Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
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laut&leise Magazin der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich Nr. 2, Juli 2020, erscheint dreimal jährlich Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch.
Zu schön, um wahr zu sein Nach und nach realisierte die Illustratorin Nadja Baltensweiler, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel für viele Menschen zum Alltag gehören, nicht nur für den Schlaf, sondern auch um den stressigen Arbeitsalltag zu überstehen, Prüfungen zu absolvieren oder um sich zu entspannen. Benzos und Z-Medikamente scheinen regelrechte Wundermittel zu sein. Doch sie haben eine äusserst dunkle Seite: Sie machen sehr schnell abhängig. Diese Kombination von hilfreich und gefährlich bringen die Schwarzweiss-Illustrationen zum Ausdruck. (www.nadjabaltensweiler.ch)
Editorial Liebe Leserinnen und Leser Die Rolling Stones besangen sie be- zu befreien. Der langsame Entzug ist sehr zu empfehlen, reits 1965 zynisch als «Mother’s little denn er resultiert langfristig häufig in einer Verbesserung helper» («Mother needs something der körperlichen und mentalen Lebensqualität. today to calm her down. And though Ein neues Phänomen beschreibt der Journalist Gabriel she’s not really ill, there’s a little Brönnimann. Jugendliche konsumieren Beruhigungsmit- yellow pill. (…) Doctor please, some tel als Rauschmittel. Werden die Medikamente zusammen more of these.») Der heutige Umgang ist sicher nicht mehr vergleichbar mit Eine zentrale Aufgabe unserer Fachstelle ist, Aktuel- demjenigen der damaligen Wunder- les über Suchtmittel und Suchtverhalten in Erfahrung pillen in den 60er-Jahren.Auch werden – im Gegensatz zur zu bringen, zu überprüfen und gesichertes Wissen anfänglichen Euphorie – Benzodiazepine und Z-Substan- an Fachleute und an die breite Bevölkerung weiterzu- zen deutlich differenzierter betrachtet. Trotzdem warnt geben. Wer informiert ist, kann handeln. die Psychiaterin Dr. med. Bernadette Ruhwinkel eindring- lich, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel ausschliesslich mit anderen Drogen eingenommen, entsteht daraus eine bei einer akuten Krise verschrieben werden sollen. Sie explosive Mischung, die gar tödlich enden kann. betont in aller Deutlichkeit, dass ein Schlafmittel nur ein Eine zentrale Aufgabe unserer Fachstelle und aller wei- Krisenmedikament ist. Bei einer regelmässigen Einnahme teren Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich ist, kann bereits nach vier Wochen eine Medikamentenab- Aktuelles über Suchtmittel und Suchtverhalten in Erfah- hängigkeit entstehen. rung zu bringen, zu überprüfen und gesichertesWissen an Die Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittel- Fachleute und an die breite Bevölkerung weiterzugeben. missbrauchs (ZFPS) sensibilisiert seit Jahren u. a. sowohl Wer informiert ist, kann handeln, sei es als Ärztin, Alten- Ärztinnen und Ärzte als auch Verantwortliche und Pflege- pflegerin, Lehrer oder als Privatperson. personal in Alters- und Pflegeheimen sowie Spitexdienste für die Gefahren von Schlaf- und Beruhigungsmitteln und n informiert über wirkungsvolle und bewährte Alternati- Domenic Schnoz, Leiter Zürcher Fachstelle zur Prävention ven. Wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass es auch älte- des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS). ren Menschen gelingt, sich von der Medikamentensucht Impressum Herausgeber: Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich Zuschriften: info@suchtpraevention-zh.ch. Redaktions- und Produktions- Inhalt leitung: Brigitte Müller, muellertext.ch. Redaktionsteam: 4 Meldungen Larissa Hauser, Gabriela Hofer, Domenic Schnoz (Vorsitz), Esther Vogler. Redaktion Meldungen aus der Suchtprävention: Annett Niklaus, Maja 7 Verschlafene Deals Sidler. Mitarbeiter/innen dieser Nummer: Jana Avanzini, Gabriel Essay Brönnimann, Bernadette Ruhwinkel, Markus Tschannen. Illustrationen: Nadja Baltensweiler. Gestaltung: Fabian Brunner. Druck: FO-Fotorotar. 8 Die Suche nach der Wunderpille Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Abonnement, Adressänderung: www.suchtpraevention-zh.ch > 60 Jahre Schlaf- und Beruhigungsmittel Publikationen > laut&leise 12 Gut schlafen können, aber wie? Die Beiträge und die Fotos in diesem «laut & leise» geben die Meinung Interview mit Dr. med. Bernadette Ruhwinkel der Autorinnen und Autoren wieder. Diese muss nicht mit der Meinung des Herausgebers, der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich, 15 Weniger Mittel, mehr Würde übereinstimmen. Suchtprävention im Alter Artikel, Fotos, Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und 19 Beruhigungsmittel als Partydroge dürfen ohne Genehmigung der Redaktion nicht verwendet werden. Falls Jugendliche Sie Interesse an einem Artikel haben: Anfrage bitte an Annett Niklaus (annett.niklaus@uzh.ch). 3
Meldungen In eigener Sache «laut & leise» abonnieren Unser Magazin erscheint dreimal jährlich und ist jeweils einem Schwerpunktthema gewidmet. Bleiben Sie stets auf dem Laufenden in Sachen Suchtprävention im Kanton Zürich – abonnieren Sie das «laut & leise». Abo unter: www.suchtpraevention-zh.ch > Publikationen > Magazin laut&leise Volksschulen Angebote der PH Zürich Sie möchten sich an Ihrer Schule für Prävention und Gesundheitsförderung stark machen und haben Interesse an Freelance für Schulen Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)? Die Weiterbildung «Unterwegs Contest und Materialien zur gesunden und nachhaltigen Schule» startet am 4. September 2020 an der PH Zürich und bildet Sie zur Kontaktperson Freelance ist ein umfassendes Prä- sen zu Risiko- und Konsumverhalten. für Gesundheitsförderung und BNE ventionsprogramm für Schulen der Die Themen sind spielerisch aufbe- aus. Sie richtet sich an Lehrpersonen Sek I. Alle drei Jahre gehört auch ein reitet. Wegen der Corona-Pandemie der Volksschule und weitere Mitarbei- Plakatwettbewerb dazu. Dabei kreieren wurden für den Fernunterricht sämt- tende im Schulfeld (vorzugsweise im Jugendliche Präventionsbotschaften für liche Arbeitsblätter als interaktive Rahmen der Mitgliedschaft im Schul- Gleichaltrige. Bei der Gestaltung findet PDFs zur Verfügung gestellt. Nach netz21). Der Kurstag «Grundlagen zu eine aktive Auseinandersetzung mit der Aufnahme des regulären Unter- Bildung für Nachhaltige Entwicklung» dem eigenen Suchtmittelkonsum statt. richts in den Schulen können diese steht auch bisherigen Kontaktpersonen Am diesjährigen Contest wurden digita- Arbeitsblätter für die direkte Bearbei- sowie interessierten Steuergruppenmit- le Medien, Tabak, Alkohol und Cannabis tung am Computer genutzt werden. gliedern von Netzwerkschulen offen. Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 thematisiert. Dabei sind kreative Prä- Im Kanton Zürich beraten und Ausserdem findet die Tagung Gesund- ventionsbotschaften entstanden. Eine begleiten die regionalen Suchtprä- heit mit dem aktuellen Thema «Schule Auswahl dieser Plakate kann nun bei ventionsstellen (RSPS) Schulen, positiv gestalten» am 12. September an uns kostenlos bestellt werden (nur ZH). die an der Umsetzung von Free- der PH Zürich statt. Die Tagung beleuch- Neben dem Wettbewerb bietet lance interessiert sind. Die Adres- tet positive und ressourcenorientierte Freelance umfassendes, flexibel ein- sen der RSPS sind auf der Rück- Zugänge zur Schule und speziell zur setzbares Unterrichtsmaterial zur seite dieses Magazins zu finden. Mitarbeitenden-Gesundheit. (PHZH) Suchtprävention und zur Förderung der Arbeitsblätter: be-freelance.net Weiterbildung: phzh.ch/weiterbildungssuche, im Medienkompetenzen. Das Programm Plakate: suchtpraevention-zh.ch > Publikationen > Suchfeld Kurstitel eingeben. basiert auf den neusten Erkenntnis- Kampagnenmaterial > Freelance Tagung: phzh.ch/tagungen 4
