Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...

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Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
laut&leise
Magazin der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich
Nr. 2, Juli 2020, erscheint dreimal jährlich

Schlaf- und
Beruhigungsmittel

Sucht beginnt im Alltag.
Prävention auch.
Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
Zu schön, um wahr zu sein
Nach und nach realisierte die Illustratorin Nadja Baltensweiler, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel für viele Menschen
zum Alltag gehören, nicht nur für den Schlaf, sondern auch um den stressigen Arbeitsalltag zu überstehen, Prüfungen
zu absolvieren oder um sich zu entspannen. Benzos und Z-Medikamente scheinen regelrechte Wundermittel zu sein. Doch
sie haben eine äusserst dunkle Seite: Sie machen sehr schnell abhängig. Diese Kombination von hilfreich und gefährlich
bringen die Schwarzweiss-Illustrationen zum Ausdruck. (www.nadjabaltensweiler.ch)
Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
Editorial

                                          Liebe Leserinnen und Leser
                                                               Die Rolling Stones besangen sie be-                       zu befreien. Der langsame Entzug ist sehr zu empfehlen,
                                                               reits 1965 zynisch als «Mother’s little                   denn er resultiert langfristig häufig in einer Verbesserung
                                                               helper» («Mother needs something                          der körperlichen und mentalen Lebensqualität.
                                                               today to calm her down. And though                           Ein neues Phänomen beschreibt der Journalist Gabriel
                                                               she’s not really ill, there’s a little                    Brönnimann. Jugendliche konsumieren Beruhigungsmit-
                                                               yellow pill. (…) Doctor please, some                      tel als Rauschmittel. Werden die Medikamente zusammen
                                                               more of these.») Der heutige Umgang
                                                               ist sicher nicht mehr vergleichbar mit                    Eine zentrale Aufgabe unserer Fachstelle ist, Aktuel-
                                                               demjenigen der damaligen Wunder-                          les über Suchtmittel und Suchtverhalten in Erfahrung
                                          pillen in den 60er-Jahren.Auch werden – im Gegensatz zur                       zu bringen, zu überprüfen und gesichertes Wissen
                                          anfänglichen Euphorie – Benzodiazepine und Z-Substan-                          an Fachleute und an die breite Bevölkerung weiterzu-
                                          zen deutlich differenzierter betrachtet. Trotzdem warnt                        geben. Wer informiert ist, kann handeln.
                                          die Psychiaterin Dr. med. Bernadette Ruhwinkel eindring-
                                          lich, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel ausschliesslich                       mit anderen Drogen eingenommen, entsteht daraus eine
                                          bei einer akuten Krise verschrieben werden sollen. Sie                         explosive Mischung, die gar tödlich enden kann.
                                          betont in aller Deutlichkeit, dass ein Schlafmittel nur ein                       Eine zentrale Aufgabe unserer Fachstelle und aller wei-
                                          Krisenmedikament ist. Bei einer regelmässigen Einnahme                         teren Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich ist,
                                          kann bereits nach vier Wochen eine Medikamentenab-                             Aktuelles über Suchtmittel und Suchtverhalten in Erfah-
                                          hängigkeit entstehen.                                                          rung zu bringen, zu überprüfen und gesichertesWissen an
                                             Die Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittel-                      Fachleute und an die breite Bevölkerung weiterzugeben.
                                          missbrauchs (ZFPS) sensibilisiert seit Jahren u. a. sowohl                     Wer informiert ist, kann handeln, sei es als Ärztin, Alten-
                                          Ärztinnen und Ärzte als auch Verantwortliche und Pflege-                        pflegerin, Lehrer oder als Privatperson.
                                          personal in Alters- und Pflegeheimen sowie Spitexdienste
                                          für die Gefahren von Schlaf- und Beruhigungsmitteln und                        n
                                          informiert über wirkungsvolle und bewährte Alternati-
                                                                                                                         Domenic Schnoz, Leiter Zürcher Fachstelle zur Prävention
                                          ven. Wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass es auch älte-                      des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS).
                                          ren Menschen gelingt, sich von der Medikamentensucht

                                              Impressum
                                              Herausgeber: Die Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich
                                              Zuschriften: info@suchtpraevention-zh.ch. Redaktions- und Produktions-              Inhalt
                                              leitung: Brigitte Müller, muellertext.ch. Redaktionsteam:                      4    Meldungen
                                              Larissa Hauser, Gabriela Hofer, Domenic Schnoz (Vorsitz), Esther Vogler.
                                              Redaktion Meldungen aus der Suchtprävention: Annett Niklaus, Maja              7    Verschlafene Deals
                                              Sidler. Mitarbeiter/innen dieser Nummer: Jana Avanzini, Gabriel                     Essay
                                              Brönnimann, Bernadette Ruhwinkel, Markus Tschannen. Illustrationen:
                                              Nadja Baltensweiler. Gestaltung: Fabian Brunner. Druck: FO-Fotorotar.
                                                                                                                             8    Die Suche nach der Wunderpille
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                              Abonnement, Adressänderung: www.suchtpraevention-zh.ch >                            60 Jahre Schlaf- und Beruhigungsmittel
                                              Publikationen > laut&leise                                                     12   Gut schlafen können, aber wie?
                                              Die Beiträge und die Fotos in diesem «laut & leise» geben die Meinung               Interview mit Dr. med. Bernadette Ruhwinkel
                                              der Autorinnen und Autoren wieder. Diese muss nicht mit der Meinung
                                              des Herausgebers, der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich,            15   Weniger Mittel, mehr Würde
                                              übereinstimmen.                                                                     Suchtprävention im Alter
                                              Artikel, Fotos, Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und             19 Beruhigungsmittel als Partydroge
                                              dürfen ohne Genehmigung der Redaktion nicht verwendet werden. Falls               Jugendliche
                                              Sie Interesse an einem Artikel haben: Anfrage bitte an Annett Niklaus
                                              (annett.niklaus@uzh.ch).

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Meldungen

                                                                                               In eigener Sache
                                                                                               «laut & leise» abonnieren
                                                                                               Unser Magazin erscheint dreimal
                                                                                               jährlich und ist jeweils einem
                                                                                               Schwerpunktthema gewidmet.
                                                                                               Bleiben Sie stets auf dem Laufenden
                                                                                               in Sachen Suchtprävention
                                                                                               im Kanton Zürich – abonnieren
                                                                                               Sie das «laut & leise».
                                                                                               Abo unter:
                                                                                               www.suchtpraevention-zh.ch >
                                                                                               Publikationen > Magazin laut&leise

                                                                                              Volksschulen
                                                                                              Angebote der PH Zürich
                                                                                              Sie möchten sich an Ihrer Schule für
                                                                                              Prävention und Gesundheitsförderung
                                                                                              stark machen und haben Interesse an
Freelance für Schulen                                                                         Bildung für Nachhaltige Entwicklung
                                                                                              (BNE)? Die Weiterbildung «Unterwegs
Contest und Materialien                                                                       zur gesunden und nachhaltigen Schule»
                                                                                              startet am 4. September 2020 an der PH
                                                                                              Zürich und bildet Sie zur Kontaktperson
Freelance ist ein umfassendes Prä-        sen zu Risiko- und Konsumverhalten.                 für Gesundheitsförderung und BNE
ventionsprogramm für Schulen der          Die Themen sind spielerisch aufbe-                  aus. Sie richtet sich an Lehrpersonen
Sek I. Alle drei Jahre gehört auch ein    reitet. Wegen der Corona-Pandemie                   der Volksschule und weitere Mitarbei-
Plakatwettbewerb dazu. Dabei kreieren     wurden für den Fernunterricht sämt-                 tende im Schulfeld (vorzugsweise im
Jugendliche Präventionsbotschaften für    liche Arbeitsblätter als interaktive                Rahmen der Mitgliedschaft im Schul-
Gleichaltrige. Bei der Gestaltung findet   PDFs zur Verfügung gestellt. Nach                   netz21). Der Kurstag «Grundlagen zu
eine aktive Auseinandersetzung mit        der Aufnahme des regulären Unter-                   Bildung für Nachhaltige Entwicklung»
dem eigenen Suchtmittelkonsum statt.      richts in den Schulen können diese                  steht auch bisherigen Kontaktpersonen
Am diesjährigen Contest wurden digita-    Arbeitsblätter für die direkte Bearbei-             sowie interessierten Steuergruppenmit-
le Medien, Tabak, Alkohol und Cannabis    tung am Computer genutzt werden.                    gliedern von Netzwerkschulen offen.
                                                                                                                                                   Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

thematisiert. Dabei sind kreative Prä-       Im Kanton Zürich beraten und                        Ausserdem findet die Tagung Gesund-
ventionsbotschaften entstanden. Eine      begleiten die regionalen Suchtprä-                  heit mit dem aktuellen Thema «Schule
Auswahl dieser Plakate kann nun bei       ventionsstellen (RSPS) Schulen,                     positiv gestalten» am 12. September an
uns kostenlos bestellt werden (nur ZH).   die an der Umsetzung von Free-                      der PH Zürich statt. Die Tagung beleuch-
   Neben dem Wettbewerb bietet            lance interessiert sind. Die Adres-                 tet positive und ressourcenorientierte
Freelance umfassendes, flexibel ein-       sen der RSPS sind auf der Rück-                     Zugänge zur Schule und speziell zur
setzbares Unterrichtsmaterial zur         seite dieses Magazins zu finden.                     Mitarbeitenden-Gesundheit. (PHZH)
Suchtprävention und zur Förderung der     Arbeitsblätter: be-freelance.net                    Weiterbildung: phzh.ch/weiterbildungssuche, im
Medienkompetenzen. Das Programm           Plakate: suchtpraevention-zh.ch > Publikationen >   Suchfeld Kurstitel eingeben.
basiert auf den neusten Erkenntnis-       Kampagnenmaterial > Freelance                       Tagung: phzh.ch/tagungen

