Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium

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Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Monatsbericht des BMF
Dezember 2019
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Titelbild: Ministertresen

Wer einen Termin mit dem Bundesfinanzminister im Detlev-Rohwedder-Haus hat, kommt an ihm nicht vorbei: dem
Ministertresen. Er ist der Empfangstisch und die zentrale Anlaufstelle für alle, die den Minister in seinem Dienstzimmer
treffen oder eine Besprechung mit den Kolleginnen und Kollegen des Ministerbüros haben. Für die Leitungsabteilung des
BMF ist der Ort Dreh- und Angelpunkt der alltäglichen Arbeit.

Weitere Informationen zur Geschichte des Bundesministeriums der Finanzen und seines Dienstgebäudes finden Sie unter:
www.bundesfinanzministerium.de/geschichte
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Monatsbericht des BMF
Dezember 2019
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
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Editorial
           Editorial                                                                       Monatsbericht des BMF
                                                                                                 Dezember 2019

                                                               Das BMF hat 2019 auch wichtige Fortschritte hin zu
                                                               mehr Steuergerechtigkeit erreicht. So haben wir eine
                                                               Anzeigepflicht für grenzüberschreitende Steuerge­
                                                               staltungsmodelle angestoßen, um Steuerschlupf­
                                                               löcher schneller schließen zu können. Außerdem
                                                               wird eine Sondereinheit künftig vom Fiskus unge­
                                                               wollte oder kriminelle Steuertricks am Kapitalmarkt
                                                               schneller aufdecken können. Mit einem im Sommer
                                                               beschlossenen Maßnahmenpaket gegen illegale Be­
                                                               schäftigung, Schwarzarbeit und Sozialleistungsbe­
                                                               trug sorgen wir für mehr Ordnung und Fairness auf
                                                               dem Arbeitsmarkt. Damit global tätige Unterneh­
                                                               men sich nicht länger einer fairen Besteuerung ent­
                                                               ziehen, hat Deutschland gemeinsam mit Frankreich
Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                 bei den G20 und der Organisation für wirtschaftli­
                                                               che Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die
in wenigen Tagen endet das Jahr 2019. Damit gehen              Initiative für eine globale effektive Mindestbesteue­
für das BMF und die Bundesregierung arbeitsreiche              rung angestoßen.
zwölf Monate zu Ende. Wichtige Vorhaben der ver­
gangenen Wochen waren die Umsetzung des Klima­                 In wenigen Tagen beginnen die 20er-Jahre dieses
schutzpakets 2030 und der Abschluss des Bundes­                Jahrhunderts. Daher geht der Blick nicht nur in die
haushalts 2020. Der Bund investiert so stark wie nie,          Vergangenheit, sondern vor allem in die Zukunft.
die öffentlichen Investitionen im Haushalt 2020 be­            Eine gute Zukunft gibt es für Deutschland nur in ei­
tragen knapp 43 Milliarden Euro.                               nem starken Europa. Deshalb werden wir weiter da­
                                                               ran arbeiten, die Wirtschafts- und Währungsunion
Das Jahresende ist ein guter Moment, um zurück­                zu vertiefen. Dabei können wir auf Erfolgen auf­
zuschauen. Die Bundesregierung hat in ihrer Be­                bauen, die wir etwa mit der Reform des Europäi­
standsaufnahme zur Halbzeit der Legislaturperiode              schen Stabilitätsmechanismus und mit der Einigung
deutlich gemacht, dass sie viel dafür getan hat, das           auf ein Haushaltsinstrument für den Euroraum er­
verfügbare Einkommen der Arbeitnehmerinnen und                 reicht haben. Auch die Vollendung der Banken­
Arbeitnehmer sowie von Familien zu erhöhen. Seit               union und die Vertiefung der Kapitalmarktunion
dem 1. Juli 2019 gibt es für mehr als 17 Millionen Kin­        sind wichtige Bausteine für ein starkes, solidarisches
der in Deutschland ein höheres Kindergeld. Außer­              und stabiles Europa.
dem hat die Bundesregierung den Grundfreibetrag,
den Kinderzuschlag für einkommensschwache Fa­                  Ich freue mich, wenn Sie uns bei diesen Arbeiten
milien und Alleinerziehende sowie das BAföG erhöht             weiterhin begleiten und wünsche Ihnen und Ih­
und die Sozialbeiträge gesenkt. Durch den Ausgleich            ren Familien besinnliche Feiertage und einen guten
der kalten Progression wirken sich Lohnerhöhungen              Start in das Jahr 2020.
wirklich auf dem Konto aus. Eine weitere wesentli­
che Einkommensverbesserung erfolgt, wenn der So­
lidaritätszuschlag für fast alle von 2021 an abgeschafft
wird. Mit der Grundrente, auf die sich die Koalition
im November geeinigt hat, werden viele Rentnerin­
nen und Rentner, die ein Leben lang gearbeitet, Kin­           Wolfgang Schmidt
der erzogen oder Angehörige gepflegt haben, künftig            Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen
mehr haben als die Grundsicherung.