Spielsucht Kontaktlehrperson Sek II Kampagne zu Online-Casinos Lehrgang des MBA Wegen der Corona-Pandemie Lehrpersonen der Sekundarstufe II können einen zwei- mussten die Casinos ihre jährigen Zertifikatslehrgang zur Kontaktlehrperson Türen schliessen. Darum Suchtprävention und Gesundheitsförderung absolvieren. wurden Online-Casinos ver- Dieser wird von der Fachstelle Suchtprävention MBA mehrt beworben. Dies birgt angeboten. Der nächste Lehrgang startet im September die Gefahr, dass Gefährde- 2020. Er richtet sich an Lehrpersonen, welche Themen te häufiger online spielen. der Gesundheitsförderung an ihrer Schule initiieren und Auch bisher nicht gefähr- etablieren wollen. Durch den praxisorientierten Lehrgang dete Personen wurden während des Lockdowns auf der Suche werden die dafür nötigen Zusatzqualifikationen erworben. nach Unterhaltungsmöglichkeiten zu potenziellen Kunden. Zudem findet am 27. Oktober ein Erfahrungstreffen Als Gegenmassnahme lancierte das Zentrum für Spielsucht für Kontaktlehrpersonen und Interessierte zum Thema und andere Verhaltenssüchte eine Google-Ads-Kampagne «Gesundheitsförderung im Fernunterricht» statt. Es zum Thema Online-Casino. Dies mit dem Ziel, das Selbsthilfe- werden Resultate aus Untersuchungen während der angebot www.safer-gambling.ch sowie die zugehörige App den Schulschliessung präsentiert. Zudem werden Workshops Spielenden und ihren Angehörigen bekannt zu machen. zu verschiedenen Aspekten der Medienkompetenz Der Kampagnenstart am 13. April zeigte schnell die gewünsch- durchgeführt. (MBA) te Wirkung und generierte mehr Besuche auf der Website. Die Kontakt: Dagmar Müller, Leiterin Prävention und Sicherheit, Kampagne läuft bis Juni 2020, weitere Kampagnenwellen sind dagmar.mueller@mba.zh.ch geplant. (Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte) Web: tinyurl.com/yac9yw5r Factsheet Mediennutzung Medikamente Vorsicht vor synthetischen Kleinkinder stärken Neue Übersetzungen Cannabinoiden Für Eltern von Der Flyer Aktuell werden auf dem Kindern bis 4 «Medikamente Schwarzmarkt vermehrt Jahre gibt es bei Kindern Cannabisprodukte verkauft, neu die Bro- und Jugend- die mit synthetischen Canna- schüre «Kinder lichen. Verant- binoiden behandelt wurden. stärken». Der wortungsvoller Für die Konsumierenden sind Flyer mit dem Umgang im damit grosse Risiken verbun- Fokus Me- Alltag» wur- den: Sie gehen von Krampfan- diennutzung de in weitere fällen über Bewusstlosigkeit erklärt Eltern Sprachen kurz und ansprechend, wie Babys übersetzt und ist neu in Chine- Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 bis zum Tod. Ob ein Produkt mit künstlichen Cannabinoiden behandelt wurde, und Kleinkinder in einer gesun- sisch, Italienisch, Polnisch und ist von blossem Auge nicht erkennbar. Deshalb den Entwicklung gestärkt werden Ungarisch verfügbar. Die Über- gilt es, bei einem allfälligen Konsum besondere können. Er zeigt auf, wie sie an setzungen wurden von der FISP Regeln zu beachten. Alle wichtigen Informationen den Medienkonsum herangeführt (Fachstelle für interkulturelle haben wir auf einem Factsheet zusammengestellt. werden können, welche Medien Suchtprävention) koordiniert. Damit können Sie Cannabiskonsumierende für dabei geeignet sind und wo Zu- Die neuen Flyer können als PDF einen risikoarmen Konsum sensibilisieren. (EBPI) rückhaltung angesagt ist. (EBPI) heruntergeladen werden. (FISP) Download Factsheet: suchtpraevention-zh.ch > Abhängig von > Bestellen und Downloaden: gesundheitsfoer- Download: suchtpraevention-zh.ch > Cannabis derung-zh.ch/fokus-mediennutzung Publikationen > Informationsmaterial > Familie 5
Essay Verschlafene Deals I ch schlafe gut. Sehr gut sogar. Bis Reglos, komplett still. Drehte ich mich Monster und trotzdem wach. Wie damals, vor sechs Jahren war ich dafür weder früher im Bett von Seite zu Seite wie der als wir zwei Monate lang immer zwischen dankbar, noch habe ich gross darüber Schiedsrichter eines Tennisspiels, wache drei und vier Uhr morgens Duplo spiel- nachgedacht. Dann kam mein erstes Kind ich heute exakt so auf, wie ich mich gebet- ten. Der Brecht litt nach den Ferien unter zur Welt und lehrte mich den Wert des tet hatte. Auf dem Rücken mit Blick auf das Jetlag. Schlafes. monotone Blinken des Rauchmelders. Mehrere Jahre verhandelten wir aus- Bevor die Kinder da waren, konnte ich Trotz verhältnismässig angenehmen serdem, wer wo schläft. Die Kinder sollten mir das nicht vorstellen: Wie grausam es kindlichen Schläfern habe ich in den das Elternbett verlassen. Doch ich unter- sich anfühlt, einfach nur schlafen zu wol- letzten sechs Jahren nachts mehr erlebt lag in den Verhandlungen so oft, dass ich len, es aber nicht zu können. Jetzt kenne als in meinen wildesten Partyjahren. Ich den beiden irgendwann völlig erschöpft ich das zumindest teilweise, es gab in den habe gesehen, wie Menschen neben mir eine Vollmacht unterzeichnete: Sie dür- ersten Babymonaten ein paar anstren- im Bett sämtliche Körperflüssigkeiten ver- fen für immer in meinem Bett schlafen. In «meinem», weil meine Frau es ob der Trotz verhältnismässig angenehmen kindlichen Schläfern habe nächtlichen Ruhestörungen bereits ver- lassen hatte. Im Gegensatz zu mir wacht ich in den letzten sechs Jahren nachts mehr erlebt als in meinen sie selbst von leisen Geräuschen auf und wildesten Partyjahren. findet schlecht wieder in den Schlaf. Da hat Beebers das also her. Die Frau zog ins gende Nächte. Aber bitte kein Mitleid. Ich loren. Also ich rede von der Zeit mit den Gästezimmer, Beebers blieb. jammere auf allerhöchstem Niveau, denn Kindern, nicht von den Partyjahren. Ich Wir sagen jeweils halb im Scherz: der Brecht entwickelte sich rasch eben- habe öfter, als mir lieb ist, um Mitternacht «Tagsüber sind wir glücklich verheiratet falls zum guten Schläfer. So taten wir, Betten frisch bezogen, Decken gewaschen, und führen eine gleichberechtigte Ehe. was Menschen immer tun, wenn sie ein