                                                                                                                                               4
Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
Spielsucht                                                                        Kontaktlehrperson Sek II
                                          Kampagne zu Online-Casinos                                                        Lehrgang des MBA
                                                                               Wegen der Corona-Pandemie                    Lehrpersonen der Sekundarstufe II können einen zwei-
                                                                               mussten die Casinos ihre                     jährigen Zertifikatslehrgang zur Kontaktlehrperson
                                                                               Türen schliessen. Darum                      Suchtprävention und Gesundheitsförderung absolvieren.
                                                                               wurden Online-Casinos ver-                   Dieser wird von der Fachstelle Suchtprävention MBA
                                                                               mehrt beworben. Dies birgt                   angeboten. Der nächste Lehrgang startet im September
                                                                               die Gefahr, dass Gefährde-                   2020. Er richtet sich an Lehrpersonen, welche Themen
                                                                               te häufiger online spielen.                   der Gesundheitsförderung an ihrer Schule initiieren und
                                                                               Auch bisher nicht gefähr-                    etablieren wollen. Durch den praxisorientierten Lehrgang
                                          dete Personen wurden während des Lockdowns auf der Suche                          werden die dafür nötigen Zusatzqualifikationen erworben.
                                          nach Unterhaltungsmöglichkeiten zu potenziellen Kunden.                              Zudem findet am 27. Oktober ein Erfahrungstreffen
                                          Als Gegenmassnahme lancierte das Zentrum für Spielsucht                           für Kontaktlehrpersonen und Interessierte zum Thema
                                          und andere Verhaltenssüchte eine Google-Ads-Kampagne                              «Gesundheitsförderung im Fernunterricht» statt. Es
                                          zum Thema Online-Casino. Dies mit dem Ziel, das Selbsthilfe-                      werden Resultate aus Untersuchungen während der
                                          angebot www.safer-gambling.ch sowie die zugehörige App den                        Schulschliessung präsentiert. Zudem werden Workshops
                                          Spielenden und ihren Angehörigen bekannt zu machen.                               zu verschiedenen Aspekten der Medienkompetenz
                                             Der Kampagnenstart am 13. April zeigte schnell die gewünsch-                   durchgeführt. (MBA)
                                          te Wirkung und generierte mehr Besuche auf der Website. Die                       Kontakt: Dagmar Müller, Leiterin Prävention und Sicherheit,
                                          Kampagne läuft bis Juni 2020, weitere Kampagnenwellen sind                        dagmar.mueller@mba.zh.ch
                                          geplant. (Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte)                     Web: tinyurl.com/yac9yw5r

                                          Factsheet                                                     Mediennutzung                                    Medikamente
                                          Vorsicht vor synthetischen                                    Kleinkinder stärken                              Neue Übersetzungen
                                          Cannabinoiden                                                                     Für Eltern von                                    Der Flyer
                                                                 Aktuell werden auf dem                                     Kindern bis 4                                     «Medikamente
                                                                 Schwarzmarkt vermehrt                                      Jahre gibt es                                     bei Kindern
                                                                 Cannabisprodukte verkauft,                                 neu die Bro-                                      und Jugend-
                                                                 die mit synthetischen Canna-                               schüre «Kinder                                    lichen. Verant-
                                                                 binoiden behandelt wurden.                                 stärken». Der                                     wortungsvoller
                                                                 Für die Konsumierenden sind                                Flyer mit dem                                     Umgang im
                                                                 damit grosse Risiken verbun-                               Fokus Me-                                         Alltag» wur-
                                                                 den: Sie gehen von Krampfan-                               diennutzung                                       de in weitere
                                                                 fällen über Bewusstlosigkeit                               erklärt Eltern                                    Sprachen
                                                                                                        kurz und ansprechend, wie Babys                  übersetzt und ist neu in Chine-
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                                                 bis zum Tod. Ob ein Produkt
                                          mit künstlichen Cannabinoiden behandelt wurde,                und Kleinkinder in einer gesun-                  sisch, Italienisch, Polnisch und
                                          ist von blossem Auge nicht erkennbar. Deshalb                 den Entwicklung gestärkt werden                  Ungarisch verfügbar. Die Über-
                                          gilt es, bei einem allfälligen Konsum besondere               können. Er zeigt auf, wie sie an                 setzungen wurden von der FISP
                                          Regeln zu beachten. Alle wichtigen Informationen              den Medienkonsum herangeführt                    (Fachstelle für interkulturelle
                                          haben wir auf einem Factsheet zusammengestellt.               werden können, welche Medien                     Suchtprävention) koordiniert.
                                          Damit können Sie Cannabiskonsumierende für                    dabei geeignet sind und wo Zu-                   Die neuen Flyer können als PDF
                                          einen risikoarmen Konsum sensibilisieren. (EBPI)              rückhaltung angesagt ist. (EBPI)                 heruntergeladen werden. (FISP)
                                          Download Factsheet: suchtpraevention-zh.ch > Abhängig von >   Bestellen und Downloaden: gesundheitsfoer-       Download: suchtpraevention-zh.ch >
                                          Cannabis                                                      derung-zh.ch/fokus-mediennutzung                 Publikationen > Informationsmaterial > Familie

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Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
Essay

                                          Verschlafene Deals

                                          I
                                             ch schlafe gut. Sehr gut sogar. Bis       Reglos, komplett still. Drehte ich mich        Monster und trotzdem wach. Wie damals,
                                             vor sechs Jahren war ich dafür weder      früher im Bett von Seite zu Seite wie der      als wir zwei Monate lang immer zwischen
                                             dankbar, noch habe ich gross darüber      Schiedsrichter eines Tennisspiels, wache       drei und vier Uhr morgens Duplo spiel-
                                          nachgedacht. Dann kam mein erstes Kind       ich heute exakt so auf, wie ich mich gebet-    ten. Der Brecht litt nach den Ferien unter
                                          zur Welt und lehrte mich den Wert des        tet hatte. Auf dem Rücken mit Blick auf das    Jetlag.
                                          Schlafes.                                    monotone Blinken des Rauchmelders.                Mehrere Jahre verhandelten wir aus-
                                             Bevor die Kinder da waren, konnte ich        Trotz verhältnismässig angenehmen           serdem, wer wo schläft. Die Kinder sollten
                                          mir das nicht vorstellen: Wie grausam es     kindlichen Schläfern habe ich in den           das Elternbett verlassen. Doch ich unter-
                                          sich anfühlt, einfach nur schlafen zu wol-   letzten sechs Jahren nachts mehr erlebt        lag in den Verhandlungen so oft, dass ich
                                          len, es aber nicht zu können. Jetzt kenne    als in meinen wildesten Partyjahren. Ich       den beiden irgendwann völlig erschöpft
                                          ich das zumindest teilweise, es gab in den   habe gesehen, wie Menschen neben mir           eine Vollmacht unterzeichnete: Sie dür-
                                          ersten Babymonaten ein paar anstren-         im Bett sämtliche Körperflüssigkeiten ver-      fen für immer in meinem Bett schlafen.
                                                                                                                                      In «meinem», weil meine Frau es ob der
                                          Trotz verhältnismässig angenehmen kindlichen Schläfern habe                                 nächtlichen Ruhestörungen bereits ver-
                                                                                                                                      lassen hatte. Im Gegensatz zu mir wacht
                                          ich in den letzten sechs Jahren nachts mehr erlebt als in meinen                            sie selbst von leisen Geräuschen auf und
                                          wildesten Partyjahren.                                                                      findet schlecht wieder in den Schlaf. Da
                                                                                                                                      hat Beebers das also her. Die Frau zog ins
                                          gende Nächte. Aber bitte kein Mitleid. Ich   loren. Also ich rede von der Zeit mit den      Gästezimmer, Beebers blieb.
                                          jammere auf allerhöchstem Niveau, denn       Kindern, nicht von den Partyjahren. Ich           Wir sagen jeweils halb im Scherz:
                                          der Brecht entwickelte sich rasch eben-      habe öfter, als mir lieb ist, um Mitternacht   «Tagsüber sind wir glücklich verheiratet
                                          falls zum guten Schläfer. So taten wir,      Betten frisch bezogen, Decken gewaschen,       und führen eine gleichberechtigte Ehe.
                                          was Menschen immer tun, wenn sie ein         gebadet – mich, die Kinder, Gegenstände.       In der Nacht bin ich geschieden und al-
                                          Problem überwunden haben: Sie schaf-         Ich habe Geschichten gehört, von Mons-         leinerziehend.» Das ist bei meinem guten
                                          fen sich ein neues Problem. Unseres heisst   tern unterm Bett, hinter der Tür, im Klei-     Schlaf nur gerecht: Wenn ich der Frau
                                          Beebers und ist jetzt neun Monate alt.       derschrank, im Nachttischchen oder im          schon nicht die Marder, Katzen, Füchse
                                             Beebers als Problemschläfer zu be-        Lampenschirm. Manchmal kriegte ich             und den Holzwurm abnehmen kann, dann
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                          zeichnen, wäre allerdings auch falsch. Er    dabei selberAngst. Ich habe getröstet, Trä-    wenigstens die Kinder.
                                          kommt bis zu neun Stunden ohne Milch         nen getrocknet, salzige Bäckchen geküsst.
                                          aus und schlief ab Geburt durch. Zumin-      Wir haben Geräusche gesucht, trampeln-         n
                                          dest in manchen Nächten, während er uns      de Marder, jaulende Katzen und streiten-
                                          die anderen arg zerstückelte. Zwar weckt     de Füchse verscheucht. Das gefährlichste       Markus Tschannen ist Papablogger, Kolumnist und
                                                                                                                                      Vater von Beebers (9 Monate) und dem Brecht (6).
                                          ihn nicht der Hunger, aber ich tu es: Be-    Monster, das wir gefunden haben, war ein
                                                                                                                                      Er twittert unter dem Namen @souslik.
                                          ebers wird wach, wenn ich mich bewege,       Holzwurm. Die Angst war unbegründet:
                                          wenn ich atme oder sobald ich an etwas       Es wird noch etwa zehn Jahre dauern, bis
                                          Lautes denke. Ich habe in den letzten        er den Deckenbalken durchgebissen hat.
                                          Monaten gelernt, völlig neu zu schlafen.     Andere Nächte verbrachten wir ohne

