MAECENATA INSTITUT FÜR DRITTER-SEKTOR-FORSCHUNG - Zivilgesellschaft - Stiftungswesen - Kultur

Die Seite wird erstellt Tizian Lorenz
 
WEITER LESEN
MAECENATA INSTITUT
         FÜR DRITTER-SEKTOR-FORSCHUNG

                 Rupert Graf Strachwitz

Zivilgesellschaft – Stiftungswesen – Kultur
                        4 Beiträge

                       Opusculum 4

                     Dezember 2000

                Albrechtstraße 22, D-10117 Berlin,
 Tel: +49-30-28387909, Fax: +49-30-28387910, www.maecenata.de

                              1
Das Jahr 2000 war für das Maecenata Institut und für mich persönlich ein
spannendes und ereignisreiches Jahr. Gute und weniger gute Nachrichten,
Fortschritte und Rückschläge prägten es. Zu eigenen Arbeiten bin ich we-
nig gekommen; zu schreiben hatte ich Stellungnahmen und Kommentare,
Anträge und Satzungen, Gutachten und Artikel; für ernsthaftere Aufsätze
oder gar ein Buch fehlte die Zeit. Zahlreiche Vorträge wurden auf der
Grundlage von Notizen – gelegentlich auch ohne diese – gehalten.

Einige Male ist es wenigstens gelungen – hat im Hinblick auf Publikationen
gelingen müssen -, Text auszuformulieren. Vier Beispiele sind hier zusam-
mengefaßt und seien den Freunden unseres Hauses zugeeignet:

       Nächstenhilfe als sozialwissenschaftlichen Fragestellung
       Referat anläßlich der Verleihung des Toleranzpreises der Europäi-
       schen Akademie der Wissenschaften an die Föderation der Gesell-
       schaften vom Roten Kreuz und Roten Halbmond;
       Salzburg, 15. August 2000

       Die zivile Bürgergesellschaft: Was haben Stiftungen damit zu
       tun?
       Vortrag anläßlich der Verabschiedung des Geschäftsführers der
       Niedersächsischen Sparkassenstiftung. Dr. Heinz Schirnig;
       Hannover, 30. Juni 2000

       Stiftungen als Modelle für die Entstaatlichung des öffentlichen
       Lebens
       Vortrag im Rahmen des Kongresses ‚Vom Betreuungsstaat zur
       Bürgergesellschaft – Kann die Gesellschaft sich selbst regeln und
       erneuern?‘, veranstaltet von der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung;
       Köln, 14. Juni 2000

       Was heißt Kultur in der Zivilgesellschaft?
       Beitrag für ‚Kulturpolitische Mitteilungen‘, herausgegeben von der
       Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Nr. 3/2000

Berlin, im Dezember 2000

                                                   Rupert Graf Strachwitz

                                    2
Nächstenhilfe als sozialwissenschaftliche Fragestel-
lung

Romano Guardini hat einmal im Rahmen eines Vortrags vor Mitgliedern
des Bayerischen Roten Kreuzes vom kategorischen Imperativ des Helfens
gesprochen. Die begriffliche Anleihe bei Kant erschien ihm wichtig, um das
christliche Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Mt. 22,39), in
eine ganz bestimmte Richtung zu präzisieren. Die im Neuen Testament als
zum Kern des Glaubens gehörig charakterisierte Norm der Liebe des
Nächsten („Dies ist das erste und wichtigste Gebot ... ein zweites aber ist
diesem gleich ...“) wird von Guardini, gewiß zu Recht, aktiver interpretiert.
Liebe ist in diesem Sinn mehr als Toleranz, mehr als eine positive Grund-
stimmung; sie verlangt, ermächtigt aber auch zu Aktivität. Jedem Christen,
übrigens aber nicht nur diesem, sondern fast jedem, der eine Bindung an
ein transzendentales Du notwendigerweise mit einer Bindung an ein inner-
weltliches Du verknüpft sieht, ist damit fast schon hinreichend die Näch-
stenhilfe als bindende Norm aufgegeben.
Nachdem jedoch spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Gesellschaft für
sich in Anspruch nimmt, nicht, oder zumindest nicht notwendigerweise auf
der Grundlage religiöser Normen organisiert zu sein, ist die Frage nicht von
der Hand zu weisen, ob Nächstenhilfe auch sozialwissenschaftlich und
ohne Rekurs auf solche Normsetzungen begründbar ist, allerdings hier nur,
wenn sie für das Zusammenleben in der Gesellschaft auch notwendig oder
zumindest wünschenswert erscheint. Andere religöse Prämissen einer poli-
tischen Ordnung – man denke nur an die Herleitung legitimer Herrschaft als
„von Gottes Gnaden“ - sind schließlich auch als nicht mehr wünschenswert
über Bord geworfen worden.
Diese Fragestellung umfassend zu untersuchen, fehlt heute nicht nur die
Zeit, sondern mir auch die Kompetenz. Ich kann in den wenigen Minuten,
die mir zur Verfügung stehen, lediglich versuchen, ein paar wenige Gedan-
ken, die sich aus meinem Blickwinkel, der Zivilgesellschaft und seiner kon-
kreten Ausformung, dem Dritten Sektor1, ergeben, in die Diskussion einzu-
führen. Dabei muß ich die reizvolle Frage, wer eigentlich der und die Näch-
ste sei, ganz ausklammern und mich mit der farbloseren Verallgemeine-
rung des Gemeinwohls begnügen.
Zunächst zum empirischen Befund: Entgegen einem vielfach geäußerten
Pessimismus nimmt freiwilliges Engagement für das Gemeinwohl nicht ab.
In Deutschland engagieren sich heute beispielsweise rd. 22 Millionen Bür-

1
  s. hierzu u.v.a. Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier, Regina List,Stefan Toepler, S.
Wojciech Sokolowski et al.: Global Civil Society, Dimensions of the Nonprofit Sector, Balti-
more: 1999; oder Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.): Dritter Sektor – Dritte Kraft, Versuch einer
Standortbestimmung; Düsseldorf: 1998

                                             3
gerinnen und Bürger, über ein Viertel der Gesamtbevölkerung, in irgendei-
ner Form aktiv für die Allgemeinheit, überwiegend natürlich in sehr konkre-
ten Ausdrucksformen, d.h. Organisationen von der Freiwilligen Feuerwehr
und dem Malteser-Hilfsdienst über Bürgerinitiativen und Themenanwalts-
gruppen bis zu Diensten als Schöffen oder in kommunalen Ehrenämtern.
Die Zahl hat in Westdeutschland, wo sich Langzeitvergleiche anstellen las-
sen, nicht abgenommen, in anderen westlichen Ländern ebensowenig. Zu
80% erfolgt das Engagement in Organisationen des Dritten Sektors. Diese
Nächstenhilfe, heute oft plastisch als das Stiften von Zeit bezeichnet, spielt
quantitativ eine erheblich größere Rolle als etwa das Stiften oder Spenden
von Geld. So finanziert sich dieser Dritte Sektor, grob gesagt die Summe
der gemeinnützigen Vereine und Stiftungen, in Geld ausgedrückt nur zu
3,4% aus philanthropischen Zuwendungen, verglichen mit 64,3% Steuer-
geldern und 32,3% selbst erwirtschafteten Leistungs-entgelten. Rechnet
man jedoch den freiwillig und ganz oder fast unentgeltlich geleisteten Ar-
beitseinsatz in fiktive Arbeitskosten um, ergibt sich ein völlig anderes Bild:
36,2% der Finanzierung erfolgt in diesem Rechenmodell über die soge-
nannte philanthropische Hilfe; der Anteil der Finanzierung aus Steuermit-
teln sinkt auf 42,5%, der der selbst erwirtschafteten Einnahmen auf 21,3%2.
Freilich hat sich zum einen der Charakter dieses Engagements ebenso
verändert wie die Motivation: Stand früher soziale Einbettung im Vorder-
grund, was zu einer dauerhaften, oft lebenslangen Bindung an eine be-
stimmte Organisation führte, werden heute übereinstimmend ein erstrebter
sozialer Lernerfolg und die Selbstverwirklichung als zentrale Argumente der
Motivation angeführt, was häufigen Bindungswechsel und Bindung anhand
von Projekten erklärt. Verlierer dieses Wechsels sind regelmäßig große,
traditionelle, oft hierarchisch strukturierte Organisationen, Gewinner sind
kleine, oft neue, partizipationsintensive Bewegungen. Nun ist gewiß nicht
zu übersehen, daß erstere sich über die Zeit ein hohes Maß an vertraglich
gegenüber Dritten zugesicherter Verantwortung aufgebürdet haben, die
einzulösen nun schwieriger oder zumindest teurer wird. Ihre Besorgnis über
die Entwicklung ist insofern verständlich. Letztere hingegen tragen nur eine
zeitlich begrenzte und auf die Bedürfnisse der Menschen neu abgestimmte
Verantwortung, haben es also leichter, ruhen sich ein Stückweit aber auch
auf dem Rücken der anderen aus.
Aus der Sicht der Menschen selbst sieht dies zum zweiten anders aus.
Schon „die antike Ethik arbeitete mit einem Selbstverwirklichungsmodell“3.
„Gut zu handeln, kann bedeuten, anderen Gutes anzutun; es besagt aber
immer auch, sich in sachgerechter Weise um sich selbst zu kümmern“4.
Dieser enge Zusammenhang zwischen sich und dem anderen, dem Näch-
sten, unterstellt, er bedinge eine Wechselwirkung, widerspricht nicht der