gebadet – mich, die Kinder, Gegenstände. In der Nacht bin ich geschieden und al- Problem überwunden haben: Sie schaf- Ich habe Geschichten gehört, von Mons- leinerziehend.» Das ist bei meinem guten fen sich ein neues Problem. Unseres heisst tern unterm Bett, hinter der Tür, im Klei- Schlaf nur gerecht: Wenn ich der Frau Beebers und ist jetzt neun Monate alt. derschrank, im Nachttischchen oder im schon nicht die Marder, Katzen, Füchse Beebers als Problemschläfer zu be- Lampenschirm. Manchmal kriegte ich und den Holzwurm abnehmen kann, dann Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 zeichnen, wäre allerdings auch falsch. Er dabei selberAngst. Ich habe getröstet, Trä- wenigstens die Kinder. kommt bis zu neun Stunden ohne Milch nen getrocknet, salzige Bäckchen geküsst. aus und schlief ab Geburt durch. Zumin- Wir haben Geräusche gesucht, trampeln- n dest in manchen Nächten, während er uns de Marder, jaulende Katzen und streiten- die anderen arg zerstückelte. Zwar weckt de Füchse verscheucht. Das gefährlichste Markus Tschannen ist Papablogger, Kolumnist und Vater von Beebers (9 Monate) und dem Brecht (6). ihn nicht der Hunger, aber ich tu es: Be- Monster, das wir gefunden haben, war ein Er twittert unter dem Namen @souslik. ebers wird wach, wenn ich mich bewege, Holzwurm. Die Angst war unbegründet: wenn ich atme oder sobald ich an etwas Es wird noch etwa zehn Jahre dauern, bis Lautes denke. Ich habe in den letzten er den Deckenbalken durchgebissen hat. Monaten gelernt, völlig neu zu schlafen. Andere Nächte verbrachten wir ohne 7
60 Jahre Schlaf- und Beruhigungsmittel Die Suche nach der Wunderpille Seit rund 60 Jahren werden Benzodiazepine gegen allerlei Beschwerden verschrieben. Anfänglich als nebenwirkungsarm gepriesen, kamen nach und nach auch Schattenseiten dieser Medikamente zum Vorschein. Von Domenic Schnoz I n der Nacht vom 4. auf den 5. August sowohl angstlösende und beruhigende als tischen und muskulären Störungen und 1962 starb Norma Jean Baker, besser auch krampflösende und muskelentspan- wurden zur gesellschaftlichen Wunder- bekannt als Marilyn Monroe, in ihrem nende Eigenschaften auf. Innerhalb weni- pille bei Ängstlichkeit, Niedergeschlagen- Bett in Los Angeles. Die Obduktion ergab, ger Jahre erschienen weitere Benzos und heit, Schlafproblemen oder Unruhe. Die dass eine Überdosis von zwei damals ge- lösten die bis anhin verwendeten Sedativa Rolling Stones besangen sie bereits 1965 bräuchlichen Schlafmitteln die Ursache weitgehend ab. Dies ist als Fortschritt zu zynisch als «Mother’ little helper». Etwa war. Sogenannte Barbiturate und Chloral- würdigen, da dadurch die Zahl der Todes- um die gleiche Zeit wurde vermehrt von hydrat zählten damals zu den Standard- fälle durch gewollte oder ungewollte Ver- Abhängigkeitssymptomen bei Patient*in- medikamenten unter den Schlaf- und giftungen massiv gesenkt werden konnte. nen berichtet. Beruhigungsmitteln (Sedativa). Leider Auch in der Psychiatrie brachten sie viele Über die Jahre hinweg erschienen zu- waren diese heikel in der Anwendung, Vorteile, weil sie sich relativ sicher in der nehmend Studien, die weitere Neben- da sie schnell zum Tod führten, wenn sie Anwendung zeigten und die therapeuti- wirkungen von Benzodiazepinen fanden. Neben dem hohen Abhängigkeitsrisiko sind die Beeinträchtigung der kognitiven Gemäss dem Schweizer Suchtmonitoring nennen über 80% Fähigkeiten, insbesondere der Gedächt- der Konsument*innen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln nisleistung, sowie das erhöhte Risiko für «Einschlaf- oder Schlafprobleme» als Grund, gefolgt von knapp Stürze besonders gut dokumentiert. In der wissenschaftlichen Literatur finden 60%, die sie «zur Beruhigung» einnehmen. sich zahlreiche weitere Verbindungen zu möglichen Nebenwirkungen, die von De- überdosiert wurden. Auch die Kombina- schen Einsatzmöglichkeiten viel breiter menz bis hin zu erhöhtem Mortalitätsri- tion mit weiteren Substanzen, insbeson- waren. Das bekannteste Medikament aus siko reichen. Ob es sich dabei um direkte dere Alkohol, barg sehr grosse Risiken. der Stoffgruppe der Benzodiazepine ist Folgen des Konsums oder lediglich um Darüber hinaus machten die Medikamen- vermutlich Diazepam, besser bekannt ein gleichzeitiges Auftreten durch andere te schnell abhängig und die Bandbreite unter dem Handelsnamen Valium. Bereits Gründe handelt, bleibt bislang unklar. der therapeutischen Anwendung in der fünf Jahre nach seiner Einführung war es Psychiatrie war sehr begrenzt. ab 1968 bis 1987 das weltweit am meisten Déjà-vu verkaufte Medikament überhaupt. Dass Benzodiazepine ein Missbrauchs- Die Geburtsstunde der Wunderpille potenzial aufweisen, stark abhängig ma- Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Entsprechend gross war die Hoffnung, Unterschätzte Nebenwirkungen chen können und gerade im Alter teilwei- als Anfang der 1960er ein neues Medika- Anfänglich schienen Benzodiazepi- se Tagesschläfrigkeit verursachen, war in ment eingeführt wurde, mit welchem die ne kaum negative Effekte aufzuweisen den 80er-Jahren schliesslich weitgehend gefährlichen Nebenwirkungen der bis- und wurden entsprechend als neben- unbestritten. Umso grösser war die Hoff- herigen Sedativa der Vergangenheit an- wirkungsarm gepriesen. Bald wurden nung Anfang der 90er-Jahre, als eine neue gehören sollten. Librium war das erste sie nicht nur in der Psychiatrie und der Stoffgruppe eingeführt wurde, die wiede- Medikament der Gruppe der Benzodiaze- Neurologie verwendet, sondern auch der rum Abhilfe versprach. Diese Medika- pine (umgangssprachlich oft als «Benzos» Allgemeinbevölkerung zunehmend ver- mente wurden häufig als Z-Substanzen bezeichnet) und überraschte die Fachwelt schrieben. Sie erfreuten sich grosser Be- bezeichnet, da ihre Wirkstoffnamen mit durch sein breites Wirkspektrum. Es wies liebtheit bei emotionellen, psychosoma- dem Schlussbuchstaben des Alphabets 8
