Nachdem       wenn es schon dunkel ist, und neh-            bar sind.
Sie sich von den anderen Bewohner_       men die Betroffenen dann mit“, ent-
innen verabschiedet haben, steigen       gegnet uns eine Mitarbeiterin.                Mit der allgemeinen Not an Unter-
sie in die Busse und fahren los. Nach                                                  künften im Land Berlin hat sich die
einigen Stunden kommen die Busse         Engagement und Zukunft                        Aussicht auf eine Schließung dieser
wieder, mit allen Bewohner_innen,        Unterstützung bspw. beim Erlernen             provisorischen Unterkunft nicht ver-
die eben noch die Motardstraße           der Sprache erhalten die Geflüch-             bessert. Wann dürfen Menschen mit
verlassen haben. Der Umzug wurde         teten – neben der Hilfe durch die             einem unsicheren Aufenthaltsstatus
auf unbestimmte Zeit verschoben.         Sozialarbeiter_innen – auch durch             endlich in einem festen Haus aus Be-
Mehrere Stunden des Wartens und          Freiwillige. Die Hilfsbereitschaft            ton wohnen, das nicht umzäunt von
Hoffens auf bessere Bedingungen in       aus dem Bezirk sei gut, versichert            Stacheldraht in einem Industriege-
einer Gemeinschaftsunterkunft sind       uns die Leitung. Neben Deutschkur-            biet liegt? Das steht wohl in den Ne-
umsonst; die alten Zimmer werden         sen wird bspw. Unterstützung bei              belkristallen des Dampfes aus dem
wieder bezogen.                          Job-Bewerbungen angeboten. Um als             Kraftwerk Reuter West. ¶
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