2
  Eckhard Priller, Annette Zimmer, Helmut K. Anheier, Stefan Toepler, Lester M. Salamon,
Germany: Unification and Change, in: Salamon et al., loc. cit., S. 109 f.
3
  Nikolaus Lobkowicz: Altruismus, Nächstenliebe, Philanthropie; in: Strachwitz: Dritter Sek-
tor-Dritte Kraft, S. 23
4
  loc. cit. S. 24

                                             4
christlichen Norm („... wie Dich selbst“). In einer Gesellschaft, in der sich
allenfalls 50% ihrer Mitglieder, wie in Frankreich als Christen bezeichnen,
oder in der nur 5% in traditioneller Weise nach der Geburt durch die Taufe
in eine Kirche hereingeführt werden, wie in Ostdeutschland, kommt es dar-
auf nicht notwendigerweise an. Nächstenhilfe kann nicht oder jedenfalls
nicht nur als Norm begriffen werden, die etwa auf Grund von Einsicht in die
Notwendigkeit von Normen als solchen befolgt wird, sondern muß einen
Wert darstellen, der auch heute von Menschen als konstitutiv für menschli-
ches Sein erkennbar und lebbar erscheint.
Vor diesem Hintergrund ist zum dritten zu fragen, ob Philanthropie, die
Ausdrucksform der Nächstenhilfe, die der säkulare Humanismus gern be-
vorzugt und die häufig in den Vordergrund der Betrachtung gerückt wird,
tatsächlich aus der Sicht der Gesellschaft angemessen ist. Nikolaus Lob-
kowicz hat darauf hingewiesen, daß Philanthropie schon in der griechi-
schen Antike das Verhalten von Göttern oder Heroen zu charakterisieren
und daher etwas herablassendes an sich hatte5. Marcel Mauss hat dies
1925 in seiner gleichnamigen Abhandlung so zugespitzt, daß auch nach
Jahrhunderten von Christentum und mildtätigen religiösen Institutionen die
Gabe immer noch für den, der sie empfängt, verletzend sei.6
Hier scheint sich ein Widerspruch zwischen dem Selbstverwirk-
lichungsgedanken und dem Anspruch der Unverletzlichkeit aufzutun. Nach
Kants berühmtem Gesetz über die Norm, die jedes menschliche Handeln
bestimmen soll, wäre Philanthropie geradezu unerlaubt, zumindest dann,
wenn sie auf Gaben beschränkt bleibt. Gaben wären demnach nur in einem
Kontext legitim, der Herablassung ausschließt, etwa als Gaben an die
Götter7, bei welchen, nach Mauss, dem Anthropologen, die Erwartung ei-
ner größeren Gegengabe dominiert, weshalb auch Gaben unter Menschen,
bei denen dies von vornherein nicht erwartet werden kann, den Gebenden
einen Rockzipfel des Göttlichen erhaschen lassen8 und damit eben dieses
Gefälle zur Folge haben.
Es wird sich noch zeigen, ob auch eine andere Form der Überwindung des
Gefälles denkbar erscheint. Jedenfalls kann Philanthropie im Sinne von
Geben schwerlich alleiniger wesentlicher Inhalt von Nächstenhilfe sein –
und ist es auch empirisch nicht, wie wir gesehen haben. Hinzu tritt im 18.
und 19. Jahrhundert eine sehr erbittert geführte geistesgeschichtliche Aus-
einander-setzung darüber, ob Philanthropie nicht noch viel weiterreichende
nicht zu wünschende Konsequenzen haben müsse, insbesondere die, daß

5
    loc. cit. S. 25 f.
6
  Marcel Mauss: Die Gabe, Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesell-
schaften, veröffentlicht in: M.M.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt am Main:
1989, S. 123; zitiert nach Maurice Godelier: Das Rätsel der Gabe, deutsch München: 1999,
S. 11
7
  vgl. Godelier, loc. cit. S. 46
8
  Mauss, loc. cit. S. 33 nach Godelier, loc. cit. S. 47 f.

                                            5
gesellschaftliche Übelstände dadurch verschleiert und die Ursachen der-
selben nicht beseitigt würden.
In der Tradition der französischen égalité + fraternité wurde daher der Be-
griff der Solidarität verstärkt in die Diskussion eingeführt. Die frühe Sozial-
demokratie fußt ebenso wie die Gewerkschaftsbewegung wesentlich auf
dem Prinzip, daß sich – wohlgemerkt innerhalb der von der Bewegung er-
faßten Arbeiterklasse – alle Mitglieder zwingend aufeinander abstützen,
nicht zuletzt mit dem Ziel, damit die Unterdrückung durch die „herrschende
Klasse“ zu brechen. Nicht die persönliche, inzwischen fundamental in Fra-
ge gestellte Selbstverwirklichung durch Nächstenhilfe war wichtig, sondern
die Stärkung der eigenen Position durch die Gewinnung von Verbündeten,
mit denen die Verbindung um so enger und dauerhafter wird, je fester das
Geflecht von tatsächlichen und fiktiven Abhängigkeiten geknüpft wird. Die-
ser Ansatz war zweifellos so lange schlüssig und in vielem erfolgreich, als
ein Schulterschluß gegen eine Bedrohung von außen notwendig erschien.
Je mehr diese im Verlauf des 20. Jahrhunderts abnahm, desto brüchiger
wurde das Solidaritätsgefühl. Die abnehmenden Mitgliederzahlen in den
Gewerk-schaften, besonders rapide dort, wo die entsprechenden Wirt-
schaftszweige sich stark verändern – und relativ weniger bei der sich
ebenfalls relativ weniger verändernden Staatsverwaltung – sprechen für
sich. Selbst die eine ganz andere Art von Solidarität beschwörende polni-
sche Gewerkschaft Solidarnosc erleidet die gleiche Auszehrung. Solidarität
ist offenkundig nur gegen etwas aufrechtzuerhalten. Eine allgemeine Soli-
darität, wie sie der korporatistische Staat der Nachkriegszeit, etwa in West-
deutschland, unterstellt hat, erzeugt keine Begeisterung mehr, schon des-
wegen nicht, weil totalitäre Regime damit zuviel Schindluder getrieben ha-
ben.
Solidarität wird eher als etwas zwanghaftes und schon insofern nicht mehr
zeitgemäßes empfunden. Zwänge sind dem Menschen des 21. Jahrhun-
derts zuwider, zu viele hat er im 20. erlebt, zu vielen ist er ohnehin ausge-
setzt, zu wenig erfolgreich erscheinen sie ihm bei der Lösung der gesell-
schaftlichen Fragestellungen. Im übrigen ist die Verbindung zu den – viel-
fach durchaus sinnvollen und vertretbaren – mit hoheitlicher Gewalt, natür-
lich auf der Grundlage demokratischer Legitimation verfügten Umvertei-
lungsmechanis-men zu eng, um nicht in den Strudel der Skepsis gegen-
über den Ergeb-nissen ebenjener demokratischen Legitimation hineingeris-
sen zu werden. Max Webers Urteil über die „totalitäre Demokratie“ saß tief,
brauchte lange, um an die Oberfläche zu kommen, verleiht aber heute die-
ser Skepsis Ausdruck. Aus der Sicht der Gesellschaft, die auch eine ab-
nehmende Beteiligung an demokratischen Legitimationsprozessen zu kon-
statieren hat, erscheinen daher neue, positiv aufgenommene integrative
und partizipatorische Strukturen als wünschenswert und wichtig.
Der Soziologe Georg Simmel hat sich bereits 1908 intensiv mit der Frage
beschäftigt, wo in Abwesenheit einer Solidaritätsnorm der Ansatz einer
Nächstenhilfe liegen könnte. „Das Geben überhaupt ist eine der stärksten
soziologischen Funktionen. Ohne daß in der Gesellschaft dauernd gegeben