                                                           3
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Inhaltsverzeichnis

      Inhaltsverzeichnis
      Analysen und Berichte____________________________________________7
      Zielbild der Bankenunion_________________________________________________________________________________ 8
      Seminar zum Thema „Inequality and Growth“___________________________________________________________ 14
      Bergbausanierung der LMBV: Nachhaltiger Wandel in den Kohleregionen________________________________ 20
      100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland__________________________________________________________________ 25

      Aktuelle Wirtschafts- und Finanzlage____________________________29
      Überblick zur aktuellen Lage_____________________________________________________________________________ 30
      Konjunkturentwicklung aus finanzpolitischer Sicht______________________________________________________ 31
      Steuereinnahmen im November 2019____________________________________________________________________ 38
      Entwicklung des Bundeshaushalts bis einschließlich November 2019____________________________________ 42
      Entwicklung der Länderhaushalte bis einschließlich Oktober 2019_______________________________________ 47
      Finanzmärkte und Kreditaufnahme des Bundes__________________________________________________________ 49
      Europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik_____________________________________________________________ 55

      Aktuelles aus dem BMF__________________________________________61
      Im Portrait: Benjamin Mikfeld, Leiter der Abteilung Leitung, Planung und Strategie______________________ 62
      Termine_________________________________________________________________________________________________ 65
      Publikationen___________________________________________________________________________________________ 66

      Statistiken und Dokumentationen_______________________________67
      Übersichten zur finanzwirtschaftlichen Entwicklung____________________________________________________ 68
      Übersichten zur Entwicklung der Länderhaushalte_______________________________________________________ 69
      Gesamtwirtschaftliches Produktionspotenzial und Konjunktur­komponenten des Bundes________________ 69
      Kennzahlen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung____________________________________________________ 70

      Verzeichnis der Berichte_________________________________________71
      Verzeichnis der Berichte im Monatsbericht des BMF 2019________________________________________________ 72
Monatsbericht des BMF - Dezember 2019 - Bundesfinanzministerium
Analysen
und Berichte
Analysen und Berichte

Zielbild der Bankenunion                                               8

Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                             14

Bergbausanierung der LMBV: Nachhaltiger Wandel in den Kohleregionen   20

100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland                                 25
Analysen und Berichte                                                    Monatsbericht des BMF
                                                                                         Dezember 2019

Zielbild der Bankenunion

    ●● Mit der Vollendung der Bankenunion wird ein gemeinsamer Markt für Bankdienstleistungen
       geschaffen, der Binnenmarkt gestärkt und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden ge­
       schützt. Dadurch werden Wohlfahrtsgewinne für die gesamte Europäische Union erzeugt. Verbes­
       serte Rahmenbedingungen für grenzüberschreitend tätige Banken führen zu einem effizienteren,
       besseren und günstigeren Zugang zu Finanzierungen. Sie reduzieren den engen Risikoverbund
       zwischen nationalen Volkswirtschaften und nationalen Banken durch mehr grenzüberschreiten­
       de Investitionen und Geschäftstätigkeit.