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Laut&leise - Schlaf- und Beruhigungsmittel Sucht beginnt im Alltag. Prävention auch - Prävention und Gesundheitsförderung Kanton ...
60 Jahre Schlaf- und Beruhigungsmittel

Die Suche nach
der Wunderpille

Seit rund 60 Jahren werden Benzodiazepine gegen allerlei Beschwerden verschrieben. Anfänglich als
nebenwirkungsarm gepriesen, kamen nach und nach auch Schattenseiten dieser Medikamente zum Vorschein.
Von Domenic Schnoz

I
   n der Nacht vom 4. auf den 5. August     sowohl angstlösende und beruhigende als         tischen und muskulären Störungen und
   1962 starb Norma Jean Baker, besser      auch krampflösende und muskelentspan-            wurden zur gesellschaftlichen Wunder-
   bekannt als Marilyn Monroe, in ihrem     nende Eigenschaften auf. Innerhalb weni-        pille bei Ängstlichkeit, Niedergeschlagen-
Bett in Los Angeles. Die Obduktion ergab,   ger Jahre erschienen weitere Benzos und         heit, Schlafproblemen oder Unruhe. Die
dass eine Überdosis von zwei damals ge-     lösten die bis anhin verwendeten Sedativa       Rolling Stones besangen sie bereits 1965
bräuchlichen Schlafmitteln die Ursache      weitgehend ab. Dies ist als Fortschritt zu      zynisch als «Mother’ little helper». Etwa
war. Sogenannte Barbiturate und Chloral-    würdigen, da dadurch die Zahl der Todes-        um die gleiche Zeit wurde vermehrt von
hydrat zählten damals zu den Standard-      fälle durch gewollte oder ungewollte Ver-       Abhängigkeitssymptomen bei Patient*in-
medikamenten unter den Schlaf- und          giftungen massiv gesenkt werden konnte.         nen berichtet.
Beruhigungsmitteln (Sedativa). Leider       Auch in der Psychiatrie brachten sie viele         Über die Jahre hinweg erschienen zu-
waren diese heikel in der Anwendung,        Vorteile, weil sie sich relativ sicher in der   nehmend Studien, die weitere Neben-
da sie schnell zum Tod führten, wenn sie    Anwendung zeigten und die therapeuti-           wirkungen von Benzodiazepinen fanden.
                                                                                            Neben dem hohen Abhängigkeitsrisiko
                                                                                            sind die Beeinträchtigung der kognitiven
Gemäss dem Schweizer Suchtmonitoring nennen über 80%
                                                                                            Fähigkeiten, insbesondere der Gedächt-
der Konsument*innen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln                                      nisleistung, sowie das erhöhte Risiko für
«Einschlaf- oder Schlafprobleme» als Grund, gefolgt von knapp                               Stürze besonders gut dokumentiert. In
                                                                                            der wissenschaftlichen Literatur finden
60%, die sie «zur Beruhigung» einnehmen.
                                                                                            sich zahlreiche weitere Verbindungen zu
                                                                                            möglichen Nebenwirkungen, die von De-
überdosiert wurden. Auch die Kombina-       schen Einsatzmöglichkeiten viel breiter         menz bis hin zu erhöhtem Mortalitätsri-
tion mit weiteren Substanzen, insbeson-     waren. Das bekannteste Medikament aus           siko reichen. Ob es sich dabei um direkte
dere Alkohol, barg sehr grosse Risiken.     der Stoffgruppe der Benzodiazepine ist          Folgen des Konsums oder lediglich um
Darüber hinaus machten die Medikamen-       vermutlich Diazepam, besser bekannt             ein gleichzeitiges Auftreten durch andere
te schnell abhängig und die Bandbreite      unter dem Handelsnamen Valium. Bereits          Gründe handelt, bleibt bislang unklar.
der therapeutischen Anwendung in der        fünf Jahre nach seiner Einführung war es
Psychiatrie war sehr begrenzt.              ab 1968 bis 1987 das weltweit am meisten        Déjà-vu
                                            verkaufte Medikament überhaupt.                 Dass Benzodiazepine ein Missbrauchs-
Die Geburtsstunde der Wunderpille                                                           potenzial aufweisen, stark abhängig ma-
                                                                                                                                         Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

Entsprechend gross war die Hoffnung,        Unterschätzte Nebenwirkungen                    chen können und gerade im Alter teilwei-
als Anfang der 1960er ein neues Medika-     Anfänglich schienen Benzodiazepi-               se Tagesschläfrigkeit verursachen, war in
ment eingeführt wurde, mit welchem die      ne kaum negative Effekte aufzuweisen            den 80er-Jahren schliesslich weitgehend
gefährlichen Nebenwirkungen der bis-        und wurden entsprechend als neben-              unbestritten. Umso grösser war die Hoff-
herigen Sedativa der Vergangenheit an-      wirkungsarm gepriesen. Bald wurden              nung Anfang der 90er-Jahre, als eine neue
gehören sollten. Librium war das erste      sie nicht nur in der Psychiatrie und der        Stoffgruppe eingeführt wurde, die wiede-
Medikament der Gruppe der Benzodiaze-       Neurologie verwendet, sondern auch der          rum Abhilfe versprach. Diese Medika-
pine (umgangssprachlich oft als «Benzos»    Allgemeinbevölkerung zunehmend ver-             mente wurden häufig als Z-Substanzen
bezeichnet) und überraschte die Fachwelt    schrieben. Sie erfreuten sich grosser Be-       bezeichnet, da ihre Wirkstoffnamen mit
durch sein breites Wirkspektrum. Es wies    liebtheit bei emotionellen, psychosoma-         dem Schlussbuchstaben des Alphabets