                                      6
und genommen wird – auch außerhalb des Tausches – würde überhaupt
keine Gesellschaft zustande kommen. Denn das Geben ist keineswegs nur
eine einfache Wirkung des Einen auf den Andern, sondern ist eben das,
was von der soziologischen Funktion gefordert wird: es ist Wechselwir-
kung.“9 Es nimmt kaum Wunder, wenn Simmel unter diesem Vorzeichen
das Attribut der Herablassung für die Philanthropie nicht gelten läßt, wenn
er feststellt: „Besonders in Ländern, wo der Bettel ein reguläres Gewerbe
ist, glaubt der Bettler, ... ein Recht auf die Gabe zu haben, deren Verweige-
rung er oft wie die Hinterziehung eines schuldigen Tributes rügt.“10
Für die neueste Diskussion ist die Einführung eines ganz anderen Begriffs
durch Simmel von besonderem Interesse. „Wo wir von einem anderen
Dankenswertes erfahren haben, wo dieser „vorgeleistet“ hat, können wir
mit keiner Gegengabe oder Gegenleistung – obgleich eine solche rechtlich
und objektiv die erste überwiegen mag – dies vollkommen erwidern, weil in
der ersten Leistung eine Freiwilligkeit liegt, die bei der Gegenleistung nicht
mehr vorhanden ist. ... Die erste, aus der vollen Spontaneität der Seele
quellende Erweisung hat eine Freiheit, die der Pflicht – auch der Pflicht der
Dankbarkeit – mangelt.“11
Dem hier herausgearbeiteten Begriff der Freiwilligkeit widmet die Theorie
der Zivil- oder Bürgergesellschaft zumindest in Teilen Aufmerksamkeit. An-
ge-sichts der tatsächlichen oder vermeintlichen Zwanghaftigkeit des mo-
dernen Staates, aus dem eine physische Emigration kaum noch möglich
und eine Verabschiedung nach innen zumindest im praktischen Bereich
undenkbar erscheint, erfährt die Relativierung desselben durch einen star-
ken, anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Komplementär größere
Aufmerksamkeit, spätestens seit dessen Wirksamkeit in den 80er Jahren in
Mittel- und Osteuropa beobachtet werden konnte. Angesichts der Enttäu-
schung über den alles regelnden Wohlfahrtsstaat und dessen offenkundig
gewordene Begrenzungen gewinnt gleichzeitig die Nächstenhilfe des ein-
zelnen nach Jahren der Geringschätzung in geradezu dramatischer Weise
an Bedeutung.
In der Verknüpfung führen diese beiden Überlegungen mit einigen anderen
zu dem Schluß, daß der freiwillig unternommene Akt der Nächstenhilfe,
anders ausgedrückt, die freiwillige, aus „eigenem Antrieb“ erfolgte Über-
nahme von Verantwortung für „die Nächsten“ in der modernen Gesellschaft
von geradezu konstitutiver Bedeutung ist. Die Begründung, die sich der
einzelne hierfür gibt, sei sie normativer oder eher rationaler Art (im Sinne
eines multiplen Tauschkomplexes) tritt gegenüber dieser Bedeutung eben-
so zurück wie das Ziel, das er damit verfolgt. Selbstverwirklichung erscheint
jedenfalls als ausreichend und legitim.

9
  Georg Simmel: Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Kap.
VIII: Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, zit. nach
G. S. Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt: 1992, S. 663, Anm. 1
10
   Georg Simmel, loc. cit., Kap. VII: Der Arme, S. 513
11
   Georg Simmel, loc. cit., Kap. VIII, Exkurs ..., S. 667

                                            7
Der eigene Antrieb, die Selbstermächtigung, tritt in Feldern, in denen das
notwendigerweise auf demokratischer Legitimation beruhende Gewalt-
monopol des Staates nicht berührt wird, quasi gleichberechtigt und legitim
neben dieses, ersetzt es wohl sogar. Hierzu freilich muß die Nächstenhilfe
bei aller Individualität der Motivation und ohne ihre alternativen Gesetzmä-
ßigkeiten zu verraten, zu einer Bündelung eigener Art finden. Der Physiker
Hans-Peter Dürr drückt dies so aus: „Die Zukunftsfähigkeit unserer Zivilisa-
tion und sogar die Überlebensfähigkeit der Menschheit erscheinen heute
gefährdet. ... Wirtschaft und Staat scheinen jedoch beide, aber aus unter-
schiedlichen Gründen, als maßgebliche Problemlöser ungeeignet zu sein.
Deshalb kommt wohl nur, wenn überhaupt, eine sich geeignet weiterent-
wickelnde, differenzierte Zivilgesellschaft infrage. Trotz der vielfältigen her-
vorragenden Kompetenzen ihrer Komponenten ist sie dazu heute nur be-
grenzt imstande, da die genialen Einzelkämpfer noch nicht gelernt haben,
ihre sich hervorragend ergänzenden Kräfte zielorientiert zu bündeln. Bei
einer geeigneten Abstimmung ... sowie einer guten Kooperation ... könnten
sie sehr wohl ... dieser Aufgabe gerecht werden. Entscheidend ist hierbei
eine weitgehende Vernetzung... ."12
Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Politiker, schränkt dies ein, wenn er
sagt: „Die Perspektive der globalen Zivilgesellschaft umfaßt nicht nur – und
nicht einmal in erster Linie – die Aktivitäten nicht-staatlicher Organisationen
und Vereinigungen, sondern alle Formen der bürgerschaftlichen Kooperati-
on.“13 Unter dem Blickpunkt der Nächstenhilfe als individuellem Akt er-
scheint mir Nida-Rümelin in dieser historischen Situation nicht Recht zu
haben. Angesichts des historischen Scheiterns des Versuchs, Nächsten-
hilfe in ihrer Freiwilligkeit als Verhaltensmuster von Menschen und gesell-
schaftliche Notwendigkeit zu unterdrücken, leuchtet mir Dürrs Differenzie-
rung – die von vielen Sozialwissenschaftlern geteilt wird – eher ein. Sie
erleichtert, ermöglicht vielleicht sogar erst eine Kooperation ungleicher
Partner und überwindet dadurch das in der klassischen Philanthropie an-
gelegte Gefälle. Sie regt andererseits zur Initiative an, da sie letztlich doch
mit der Verlockung der Überlegenheit des Initiators wirbt.
In der öffentlichen Diskussion um bürgerschaftliches Engagement und Bür-
gergesellschaft scheint sich dieses Argument allmählich durchzusetzen.
Angesichts der Bürgerferne staatlichen Handelns und der Anonymisierung
von Märkten kommt dem Aufbau von sozialem Kapital und der Integration
von Menschen und ganzen Gruppen in die Gesellschaft in der Tat heraus-
ragende Bedeutung zu, von dem Recht jedes Menschen auf Bildung seiner
eigenen Persönlichkeit ganz zu schweigen. Freiwillige persönliche Näch-
stenhilfe scheint hierzu ein geeigneter Ansatz zu sein, zumal Bereitschaft
und Bedarf offenkundig aufeinandertreffen.