    ●● Es bedarf eines effektiveren Krisenmanagements mit europaweit harmonisierten Regeln. Erfor­
       derlich ist auch die Verringerung von Risiken im Bankensektor durch die Risikogewichtung von
       Staatsanleihen und den Abbau notleidender Kredite in den Bankenbilanzen.

    ●● Im Rahmen einer auf diese Weise gestärkten Gesamtarchitektur kann eine europäische Ein­
       lagenrückversicherung realistisch werden. Dies bedeutet erstens, dass zunächst das nationale
       System in die Pflicht genommen wird: Nur wenn dieses nicht genügt, greift das europäische
       System ein. Zweitens bedeutet es, dass Banken über ihre Beiträge zum nationalen und europä­
       ischen Einlagensystem die Kosten tragen und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler damit
       geschützt werden.

    ●● Zudem ist eine Vermeidung steuerlicher Arbitrage, also des Ausnutzens steuerlicher Unterschie­
       de, durch eine einheitliche europäische Besteuerung von Banken in Europa erforderlich.

   Einleitung                                          verfügt, erlaubt es, die immer noch bestehende
                                                       Marktfragmentierung zu überwinden, und schafft
Bundesfinanzminister Olaf Scholz stellte Anfang        die Voraussetzungen dafür, dass Kapital und Liqui­
November im Kreise seiner europäischen Kollegin­       dität dahin fließen können, wo sie am meisten ge­
nen und Kollegen seine Ideen vor, um die Blockade      braucht werden. Sie stärkt die Wettbewerbsfähig­
bei den Gesprächen über die Bankenunion in der         keit europäischer Banken und die Stabilität des
Europäischen Union (EU) aufzulösen und die Sta­        Bankensektors insgesamt. Eine solche Banken­
bilität des europäischen Finanzsystems weiter zu       union verbessert die Fähigkeit des Euroraums, auf
erhöhen.                                               makroökonomische Schocks zu reagieren, und sie
                                                       vermindert den Risikoverbund von Staaten und
Mit der Vollendung der Bankenunion wird ein ge­        Banken („Sovereign-Bank Nexus“), der immer noch
meinsamer Markt für Bankdienstleistungen ge­           zu eng ist. Sie kommt Unternehmen, Investorinnen
schaffen, der europäische Binnenmarkt ge­              und Investoren sowie Sparerinnen und Sparern in
stärkt und Wohlfahrtsgewinne werden für die            Europa zugute und schützt die europäischen Steu­
gesamte EU erzeugt. Eine Bankenunion, die über         erzahlerinnen und Steuerzahler.
die richtigen Regeln, Institutionen und Verfahren

                                                      8
Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
          Zielbild der Bankenunion                                                        Dezember 2019

   Wesentliche Ziele und                                  Stärkung von Krisenmanagement
   Bestandteile                                           und Aufsicht