                                                                                                                                    8
begannen Zopiclon, Zolpidem oder Zale-          Gemäss dem Schweizer Suchtmonito-          werden soll. Aufgrund der ernsten Neben-
                                          plon. Z-Substanzen wirken beruhigend         ring nennen über 80% der Konsument*in-        wirkungen ist jedoch gerade bei älteren
                                          und schlaffördernd, eignen sich aber         nen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln        Patient*innen vom Einsatz von BZ als
                                          weniger als muskelentspannende, angst-       «Einschlaf- oder Schlafprobleme» als          Schlafmittel erster Wahl stark abzuraten.
                                          lösende und krampflösende Mittel. Sie         Grund, gefolgt von knapp 60%, die sie «zur    Dies empfiehlt auch die Schweizerische
                                                                                                                                     Fachgesellschaft für Geriatrie, da grosse
                                          Schaut man sich die Altersverteilung an, fällt bei den Benzodia-                           Studien immer wieder zeigten, «dass sich
                                                                                                                                     das Risiko für Verkehrsunfälle, Stürze
                                          zepinen und Z-Substanzen auf, dass ihre Verschreibung mit dem
                                                                                                                                     und Hüftfrakturen sowie für Hospitali-
                                          Alter stark zunimmt.                                                                       sierungen oder Tod bei älteren Menschen
                                                                                                                                     mehr als verdoppeln kann, wenn Benzo-
                                          werden folglich hauptsächlich als Schlaf-    Beruhigung» einnehmen (Mehrfachnen-           diazepine oder andere Beruhigungs- oder
                                          mittel eingesetzt. Mit Z-Substanzen wollte   nungen möglich). Schaut man sich die Al-      Schlafmittel verordnet werden.»
                                          man die Benzodiazepine bei Schlafproble-     tersverteilung an, fällt bei den Benzodia-
                                          men ablösen, und zwar ohne Abhängigkeit      zepinen und Z-Substanzen (im Folgenden        Hoher Konsum von BZ in der Schweiz
                                          und Wirkungsverlust.                         BZ genannt) auf, dass ihre Verschreibung         Obwohl BZ nur sehr zurückhaltend als
                                             Einweiteres Problem bei den Benzodia-     mit dem Alter stark zunimmt. So schluck-      Schlafmittel verschrieben werden sollten
                                          zepinen war nämlich, dass sich der Körper    ten in der Schweiz 2016 in den letzten 30     und wenn nicht länger als vier Wochen,
                                          bei häufiger Einnahme daran gewöhn-           Tagen nur 1,8% der 15- bis 19-Jährigen        konsumiert etwa die Hälfte der Personen,
                                          te und die Dosis erhöht werden musste,       Schlaf- und Beruhigungsmittel, aber be-       die angeben in den letzten 30Tagen Schlaf-
                                          um die gleiche Wirkung zu erzielen. Die      reits 7,8% der 45- bis 54-Jährigen und gan-   oder Beruhigungsmittel eingenommen zu
                                          Z-Medikamente versprachen hierAbhilfe,       ze 18,4% der über 74-Jährigen. Dabei sind     haben, diese seit mindestens einem Jahr
                                          da sie angeblich keine Toleranz erzeugten,   die Frauen in allenAlterskategorien über-     täglich oder fast täglich.Wird dies hochge-
                                          sich der Körper also nicht daran gewöhnt.    vertreten. Sie konsumieren Schlaf- und        rechnet auf die Schweizer Bevölkerung ab
                                          Leider erwies sich dies über die Jahre als   Beruhigungsmittel fast doppelt so häufig       15 Jahren, ergeben sich daraus ungefähr
                                          Irrtum, denn spätere Studien zeigten,        wie Männer.                                   200 000 Personen mit einer problemati-
                                          dass die Toleranz auch bei den Z-Subs-          Der Hauptgrund für diese Zunahme           schen Einnahme. Die Zahl ist also durch-
                                          tanzen zunimmt und sie abhängig machen       liegt wohl in der Veränderung des Schlafs     aus beachtlich. Wieso wird dies nicht ver-
                                          können.                                      beim Älterwerden. In der Regel wird der       mehrt diskutiert? Dafür werden häufig
                                             Nichtsdestotrotz bieten sie einige        Schlaf oberflächlicher und ist häufiger         zwei Erklärungsansätze herangezogen:
                                          Vorteile, da sie in der Regel weniger lang   durch Unterbrüche gekennzeichnet. Dies        Erstens ähneln die Nebenwirkungen der
                                          wirken, was u. a. die Wahrscheinlich-
                                          keit des sogenannten Hangover-Effekts
                                                                                       Die Schweiz zählt zirka 200 000 Personen ab 15 Jahren mit einer
                                          verkleinert. Als solcher wird das Phäno-
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                          men beschrieben, dass sich die Wirkung       problematischen Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln.
                                          von Schlafmitteln auch am nächsten Tag
                                          noch bemerkbar macht, weil der Körper        ist ein natürlicher biologischer Prozess      BZ den gängigen Alterserscheinungen wie
                                          sie nur langsam abbaut. Dadurch können       und nicht per se eine Schlafstörung. Auf-     beispielsweise Abnahme des Gedächtnis-
                                          sie zum Beispiel Tageschläfrigkeit, Kon-     grund mangelnder Aufklärung oder auch         ses, Tagesschläfrigkeit, Gangunsicher-
                                          zentrationsstörungen oder Gangunsicher-      einer gesellschaftlich normierten Vorstel-    heit. Eine Beurteilung, ob diese Symptome
                                          heit hervorgerufen werden. Mittlerweile      lung darüber, was ein gesunder Schlaf ist,    auf die Medikamente oder «aufs Alter» zu-
                                          gehören in der Schweiz etwas mehr als        ist dies abervielen älteren Menschen nicht    rückzuführen sind, ist deshalb schwierig.
                                          die Hälfte der konsumierten Schlaf- und      bewusst. Schnell ist daher der Gang in die    Zweitens nehmen viele Konsument*innen
                                          Beruhigungsmittel den Z-Substanzen an.       Arztpraxis getätigt, wo Abhilfe verschafft    auch über Jahre immer die gleiche Dosis

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Bei moderaten Schlafproblemen helfen aber häufig bereits
die Informationen zu den biologisch bedingten Veränderungen
des Schlafs, die mit dem Älterwerden einhergehen, und schlaf-
hygienische Massnahmen.

ein. Typischerweise eine Tablette vor dem        Aufsummierung des Wirkstoffs im Blut        gleiche Zeit aufzustehen, sich tagsüber
Einschlafen. Diese Dosis wird nicht er-          kommen kann. Hinzu kommt, dass sich         körperlich genügend zu betätigen, keine
höht, da die Abgabe des Medikaments              das Verhältnis von Flüssigkeit und Fett-    schweren Mahlzeiten am Abend mehr ein-
ärztlich kontrolliert und über ein Rezept        anteil im älteren Körper ungünstig ver-     zunehmen und auf aufputschende Geträn-
erfolgt. Es ist daher nicht so einfach für den   ändert und Medikamente dadurch eine         ke in der zweiten Tageshälfte zuverzichten.
Konsumenten, die Konsumentin die Dosis           stärkere Wirkung haben können. Diese           Ob Marilyn Monroe den Medikamen-
eigenmächtig zu steigern, und dadurch            Kombination kann dazu führen, dass die      tencocktail überlebt hätte, hätte sie damals
fehlt ein wichtiges, leicht erkennbares Kri-     tägliche Medikamentendosis jeweils nicht    BZ anstelle von Barbituraten und Chloral-
terium für die Diagnose einer «Abhängig-         vollständig abgebaut wird. So kann sich     hydrat eingenommen, ist bis heute unklar.
keitserkrankung».                                im Extremfall über Monate und Jahre         Sicher ist, dass die modernen Behand-
                                                 eine Überdosierung des Wirkstoffs erge-     lungsmöglichkeiten von Schlafproblemen
Niedrigdosis-Abhängigkeit                        ben. Mehrere Studien zeigen ausserdem,      wirkungsvolle Alternativen bieten – auch
In der Fachwelt ist dieses Phänomen              dass bei Schlafproblemen eineVerhaltens-    ohne dass dadurch eine Abhängigkeit ent-
als «Niedrigdosis-Abhängigkeit» bekannt.         therapie gegenüber Schlafmitteln deutlich   stehen muss.
Die Risiken, welche eine solche mit sich         erfolgreicher ist.
bringt, sind umstritten. So berichten ei-                                                    n
nerseits immer wieder Ärzte davon, dass          Gut wirksame Alternativen
sie Patienten über viele Jahre die gleiche       Bei Schlafproblemen sollte zuerst eine      Domenic Schnoz ist Soziologe mit dem Schwerpunkt
                                                                                             Sucht, den er seit seiner Studienzeit aus verschiede-
Dosis verschreiben und diese keinerlei           sorgfältige Abklärung erfolgen. Dies kann
                                                                                             nen Blickwinkeln beleuchtet. Seit 2013 leitet er die
negative Auswirkungen mit sich brächten.         zum Beispiel in Institutionen geschehen,    Zürcher Fachstelle zur Prävention des Alkohol- und
Andererseits ist beispielsweise von Sucht-       die auf Schlafmedizin spezialisiert sind.   Medikamentenmissbrauchs. Sie wurde Anfang 2019
medizinern oder Alterspsychiatern zu             Bei moderaten Schlafproblemen helfen        um den Tabakbereich erweitert und tritt fortan unter
vernehmen, dass im Niedrigdosisbereich           aber häufig bereits die Informationen zu     dem Namen Zürcher Fachstelle zur Prävention des
                                                                                             Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS) auf.
typische Entzugserscheinungen auftre-            den biologisch bedingten Veränderun-
ten, wenn das Medikament abgesetzt wird.         gen des Schlafs, die mit dem Älterwer-
Diese ähneln oftmals den ursprünglichen          den einhergehen, und schlafhygienische
Gründen, weshalb die Medikamente über-           Massnahmen. Dazu gehört, immer um die
haupt erst verschrieben wurden: zum Bei-
spiel Schlafstörungen oder Unruhe. Da-
durch können sie leicht fehlinterpretiert         Angebote der Stellen für Suchtprävention
und als Begründung für die anhaltende             Die Stellen für Suchtprävention bieten     Zürcher Fachstelle zur Prävention des
Verschreibung dienen. Nicht zu unter-             verschiedene Fortbildungen und Re-         Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS) ist als
schätzen ist auch der hohe Druck auf die          ferate an zum Thema Benzodiazepine         Kompetenzzentrum zuständig für den
Ärzteschaft, den Patient*innen ausüben            und Z-Medikamente. Sie richten sich        Missbrauch von Benzodiazepinen und
können, wenn sie ihr liebgewonnenes Me-           an Fachpersonen aus dem pflegerischen       Z-Substanzen im Stellenverbund und
dikament nicht weiter verschrieben be-            und medizinischen Bereich, aber auch       betreibt ein sorgfältiges Wissensma-
kommen.                                           für die Allgemeinbevölkerung können        nagement über die aktuellen Ergebnisse
                                                                                                                                                     Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