12
     Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft, München, 2000, S. 221
13
     Julian Nida-Rümelin: Demokratie als Kooperation, Frankfurt am Main: 1999, S. 188

                                              8
Die zivile Bürgergesellschaft: Was haben Stiftungen damit zu
tun?
Zur aktuellen Diskussion um ein neues Stiftungsrecht14

1       Die aktuelle Reformdiskussion
Stiftungen genießen eine hohe Wertschätzung. Dieser fast banale Satz hat
in der jüngsten Diskussion um eine Reform des Stiftungsrechts nicht an
Konsensfähigkeit eingebüßt – im Gegenteil: quer durch alle Parteien und
auch in der breiten Öffentlichkeit hat es an Zustimmung zu dieser spezifi-
schen Ausformung gemeinwohlorientierten Handelns nicht gemangelt, ja,
sie hat erheblich zugenommen. Nicht nur, um aus einer vor wenigen Tagen
vorgestellten Studie unseres Hauses zu zitieren, waren Redebeiträge im
Deutschen Bundestag zum diesem Thema in den Jahren seit 1996 etwa
25mal so häufig wie in den fünf Jahren zuvor15 ; bei allen Unterschieden
der Kommentierung, etwa zu denkbaren steuerlichen Vorteilen, war ein
Parlamentarier, der den Wert von Stiftungen insgesamt verneint hätte, nicht
zu finden. Äußerungen wie die eines früheren Oberbürgermeisters von
Frankfurt am Main, Rudi Arndt vor rund 20 Jahren, Stiftungen seien ein
Relikt aus der Feudalzeit und gehörten abgeschafft, sind ohne Folgen ge-
blieben – wohl nicht nur deswegen, weil die darin enthaltene historische
Analyse nicht stimmte. Eine grundsätzliche öffentliche Debatte darüber, ob
Stiftungen tatsächlich einen positiven Beitrag zur Entwicklung unserer Ge-
sellschaft leisten, ist in Deutschland, im Gegensatz etwa zu Frankreich, nie
geführt worden; so weit die Erinnerung reicht, immer gab es Stiftungen,
und jeder glaubte zu wissen, sie täten etwas gutes – ganz anders als im
angeblichen Stiftungswunderland USA, wo die in der Tat rasante Entwick-
lung des Stiftungswesens im 20. Jahrhundert immer wieder von einer kriti-
schen Diskussion begleitet war. „Die Befürchtung, daß (wirtschaftliche)
Herrschaftseliten Stiftungen als Institutionsform zur hegemonialen Beein-
flussung mißbrauchen und somit das demokratische Gesellschaftssystem
unterhöhlen könnten, stand zunächst im Mittelpunkt der amerikanischen
Stiftungsdiskussion.“16
Es ist nicht nur der erhebliche Unterschied in den Größenverhältnissen, der
eine solche Diskussion in Deutschland bis heute verhindert hat. Vermögen
und Ausgaben deutscher Stiftungen, letztere immerhin 35 Milliarden DM

14
   Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor am 30. Juni 2000 anläßlich der
verabschiedung des Geschäftsführers der Niedersächsichen Sparkassenstiftung, Dr. Heinz
Schirnig, in Hannover gehalten hat.
15
   Sibylle Kalupner: Das Stiftungswesen im politischen Diskurs 1983-2000, Eine Evaluati-
onsstudie der Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsreform (im Auftrag des Maecenata Instituts
für Dritter-Sektor-Forschung, Berlin 2000
16
   Stefan Toepler, Das gemeinnützige Stiftungswesen in der modernen demokratischen
Gesellschaft, München, 1996, S. 45

                                            9
pro Jahr, würden ein solches Argument tatsächlich niemals stützen kön-
nen, zumal der bei weitem größere Teil der Einnahmen, die diesen Ausga-
ben gegenüberstehen, keineswegs Erträge eigenen Vermögens, sondern
öffentliche Mittel, Subventionen ebenso wie vertragliche Entgelte, reprä-
sentiert17. Darüberhinaus aber sonnen sich die deutschen Stiftungen, ins-
gesamt gesehen, in einem historisch gewachsenen Reservat, in das allen-
falls gelegentlich auf der Suche nach vermeintlichen, gelegentlich gewiß
auch tatsächlichen Skandalen oder nach etwas unbestimmtem, fast möchte
man sagen numinosem, eingedrungen wird. Daß etwa von engagierten
gemeinnützigen Unternehmern in Ostdeutschland nach 1990 von Stiftun-
gen, bestehenden ebenso wie neu zu gründenden, richtige Wunder erwar-
tet wurden, ist dafür nur ein Beispiel. Bis heute leisten sich die Stiftungen
selbst eine außerordentlich positive Selbsteinschätzung, verbunden mit
einer mehr als zurückhaltenden Informationspolitik. Nur etwa 10 % der
deutschen Stiftungen veröffentlichen regelmäßig Tätigkeitsberichte mit
aussagefähigen Angaben zur Finanzstruktur.
Die Öffentlichkeit nimmt den Stiftungen diese Scheu vor der Öffentlichkeit
nach wie vor überwiegend ab und vertraut auf die Solidität dieses altbe-
währten Instruments so sehr, daß heute viele Vereine schon deshalb gern
eine Stiftung errichten oder gar ihre Tätigkeit in eine Stiftung verlagern, weil
sie sich davon ein besseres Profil beim Auftreten auf dem Spendenmarkt
erhoffen. Nur: die Stiftungen stehen auch am Rand; als Akteure werden
sie kaum wahrgenommen.
Von daher erstaunt es nicht, daß die seit Ende 1997, besonders aber seit
dem Antritt der neuen Bundesregierung 1998 in Gang gekommene öffentli-
che Diskussion um eine Revision der rechtlichen Rahmenbe-dingungen für
gemeinwohlorientiertes Handeln seinen Motor zwar, für viele überraschend,
von der angekündigten Reform des Stiftungsrechts erhielt. Allerdings ha-
ben die Befürworter dieser Reform, namentlich Frau Vollmer, in ihrer Ar-
gumentation aus taktischen Gründen finanzielle Aspekte lange Zeit in den
Vordergrund gestellt, woraus bisweilen der Eindruck entstehen mußte, es
ginge nur darum, mangels Möglichkeiten, noch mehr Steuern zu erheben,
künftig Bürgerinnen und Bürger zu anderweitiger, will heißen freiwilliger
Finanzierung der Herstellung öffentlicher Güter zu drängen. Erst im Laufe
des parlamentarischen Prozesses sind demokratietheoretische Argumente,
wie die schon erwähnte Untersuchung zeigt18, stärker in den Vordergrund
getreten, durchaus nach dem Willen der Initiatoren19, aber weniger nach
dem Geschmack vieler anderer Politiker. Noch in der Debatte zur 2. und 3.

17
    Alle statistischen Angaben entstammen der im Maecenata Institut für Dritter-Sektor-
Forschung, Berlin, geführten Datenbank der deutschen Stiftungen. Auswertungen sind u.a.
veröffentlicht in: Elisabeth Brummer/Sylvia Ruprecht (Hrsg.): Statistiken zum deutschen
Stiftungswesen, München, 1998
18
   Kalupner, loc. cit.
19
  S. z.B.: Antje Vollmer: Stiftungen im Dritten Sektor, Eine vormoderne Institution in der
Bürgergesellschaft der Moderne; in: Rupert Graf Strachwitz: Dritter Sektor-Dritte Kraft, Ver-
such einer Standortbestimmung, Düsseldorf: 1998, S. 57 ff.

                                            10
Lesung des Gesetzes zur Reform des Stiftungssteuerrechts im März 2000
wurde dem Problem, ob und in welcher Höhe durch eine höhere Absetz-
barkeit dem Fiskus Einnahmen entgehen oder ob dies durch die langfristige
Finanzierung gemeinwohlorientierter Aufgaben kompensiert wird, große
Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in der weiteren Debatte, die durch die Ein-
schaltung des Vermittlungsausschusses entstand und das Reformvorhaben
im Juni 2000 zu einem vorläufigen Abschluß brachte, hat diese Frage öf-
fentlich keine Rolle mehr gespielt. Was das bedeutet, ist in den Medien
kaum vermittelt worden.