                                                                                                               Analysen und Berichte
Die Bankenunion in ihrer heutigen Ausgestaltung        Um einen nachhaltigen Umgang mit Risiken im
ist eine Reaktion auf die Finanzkrise seit 2008 und    Bankensektor sicherzustellen und neuerlichen Kri­
wird seit 2014 umgesetzt. Sie setzt sich aus insge­    sen bestmöglich vorzubeugen, muss der institutio­
samt drei Säulen zusammen: einem einheitlichen         nelle und regulatorische Rahmen weiter verbessert
Aufsichtsmechanismus für Banken (Single Super­         werden. Dabei kann sich Europa am Beispiel der
visory Mechanism, SSM) und einem einheitlichen         US-amerikanischen Einlagensicherungsbehörde
Mechanismus zur Abwicklung von Banken (Sin­            orientieren, der Federal Deposit Insurance Corpo­
gle Resolution Mechanism, SRM) mit dem Einheit­        ration (FDIC). Dort haben die Angleichung der Ge­
lichen Abwicklungsausschuss (Single Resolution         setze und Verfahren und die Konzentration von
Board, SRB).                                           Zuständigkeiten einen großen und einheitlichen
                                                       Bankenmarkt geschaffen, Wettbewerbsvorteile für
Darüber hinaus wurden die Anforderungen an die         amerikanische Banken begründet und dazu bei­
nationale Einlagensicherung mit der im April 2014      getragen, dass die USA sich auf einem höheren
beschlossenen Reform der Einlagensicherungs­           Wachstumspfad bewegen.
richtlinie (Deposit Guarantee Schemes Directive,
DGSD) weiter harmonisiert.                                Krisenmanagement für kleinere Banken und
                                                          einheitliches Bankeninsolvenzrecht
Alle EU-Länder sind verpflichtet, bankenfinan­
zierte Einlagensicherungsfonds aufzubauen, da­         Zwei Punkte sind besonders relevant: das Krisen­
mit im Entschädigungsfall Bankeneinlagen bis zu        management für kleinere Banken und die Schaf­
100.000 € garantiert sind. Die Bankenunion ver­        fung eines europäischen Bankeninsolvenzrechts.
fügt hier mit der Eigenkapitalrichtlinie und -ver­
ordnung, der Einlagensicherungsrichtlinie und          Zum Krisenmanagement: Der SSM sowie der SRM
der Abwicklungsrichtlinie beziehungsweise der          leisten bereits einen wichtigen Beitrag. Allerdings
SRM-Verordnung also bereits über ein grundlegen­       finden die Abwicklungsinstrumente des SRM, die
des gemeinsames Regelwerk, welches das nationale       gerade auch den Erhalt systemrelevanter Teile der
Recht harmonisiert.                                    Bank zum Gegenstand haben können, grundsätz­
                                                       lich nur auf systemrelevante Banken Anwendung
Seither wird zur Vollendung der Bankenunion über       und nur, soweit dies im öffentlichen Interesse liegt.
eine europäische Einlagensicherung diskutiert. Die     Auf andere Banken, die in Schieflage geraten, sind
Bankenunion, wie sie der Bundesfinanzminister          vorwiegend nationale Verfahren und Gesetze anzu­
anstrebt, erfordert auch die weitere Stärkung von      wenden, insbesondere nationales Insolvenzrecht.
Krisenmanagement und Aufsicht und den wei­
teren Abbau von Risiken in Bankbilanzen. Sie er­       Die Voraussetzungen der Richtlinie zur Sanierung
fasst dann auch eine europäische Einlagenrückver­      und Abwicklung von Kreditinstituten (Bank Re­
sicherung und einheitliche steuerliche Regeln, um      covery and Resolution Directive, BRRD), insbeson­
schädliche Arbitrage zu vermeiden. Es handelt sich     dere das Erfordernis des öffentlichen Interesses an
also nicht nur um eine Stärkung der dritten Säule,     einer Abwicklung, erfüllen nicht systemrelevante
sondern um die echte Vollendung einer regelba­         Banken in der Regel nicht. Das dann zur Anwen­
sierten Bankenunion. Europas Binnenmarkt wird          dung kommende allgemeine Insolvenzrecht ist je­
so stabiler, im Krisenfall werden Steuerzahlerinnen    doch oftmals nicht passend für ein effektives Kri­
und Steuerzahler zuverlässig geschützt.                senmanagement. Wie die Erfahrung zeigt, kann

                                                      9
Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
           Zielbild der Bankenunion                                                        Dezember 2019