begannen Zopiclon, Zolpidem oder Zale- Gemäss dem Schweizer Suchtmonito- werden soll. Aufgrund der ernsten Neben- plon. Z-Substanzen wirken beruhigend ring nennen über 80% der Konsument*in- wirkungen ist jedoch gerade bei älteren und schlaffördernd, eignen sich aber nen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln Patient*innen vom Einsatz von BZ als weniger als muskelentspannende, angst- «Einschlaf- oder Schlafprobleme» als Schlafmittel erster Wahl stark abzuraten. lösende und krampflösende Mittel. Sie Grund, gefolgt von knapp 60%, die sie «zur Dies empfiehlt auch die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie, da grosse Schaut man sich die Altersverteilung an, fällt bei den Benzodia- Studien immer wieder zeigten, «dass sich das Risiko für Verkehrsunfälle, Stürze zepinen und Z-Substanzen auf, dass ihre Verschreibung mit dem und Hüftfrakturen sowie für Hospitali- Alter stark zunimmt. sierungen oder Tod bei älteren Menschen mehr als verdoppeln kann, wenn Benzo- werden folglich hauptsächlich als Schlaf- Beruhigung» einnehmen (Mehrfachnen- diazepine oder andere Beruhigungs- oder mittel eingesetzt. Mit Z-Substanzen wollte nungen möglich). Schaut man sich die Al- Schlafmittel verordnet werden.» man die Benzodiazepine bei Schlafproble- tersverteilung an, fällt bei den Benzodia- men ablösen, und zwar ohne Abhängigkeit zepinen und Z-Substanzen (im Folgenden Hoher Konsum von BZ in der Schweiz und Wirkungsverlust. BZ genannt) auf, dass ihre Verschreibung Obwohl BZ nur sehr zurückhaltend als Einweiteres Problem bei den Benzodia- mit dem Alter stark zunimmt. So schluck- Schlafmittel verschrieben werden sollten zepinen war nämlich, dass sich der Körper ten in der Schweiz 2016 in den letzten 30 und wenn nicht länger als vier Wochen, bei häufiger Einnahme daran gewöhn- Tagen nur 1,8% der 15- bis 19-Jährigen konsumiert etwa die Hälfte der Personen, te und die Dosis erhöht werden musste, Schlaf- und Beruhigungsmittel, aber be- die angeben in den letzten 30Tagen Schlaf- um die gleiche Wirkung zu erzielen. Die reits 7,8% der 45- bis 54-Jährigen und gan- oder Beruhigungsmittel eingenommen zu Z-Medikamente versprachen hierAbhilfe, ze 18,4% der über 74-Jährigen. Dabei sind haben, diese seit mindestens einem Jahr da sie angeblich keine Toleranz erzeugten, die Frauen in allenAlterskategorien über- täglich oder fast täglich.Wird dies hochge- sich der Körper also nicht daran gewöhnt. vertreten. Sie konsumieren Schlaf- und rechnet auf die Schweizer Bevölkerung ab Leider erwies sich dies über die Jahre als Beruhigungsmittel fast doppelt so häufig 15 Jahren, ergeben sich daraus ungefähr Irrtum, denn spätere Studien zeigten, wie Männer. 200 000 Personen mit einer problemati- dass die Toleranz auch bei den Z-Subs- Der Hauptgrund für diese Zunahme schen Einnahme. Die Zahl ist also durch- tanzen zunimmt und sie abhängig machen liegt wohl in der Veränderung des Schlafs aus beachtlich. Wieso wird dies nicht ver- können. beim Älterwerden. In der Regel wird der mehrt diskutiert? Dafür werden häufig Nichtsdestotrotz bieten sie einige Schlaf oberflächlicher und ist häufiger zwei Erklärungsansätze herangezogen: Vorteile, da sie in der Regel weniger lang durch Unterbrüche gekennzeichnet. Dies Erstens ähneln die Nebenwirkungen der wirken, was u. a. die Wahrscheinlich- keit des sogenannten Hangover-Effekts Die Schweiz zählt zirka 200 000 Personen ab 15 Jahren mit einer verkleinert. Als solcher wird das Phäno- Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 men beschrieben, dass sich die Wirkung problematischen Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. von Schlafmitteln auch am nächsten Tag noch bemerkbar macht, weil der Körper ist ein natürlicher biologischer Prozess BZ den gängigen Alterserscheinungen wie sie nur langsam abbaut. Dadurch können und nicht per se eine Schlafstörung. Auf- beispielsweise Abnahme des Gedächtnis- sie zum Beispiel Tageschläfrigkeit, Kon- grund mangelnder Aufklärung oder auch ses, Tagesschläfrigkeit, Gangunsicher- zentrationsstörungen oder Gangunsicher- einer gesellschaftlich normierten Vorstel- heit. Eine Beurteilung, ob diese Symptome heit hervorgerufen werden. Mittlerweile lung darüber, was ein gesunder Schlaf ist, auf die Medikamente oder «aufs Alter» zu- gehören in der Schweiz etwas mehr als ist dies abervielen älteren Menschen nicht rückzuführen sind, ist deshalb schwierig. die Hälfte der konsumierten Schlaf- und bewusst. Schnell ist daher der Gang in die Zweitens nehmen viele Konsument*innen Beruhigungsmittel den Z-Substanzen an. Arztpraxis getätigt, wo Abhilfe verschafft auch über Jahre immer die gleiche Dosis 9
Bei moderaten Schlafproblemen helfen aber häufig bereits die Informationen zu den biologisch bedingten Veränderungen des Schlafs, die mit dem Älterwerden einhergehen, und schlaf- hygienische Massnahmen. ein. Typischerweise eine Tablette vor dem Aufsummierung des Wirkstoffs im Blut gleiche Zeit aufzustehen, sich tagsüber Einschlafen. Diese Dosis wird nicht er- kommen kann. Hinzu kommt, dass sich körperlich genügend zu betätigen, keine höht, da die Abgabe des Medikaments das Verhältnis von Flüssigkeit und Fett- schweren Mahlzeiten am Abend mehr ein- ärztlich kontrolliert und über ein Rezept anteil im älteren Körper ungünstig ver- zunehmen und auf aufputschende Geträn- erfolgt. Es ist daher nicht so einfach für den ändert und Medikamente dadurch eine ke in der zweiten Tageshälfte zuverzichten. Konsumenten, die Konsumentin die Dosis stärkere Wirkung haben können. Diese Ob Marilyn Monroe den Medikamen- eigenmächtig zu steigern, und dadurch Kombination kann dazu führen, dass die tencocktail überlebt hätte, hätte sie damals fehlt ein wichtiges, leicht erkennbares Kri- tägliche Medikamentendosis jeweils nicht BZ anstelle von Barbituraten und Chloral- terium für die Diagnose einer «Abhängig- vollständig abgebaut wird. So kann sich hydrat eingenommen, ist bis heute unklar. keitserkrankung». im Extremfall über Monate und Jahre Sicher ist, dass die modernen Behand- eine Überdosierung des Wirkstoffs erge- lungsmöglichkeiten von Schlafproblemen Niedrigdosis-Abhängigkeit ben. Mehrere Studien zeigen ausserdem, wirkungsvolle Alternativen bieten – auch In der Fachwelt ist dieses Phänomen dass bei Schlafproblemen eineVerhaltens- ohne dass dadurch eine Abhängigkeit ent- als «Niedrigdosis-Abhängigkeit» bekannt. therapie gegenüber Schlafmitteln deutlich stehen muss. Die Risiken, welche eine solche mit sich erfolgreicher ist. bringt, sind umstritten. So berichten ei- n nerseits immer wieder Ärzte davon, dass Gut wirksame Alternativen sie Patienten über viele Jahre die gleiche Bei Schlafproblemen sollte zuerst eine Domenic Schnoz ist Soziologe mit dem Schwerpunkt Sucht, den er seit seiner Studienzeit aus verschiede- Dosis verschreiben und diese keinerlei sorgfältige Abklärung erfolgen. Dies kann nen Blickwinkeln beleuchtet. Seit 2013 leitet er die negative Auswirkungen mit sich brächten. zum Beispiel in Institutionen geschehen, Zürcher Fachstelle zur Prävention des Alkohol- und Andererseits ist beispielsweise von Sucht- die auf Schlafmedizin spezialisiert sind. Medikamentenmissbrauchs. Sie wurde Anfang 2019 medizinern oder Alterspsychiatern zu Bei moderaten Schlafproblemen helfen um den Tabakbereich erweitert und tritt fortan unter vernehmen, dass im Niedrigdosisbereich aber häufig bereits die Informationen zu dem Namen Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS) auf. typische Entzugserscheinungen auftre- den biologisch bedingten Veränderun- ten, wenn das Medikament abgesetzt wird. gen des Schlafs, die mit dem Älterwer- Diese ähneln oftmals den ursprünglichen den einhergehen, und schlafhygienische Gründen, weshalb die Medikamente über- Massnahmen. Dazu gehört, immer um die haupt erst verschrieben wurden: zum Bei- spiel Schlafstörungen oder Unruhe. Da- durch können sie leicht fehlinterpretiert