2      Der steuerliche und der demokratietheoretische Diskurs
Daher sei an dieser Stelle auf die Disparität zwischen der Konzentration
der öffentlichen Debatte auf steuerliche Verbesserungen und den nicht
sehr ausgeprägten Wirkungen dieser Verbesserungen aufmerksam ge-
macht. Bis heute tragen die zuständigen Verbände im wesentlichen vor,
das Recht der gemeinnützigen Organisationen, d.h. der Stiftungen ebenso
wie der Vereine und anderer, sei nicht oder kaum veränderungsbedürftig;
was fehle, seien bessere steuerliche Bedingungen, insbesondere Anreize
steuerlicher Art für Spender und Stifter. Anders ausgedrückt: bewußt oder
unbewußt wird der Eindruck erweckt, nur über Finanzierungsfragen beste-
he Bereitschaft, in einen ernsthaften Dialog mit einer ‚Außenwelt‘einzutre-
ten, nicht aber über Strukturen, Strategien, Selbstverständnis oder gar In-
halte der Arbeit.
Nun ist, erstens, nicht zu verkennen, daß in deutscher Tradition wesentli-
che Steuerungsinstrumente staatlicher Ordnungspolitik fiskalischer Natur
sind; die Fülle der Ausnahmetatbestände zur regulären Besteuerung
spricht für sich. Ob dies zu einer Verkümmerung der Dialogfähigkeit, an der
sicherlich auch andere Akteure schuld sind, beigetragen hat, sei dahinge-
stellt. Zumindest hat man sich weithin daran gewöhnt, so zu argumentieren.
Zu übersehen ist aber auch nicht, daß in anderen europäischen Ländern,
z.B. Österreich und Finnland, ein höheres Pro-Kopf-Spendenaufkommen
erzielt wird, obwohl dort fast keine steuerlichen Abzugsmöglichkeiten be-
stehen. Es scheint also, als ob Marketinganstrengungen oder eben doch
ein anderes Verständnis vom Wert gemeinwohlorientierten Handelns die-
sen Anreiz kompensieren können.
Über den Anteil freiwilliger philanthropischer Zuwendungen an der Ge-
samtfinanzierung gemeinwohlorientierter Arbeit herrschen, zweitens, weit
übertriebene Vorstellungen. Er liegt nämlich beim 3. Sektor insgesamt in
Deutschland unter 4%, bei einigen Subsektoren, etwa dem Bereich der
Wohlfahrtspflege, noch darunter und beim Staat in einem gar nicht mehr
quantifizierbaren Bereich – natürlich bei einigen Subsektoren auch deutlich

                                    11
höher, in Einzelfällen bis 100%20. Diesem im Schnitt minimalen Finanzie-
rungsanteil stehen Anteile der Finanzierung aus öffentlichen Mitteln von
über 60% und der Selbsterwirtschaftung von über 30% gegenüber. Wollte
man also dem Sektor zu einer besseren Finanzaustattung verhelfen, wäre
es aus diesem Blickwinkel viel sinnvoller, angesichts stagnierender öffentli-
cher Mittel seine Möglichkeiten der Selbsterwirtschaftung durch den Weg-
fall von Beschränkungen zu verbessern, als immer nur von steuerlichen
Anreizen für Spender und Stifter zu reden. Gerade letztere, d.h. deren
Werke, die Stiftungen, sind überdies für einen besonders kleinen Anteil
verantwortlich. Weil Stiftungen nicht verpflichtet sind, Auskunft zu geben,
und weil nur rd. 30% dies im Hinblick auf ihre Finanzen freiwillig tun, sind
die verfügbren Zahlen nicht gut genug, um eine exakte Berechnung durch-
zuführen. Unter Berücksichtigung amerikanischer Daten ist es aber wohl
näherungsweise richtig, für Deutschland von einem Finanzierungsanteil
des Sektors durch Erträge von Stiftungsvermögen in Höhe von rd. 0,2% zu
sprechen. Es ist gewiß nicht übertrieben zu sagen, daß selbst eine Ver-
doppelung auf Grund besserer Anreize die Marginalität dieses Einnahme-
postens nicht ändern würde, wobei natürlich schon hinzuzufügen ist, daß
einzelne wichtige Projekte ohne Förderung durch Stiftungen nie hätten be-
gonnen oder gar zu Ende geführt werden können. Dennoch: quantitativ ist
nicht Philanthropie sondern gemeinnütziges Unternehmertum der primäre
Ansatz zur Verbesserung der Finanzierungsstruktur gemeinwohlorientierter
Aufgaben.
Diese Einschränkung offenbart die Notwendigkeit, die Blickrichtung zu än-
dern. Damit kein Mißverständnis auskommt, sei rasch hinzugefügt: die
jüngst endgültig von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Änderungen
im Steuerrecht21, die mehr potentielle Stifter motivieren sollen, sind den-
noch uneingeschränkt zu begrüßen. Sie sind freilich weniger wegen der
einzelnen Ergebnisse, sondern wegen der dadurch erreichten Dynamik des
größeren Diskurses von so fundamentaler Bedeutung. Nicht nur das Par-
lament hatte sich traditionell kaum mit dem materiellen Recht der Organi-
sationen beschäftigt. Auch in der Literatur gab es kaum Ansätze einer kriti-
schen Auseinandersetzung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, so-
weit diese eben nicht steuerlicher Natur waren22. Es galt als ausgemacht,
das Stiftungsrecht habe sich bewährt und bedürfe keiner Reform. Von Ver-
tretern etwa der Landesstiftungsbehörden wird dies bis heute überwiegend
so dargestellt23. Wenn vereinzelt bereits früher gefordert wurde, Sinnhaftig-

20
   vgl. Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier und Mitarbeiter: Der Dritte Sektor, Aktuelle
internationale Trends, The Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project, Phase II,
Gütersloh: 1999
21
   Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen vom 14. Juli 2000, Bundesge-
setzblatt Teil 1, Nr. 33, 25. Juli 2000, S. 1034 ff.
22
   so auch in: Rupert Graf Strachwitz: Stiftungen errichten, führen und nutzen – ein Hand-
buch, Frankfurt/New York: 1994
23
   s. z.B. Erfahrungsbericht der Stiftungsreferenten der Länder, beschlossen von der Innen-
ministerkonferenz am 18./19. November 1999 in Görlitz

                                           12
keit und Einordnung des Stiftungswesens grundlegend zu überdenken24, so
blieb dies ungehört. Zaghafte Versuche, sich der Frage von anderer Seite
zu nähern25, stießen weithin auf Unverständnis.

3       Stiftungen in der sozialwissenschaftlichen Forschung
In den letzten Jahren ist einiges geschehen: eine erste sozialwissenschaft-
liche Konferenz zum Stiftungswesen in Paris 1993 war eingebettet in ein
internationales Projekt, das eine Erfassung und einen Vergleich jedweder
gemeinwohlorientierter Organisationen in ausgewählten Ländern – bis
heute ca. 30 – zum Ziel hatte26. Hier ging es dementsprechend nicht mehr,
wie gerade in Deutschland traditionell üblich, um die Stifter, sondern viel
eher um die Stiftungen selbst, ihre Wirkungsweise, ihre Entwicklungen und
ihre Einordnung in den 3. Sektor und die Gesellschaft. „Stiftungen sind wie
Giraffen. Sie können gar nicht existieren, aber sie existieren doch,“ hatte
bereits in den 70er Jahren Waldemar Nielsen festgestellt27. Kein Wunder,
daß es eine wissenschaftliche Neugier gab, die sich mit der Erklärung, es
seien Finanzierungsquellen für gemeinwohl-orientierte Aufgaben (gemein-
wohlorientiert in Deutschland übrigens zu 97%), nicht zufriedengab. Nicht
nur erwies sich bei näherem Hinsehen sehr rasch, daß das gängige Bild
von der mit Kapital ausgestatteten Stiftung, die Projekte Dritter fördert, die
Gesamtheit der Stiftungen zumal im internationalen Vergleich nicht be-
schreibt. In Italien etwa überwiegen Stiftungen, die ihre Ziele in eigenen
Einrichtungen oder mittels selbst durchgeführter Projekte selbst verwirkli-
chen und selbst in Deutschland ist 1/3 der Stiftungen zumindest teilweise
operativ tätig28. Das beduetet, daß sie sich nicht in jeder Hinsicht von Ver-
einen unterscheiden, sondern vielfach als alternative Strukturform vorkom-
men. Krankenhäuser, z.T. seit Jahrhunderten von Stiftungen geführt, treten
sogar, wie jeder weiß, ebenso als Vereins-, Ordens-, Universitäts-, Landes-
, Kommunal- oder Privatkrankenhäuser auf. Ist dies nur Zufall oder nur hi-
storisch gewachsen, oder gibt es vernünftige Gründe, diese Wahlmöglich-
keit zu erhalten? Oder steht eine Änderung solcher Strukturen möglicher-
weise gar nicht zur Disposition? Und gerade wenn dies so sein sollte, was