   Als Folgeerscheinungen der Niedrigdo-          massgeschneiderte Vorträge oder Work-      aus Forschung und Praxis.
sis-Abhängigkeit werden vor allem kogni-          shops angeboten werden.                    Kostenlos erhältlich, auch als PDF zum
tive und gedächtnisspezifische Einschrän-             Des Weiteren unterstützen sie Ins-      Downloaden: suchtpravention-zh.ch >
kungen genannt – vereinzelt werden auch           titutionen wie Spitex oder Alters- und     Publikationen
Antriebsdefizite beschrieben. Ein weite-           Pflegeheime bei der Entwicklung von         • Prävention von riskantem Alkohol- und Medika-
res Problem stellt die Verlangsamung des          Konzepten zur Früherkennung und -in-
                                                                                             mentenkonsum beim Älterwerden. Ein Leitfaden.
                                                                                             • Schlaf- und Beruhigungsmittel. Abhängigkeit
Stoffwechsels dar, der mit dem Älterwer-          tervention bei Suchtproblemen und zur      vermeiden. In verschiedenen Sprachen erhältlich.
den einhergeht. Dadurch baut der Körper           Verringerung des Einsatzes von Benzo-      • Gut geschlafen? Was Sie bei Schlafproblemen
die Medikamente viel langsamer ab als             diazepinen und Z-Medikamenten. Die         tun können.
in jüngeren Jahren, wodurch es zu einer

                                                                                                                                                10
Dr. med. Bernadette Ruhwinkel

Gut schlafen können,
aber wie?
Während des Schlafens können Körper und Geist sich erholen. Was aber, wenn man nicht einschlafen kann oder morgens
wie gerädert aufwacht? Warum Schlafmittel keine Alternative sind, erklärt Bernadette Ruhwinkel in diesem Interview.
Von Brigitte Müller

laut & leise: Wie definieren Sie einen gu-      uns wach. Psychische Leiden wie Sucht-                  Jugend extrem schlimme Erfahrungen er-
ten Schlaf?                                    erkrankung, Depression oder ein Burn-                   leben mussten, konnten als Erwachsene
Bernadette Ruhwinkel: Gut geschlafen           out, aber auch schwere Träume oder wenn                 diese dramatischen Erlebnisse zumeist
hat, wer sich frisch und erholt fühlt, wenn    das Unterbewusste ständig schwierige                    über ein aktives Leben kompensieren,
er oder sie morgens aufwacht. Es ist ein       Themen verarbeiten muss, all das kann                   aber im Alter können sie die Erinnerun-
sehr subjektives Empfinden, das man im          Schlafprobleme verursachen. Körperli-                   gen dann zum Teil nicht mehr verdrän-
Schlaflabor nicht messen kann. Massge-          che Störungen wie Husten, Schnarchen                    gen. Wenn alle Möglichkeiten für einen
bend ist allein das selbst wahrgenommene       oder das Schlafapnoe-Syndrom verhin-                    besseren Schlaf nicht gefruchtet haben,
Befinden. Ein guter Schlaf ist auch nicht       dern ebenfalls einen erholsamen Schlaf.                 dann können für solche älteren Menschen
von der Dauer abhängig. Deshalb kann                                                                   Schlafmittel auch langfristig sinnvoll
jemand beispielsweise schon nach sechs         l & l: Wie verändert sich der Schlaf, wenn              sein.
Stunden Schlaf erholt aufwachen und an-        man älter wird?
dere müssen für dieselbe Erholung mehr         Ruhwinkel: Gesunde ältere Menschen                      l & l: Wie wird man von Schlafmitteln ab-
als acht Stunden schlafen.                     benötigen zumeist weniger Schlaf. Es ist                hängig?
                                               nicht natürlich, wenn ein 70-Jähriger län-              Ruhwinkel: Wer regelmässig über einen
l & l: Warum ist ein guter Schlaf für unsere   ger schläft, als er mit 40 Jahren schlief.              längeren Zeitraum diese Medikamente
Gesundheit so wichtig?                         Aus organischen Gründen müssen ältere                   einnimmt. Bei Benzodiazepinen kann eine
Ruhwinkel: Während wir schlafen, kann          Menschen nachts jedoch einige Male auf-                 Abhängigkeit je nach Patient schon nach
sich unser Körper und Geist erholen und        stehen und auf die Toilette gehen. Im Lie-              zwei, drei Wochen eintreten. Also sehr
entspannen. Wir kommen zur Ruhe und            gen arbeitet die Niere besser, die Beine                schnell. Dies ist auch der Grund, warum
unser Unterbewusstsein kann die tägli-
chen Erlebnisse verarbeiten.                   Ein Schlafmittel ist – und dies betone ich in aller
l & l: Was bezeichnen Sie als Schlafprob-      Deutlichkeit – nur ein Krisenmedikament.
lem und wer ist davon betroffen?
Ruhwinkel: Ein- und Durchschlafstö-            können sich entwässern, deshalb muss                    ich so dezidiert betone, dass Schlaf- und
rungen kennt jede Altersgruppe – vom           der Körper mehrWasser ausscheiden. Ge-                  Beruhigungsmittel nur für akute Krisen
Kleinkind bis zur Seniorin. Ein schlech-       nerell sollte man darauf achten, dass man               angewendet werden sollen, es also unbe-
ter Schlaf kann ohne Ausnahme jeden            tagsüber aktiv ist und erst zu Bett geht,               dingt erforderlich ist, so rasch als möglich
von uns treffen. Ein Schlafproblem hat,        wenn man wirklich müde ist. Eine kurze                  auf andere Mittel – zum Beispiel Antide-
wer schlecht einschlafen kann, obwohl er       Mittagsruhe von 30 Minuten bis maximal                  pressiva, die müde machen und keine Ab-
sich müde fühlt, oder wer immer wieder         einer Stunde empfehle ich eher Menschen                 hängigkeit erzeugen – und eine verbesser-
in der Nacht aufwacht oder nach dem not-       im hochbetagten Alter, wenn der Körper                  te Schlafhygiene umzustellen.
wendigen Toilettengang nicht wieder ein-       insgesamt schwächer geworden ist.
schlafen kann. Auch wenn man morgens                                                                   l & l: Gibt es bestimmte Personen, für die
wie gerädert aufwacht, sich nicht erholt       l & l: Wann ist es sinnvoll, ein Schlaf- und            Schlafmittel besonders riskant sind?
fühlt, obwohl man rechtzeitig ins Bett         Beruhigungsmittel* zu verschreiben?                     Ruhwinkel: Ja, ältere Menschen und alle
ging und durchgeschlafen hat, ist das ein      Ruhwinkel: Wenn eine akute Krise vor-                   mit chronischen Schlafproblemen, denn
                                                                                                                                                      Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

Schlafproblem.                                 handen ist. Ein Schlafmittel ist – und dies             es ist absehbar, dass sie auf dieses Me-
                                               betone ich in aller Deutlichkeit – nur ein              dikament längerfristig angewiesen sind.
l & l: Welche Gründe verursachen Schlaf-       Krisenmedikament. Es gibt eine Ausnah-                  Man kann ein chronisches Schlafprob-
störungen?                                     me, wenn Schlafmittel über längere Zeit                 lem nicht mit einem Schlafmittel lösen!
Ruhwinkel: Wer viele Probleme kennt, sei       eingenommen werden müssen. Ältere                       Eine Abhängigkeit von Schlafmitteln hat
es beruflich oder familiär, wer einem zu        Menschen, die in ihrer Kindheit und/oder                gravierende Folgen. Bei älteren Menschen
grossen Stress ausgesetzt ist oder jemand,                                                             kann die sogenannte Halbwertszeit, da-
der zu viel Alkohol trinkt, ist gefährdet.                                                             mit ist die Dauer gemeint, bis wann eine
                                               * Nachfolgend wird Schlafmittel als Oberbegriff ange-
Aber auch die Bildschirme von Fernse-          wendet. Damit sind Schlaf- und Beruhigungsmittel wie    Substanz zur Hälfte im Körper abgebaut
her, Smartphone oder Computer halten           Benzodiazepine und Z-Substanzen gemeint.                ist, sehr lange dauern. Mit Diazepam bei-