Angebote der Stellen für Suchtprävention und als Begründung für die anhaltende Die Stellen für Suchtprävention bieten Zürcher Fachstelle zur Prävention des Verschreibung dienen. Nicht zu unter- verschiedene Fortbildungen und Re- Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS) ist als schätzen ist auch der hohe Druck auf die ferate an zum Thema Benzodiazepine Kompetenzzentrum zuständig für den Ärzteschaft, den Patient*innen ausüben und Z-Medikamente. Sie richten sich Missbrauch von Benzodiazepinen und können, wenn sie ihr liebgewonnenes Me- an Fachpersonen aus dem pflegerischen Z-Substanzen im Stellenverbund und dikament nicht weiter verschrieben be- und medizinischen Bereich, aber auch betreibt ein sorgfältiges Wissensma- kommen. für die Allgemeinbevölkerung können nagement über die aktuellen Ergebnisse Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Als Folgeerscheinungen der Niedrigdo- massgeschneiderte Vorträge oder Work- aus Forschung und Praxis. sis-Abhängigkeit werden vor allem kogni- shops angeboten werden. Kostenlos erhältlich, auch als PDF zum tive und gedächtnisspezifische Einschrän- Des Weiteren unterstützen sie Ins- Downloaden: suchtpravention-zh.ch > kungen genannt – vereinzelt werden auch titutionen wie Spitex oder Alters- und Publikationen Antriebsdefizite beschrieben. Ein weite- Pflegeheime bei der Entwicklung von • Prävention von riskantem Alkohol- und Medika- res Problem stellt die Verlangsamung des Konzepten zur Früherkennung und -in- mentenkonsum beim Älterwerden. Ein Leitfaden. • Schlaf- und Beruhigungsmittel. Abhängigkeit Stoffwechsels dar, der mit dem Älterwer- tervention bei Suchtproblemen und zur vermeiden. In verschiedenen Sprachen erhältlich. den einhergeht. Dadurch baut der Körper Verringerung des Einsatzes von Benzo- • Gut geschlafen? Was Sie bei Schlafproblemen die Medikamente viel langsamer ab als diazepinen und Z-Medikamenten. Die tun können. in jüngeren Jahren, wodurch es zu einer 10
Dr. med. Bernadette Ruhwinkel Gut schlafen können, aber wie? Während des Schlafens können Körper und Geist sich erholen. Was aber, wenn man nicht einschlafen kann oder morgens wie gerädert aufwacht? Warum Schlafmittel keine Alternative sind, erklärt Bernadette Ruhwinkel in diesem Interview. Von Brigitte Müller laut & leise: Wie definieren Sie einen gu- uns wach. Psychische Leiden wie Sucht- Jugend extrem schlimme Erfahrungen er- ten Schlaf? erkrankung, Depression oder ein Burn- leben mussten, konnten als Erwachsene Bernadette Ruhwinkel: Gut geschlafen out, aber auch schwere Träume oder wenn diese dramatischen Erlebnisse zumeist hat, wer sich frisch und erholt fühlt, wenn das Unterbewusste ständig schwierige über ein aktives Leben kompensieren, er oder sie morgens aufwacht. Es ist ein Themen verarbeiten muss, all das kann aber im Alter können sie die Erinnerun- sehr subjektives Empfinden, das man im Schlafprobleme verursachen. Körperli- gen dann zum Teil nicht mehr verdrän- Schlaflabor nicht messen kann. Massge- che Störungen wie Husten, Schnarchen gen. Wenn alle Möglichkeiten für einen bend ist allein das selbst wahrgenommene oder das Schlafapnoe-Syndrom verhin- besseren Schlaf nicht gefruchtet haben, Befinden. Ein guter Schlaf ist auch nicht dern ebenfalls einen erholsamen Schlaf. dann können für solche älteren Menschen von der Dauer abhängig. Deshalb kann Schlafmittel auch langfristig sinnvoll jemand beispielsweise schon nach sechs l & l: Wie verändert sich der Schlaf, wenn sein. Stunden Schlaf erholt aufwachen und an- man älter wird? dere müssen für dieselbe Erholung mehr Ruhwinkel: Gesunde ältere Menschen l & l: Wie wird man von Schlafmitteln ab- als acht Stunden schlafen. benötigen zumeist weniger Schlaf. Es ist hängig? nicht natürlich, wenn ein 70-Jähriger län- Ruhwinkel: Wer regelmässig über einen l & l: Warum ist ein guter Schlaf für unsere ger schläft, als er mit 40 Jahren schlief. längeren Zeitraum diese Medikamente Gesundheit so wichtig? Aus organischen Gründen müssen ältere einnimmt. Bei Benzodiazepinen kann eine Ruhwinkel: Während wir schlafen, kann Menschen nachts jedoch einige Male auf- Abhängigkeit je nach Patient schon nach sich unser Körper und Geist erholen und stehen und auf die Toilette gehen. Im Lie- zwei, drei Wochen eintreten. Also sehr entspannen. Wir kommen zur Ruhe und gen arbeitet die Niere besser, die Beine schnell. Dies ist auch der Grund, warum unser Unterbewusstsein kann die tägli- chen Erlebnisse verarbeiten. Ein Schlafmittel ist – und dies betone ich in aller l & l: Was bezeichnen Sie als Schlafprob- Deutlichkeit – nur ein Krisenmedikament. lem und wer ist davon betroffen? Ruhwinkel: Ein- und Durchschlafstö- können sich entwässern, deshalb muss ich so dezidiert betone, dass Schlaf- und rungen kennt jede Altersgruppe – vom der Körper mehrWasser ausscheiden. Ge- Beruhigungsmittel nur für akute Krisen Kleinkind bis zur Seniorin. Ein schlech- nerell sollte man darauf achten, dass man angewendet werden sollen, es also unbe- ter Schlaf kann ohne Ausnahme jeden tagsüber aktiv ist und erst zu Bett geht, dingt erforderlich ist, so rasch als möglich von uns treffen. Ein Schlafproblem hat, wenn man wirklich müde ist. Eine kurze auf andere Mittel – zum Beispiel Antide- wer schlecht einschlafen kann, obwohl er Mittagsruhe von 30 Minuten bis maximal pressiva, die müde machen und keine Ab- sich müde fühlt, oder wer immer wieder einer Stunde empfehle ich eher Menschen hängigkeit erzeugen – und eine verbesser- in der Nacht aufwacht oder nach dem not- im hochbetagten Alter, wenn der Körper te Schlafhygiene umzustellen. wendigen Toilettengang nicht wieder ein- insgesamt schwächer geworden ist. schlafen kann. Auch wenn man morgens l & l: Gibt es bestimmte Personen, für die wie gerädert aufwacht, sich nicht erholt l & l: Wann ist es sinnvoll, ein Schlaf- und Schlafmittel besonders riskant sind? fühlt, obwohl man rechtzeitig ins Bett Beruhigungsmittel* zu verschreiben? Ruhwinkel: Ja, ältere Menschen und alle ging und durchgeschlafen hat, ist das ein Ruhwinkel: Wenn eine akute Krise vor- mit chronischen Schlafproblemen, denn Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Schlafproblem. handen ist. Ein Schlafmittel ist – und dies es ist absehbar, dass sie auf dieses Me- betone ich in aller Deutlichkeit – nur ein dikament längerfristig angewiesen sind. l & l: Welche Gründe verursachen Schlaf- Krisenmedikament. Es gibt eine Ausnah- Man kann ein chronisches Schlafprob- störungen? me, wenn Schlafmittel über längere Zeit lem nicht mit einem Schlafmittel lösen! Ruhwinkel: Wer viele Probleme kennt, sei eingenommen werden müssen. Ältere Eine Abhängigkeit von Schlafmitteln hat es beruflich oder familiär, wer einem zu Menschen, die in ihrer Kindheit und/oder gravierende Folgen. Bei älteren Menschen grossen Stress ausgesetzt ist oder jemand, kann die sogenannte Halbwertszeit, da- der zu viel Alkohol trinkt, ist gefährdet. mit ist die Dauer gemeint, bis wann eine * Nachfolgend wird Schlafmittel als Oberbegriff ange- Aber auch die Bildschirme von Fernse- wendet. Damit sind Schlaf- und Beruhigungsmittel wie Substanz zur Hälfte im Körper abgebaut her, Smartphone oder Computer halten Benzodiazepine und Z-Substanzen gemeint. ist, sehr lange dauern. Mit Diazepam bei- 12