24
   so z.B. Georg Strickrodt: Stiftungen als urbildhaftes Geschehen im Gemeinwesen, Baden-
Baden: 1984
25
   so z.B. des Autors in einem Vortrag ‚Bürger und Staat - Über das Private und Öffentliche
in der Gesellschaft der 90er Jahre‘in der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar 1990,
abgedruckt in: Rupert Graf Strachwitz: Vorträge und Beiträge, Berlin: 1992
26
   The Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project; unter den zahlreichen Veröf-
fentlichungen von Ergebnissen s. z.B. Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier, Regina List,
Stefan Toepler, S. Wojciech Sokolowski and Associates: Global Civil Society, Dimensions of
the Nonprofit Sector, Baltimore: 1999
27
   Waldemar Nielsen, The Big Foundations, New York: 1972, S. 3
28
   Helmut K. Anheier/Stefan Toepler: Introduction; in: dies. (Hrsg.): Private Funds, Public
Purpose – Philanthropic Foundations in International Perspective, New York: 1999, S. 13

                                           13
sind die Konsequenzen, falls der Betrieb, etwa eines Krankenhauses nicht
mehr aufrechtzuerhalten oder zumindest nicht mehr wünschenswert ist29?
Die Erörterung dieser Fragen im einzelnen ist gewiß nicht Gegenstand die-
ses Beitrags. Sie sollen nur beispielhaft aufzeigen, daß es heute eine Dis-
kussion gibt, die über die tatsächlichen oder vermeintlichen finanziellen
Leistungen von Stiftungen weit hinausgeht. Dies wird erst recht offenkun-
dig, wenn wir versuchen, dem Phänomen Stiftung, der „Giraffe“, historisch
beizukommen, und zwar nicht so sehr in dem Sinne, unter welchen histori-
schen Bedingungen Stiftungen vor allem geboren wurden und wer die Vä-
ter waren, obwohl es auch hier interesante Untersuchungen, übrigens nicht
nur zu unserem Kulturkreis gibt.
In unserem Zusammenhang ist noch wichtiger zu fragen, was eigentlich
entstanden ist. Die Tatsache, daß in Deutschland über 50% aller Stiftungen
nach 1945 gegründet worden, hat uns den Blick für die anderen verstellt,
etwa die rd. 250 aus der Zeit vor 1500, die noch bestehen, von den 2 noch
bestehenden aus der Zeit vor 1000 und von den vielen, die untergegangen
sind, ganz zu schweigen. Es scheint sich herauszustellen, daß insbesonde-
re die im Bürgerlichen Gesetzbuch von 190030 beschriebene Stifung bür-
gerlichen Rechts ein recht kümmerliches Substrat eines viel üppiger und
schattierungsreicher ausgestatteten Instrumentariums darstellt, das neben
wichtigen Gemeinsamkeiten auch zahlreiche Unterscheidungen, nach
Rechtsform wie nach Innenverfassung beinhaltet. Fast gänzlich ver-
schwunden ist, aber eben erst seit knapp 200 Jahren, als Savigny das jetzt
gültige Stiftungsrecht entwickelte, der ehedem in jedem Stiftungsvorgang
enthaltene Akt ganz eigener Rechtsetzung.

4       Stiftungen in der Geschichte
Seit einigen Jahren versucht eine Forschungsgruppe von Historikern, ge-
nau gesagt Mediävisten, das bislang recht eklatante Forschungsdefizit auf-
zuarbeiten. Aus diesem Ansatz heraus hat eine Veröffentlichung den Un-
tertitel erhalten: „Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher
Stiftungen im Spanungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft31“. Dem
Autor geht es also offenkundig um ein Problem der politischen Ordnung,
wenn er die uralte Frage des Spannungsverhältnisses zwischen Herr-
schaftsausübung „von oben“ und freiwilligem Zusammenschluß – Genos-
senschaft „von unten“ auf das Organisationsmodell Stiftung anwendet.
Genossenschaft ist für ihn in diesem Fall – er untersucht und vergleicht
Universitätsgründungen – die durch den Stiftungsakt entstandene Korpora-

29
   s. Rupert Graf Strachwitz: Operative und fördernde Stiftungen, Anmerkungen zur Typolo-
gie; in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Handbuch Stiftungen, Wiesbaden: 1998, S. 673 ff.
30
   BGB, § 80-88
31
   Wolfgang Eric Wagner: Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg, Eine
vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herr-
schaft und Genossenschaft, Berlin: 1999

                                           14
tion, die auf Grund der Eigengesetzlichkeit jeder Vereinigung von Men-
schen einen ständigen Willensbildungsprozeß beinhaltet.
Die Frage, ob eine übergeordnete politische Ordnung solche Spannungs-
felder verträgt, ist seit dem 17. Jahrhundert immer deutlicher mit „Nein“
beantwortet worden, und zwar gar nicht einmal so sehr wegen des korpo-
rativen Elements, sondern wegen der möglichen Konkurrenz der Herr-
schaften, die freilich im Falle der Stiftungen den darin enthaltenen Korpora-
tionen – in heutiger Terminologie Kuratorien oder Stiftungsräte – auf Grund
der materiellen Unabhängigkeit eine sehr viel größere Macht zu verleihen
im Stande waren. Nicht so sehr, wie oft gesagt wird, die Aufklärung, son-
dern eher die sich zunehmend verfestigende Lehre vom Monopol des Für-
sten, durchaus aber auch der Republik, auf die Ausübung von Macht und
Herrschaft, löste ein Mißtrauen gegenüber unabhängigen Herrschaften
aus, das letztlich nur durch den Versuch der Auslöschung zu beseitigen
war. Frankreich bildet das Beispiel für einen fast vollkommenen Erfolg die-
ses Versuchs, indem zunächst schon Ludwig XV. (1769) und dann die
französiche Revolution unabhängige, intermediäre Korporationen nachhal-
tig beseitigte. Während die Vereine immerhin 1901 wieder eine gesetzliche
Grundlage bekamen, gelang dies für die Stiftungen erst 1984.
In Deutschland ist die Auslöschung in dieser Schärfe schon auf Grund der
territorialen Zersplitterung der Herrschaft nicht gelungen. Aber wohlge-
merkt, der Reichsdeputationshauptschluß von 1803, also die Säkularisie-
rung und Mediatisierung, fußt letztlich auf der gleichen theoretischen
Grundlage. Und während noch das Allgemeine Preußische Landrecht von
1794 ausgesprochen stiftungsfreundlich, ja liberal war, kam es im 19. Jahr-
hundert unter dem starken Einfluß von Hegels Staatstheorie durch Savigny
zu einer zunehmenden Verengung des Begriffs und der Wirklichkeit von
Stiftungen32. An die Stelle der bis dato üblichen Stifterfreiheit traten zu-
nehmend staatliche Regeln, an die Stelle des bis dahin jedenfalls noch in
der Erinnerung vorhandenen frühchristlichen, im Konzil von Nicaea recht-
lich erstmals verfestigten Konzepts des Charakters jeder Stiftung als freie
Zustiftung zur ‚Stiftung Jesu Christi‘in bewußter Abgrenzung zur weltlichen
Herrschaft33 trat zwar formale säkulare Autonomie, aber zugleich Abhän-
gigkeit vom alles überwölbenden Staat. Nicht also weg vom Staat bewegte
sich nun der Stiftungsakt, sondern – zwangsweise - eben zu diesem hin.
Die Bedeutung dieses Bruchs in der Geschichte des Stiftungswesens ist
gar nicht zu überschätzen. Nur aus diesem heraus ist etwa die einseitige
Orientierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 auf die sog. rechts-
fähige Stiftung bürgerlichen Rechts als Ausdrucksform des privaten Stiftens
zu verstehen. Diese wird nämlich einem Genehmigungsvorbehalt und der