                                                                                                                                                12
spielsweise wird ein 80-Jähriger sogar        l & l: Können Sie uns einen Fall aus Ihrer      und Probleme, sodass eine Schlafstörung
                                          über Tage ruhiggestellt, denn die Halb-       Praxis beschreiben?                             bzw. das Einnehmen eines Schlafmittels
                                          wertszeit dieses Medikaments kann 200         Ruhwinkel: Gerne erzähle ich Ihnen das          in der Fülle der Probleme nicht mehr be-
                                          bis 400 Stunden dauern. Hingegen be-          Beispiel einer 90-jährigen Frau. Diese          achtet wird. Oder der Patient wechselt die
                                          trägt die Halbwertszeit bei einem kurz        hatte mit 85 ihren Mann verloren, was           Ärztin und sucht sich eine andere Bezugs-
                                                                                                                                        quelle, wenn er von ihr auf seine Medika-
                                          Man kann ein chronisches Schlafproblem nicht mit einem                                        mentenabhängigkeit angesprochen wird.
                                                                                                                                        Das Problem ist vielschichtig und nicht so
                                          Schlafmittel lösen! Eine Abhängigkeit von Schlafmitteln hat                                   einfach zu lösen.
                                          gravierende Folgen.
                                                                                                                                        l & l: Werden Patienten genügend über die
                                          wirksamen Mittel nur bis zu acht Stunden.     die Frau in eine grosse Trauer stürzte.         Auswirkungen und Folgen einer zu langen
                                          Durch ein Beruhigungsmittel werden zu-        Deshalb erhielt sie Diazepam von ihrem          Einnahme aufgeklärt?
                                          dem die Muskeln so entspannt, dass die        Hausarzt verschrieben. Die Frau gewöhn-         Ruhwinkel: Ich denke Ja. Aber wenn ein
                                          Gefahr eines Sturzes deutlich steigt. Auch    te sich daran, das Medikament alle zwei         Patient wegen einer akuten Krise ein
                                          das Gehirn wird so gedämpft, dass das Ge-     bis drei Tage einzunehmen. In der Folge         Schlafmittel verschrieben erhält, wird
                                          dächtnis geschwächt wird.                     hatte sie starke Blutdruckkrisen. Kein          er wahrscheinlich in der Krise die War-
                                                                                        Blutdruckmittel half. Nach der Einnah-          nungen der Ärztin nicht wirklich bewusst
                                          l & l: Wie bemerkt man, dass eine Abhän-      me eines Diazepams sank ihr Blutdruck           aufnehmen können. Zum Teil werden in
                                          gigkeit entstanden ist?                       immer. Als ihr klar wurde, dass sie vom         solchen Situationen aber auch zu grosse
                                          Ruhwinkel: Schlafmittel wirken wie eine       Schlafmittel abhängig war und damit auch        Packungen verschrieben. Mit dem Effekt,
                                          «Wunderpille». Jedes andere Mittel oder       ihre körperliche Gesundheit beeinträch-         dass die Medikamente zu lange eingenom-
                                          eine gute Schlafhygiene werden subjektiv      tigt wurde, entschloss sie sich zu einem        men werden.
                                          als viel schwächer wirksam wahrgenom-         Entzug. Dieser wurde zuerst stationär
                                          men. Das liegt daran, dass diese Medika-      durchgeführt. Anschliessend kam sie re-         l & l: Was empfehlen Sie Ihren Patienten
                                          mente einen starken Reiz im Belohnungs-       gelmässig in meine Praxis. Wichtig war,         bei Schlafstörungen? Welche Alternati-
                                          zentrum unseres Gehirns auslösen. Sie         dass wir auf ein kürzer wirksames Mittel        ven gibt es zu Medikamenten?
                                          geben einem das Gefühl, dieses Medika-        umstellten und in gleichmässigen Schrit-        Ruhwinkel: Zuerst einmal empfehle ich,
                                          ment tut mir gut. Die Vorstellung, das        ten den Medikamentenspiegel senkten.            die Erwartungen an den eigenen Schlaf
                                          Schlafmittel abends nicht einnehmen zu        Nach einem halben Jahr brauchte sie             zu überprüfen. Oft gehen Menschen zu
                                          können, kann eine starke Angstreaktion        kein Schlafmittel mehr. Sie war sehr stolz      früh ins Bett, weil sie der Meinung sind,
                                          auslösen. Zittern, eine grosse Unruhe,
                                          Schweissausbrüche und weitere Sympto-         Besonders wichtig ist, das Grübeln abzustellen. Probleme
                                          me stellen sich ein, wenn das Medikament
                                          nach regelmässiger Gabe plötzlich nicht       gehören nicht ins Schlafzimmer! Schicken Sie sie vor die Tür.
                                          eingenommen wird.
                                                                                        auf sich, dass sie in ihrem Alter sich von      ein möglichst langer Schlaf bringe Er-
                                          l & l: Was macht den Entzug schwierig?        der Medikamentenabhängigkeit befreien           holung. Auch ist das Durchschlafen im
                                          Ruhwinkel: Kein Entzug ohne Motiva-           konnte, und sie spürte auch körperlich          Alter keine Selbstverständlichkeit mehr.
                                          tion, dies gilt bei allen Abhängigkeitsfor-   eine verbesserte Lebensqualität.                Allen hilft, wenn sie am Tag genug Bewe-
                                          men. Oft sind älteren Menschen, die von                                                       gung und Beschäftigung kennen. Vor dem
                                          Schlafmitteln abhängig sind, scheinbar        l & l: Fachleute empfehlen, Schlafmittel        Einschlafen rate ich, sich Rituale anzuge-
                                          nicht motiviert. Wenn sie nicht erkennen,     maximal vier Wochen einzunehmen. Wa-            wöhnen, damit der Körper und die Psyche
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                          dass sie abhängig sind, odervonAngehöri-      rum werden diese Medikamente trotzdem           zur Ruhe kommen. Musik hören, ein Buch
                                          ge und Fachpersonen nicht motiviert wer-      viel länger, oft sogar jahrelang, den Patien-   lesen, sich mit einem Puzzle beschäftigen.
                                          den, dann kann keine Motivation entste-       ten verschrieben?                               Alles, was einen entspannt, hilft. Vor dem
                                          hen. Es ist zu wenig bekannt, dass ältere     Ruhwinkel: Es braucht oft viel Zeit und         Zubettgehen sollte man das Zimmer gut
                                          Menschen sich von dieser Sucht befreien       Energie, dass Patienten überzeugt wer-          lüften. Nicht hilfreich ist, wie bereits er-
                                          können. Bei Suchtspezialisten fehlt zum       den können, auf die «Wunderpille» zu            wähnt,sichzulangemitdemBildschirmzu
                                          Teil das Wissen über ältere Süchtige und      verzichten. Genau diese Zeit für eine           beschäftigen oder gar vor dem Fernsehen
                                          manche Fachleute der Alterspsychiatrie        ausführliche Beratung fehlt meist in den        einzuschlafen. Besonders wichtig ist zu-
                                          sind mit der Entzugsbehandlung nicht so       Arztpraxen. Ärzte behandeln bei älteren         dem, das Grübeln abzustellen. Probleme
                                          vertraut.                                     Menschen häufig mehrere Erkrankungen             gehören nicht ins Schlafzimmer! Schicken

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Sie sie vor die Tür. Es gibt viele Entspan-
nungsübungen, die, wenn man sie richtig
macht, so erholsam sein können wie gutes
Schlafen. Dabei denke ich beispielsweise
an die progressive Muskelentspannung
nach Jacobson – bekannt auch unter der
Abkürzung PMR, die man als CD oderApp
beziehen kann.

l & l: Wurden Sie bereits mit Folgen der
Coronakrise konfrontiert?
Ruhwinkel: Wer nicht? Die Pandemie be-
reitet uns allen zusätzlichen Stress. Wir
fühlen uns bedroht, haben Angst um un-
sere Arbeitsstelle, um unsere Gesundheit,
leiden an Einsamkeit, können uns nicht so
bewegen, wie wir es gewohnt sind. Es gibt
in der momentanen Situation so viele Fak-
toren, die Schlafprobleme begünstigen.
Umso wichtiger ist es, sich der eigenen
Schlafhygiene anzunehmen und zu ver-
suchen, die Probleme nicht mit Suchtmit-
teln zu verdrängen. Fachleute vermuten
jedoch, dass wegen dieser Krise Sucht-
probleme zunehmen werden.

l & l: Haben Sie abends ein bestimmtes
Ritual, das Ihnen hilft, gut einzuschlafen?
Ruhwinkel: Abends trinke ich gerne zu-
sammen mit meinem Partner einen Tee
und gehe nachher auf die Yogamatte für
einige entspannte Yogaübungen.

n
                                                               Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

Dr. med. Bernadette Ruhwinkel ist Psychiaterin in
eigener Praxis in Winterthur und arbeitet im Schwer-
punkt mit älteren Menschen. Sie ist Dozentin in der
Aus- und Weiterbildung für Psychiater und Psycholo-
gen am Institut für ökologisch-systemische Therapie
in Zürich, an der Ärztlichen Psychotherapieausbil-
dung der Universität Zürich und an der Fachhoch-
schule in Bern. Sie ist Leiterin des Resilienz-Ateliers
in Winterthur (www.resilienz-atelier.ch).