spielsweise wird ein 80-Jähriger sogar l & l: Können Sie uns einen Fall aus Ihrer und Probleme, sodass eine Schlafstörung über Tage ruhiggestellt, denn die Halb- Praxis beschreiben? bzw. das Einnehmen eines Schlafmittels wertszeit dieses Medikaments kann 200 Ruhwinkel: Gerne erzähle ich Ihnen das in der Fülle der Probleme nicht mehr be- bis 400 Stunden dauern. Hingegen be- Beispiel einer 90-jährigen Frau. Diese achtet wird. Oder der Patient wechselt die trägt die Halbwertszeit bei einem kurz hatte mit 85 ihren Mann verloren, was Ärztin und sucht sich eine andere Bezugs- quelle, wenn er von ihr auf seine Medika- Man kann ein chronisches Schlafproblem nicht mit einem mentenabhängigkeit angesprochen wird. Das Problem ist vielschichtig und nicht so Schlafmittel lösen! Eine Abhängigkeit von Schlafmitteln hat einfach zu lösen. gravierende Folgen. l & l: Werden Patienten genügend über die wirksamen Mittel nur bis zu acht Stunden. die Frau in eine grosse Trauer stürzte. Auswirkungen und Folgen einer zu langen Durch ein Beruhigungsmittel werden zu- Deshalb erhielt sie Diazepam von ihrem Einnahme aufgeklärt? dem die Muskeln so entspannt, dass die Hausarzt verschrieben. Die Frau gewöhn- Ruhwinkel: Ich denke Ja. Aber wenn ein Gefahr eines Sturzes deutlich steigt. Auch te sich daran, das Medikament alle zwei Patient wegen einer akuten Krise ein das Gehirn wird so gedämpft, dass das Ge- bis drei Tage einzunehmen. In der Folge Schlafmittel verschrieben erhält, wird dächtnis geschwächt wird. hatte sie starke Blutdruckkrisen. Kein er wahrscheinlich in der Krise die War- Blutdruckmittel half. Nach der Einnah- nungen der Ärztin nicht wirklich bewusst l & l: Wie bemerkt man, dass eine Abhän- me eines Diazepams sank ihr Blutdruck aufnehmen können. Zum Teil werden in gigkeit entstanden ist? immer. Als ihr klar wurde, dass sie vom solchen Situationen aber auch zu grosse Ruhwinkel: Schlafmittel wirken wie eine Schlafmittel abhängig war und damit auch Packungen verschrieben. Mit dem Effekt, «Wunderpille». Jedes andere Mittel oder ihre körperliche Gesundheit beeinträch- dass die Medikamente zu lange eingenom- eine gute Schlafhygiene werden subjektiv tigt wurde, entschloss sie sich zu einem men werden. als viel schwächer wirksam wahrgenom- Entzug. Dieser wurde zuerst stationär men. Das liegt daran, dass diese Medika- durchgeführt. Anschliessend kam sie re- l & l: Was empfehlen Sie Ihren Patienten mente einen starken Reiz im Belohnungs- gelmässig in meine Praxis. Wichtig war, bei Schlafstörungen? Welche Alternati- zentrum unseres Gehirns auslösen. Sie dass wir auf ein kürzer wirksames Mittel ven gibt es zu Medikamenten? geben einem das Gefühl, dieses Medika- umstellten und in gleichmässigen Schrit- Ruhwinkel: Zuerst einmal empfehle ich, ment tut mir gut. Die Vorstellung, das ten den Medikamentenspiegel senkten. die Erwartungen an den eigenen Schlaf Schlafmittel abends nicht einnehmen zu Nach einem halben Jahr brauchte sie zu überprüfen. Oft gehen Menschen zu können, kann eine starke Angstreaktion kein Schlafmittel mehr. Sie war sehr stolz früh ins Bett, weil sie der Meinung sind, auslösen. Zittern, eine grosse Unruhe, Schweissausbrüche und weitere Sympto- Besonders wichtig ist, das Grübeln abzustellen. Probleme me stellen sich ein, wenn das Medikament nach regelmässiger Gabe plötzlich nicht gehören nicht ins Schlafzimmer! Schicken Sie sie vor die Tür. eingenommen wird. auf sich, dass sie in ihrem Alter sich von ein möglichst langer Schlaf bringe Er- l & l: Was macht den Entzug schwierig? der Medikamentenabhängigkeit befreien holung. Auch ist das Durchschlafen im Ruhwinkel: Kein Entzug ohne Motiva- konnte, und sie spürte auch körperlich Alter keine Selbstverständlichkeit mehr. tion, dies gilt bei allen Abhängigkeitsfor- eine verbesserte Lebensqualität. Allen hilft, wenn sie am Tag genug Bewe- men. Oft sind älteren Menschen, die von gung und Beschäftigung kennen. Vor dem Schlafmitteln abhängig sind, scheinbar l & l: Fachleute empfehlen, Schlafmittel Einschlafen rate ich, sich Rituale anzuge- nicht motiviert. Wenn sie nicht erkennen, maximal vier Wochen einzunehmen. Wa- wöhnen, damit der Körper und die Psyche Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 dass sie abhängig sind, odervonAngehöri- rum werden diese Medikamente trotzdem zur Ruhe kommen. Musik hören, ein Buch ge und Fachpersonen nicht motiviert wer- viel länger, oft sogar jahrelang, den Patien- lesen, sich mit einem Puzzle beschäftigen. den, dann kann keine Motivation entste- ten verschrieben? Alles, was einen entspannt, hilft. Vor dem hen. Es ist zu wenig bekannt, dass ältere Ruhwinkel: Es braucht oft viel Zeit und Zubettgehen sollte man das Zimmer gut Menschen sich von dieser Sucht befreien Energie, dass Patienten überzeugt wer- lüften. Nicht hilfreich ist, wie bereits er- können. Bei Suchtspezialisten fehlt zum den können, auf die «Wunderpille» zu wähnt,sichzulangemitdemBildschirmzu Teil das Wissen über ältere Süchtige und verzichten. Genau diese Zeit für eine beschäftigen oder gar vor dem Fernsehen manche Fachleute der Alterspsychiatrie ausführliche Beratung fehlt meist in den einzuschlafen. Besonders wichtig ist zu- sind mit der Entzugsbehandlung nicht so Arztpraxen. Ärzte behandeln bei älteren dem, das Grübeln abzustellen. Probleme vertraut. Menschen häufig mehrere Erkrankungen gehören nicht ins Schlafzimmer! Schicken 13
Sie sie vor die Tür. Es gibt viele Entspan- nungsübungen, die, wenn man sie richtig macht, so erholsam sein können wie gutes Schlafen. Dabei denke ich beispielsweise an die progressive Muskelentspannung nach Jacobson – bekannt auch unter der Abkürzung PMR, die man als CD oderApp beziehen kann. l & l: Wurden Sie bereits mit Folgen der Coronakrise konfrontiert? Ruhwinkel: Wer nicht? Die Pandemie be- reitet uns allen zusätzlichen Stress. Wir fühlen uns bedroht, haben Angst um un- sere Arbeitsstelle, um unsere Gesundheit, leiden an Einsamkeit, können uns nicht so bewegen, wie wir es gewohnt sind. Es gibt in der momentanen Situation so viele Fak- toren, die Schlafprobleme begünstigen. Umso wichtiger ist es, sich der eigenen Schlafhygiene anzunehmen und zu ver- suchen, die Probleme nicht mit Suchtmit- teln zu verdrängen. Fachleute vermuten jedoch, dass wegen dieser Krise Sucht- probleme zunehmen werden. l & l: Haben Sie abends ein bestimmtes Ritual, das Ihnen hilft, gut einzuschlafen? Ruhwinkel: Abends trinke ich gerne zu- sammen mit meinem Partner einen Tee und gehe nachher auf die Yogamatte für einige entspannte Yogaübungen. n Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Dr. med. Bernadette Ruhwinkel ist Psychiaterin in eigener Praxis in Winterthur und arbeitet im Schwer- punkt mit älteren Menschen. Sie ist Dozentin in der Aus- und Weiterbildung für Psychiater und Psycholo- gen am Institut für ökologisch-systemische Therapie in Zürich, an der Ärztlichen Psychotherapieausbil- dung der Universität Zürich und an der Fachhoch- schule in Bern. Sie ist Leiterin des Resilienz-Ateliers in Winterthur (www.resilienz-atelier.ch). Brigitte Müller, Texterin und Redaktionsleiterin «laut & leise», stellte die Fragen. 14