32
   vgl. Andreas Richter: German and American Law of Charity in the early 19th Century; in:
Richard Helmholz/Reinhard Zimmermann (Hrsg.): Itinera Fiduciae, Trust and Treuhand in
Historical Perspective, Berlin: 1998, S. 427 ff.
33
   siehe die vielfachen religiös bestimmten Stiftungsgründungen durch Herrscher (beispiel-
haft Quedlinburg durch Otto I.)

                                           15
Aufsicht des Staates unterworfen: „Zur Entstehung einer Stiftung ist die
Genehmigung des Bundesstaats erforderlich, in dessen Gebiete die Stif-
tung ihren Sitz haben soll“34, lautet der erste Satz der für Stiftungen maß-
geblichen Bestimmungen im BGB, eine im Stiftungswesen von der Antike
bis zur frühen Neuzeit, aber auch etwa im sehr ausgeprägten islamischen
Stiftungswesen undenkbare Formulierung. Die ältere und mit Sicherheit
auch häufigere Stiftung ohne eigene Rechtspersönlichkeit bleibt in diesem
Zusammenhang völlig unerwähnt. Sie kommt zu dieser Zeit, abgesehen
von den Kirchen, denen der Staat aus vielen Gründen nach wie vor Aus-
nahmen von staatlichen Regelungen zugestehen mußte, praktisch nur in
der Verwaltung von Kommunen und Universitäten vor, die ohnehin bereits
der staatlichen Oberaufsicht unterworfen worden waren. Daher ist das ent-
scheidende im Kommunal- bzw. im Hochschulrecht niedergelegt. Nur auf
Grund dieser engen Anbindung der Stiftungen an den Staat konnte es auch
geschehen, daß ihnen einschneidende Vorschriften bezüglich ihrer Vermö-
gensanlagen gemacht wurden – und zwar zugunsten des offenkundig nicht,
wie Hegel geglaubt hatte, interessenlosen Staates, der hier unter dem Titel
‚Mündelsichere Anlage‘ durch hoheitliche Maßnahmen zwangsweise Ab-
nehmer für seine Anleihen, namentlich die wenig beliebten Kriegsanleihen
vor und im 1. Weltkrieg schuf. Als derselbe Staat diese 1923 vollständig
entwertete, bedeutete dies das Ende vieler Stiftungen. Ob der Staat dies
besonders bedauert hat, mag bezweifelt werden.

5          Die Reformdiskussion in neuem Licht
Erst vor diesem Hintergrund, der sich natürlich für die folgende Zeit weiter
ausmalen ließe, wird verständlich, welche Auseinandersetzung tatsächlich
zu führen war, als Ende der 90er Jahre die Diskussion um eine Reform des
Stiftungswesens einsetzte. Sie mußte anknüpfen an eine Diskussion um
die Rolle unterschiedlicher Akteure im Rahmen einer modernen politischen
Ordnung; auch wenn das Interesse an ihr durch den Hinweis auf eine Ent-
lastung der stark angespannten öffentlichen Haushalte geweckt wurde, und
der Versuch, Vermögenswerte für das Gemeinwohl nutzbar zu machen, die
sonst, durchaus nach korrekter Steuerzahlung, zur privaten Vermögensbil-
dung oder zum privaten Konsum zur Verfügung stehen, in den Vordergrund
gestellt wurde, so hätte dieses Argument letztlich nicht genügt, um dem
Stiftungswesen neue Impulse zu geben. „Stiftungen sind in den letzten zwei
Jahrzehnten nach einer Phase des Niedergangs in eine Phase nie dage-
wesenen Wachstums eingetreten“35. Dies war nur möglich, weil die Zeit für
eine Neubestimmung der Rolle des Staates reif war. Zu fragen ist, ob auch
die Stiftungen eine neue Rolle annehmen und entwickeln müssen. Sind sie
vielleicht „im Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Genossenschaft“ gar
ein Abbild eines größeren Diskurses?

34
     BGB, § 80, Satz 1
35
     Anheier/Toepler, loc. cit. S. 258 (Übersetzung d. Verf.)

                                                16
Daß der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel ganz ausdrücklich von
einem „neuen Gesellschaftsvertrag“ spricht und die Notwendigkeit hierzu
mit der mehr als bedenklichen Überschuldung der öffentlichen Körper-
schaften auf Kosten nachfolgender Generationen, dem „Gegenteil von
Nachhaltigkeit“und mit einem Wandel von weithin akzeptierter Staatsorien-
tierung zu weitverbreiteter Skepsis gegenüber staatlichem Handeln be-
gründet36, steht nicht allein. Auch seine Feststellung, die Wahrnehmung
subjektiver Leistung überwiege heute das Verhältnis zum Staat37, beruht
nicht nur auf seiner Beobachtung, sondern auf empirisch gesicherten Er-
kenntnissen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Bürgerinnen
und Bürger andere Ansprüche an eine politische Ordnung und in diesem
Zusammenhang weniger Ansprüche an den Staat stellen als noch vor we-
nigen Jahren. Vor 50 Jahren bestand nach dem Zusammenbruch der politi-
schen Ordnung in Deutschland ein breiter Konsens darüber, daß eine de-
mokratische Legitimation staatlichen Handelns mit einer umfassenden Da-
seins-vorsorgeverantwortung eben jenes Staates gepaart sein sollte. 1989
wurde dieses Konzept zwar in Deutschland auf das nicht zufällig Beitritts-
gebiet genannte Territorium der DDR ausgedehnt. 15.000 Beamte wurden
abgeordnet, um ebendies durchzusetzen. In den übrigen mittel- und osteu-
ropäischen Länderrn hingegen entstand aus der Bürgerrechts-bewegung
der 70er und 80er Jahre ein unübersehbar neuartiges Bewußtsein von
Staatlichkeit, welches nicht-staatlichen Akteuren im Bereich des Gemein-
wohls einen erheblich größeren Stellenwert einräumte. Der Blick in die
USA, wo genau dieses ein zentrales Element des Gründungsgedankens
des Staates war, war nicht zuletzt aus diesem Grund trotz der vielen Unter-
schiede der Größe, des Wohlstands, der Geschichte, des Rechtssystems
usw. oft intensiver als der zu den unmittelbaren europäischen Nachbarn.
Gewiß würde es zu weit führen, diese Thematik an dieser Stelle weit aus-
zuführen. Es genügt vielleicht zu sagen, daß das Konzept des alles über-
wölbenden Staates, der, von parteiischen Interessen frei, eine Allzustän-
digkeit für alle öffentlichen Angelegenheiten in Anspruch nehmen und falls
notwendig mit Zwang durchsetzen kann, nicht mehr der Realität entspricht
und keine Zukunft mehr besitzt. Der Bürger, der sich über alles, was ihn auf
der Welt interessiert, informieren kann und auch zeitgleich informiert wird,
sich, noch wichtiger, mit Milliarden anderer, auch völlig fremder Menschen
darüber ungehindert austauschen kann, entwickelt zweifellos ein anderes
Bewußtsein. Hierarchiefreie Kommunikation wirkt beispielgebend dafür,
Hierarchien in Frage zu stellen. Wenn noch heute diese Entwicklungen
verniedlicht oder als letztlich nicht relevant abgetan werden, so ist das ent-
weder eine gefährliche Selbsttäuschung oder der Versuch einer bewußten
Irreführung. Versuche, diesen Trend umzukehren oder aufzuhalten, sind
auf überschaubare Zeit gewiß zum Scheitern verurteilt.