Brigitte Müller, Texterin und Redaktionsleiterin
«laut & leise», stellte die Fragen.

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Suchtprävention im Alterszentrum

                                          Weniger Mittel,
                                          mehr Würde

                                          Das Wissen, dass Schlafmittel und Beruhigungsmittel schon nach vier Wochen süchtig machen können,
                                          ist immer noch zu wenig bekannt. Umso wichtiger sind die Angebote für die Spitex, die Alters- und Pflegeheime
                                          und für Seniorenanlässe, wo darüber gesprochen wird.
                                          Von Jana Avanzini

                                          S
                                                 pricht man von Suchtprävention,         blikum, das sich für solche Veranstaltun-    Schlaf- und Beruhigungsmitteln.Auch mit
                                                 denkt man an Jugendliche, an Al-        gen die Zeit nimmt und unsere Angebote       wenigen Gläsern Alkohol kommt man nun
                                                 kohol und Zigaretten. Medikamen-        regelmässig nutzt.»                          dem Rauschtrinken nahe. Zudem verän-
                                          te hingegen und die Suchtgefahr im Alter                                                    dert sich der Schlaf, beispielsweise schläft
                                          bleiben oft vergessen. Kein Wunder: Denn       Sinn statt Sucht                             man weniger einfach ein und durch. Oft
                                          obwohl bekannt ist, dass Sucht keine Fra-      Die Art der Kommunikation ist dabei äus-     ist die logische Konsequenz: ein Medika-
                                          ge des Alters ist, ist Sucht doch im Alter     serst relevant. In den Titeln ihrer Veran-   ment. Nach einem Spitalaufenthalt noch
                                          noch oft ein Tabu. «Leider braucht es den      staltungen und Broschüren arbeitet Hofer     ein weiteres dazu, dann noch eines von der
                                          konkreten, sichtbaren Fall, damit in der       nie mit dem Begriff Suchtprävention. «Da     Apotheke – ein unübersichtlicher Cocktail
                                          älteren Generation über Sucht gespro-          würde sich niemand angesprochen füh-         kann entstehen. In den Veranstaltungen
                                          chen wird», sagt Gabriela Hofer. Bei der       len», sagt sie. Und selbst wenn, würde die   empfiehlt Gabriela Hofer deshalb auch,
                                          Suchtpräventionsstelle der Bezirke Affol-      Person sich wohl kaum die Blösse geben,      mit der Hausärztin oder dem Apotheker
                                          tern und Dietikon angestellt, ist die Prä-     aufzutauchen und sich damit praktisch        zu prüfen, wie sich die Mittel vertragen.
                                          ventionsfachfrau seit vier Jahren für das      zu outen. «Man spricht die Suchtthematik
                                          Thema Sucht im Alter in 25 Gemeinden           deshalb unter positiveren Schlagworten       Götter in Weiss
                                          im Kanton Zürich verantwortlich. Dieser        wie Lebensqualität oder Lebenszufrie-        Eine weitere Schwierigkeit bei Medika-
                                          Teil ihrer Arbeit umfasst auch regelmäs-       denheit an», erklärt Gabriela Hofer.         menten und ihren Nebenwirkungen sei,
                                          sige Veranstaltungen für die Bevölkerung.         Neben sozialen Beziehungen, Sinnhaf-      dass diese oft mit altersbedingten Symp-
                                          Etwas, das die Suchtprävention eher sel-       tigkeit, Körperlichkeit und Psyche kommt     tomen übereinstimmen und deshalb nicht
                                          ten tut. In den anderen Altersgruppen          dann fast nebenbei auch das Thema Me-        erkannt werden. Selbst Ärzte würden dies
                                          arbeitet man mehrheitlich mit sogenann-        dikamente und Alkohol zur Sprache. Eine      oft nicht erkennen und Schlafstörungen
                                          ten Multiplikatoren – mit Lehrern oder         Hauptbotschaft dabei lautet: Der Körper      oder Stürze darunter abhaken. Gabriela
                                          Jugendarbeiterinnen, die bereits einen         verändert sich im Alter. Keine Überra-       Hofer beobachtet auch, dass die älteren
                                          Bezug zu den betroffenen Menschen ha-          schung natürlich, das wissen alle. Doch      Generationen Medikamenten gegenüber
                                                                                                                                      grundsätzlich weniger kritisch urteilen.
                                          Eine Hauptbotschaft lautet: Der Körper verändert sich                                       «Ärzte sind noch immer Götter in Weiss»,
                                                                                                                                      fasst sie zusammen. Da werde selten hin-
                                          im Alter. Keine Überraschung natürlich, das wissen alle.                                    terfragt oder eine Alternativen geprüft.
                                          Doch was dies alles bedeutet, bleibt oft unbekannt.                                         Was der Arzt oder die Ärztin sagt, das gilt.
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                                                                                                                      Auf den eigenen Körper zu hören, darauf,
                                          ben. An Events, die von Seniorenräten          was dies alles bedeutet, bleibt oft un-      was ihm guttut, auf Unwohlsein oder auf
                                          oder Gemeindegruppen organisiert wer-          bekannt. Wie beispielsweise: Der Was-        psychische Schwierigkeiten zu achten
                                          den, informiert Gabriela Hofer. Bei Kaffee     serhaushalt im Köper sinkt. Leber und        und sie ernst zu nehmen, haben ältere
                                          und Kuchen trifft sie dort selbst in kleinen   Nieren arbeiten nicht mehr so schnell        Generationen oft nicht gelernt. Deshalb
                                          Ortschaften auf gutbesuchte Anlässe mit        und effizient. So kann der Körper gewis-     spricht man auch nicht darüber. «Fragen
                                          30 bis 80 Personen. «Die älteste Genera-       se Stoffe nicht mehr gleich schnell ab-      werden wohl auch deshalb bei den Ver-
                                          tion spricht sehr gut auf Informationsver-     bauen. Wirkstoffe von Medikamenten           anstaltungen selten zur Suchtthematik
                                          anstaltungen an», so Hofer. «Seniorinnen       kumulieren sich, wodurch es zu einer         gestellt», erzählt Gabriela Hofer. Dafür
                                          und Senioren sind ein interessiertes Pu-       Art Überdosis kommen kann – gerade bei       bedienen sich ältere Veranstaltungsteil-