das allgemeine Insolvenzrecht einerseits zu Ergeb­        aufwendig, erhöht Rechts- und Entschädigungs­
nissen führen, die mit den europäischen Abwick­           risiken und führt zu unterschiedlicher Behand­
lungsprinzipien beziehungsweise -standards nicht          lung eigentlich gleicher Gläubigergruppen. Des­
im Einklang stehen. Andererseits kann der Erhalt          halb bedarf es eines einheitlichen europäischen
des Kerngeschäfts einer in Schieflage geratenen           Bankeninsolvenzrechts.
Bank mit den Möglichkeiten der nationalen In­
solvenzregeln schwierig sein, auch wenn dieser im            Stärkere Integration von EU-Bankengruppen
spezifischen Einzelfall sinnvoll wäre.
                                                          Eine weitere Verbesserung durch die Vorschläge
Daher sollten die Werkzeuge aus der BRRD, die             von Bundesfinanzminister Olaf Scholz betrifft die
sich im Abwicklungsregime für systemrelevante             Integration grenzüberschreitend tätiger Banken­
Banken als nützlich erwiesen haben, auch Teil des         gruppen, konkret die Zuordnung von Kapital, Li­
Werkzeugkastens der harmonisierten Regelungen             quidität und bail-in-fähigen Verbindlichkeiten
für das Krisenmanagement bei nicht systemrele­            zwischen der Konzernmutter und ihren -töchtern.
vanten Banken sein, falls diese in Schieflage gera­       Diese Fragestellung wird unter den Stichwörtern
ten. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass bei      „Home-Host“ und „Ring-fencing“ diskutiert. Host-
fehlender Systemrelevanz kein Zugriff auf den eu­         beziehungsweise Gastländer von Banken fordern
ropäischen Abwicklungsfonds (Single Resolution            dabei den Schutz der bei ihnen ansässigen Töch­
Fund, SRF) und den Europäischen Stabilitätsme­            ter in Krisenzeiten. Dies geschieht derzeit insbe­
chanismus (ESM) als sogenannte Letztsicherung             sondere durch Kapital- und Liquiditätsanforde­
für den SRF erfolgt.                                      rungen sowie Anforderungen an die für den Fall
                                                          einer Abwicklung vorzuhaltenden Verlustpuf­
Zu den einzuführenden Werkzeugen gehören u. a.            fer (Mindestanforderung an Eigenmittel und für
die Errichtung einer Brückenbank ebenso wie der           bail-in-berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten
Verkauf des Einlagengeschäfts. Soweit erforderlich,       (Minimum Requirement for Own Funds and Eli­
könnten diese als alternative Einlagensicherungs­         gible Liabilities, MREL)) sowie durch Grenzen für
maßnahmen aus dem einschlägigen Einlagensi­               Großkredite auch innerhalb der eigenen Konzern­
cherungsfonds finanziert werden. Dabei gilt eine          gruppe (Ring-Fencing).
strenge Wirtschaftlichkeitsprüfung („Least-Cost
Principle“). Das bedeutet, dass die Finanzierung sol­     Demgegenüber sprechen sich Home- beziehungs­
cher Maßnahmen im Einzelfall für den Einlagensi­          weise Heimatländer der Banken für den ungehin­
cherungsfonds günstiger sein muss als die Auszah­         derten Fluss von Kapital und Liquidität innerhalb
lung der geschützten Einlagen.                            einer Bankengruppe aus. Die Kapital- und Liquidi­
                                                          tätsanforderungen sowie MREL wären nur durch
Der SRB sollte eine maßgebliche Rolle bei den Ent­        die Gruppe insgesamt einzuhalten.
scheidungen über diese alternativen Maßnahmen
spielen und institutionell eingebunden werden, so­        Eine nach vorne gerichtete und ausbalancierte Lö­
weit für den Binnenmarkt erforderlich.                    sung muss das Bedürfnis der Gastländer nach ei­
                                                          ner fairen Lastenteilung berücksichtigen und dabei
Der Mangel an Harmonisierung verkompliziert zu­           die größtmögliche Integrationswirkung erzielen.
dem auch die Abwicklung grenzüberschreitend tä­           Dies kann erreicht werden, wenn Flexibilität für
tiger Banken. Der SRB muss auch im Rahmen der             eine effiziente Zuordnung von Kapital und Liqui­
Abwicklung 19 verschiedene nationale Insolven­            dität innerhalb der Bankenunion in normalen Zei­
zordnungen beachten, denn es gilt das „No Credi­          ten kombiniert wird mit einer klaren Zuordnung
tor Worse Off“-Prinzip, demzufolge kein Gläubiger         von Kapital und Liquidität zwischen Konzernmut­
durch die Abwicklung schlechtergestellt werden            ter und -töchtern in Krisenzeiten. Diese Zuordnung
darf als im nationalen Insolvenzverfahren. Das ist        könnte beispielsweise auf gesetzlichen Regelungen