Suchtprävention im Alterszentrum Weniger Mittel, mehr Würde Das Wissen, dass Schlafmittel und Beruhigungsmittel schon nach vier Wochen süchtig machen können, ist immer noch zu wenig bekannt. Umso wichtiger sind die Angebote für die Spitex, die Alters- und Pflegeheime und für Seniorenanlässe, wo darüber gesprochen wird. Von Jana Avanzini S pricht man von Suchtprävention, blikum, das sich für solche Veranstaltun- Schlaf- und Beruhigungsmitteln.Auch mit denkt man an Jugendliche, an Al- gen die Zeit nimmt und unsere Angebote wenigen Gläsern Alkohol kommt man nun kohol und Zigaretten. Medikamen- regelmässig nutzt.» dem Rauschtrinken nahe. Zudem verän- te hingegen und die Suchtgefahr im Alter dert sich der Schlaf, beispielsweise schläft bleiben oft vergessen. Kein Wunder: Denn Sinn statt Sucht man weniger einfach ein und durch. Oft obwohl bekannt ist, dass Sucht keine Fra- Die Art der Kommunikation ist dabei äus- ist die logische Konsequenz: ein Medika- ge des Alters ist, ist Sucht doch im Alter serst relevant. In den Titeln ihrer Veran- ment. Nach einem Spitalaufenthalt noch noch oft ein Tabu. «Leider braucht es den staltungen und Broschüren arbeitet Hofer ein weiteres dazu, dann noch eines von der konkreten, sichtbaren Fall, damit in der nie mit dem Begriff Suchtprävention. «Da Apotheke – ein unübersichtlicher Cocktail älteren Generation über Sucht gespro- würde sich niemand angesprochen füh- kann entstehen. In den Veranstaltungen chen wird», sagt Gabriela Hofer. Bei der len», sagt sie. Und selbst wenn, würde die empfiehlt Gabriela Hofer deshalb auch, Suchtpräventionsstelle der Bezirke Affol- Person sich wohl kaum die Blösse geben, mit der Hausärztin oder dem Apotheker tern und Dietikon angestellt, ist die Prä- aufzutauchen und sich damit praktisch zu prüfen, wie sich die Mittel vertragen. ventionsfachfrau seit vier Jahren für das zu outen. «Man spricht die Suchtthematik Thema Sucht im Alter in 25 Gemeinden deshalb unter positiveren Schlagworten Götter in Weiss im Kanton Zürich verantwortlich. Dieser wie Lebensqualität oder Lebenszufrie- Eine weitere Schwierigkeit bei Medika- Teil ihrer Arbeit umfasst auch regelmäs- denheit an», erklärt Gabriela Hofer. menten und ihren Nebenwirkungen sei, sige Veranstaltungen für die Bevölkerung. Neben sozialen Beziehungen, Sinnhaf- dass diese oft mit altersbedingten Symp- Etwas, das die Suchtprävention eher sel- tigkeit, Körperlichkeit und Psyche kommt tomen übereinstimmen und deshalb nicht ten tut. In den anderen Altersgruppen dann fast nebenbei auch das Thema Me- erkannt werden. Selbst Ärzte würden dies arbeitet man mehrheitlich mit sogenann- dikamente und Alkohol zur Sprache. Eine oft nicht erkennen und Schlafstörungen ten Multiplikatoren – mit Lehrern oder Hauptbotschaft dabei lautet: Der Körper oder Stürze darunter abhaken. Gabriela Jugendarbeiterinnen, die bereits einen verändert sich im Alter. Keine Überra- Hofer beobachtet auch, dass die älteren Bezug zu den betroffenen Menschen ha- schung natürlich, das wissen alle. Doch Generationen Medikamenten gegenüber grundsätzlich weniger kritisch urteilen. Eine Hauptbotschaft lautet: Der Körper verändert sich «Ärzte sind noch immer Götter in Weiss», fasst sie zusammen. Da werde selten hin- im Alter. Keine Überraschung natürlich, das wissen alle. terfragt oder eine Alternativen geprüft. Doch was dies alles bedeutet, bleibt oft unbekannt. Was der Arzt oder die Ärztin sagt, das gilt. Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 Auf den eigenen Körper zu hören, darauf, ben. An Events, die von Seniorenräten was dies alles bedeutet, bleibt oft un- was ihm guttut, auf Unwohlsein oder auf oder Gemeindegruppen organisiert wer- bekannt. Wie beispielsweise: Der Was- psychische Schwierigkeiten zu achten den, informiert Gabriela Hofer. Bei Kaffee serhaushalt im Köper sinkt. Leber und und sie ernst zu nehmen, haben ältere und Kuchen trifft sie dort selbst in kleinen Nieren arbeiten nicht mehr so schnell Generationen oft nicht gelernt. Deshalb Ortschaften auf gutbesuchte Anlässe mit und effizient. So kann der Körper gewis- spricht man auch nicht darüber. «Fragen 30 bis 80 Personen. «Die älteste Genera- se Stoffe nicht mehr gleich schnell ab- werden wohl auch deshalb bei den Ver- tion spricht sehr gut auf Informationsver- bauen. Wirkstoffe von Medikamenten anstaltungen selten zur Suchtthematik anstaltungen an», so Hofer. «Seniorinnen kumulieren sich, wodurch es zu einer gestellt», erzählt Gabriela Hofer. Dafür und Senioren sind ein interessiertes Pu- Art Überdosis kommen kann – gerade bei bedienen sich ältere Veranstaltungsteil- 15
nehmende aussergewöhnlich gerne bei auch die Zusammenstellung der Arbeits- Zimmermann. «Auch für neue Angestell- Broschüren. «Da sehe ich auch, dass ein gruppe. «Es gehören junge und erfahrene te geben die entwickelten Instrumente Interesse und Bewusstsein entsteht – auch Mitarbeitende derPflege dazu,Angestellte Sicherheit und Klarheit, wie suchtge- wenn man es im persönlichen Gespräch aus der Zentrumsleitung sowie aus weite- fährdete Bewohnerinnen und Bewohner nicht zeigen würde», sagt sie. ren Bereichen des Betriebs – der Cafeteria betreut werden.» Unklarheiten seien für oder der Reinigung», sagt Zimmermann. Mitarbeitende unangenehm, denn sie bin- Ein Prozess für alle Die Diskussionen innerhalb des Pro- den Zeit und vor allem Energie. Heidi Zimmermann Heinrich, Präven- zesses seien äusserst wichtig. «Es muss tionsfachfrau der Suchtprävention Zür- eine Auseinandersetzung passieren – mit Begleitung in Krisenzeiten cher Unterland, begleitet Alterszentren den Themen Sucht, Selbstbestimmung, Das direkte Ansprechen von Suchtmit- dabei, Suchtprävention einerseits in Krisen.» Meist würden dazu viele Fragen telkonsum könne schnell heikel werden ihren betrieblichen Ablauf und zur Qua- auftauchen. Über diese lasse sich bald und eine abwehrende Haltung auslösen. litätsentwicklung zu integrieren und an- erfassen, was beschäftigt und belastet. Deshalb sei auch die Art der Gesprächs- dererseits stärker im Bewusstsein der Mitarbeitenden, der Bewohnerinnen und Im Alter kann der Körper gewisse Stoffe nicht mehr gleich Bewohner zu verankern. «Die Ziele sind der Kompetenzgewinn für die Angestell- schnell abbauen. Wirkstoffe von Medikamenten kumulieren sich, ten und der Gewinn von