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nehmende aussergewöhnlich gerne bei          auch die Zusammenstellung der Arbeits-       Zimmermann. «Auch für neue Angestell-
Broschüren. «Da sehe ich auch, dass ein      gruppe. «Es gehören junge und erfahrene      te geben die entwickelten Instrumente
Interesse und Bewusstsein entsteht – auch    Mitarbeitende derPflege dazu,Angestellte      Sicherheit und Klarheit, wie suchtge-
wenn man es im persönlichen Gespräch         aus der Zentrumsleitung sowie aus weite-     fährdete Bewohnerinnen und Bewohner
nicht zeigen würde», sagt sie.               ren Bereichen des Betriebs – der Cafeteria   betreut werden.» Unklarheiten seien für
                                             oder der Reinigung», sagt Zimmermann.        Mitarbeitende unangenehm, denn sie bin-
Ein Prozess für alle                            Die Diskussionen innerhalb des Pro-       den Zeit und vor allem Energie.
Heidi Zimmermann Heinrich, Präven-           zesses seien äusserst wichtig. «Es muss
tionsfachfrau der Suchtprävention Zür-       eine Auseinandersetzung passieren – mit      Begleitung in Krisenzeiten
cher Unterland, begleitet Alterszentren      den Themen Sucht, Selbstbestimmung,          Das direkte Ansprechen von Suchtmit-
dabei, Suchtprävention einerseits in         Krisen.» Meist würden dazu viele Fragen      telkonsum könne schnell heikel werden
ihren betrieblichen Ablauf und zur Qua-      auftauchen. Über diese lasse sich bald       und eine abwehrende Haltung auslösen.
litätsentwicklung zu integrieren und an-     erfassen, was beschäftigt und belastet.      Deshalb sei auch die Art der Gesprächs-
dererseits stärker im Bewusstsein der
Mitarbeitenden, der Bewohnerinnen und        Im Alter kann der Körper gewisse Stoffe nicht mehr gleich
Bewohner zu verankern. «Die Ziele sind
der Kompetenzgewinn für die Angestell-       schnell abbauen. Wirkstoffe von Medikamenten kumulieren sich,
ten und der Gewinn von Lebensqualität        wodurch es zu einer Art Überdosis kommen kann – gerade
für die Klientinnen und Klienten», so        bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Auch mit wenigen Gläsern
Zimmermann. Konkret umgesetzt heisst
das: Heidi Zimmermann führt Gespräche        Alkohol kommt man nun dem Rauschtrinken nahe.
mit der Leitung der Alterseinrichtung und
arbeitet anschliessend mit einer Projekt-    In Gesprächen mit Heimpersonal sei die       führung ein wichtiger Punkt in der Sucht-
gruppe über mehrere Monate. Dabei wird       Dringlichkeit der Thematik spürbar. «Oft     prävention. «Motivational Interviewing»,
in rund zehn Arbeitstagen ein vertieftes     hängen konkrete Geschichten von früher       motivierende Gesprächsführung für
Wissen zu Themen wie Prävention, Früh-       nach. Man hätte gerne anders gehandelt,      Verhaltensänderung, nennt sich dieser
erkennung, Suchtentwicklung und Ge-          war im Dilemma mit eigenen Werten und        Bereich der Weiterbildung. Und auch
sprächsführung mit den Fachpersonen          Vorstellungen, konnte nicht nachvollzie-     Zimmermann betont in diesem Zusam-
der Institution aufgebaut. Gemeinsam         hen, weshalb wie entschieden wurde», so      menhang, wie eminent die Wortwahl sei.
werden Konzepte und Leitfäden für den        Zimmermann. Oft ergeben sich ethische        «Eine so genannte Fachgruppe Sucht ist
Betrieb erstellt, massgeschneidert entwi-    Konflikte und Diskussionen aus dem un-        bestimmt nicht ratsam», sagt Zimmer-
                                                                                                                                      Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

ckelt. «Dies ist wichtig, damit die Umset-   terschiedlichen Fachwissen und den per-      mann. Damit konfrontierte Klientinnen
zung hinterher keinen Mehraufwand be-        sönlichen Haltungen des Personals. Nicht     und Klienten würden schnell abblocken.
deutet. Wir wollen Abläufe vereinfachen      nur die Form der Ausbildung, sondern         Man nenne sie deshalb «Fachgruppe Ge-
und in den interdisziplinären Prozess des    auch, in welchem Jahrzehnt jemand diese      sundheitsförderung» oder «Lebensquali-
Betriebs einbeziehen», erklärt Zimmer-       absolviert habe, in welchem Land, oder       tät», um das Wohlergehen in den Fokus
mann. «Durch den ganzen Prozess sensi-       auch aus welcher Kultur jemand stamme,       zu rücken und eine mögliche Stigmatisie-
bilisieren und qualifizieren wir die Leute    habe Einfluss auf die Haltung und den         rung zu umgehen.
derArbeitsgruppe und befähigen sie dazu,     Umgang mit Suchtmittelmissbrauch. «In           Zudem sei es wichtig, Suchterkran-
anschliessend ihr Wissen an Mitarbeiten-     der Arbeitsgruppe soll deshalb eine ge-      kung und Suchtgefährdung sprachlich
de weiterzugeben.» Wichtig sei deshalb       meinsame Kultur entstehen», sagt Heidi       zu unterscheiden. Riskanter Konsum von

                                                                                                                                16
Alkohol und vermehrte Einnahme von           dass ältere Menschen auf fachliche Be-       nen und Schauspieler heikle Situationen
                                          Schmerz- oder Beruhigungsmitteln sind        handlung anders und noch besser anspre-      darstellten und Reaktionen der Mitarbei-
                                          in einer schwierigen Zeit wie dem Heim-      chen als jüngere und ihre Lebensqualität     tenden abholten, ist ihm prägend in Er-
                                          eintritt, Weihnachten oder dem Tod von       dadurch steigt. Diese betrieblichen Pro-     innerung geblieben. Einiges aus der Zeit
                                          Nahestehenden bei Bewohnerinnen und          zesse fördern die Gesundheitskompetenz       werde noch heute weiterentwickelt – ge-
                                          Bewohnern eher sichtbar. In einer sol-       von Einzelnen und von Teams.                 rade die Anwendung von komplemen-
                                          chen schwierigen Zeit sei eine eingehende                                                 tärmedizinischer Behandlungspflege im
                                          Pflegeanamnese sinnvoll. «Es ist wichtig,     Nachhaltiger Weg                             Rahmen der Früherkennung und Früh-
                                          sich die Zeit dafür zu nehmen, einen Men-    Das Team desAlterszentrums Gibeleich in      intervention von Beschwerdebildern wie
                                          schen mit seinen Ressourcen und Risiken      Glattbrugg hat die Weiterbildung in sehr     beispielsweise Schlafstörungen, Verdau-
                                          wahrzunehmen», so Zimmermann. Dazu           positiver Erinnerung. Der Leiter des Al-     ungsbeschwerden, Husten, Schmerzen.
                                          gehört, dass man die Haltung einer Per-      terszentrums, Adrian Burri, bezeichnet       Die entwickelten Fragenkataloge für
                                          son kennt, ihre Sorgen, Gewohnheiten,        den Prozess als «Win-win-Situation». Die     die Mitarbeitenden und die schriftliche
                                          Bewältigungsstrategien, Wünsche und          Arbeitsgruppe habe die Möglichkeit ge-       Selbsteinschätzung der Klientinnen und
                                          Interessen. Dieses Wissen hilft Fachper-     habt, sich richtig darauf einzulassen, mal   Klienten beim Eintritt hätten sich mehr
                                          sonen, körperliche, soziale und emotiona-    eine Schlaufe zu machen, Instrumente zu      als bewährt.
                                          le Veränderungen bei Betroffenen klarer      entwickeln und zu ergänzen.                     Er beobachte immer wieder Fortschrit-
                                          wahrzunehmen. Meistens bringen neue             Weiterbildungen in Alterszentren          te und eine erhöhte Lebensqualität bei
                                          Bewohnerinnen und Bewohner bei Ein-          seien stets Thema, «denn das Alter ist       Personen, die mit einer Abhängigkeit ge-
                                          tritt in ein Heim auch mehrere Medika-       hochkomplex und wird oft unterschätzt»,      lebt hatten. Denn oft sei die Selbstkontrol-
                                          mente mit. Zimmermann erzählt: «Ist das      so Burri. Die grossen Herausforderun-        le durch Rauschzustände eingeschränkt
                                          Pflegefachpersonal informiert, wird eher
                                          veranlasst, dass die Medikamente durch       Weiterbildungen in Alterszentren sind stets Thema, denn
                                          die Apotheke oder die internen Heimärzte
                                          überprüft werden.»                           das Alter ist hochkomplex und wird oft unterschätzt.
                                             Es sei auch wichtig, ein sensibles dia-
                                          gnostischesAuge zu entwickeln,wenn sich      gen – durch die Veränderung der Physio-      gewesen, auch die Interaktion mit ande-
                                          jemand verändere, zum Beispiel schläfrig,    logie, durch Krankheiten, Medikamente        ren Menschen durch Schlaf- und Beru-
                                          fahrig wirke oder unsicher gehe. Dazu ge-    und Sucht – seien in seinem beruflichen       higungsmittel. Instrumente zu haben, die
                                          höre neben gerontologischem und medi-        Alltag stets präsent. Über eineinhalb        Alternativen bieten und den Weg weg da-
                                          zinischem Fachwissen auch der Einsatz        Jahre wurde hier in der Präventions-Pro-     von vereinfachen, sei äusserst wichtig, so
Suchtprävention laut & leise, Juli 2020

                                          eines Erfassungsbogens. Dieser unter-        jektgruppe gearbeitet. Das sei jetzt schon   Zimmermann. «Ich sehe, dass Menschen
                                          stützt die Früherfassung von Symptomen       eine Weile her, dass sie die Leitbilder      dadurch Würde zurückbekommen.»
                                          und den weiteren Begleitungsprozess.         überarbeitet und Prozessabläufe erstellt
                                          «So, dass medikamentöse Nebenwirkun-         hätten. Doch gerade mit der Distanz sehe     n
                                          gen oder Missbrauch von Suchtmitteln         er, wie nachhaltig der Prozess gewesen
                                          von anderen Krankheiten mit ganz ähn-        sei. «Nach wie vor nehme ich unsere          Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin
                                                                                                                                    und Theaterschaffende.
                                          lichen Symptomen wie Depression, Ent-        Mitarbeitenden spürbar sensibilisiert
                                          gleisung einer Diabetes oder einer de-       für das Thema wahr», sagt er. Besonders
                                          mentiellen Entwicklung unterschieden         die Arbeit mit dem Forumtheater als Teil
                                          werden können.» Forschungen zeigen,          einer Weiterbildung, wo Schauspielerin-

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