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Analysen und Berichte                                                       Monatsbericht des BMF
          Zielbild der Bankenunion                                                          Dezember 2019

der Rangordnung innerhalb der Gruppe (soge­              Banken nutzen Staatsanleihen u. a. dafür, regulato­
nannter Wasserfall) oder anderen Sicherungsvor­          rische Vorgaben wie die Liquiditätsquote (Liquid­
kehrungen beruhen und durch eine Entscheidung            ity Coverage Ratio) zu erfüllen oder sich auf besi­

                                                                                                                 Analysen und Berichte
von SSM und SRM in Kraft gesetzt werden.                 cherten Geldmärkten (Repomärkte) zu finanzieren.
                                                         Eine zweite Komponente sind Basisrisikogewichte,
                                                         die sich durch die Bonität des Kredits bestimmen.
   Weiterer Abbau von Risiken                            Und zuletzt schafft ein Konzentrationsfaktor An­
                                                         reize, die Staatsrisiken in Bankbilanzen zu diversi­
Eine stärkere Integration des europäischen Ban­          fizieren, da mit ihm die Kapitalanforderungen mit
kenmarkts muss auch mit der Reduktion von Ri­            zunehmender Konzentration der Forderungen ge­
siken einhergehen. Dies gilt insbesondere für den        genüber einer staatlichen Kreditnehmereinheit
konsequenten und nachhaltigen Abbau notleiden­           steigen.
der Kredite (Non-Performing Loans, NPL). Obwohl
sich das NPL-Volumen im Euroraum seit 2014 fast          Durch eine vorsichtige Kalibrierung und eine an­
halbiert hat, weisen einzelne Mitgliedstaaten wei­       gemessene Übergangsphase wäre eine übermäßige
terhin hohe NPL-Quoten auf. Weitere Regeln, auf          Belastung der Banken und Risiken für die Finanz­
die sich auf europäischer Ebene geeinigt wurde, wie      stabilität vermeidbar.
z. B. eine Mindestdeckung von NPL, werden um­
gesetzt und sollen zukünftig den Aufbau von NPL          Nicht weniger wichtig für einen nachhaltigen Ri­
schon in einem früheren Stadium verhindern.              sikoabbau sind weitere Maßnahmen im Kampf ge­
                                                         gen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.
Das größte Hindernis für einen noch weitergehen­
den Risikoabbau ist die Frage der regulatorischen
Behandlung von Forderungen gegenüber Staaten.               Europäische
Im gegenwärtigen Aufsichtsregime werden Forde­              Einlagenrückversicherung
rungen gegenüber Staaten der EU bevorzugt be­
handelt und als risikolos eingestuft. Banken müssen      Zu einer gestärkten Architektur der Bankenunion
daher derzeit für ihre Forderungen gegenüber Staa­       gehört langfristig auch eine europäische Einlagen­
ten der EU kein Eigenkapital vorhalten (Null-Pro­        sicherung. Seit dem Vorschlag der Europäischen
zent-Risikogewicht). Die vergangene Finanz- und          Kommission für ein europäisches Einlagensiche­
Staatsschuldenkrise hat jedoch gezeigt, dass Staats­     rungssystem aus dem Jahr 2015 ist die Diskussion
anleihen keine risikolose Anlageform sind. Nötig ist     festgefahren. Obwohl es einen breiten Konsens
daher eine sorgfältig austarierte Gewichtung der         gibt, dass ein europäisches System das Vertrauen
Ausfallrisiken von Forderungen gegenüber Staaten.        von Einlegerinnen und Einlegern in das Banken­
                                                         system stärken und somit Bank Runs entgegenwir­
Darüber hinaus stellt auch ein hoher Bestand an          ken kann, sind die Positionen der Mitgliedstaaten
Forderungen gegenüber einem einzelnen Staat –            gegenwärtig kaum vereinbar.
häufig dem Sitzland der Bank – ein Risiko für die
Finanzstabilität dar (Sovereign-Bank-Nexus), da          Das von Bundesfinanzminister Olaf Scholz vor­
strauchelnde Banken schnell einen Staat in Mitlei­       geschlagene Rückversicherungssystem soll die
denschaft ziehen können. Diese Verbindung kann           Blockade auflösen. Ein europäisches Rückversiche­
durch risikobasierte Konzentrationszuschläge zum         rungssystem dient dazu, Differenzen in der Leis­
Eigenkapital der Banken durchbrochen werden.             tungsfähigkeit nationaler Einlagensicherungs­
                                                         systeme auszugleichen, und schafft Vertrauen in
Das Modell besteht aus drei Komponenten. Ein Frei­       die Einlagensicherung, selbst wenn nationale Si­
betrag soll die besondere Bedeutung von Forderun­        cherungseinrichtungen an ihre Grenzen stoßen.
gen gegenüber Staaten für Banken berücksichtigen.        Gleichzeitig stellt es sicher, dass keine Fehlanreize