36
   Sigmar Gabriel in seinem Eingangsstatement zu einer Podiumsdiskussion anläßlich des
3. Stiftungssymposiums der Bertelsmann Stiftung, Hannover, 28. Juni 2000
37
   loc. cit.

                                         17
Auch der Staat selbst hat dies im Prinzip erkannt. Bereiche, die noch vor
zwei Jahrzehnten als zentrale Elemente staatlicher Daseinsvorsorge ange-
sehen waren, werden heute ganz selbstverständlich als Wirtschaftsunter-
nehmen geführt. Den Gefahren eines Konkurses oder anderer Versor-
gungsstörungen wird auf andere Weise begegnet, ein Restrisiko wird in
Kauf genommen – nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus, daß auch öf-
fentlich angebotene Dienstleistungen keineswegs immer tatsächlich in der
angekündigten und notwendigen Qualität zur Verfügung stehen. Übergän-
ge sind also – und waren historisch stets – möglich. Bezeichnenderweise
allerdings schien über eine Reihe von Jahren hinweg der Übergang zum
Markt dem Staat leichter zu fallen als der zum dritten Sektor. Geradezu
fratzenhaft erleben wir dies in Rußland, wo der Kommunis-mus ganz offen-
kundig eine ganze Reihe von unternehmerischen Kapitalisten, kaum hinge-
gen gemeinnützige Unternehmer oder auch nur gemeinschaftsverantwortli-
che Bürgerinnen und Bürger erzeugt hat. Auch hierzulande schien der
Übergang zum Markt staatlichen Planern attraktiv zu sein – und sei es we-
gen des zu erwartenden Ertrags für die Staatskasse oder die mit in die
Wirtschaft wechselnden Betroffenen. Der Übergang in den Dritten Sektor
hingegen fiel und fällt schwer: vergleichen Sie die Diskussion um den Ver-
kauf eines staatseigenen Unternehmens mit der um die Privatisierung ei-
nes Theaters, obwohl ja ersterer stets, letzterer aber kaum je eine Vermö-
gensübertragung beinhaltet und somit viel weniger einschneidend ist!
Ein wenig mag dies damit zusammenhängen, daß gerade in Deutschland
der Dritte Sektor zwar historisch gewachsen und durchaus leistungsfähig
ist, anderereits allerdings sich traditionell auf Dienstleistungen konzentriert
hat und gerade deshalb von staatlicher Finanzierung in besonders starkem
Maße abhängig ist. Der ebenso erfolgreiche wie unsägliche Versuch des
Staates, über die Finanzierung den Sektor bis in die Einzelheiten der In-
nenorganisation zu regulieren, ihm andererseits die Chancen der Organi-
sationsentwicklung durch Modelle wie Fehlbedarfsfinanzierung oder reine
Projektförderung zu nehmen, ist Ausdruck dafür. Es ist daher nicht erstaun-
lich, daß dieser ganze Bereich in der öffentlichen Wahrnehmung dem zuge-
rechnet wird, was Gabriel, meines Erachtens zu Recht, als die Institutio-
nengesellschaft bezeichnet hat, um sie damit von der – attraktiveren - Zivil-
gesellschaft abzugrenzen38.

6       Stiftungen in der Zivilgesellschaft
Die Institutionen des Sektors haben mit schwierigen Abgrenzungsfragen zu
kämpfen, denn in der Tat ist ungeachtet des Ausschüttungsverbotes als
kennzeichnendem Merkmal nicht immer erkennbar, ob diese Institutionen
nicht eigentlich dem Markt zuzurechnen wären39. In diesem Bild verschwin-
det der Teil des Sektors, der, wenn überhaupt nur in ganz minimalem Um-
38
 loc. cit.
39
  Vgl. Karl Birkhölzer, Das Dritte System – Versuch einer Begriffsklärung, in: MAECENATA
ACTUELL, Nr. 21, 2000, S. 14 ff.

                                          18
fang vom Staat abhängig ist, die sogennannte Themen-anwaltschaft (eng-
lisch advocacy) ganz aus dem Blickfeld, obwohl erst sie den Sektor zum
Exponenten der Zivilgesellschaft macht. Erst dort, wo sich organisierte
Gruppen für ideelle Belange, Bürgerrechte ebenso wie ökologische Anlie-
gen, kulturelle Projekte, lokale Brennpunkte, deren Bündelung in der Agen-
da 21 oder was auch immer einsetzen – letztlich auch für die Idee des sich
Einsetzens, des Stiftens von Zeit und Geld40, kommen wir normativ der
Idee näher, daß es neben Staat und Markt einen dritten Bereich gesell-
schaftlich wirksamen Handelns geben soll. Fraglos tritt dieser häufig und
legitimerweise in Kombination mit Dienstleistungen auf. Das gemeinnützige
Krankenhaus muß sich prinzipiell vom öffentlichen und vom privaten da-
durch unterscheiden, daß es sich als Anwalt der Patienten versteht. Aber
gerade dort, wo die Themenanwaltschaft gewissermaßen in Reinkultur er-
scheint, wird der Grundsatz der Teilhabe an den Anliegen der Gesellschaft
– der Gemeinschaft besonders erkennbar. Im Gegensatz zum Staat, der in
seiner Entscheidungsfindung meist als fern und abgehoben empfunden
wird - leider in der Regel schon auf der Kommunalebene - , wird für das
Mitglied des Vereins ohne weiteres erlebbar, was seine Teilhabe bewirken
kann. Dies allein fördert Integration; jeder spürt Mitverantwortung, sieht
auch, was „seine“Entscheidung bewirkt. Hier wächst Solidarität heran, hier
wird der Ausgrenzung entgegengearbeitet.
Dieser Bereich des 3. Sektors ist vor allem gemeint, wenn etwa Gerhard
Schröder – etwas tautologisch – von der ‚zivilen Bürgergesellschaft‘spricht
und sie als Anregung zu einer Neubestimmung von Staat und Gesellschaft
verstanden wissen will41. Die schon erwähnten und auf den ersten Blick
gewiß bescheiden erscheinenden 0,2%, der Anteil der Finanzierung des
Sektors aus Erträgen von Stiftungsvermögen erscheinen in diesem Zu-
sammenhang in einem ganz anderen Licht. In diesem Teil des Sektors ist
der Staatsanteil unvergleichlich geringer, jener Anteil dementsprechend
erheblich größer. Hier Venture Capital, Risikokapital, zur Verfügung zu
stellen, ist eine vornehme Aufgabe von Stiftungen. Wenn sie denn als För-
derstiftung ausgelegt ist, ist sie als Mittlerorganisation im Sektor (eine der
vier Gruppen nach der EU-Einteilung neben Dienstleistern, Themenanwäl-
ten und Selbsthilfeorganisationen) aufgerufen, hier gezielt einzugreifen,
zumal sie Fehler machen und Wagnisse eingehen kann; sie ist eben „nur“
dem Stifter, nicht aber einer Fülle von Gremien und Aufsichtsorganen ver-
antwortlich, muß weniger abwägen und bedenken.
Es scheint, daß das Ziel der Bürgergesellschaft, verstanden als eine Ge-
sellschaft, in der Bürger Verantwortung nicht nur, wie vielfach gefordert für
sich, sondern in besonderem Maße auch für andere auf freiwilliger Basis
übernehmen, zu einem nicht unerheblichen Grad davon abhängt, daß Stif-
tungen – kontinuierlich – und Spender – spontan, wie es sich zunehmend

40
   In dieser Formulierung s. die gemeinsame Erklärung des Bundespräsidenten Rau und
seiner Amtsvorgänger vom September 1999
41
   so der Titel seines Aufsatzes in: Die Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 47 (2000) 4, S.
200 ff, gekürzt wiedergegeben in MAECENATA ACTUELL Nr. 21, 2000, S. 6 ff.

                                            19
Sie können auch lesen