Lebensqualität wodurch es zu einer Art Überdosis kommen kann – gerade für die Klientinnen und Klienten», so bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Auch mit wenigen Gläsern Zimmermann. Konkret umgesetzt heisst das: Heidi Zimmermann führt Gespräche Alkohol kommt man nun dem Rauschtrinken nahe. mit der Leitung der Alterseinrichtung und arbeitet anschliessend mit einer Projekt- In Gesprächen mit Heimpersonal sei die führung ein wichtiger Punkt in der Sucht- gruppe über mehrere Monate. Dabei wird Dringlichkeit der Thematik spürbar. «Oft prävention. «Motivational Interviewing», in rund zehn Arbeitstagen ein vertieftes hängen konkrete Geschichten von früher motivierende Gesprächsführung für Wissen zu Themen wie Prävention, Früh- nach. Man hätte gerne anders gehandelt, Verhaltensänderung, nennt sich dieser erkennung, Suchtentwicklung und Ge- war im Dilemma mit eigenen Werten und Bereich der Weiterbildung. Und auch sprächsführung mit den Fachpersonen Vorstellungen, konnte nicht nachvollzie- Zimmermann betont in diesem Zusam- der Institution aufgebaut. Gemeinsam hen, weshalb wie entschieden wurde», so menhang, wie eminent die Wortwahl sei. werden Konzepte und Leitfäden für den Zimmermann. Oft ergeben sich ethische «Eine so genannte Fachgruppe Sucht ist Betrieb erstellt, massgeschneidert entwi- Konflikte und Diskussionen aus dem un- bestimmt nicht ratsam», sagt Zimmer- Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 ckelt. «Dies ist wichtig, damit die Umset- terschiedlichen Fachwissen und den per- mann. Damit konfrontierte Klientinnen zung hinterher keinen Mehraufwand be- sönlichen Haltungen des Personals. Nicht und Klienten würden schnell abblocken. deutet. Wir wollen Abläufe vereinfachen nur die Form der Ausbildung, sondern Man nenne sie deshalb «Fachgruppe Ge- und in den interdisziplinären Prozess des auch, in welchem Jahrzehnt jemand diese sundheitsförderung» oder «Lebensquali- Betriebs einbeziehen», erklärt Zimmer- absolviert habe, in welchem Land, oder tät», um das Wohlergehen in den Fokus mann. «Durch den ganzen Prozess sensi- auch aus welcher Kultur jemand stamme, zu rücken und eine mögliche Stigmatisie- bilisieren und qualifizieren wir die Leute habe Einfluss auf die Haltung und den rung zu umgehen. derArbeitsgruppe und befähigen sie dazu, Umgang mit Suchtmittelmissbrauch. «In Zudem sei es wichtig, Suchterkran- anschliessend ihr Wissen an Mitarbeiten- der Arbeitsgruppe soll deshalb eine ge- kung und Suchtgefährdung sprachlich de weiterzugeben.» Wichtig sei deshalb meinsame Kultur entstehen», sagt Heidi zu unterscheiden. Riskanter Konsum von 16
Alkohol und vermehrte Einnahme von dass ältere Menschen auf fachliche Be- nen und Schauspieler heikle Situationen Schmerz- oder Beruhigungsmitteln sind handlung anders und noch besser anspre- darstellten und Reaktionen der Mitarbei- in einer schwierigen Zeit wie dem Heim- chen als jüngere und ihre Lebensqualität tenden abholten, ist ihm prägend in Er- eintritt, Weihnachten oder dem Tod von dadurch steigt. Diese betrieblichen Pro- innerung geblieben. Einiges aus der Zeit Nahestehenden bei Bewohnerinnen und zesse fördern die Gesundheitskompetenz werde noch heute weiterentwickelt – ge- Bewohnern eher sichtbar. In einer sol- von Einzelnen und von Teams. rade die Anwendung von komplemen- chen schwierigen Zeit sei eine eingehende tärmedizinischer Behandlungspflege im Pflegeanamnese sinnvoll. «Es ist wichtig, Nachhaltiger Weg Rahmen der Früherkennung und Früh- sich die Zeit dafür zu nehmen, einen Men- Das Team desAlterszentrums Gibeleich in intervention von Beschwerdebildern wie schen mit seinen Ressourcen und Risiken Glattbrugg hat die Weiterbildung in sehr beispielsweise Schlafstörungen, Verdau- wahrzunehmen», so Zimmermann. Dazu positiver Erinnerung. Der Leiter des Al- ungsbeschwerden, Husten, Schmerzen. gehört, dass man die Haltung einer Per- terszentrums, Adrian Burri, bezeichnet Die entwickelten Fragenkataloge für son kennt, ihre Sorgen, Gewohnheiten, den Prozess als «Win-win-Situation». Die die Mitarbeitenden und die schriftliche Bewältigungsstrategien, Wünsche und Arbeitsgruppe habe die Möglichkeit ge- Selbsteinschätzung der Klientinnen und Interessen. Dieses Wissen hilft Fachper- habt, sich richtig darauf einzulassen, mal Klienten beim Eintritt hätten sich mehr sonen, körperliche, soziale und emotiona- eine Schlaufe zu machen, Instrumente zu als bewährt. le Veränderungen bei Betroffenen klarer entwickeln und zu ergänzen. Er beobachte immer wieder Fortschrit- wahrzunehmen. Meistens bringen neue Weiterbildungen in Alterszentren te und eine erhöhte Lebensqualität bei Bewohnerinnen und Bewohner bei Ein- seien stets Thema, «denn das Alter ist Personen, die mit einer Abhängigkeit ge- tritt in ein Heim auch mehrere Medika- hochkomplex und wird oft unterschätzt», lebt hatten. Denn oft sei die Selbstkontrol- mente mit. Zimmermann erzählt: «Ist das so Burri. Die grossen Herausforderun- le durch Rauschzustände eingeschränkt Pflegefachpersonal informiert, wird eher veranlasst, dass die Medikamente durch Weiterbildungen in Alterszentren sind stets Thema, denn die Apotheke oder die internen Heimärzte überprüft werden.» das Alter ist hochkomplex und wird oft unterschätzt. Es sei auch wichtig, ein sensibles dia- gnostischesAuge zu entwickeln,wenn sich gen – durch die Veränderung der Physio- gewesen, auch die Interaktion mit ande- jemand verändere, zum Beispiel schläfrig, logie, durch Krankheiten, Medikamente ren Menschen durch Schlaf- und Beru- fahrig wirke oder unsicher gehe. Dazu ge- und Sucht – seien in seinem beruflichen higungsmittel. Instrumente zu haben, die höre neben gerontologischem und medi- Alltag stets präsent. Über eineinhalb Alternativen bieten und den Weg weg da- zinischem Fachwissen auch der Einsatz Jahre wurde hier in der Präventions-Pro- von vereinfachen, sei äusserst wichtig, so Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 eines Erfassungsbogens. Dieser unter- jektgruppe gearbeitet. Das sei jetzt schon Zimmermann. «Ich sehe, dass Menschen stützt die Früherfassung von Symptomen eine Weile her, dass sie die Leitbilder dadurch Würde zurückbekommen.» und den weiteren Begleitungsprozess. überarbeitet und Prozessabläufe erstellt «So, dass medikamentöse Nebenwirkun- hätten. Doch gerade mit der Distanz sehe n gen oder Missbrauch von Suchtmitteln er, wie nachhaltig der Prozess gewesen von anderen Krankheiten mit ganz ähn- sei. «Nach wie vor nehme ich unsere Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und Theaterschaffende. lichen Symptomen wie Depression, Ent- Mitarbeitenden spürbar sensibilisiert gleisung einer Diabetes oder einer de- für das Thema wahr», sagt er. Besonders mentiellen Entwicklung unterschieden die Arbeit mit dem Forumtheater als Teil werden können.» Forschungen zeigen, einer Weiterbildung, wo Schauspielerin- 17
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