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Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
          Zielbild der Bankenunion                                                        Dezember 2019

geschaffen werden, indem Haftung auf die europä­           Vermeidung von Steuer-Arbitrage
ische Ebene verlagert wird.
                                                        Unterschiedliche Steuerregelungen in den Mit­
Die nationalen Einlagensicherungseinrichtungen          gliedstaaten sind eine der zentralen Ursachen für
werden in dem Modell durch einen Europäischen           Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU. Un­
Einlagensicherungsfonds (Deposit Insurance Fund,        terschiedliche Bemessungsgrundlagen der Körper­
DIF) auf Basis eines intergouvernementalen Über­        schaftsteuer oder die unterschiedliche Behandlung
einkommens ergänzt, der vom SRB verwaltet wird.         der Abzugsfähigkeit der Beiträge zum Abwick­
Dabei muss die nationale Verantwortung ein zen­         lungsfonds („Bankenabgabe“) ermöglichen es Mit­
trales Element bleiben. So würde der DIF erst nach      gliedstaaten, die über eine europäische Einlagen­
Erschöpfung der nationalen Mittel in Anspruch ge­       sicherung von der Solidarität aller Mitgliedstaaten
nommen werden können. Die deutschen Einla­              profitieren würden, sich gleichzeitig zulasten an­
gensicherungssysteme könnten diese Anforderung          derer Mitgliedstaaten durch vorteilhaftere Steuer­
durch einen Ausgleichsmechanismus untereinan­           regelungen als attraktiver Standort für Banken zu
der erfüllen.                                           positionieren.

Im Falle einer Bankschieflage käme damit ein            Deutschland drängt daher zusammen mit Frank­
mehrstufiges Verfahren zur Anwendung. In der            reich auf eine Gemeinsame Körperschaftsteu­
ersten Stufe wären, wie bisher auch, die nationalen     er-Bemessungsgrundlage (GKB) und eine effektive
Sicherungssysteme zur Hilfeleistung verpflichtet.       Mindestbesteuerung. Die GKB wird Wettbewerbs­
Erst wenn die nationalen Mittel erschöpft wären,        gleichheit und Chancengleichheit innerhalb der EU
würde der DIF in der zweiten Stufe Liquidität durch     fördern und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit
rückzahlbare Darlehen zur Verfügung stellen. Hier­      des EU-Binnenmarkts als Ganzes stärken. Eine ef­
bei wäre die Unterstützung durch den europäi­           fektive Mindestbesteuerung trägt dazu bei, das bis­
schen Fonds klar durch einen Deckel begrenzt. In        her für die Haushalte der Mitgliedstaaten schädli­
dem seltenen Fall, dass weitere Mittel erforderlich     che „Race-to-the-Bottom“, also den Wettstreit um
wären, ginge die Haftung zurück an den Mitglied­        die geringsten Anforderungen, bei den Steuersät­
staat, der, gegebenenfalls mit Unterstützung ei­        zen zu beenden. Eine solche Mindestbesteuerung
nes regulären ESM Programms, zur Unterstützung          würde zudem in Bezug auf die Unterschiede in
der Bank aufgerufen wäre. Perspektivisch könnte –       der traditionellen und digitalisierten Wirtschaft zu
nachdem alle Elemente der Bankenunion vollstän­         mehr Steuergerechtigkeit führen.
dig umgesetzt worden wären – zusätzlich zu dem
rückzahlbaren Darlehen eine begrenzte Verlustbe­        Eine Bankenunion, die auf einem fairen Interessen­
teiligung erwogen werden.                               ausgleich basiert, muss auch Arbitragemöglichkei­
                                                        ten ausschließen. Fortschritte bei der Bankenunion
Elementarer Bestandteil des europäischen Rück­          dürfen nicht dazu führen, dass Steuerregelungen
versicherungssystems ist – wie schon heute bei den      weiterhin den Wettbewerb verzerren. Aus diesem
nationalen Systemen der Fall – eine risikobasierte      Grund ist eine einheitliche Besteuerung für Ban­
Beitragsbemessung nach dem Verursacherprinzip.          ken in der EU unverzichtbar. Zu dem Ziel gleicher
Banken, die mit höherer Wahrscheinlichkeit die          Wettbewerbsbedingungen bei der steuerlichen Be­
Mittel der Einlagensicherung in Anspruch nehmen         handlung der Bankenabgabe haben sich die Mit­
würden, müssten höhere Beiträge zahlen. Das von         gliedstaaten schon im SRM-Vertrag bekannt. Die­
Finanzminister Olaf Scholz vorgeschlagene Modell        ses Ziel sollte endlich erreicht werden.
erlaubt den Fortbestand der Institutssicherungs­
systeme in unserem Drei-Säulen-Modell des deut­
schen Bankenmarkts.

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Analysen und Berichte                                                   Monatsbericht des BMF
          Zielbild der Bankenunion                                                      Dezember 2019

   Fazit und Ausblick                                 Olaf Scholz vorgeschlagene Paket aus gestärkter
                                                      Aufsicht und effizienterem Krisenmanagement,
Die Vollendung der Bankenunion ist von wesent­        dem weiteren Abbau von Risiken in Bankenbilan­

                                                                                                            Analysen und Berichte
licher Bedeutung für die Stärkung von Stabilität,     zen, der Vermeidung steuerlicher Arbitrage und ei­
Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum im Euro­            ner europäischen Einlagenrückversicherung ist
raum und in der EU. Ein robuster, effizient funk­     umfassend, fair und ausgewogen. Die vergange­
tionierender Finanzsektor ist im ureigensten In­      nen Jahre haben gezeigt, dass Fortschritt möglich
teresse Europas. Dies ist wesentlich, um Europas      ist, wenn die Themen aus einer europäischen Per­
Souveränität auch vor dem Hintergrund des be­         spektive betrachtet werden und alle Beteiligten be­
vorstehenden Brexits zu stärken. Unter dem Ein­       reit sind, Kompromisse einzugehen. Mit Lösungen
druck der Finanzkrise wurden in Europa bereits        in den dargestellten Bereichen kann die Banken­
wichtige Maßnahmen umgesetzt, aber sie allein         union vollendet werden.
reichen nicht aus. Das von Bundesfinanzminister

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Analysen und Berichte                                                      Monatsbericht des BMF
                                                                                           Dezember 2019

Seminar zum Thema „Inequality and Growth“

    ●● Am 25. Oktober 2019 fand im BMF ein Seminar zum Thema „Ungleichheit und Wachstum“ („In­
       equality and Growth“) mit Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten der Europäischen
       Union (EU), der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und der Bundesministe­
       rien der Finanzen, für Wirtschaft und Energie sowie für Arbeit und Soziales statt.

    ●● Im Mittelpunkt des Seminars stand das Konzept des „inklusiven Wachstums“, wonach alle Bevölke­
       rungsschichten vom Wirtschaftswachstum profitieren sollen.

    ●● Nach Fachvorträgen von Expertinnen und Experten der Europäischen Kommission, der Organisa­
       tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Bertelsmann-Stiftung wurde
       über unterschiedliche Ansätze und Grenzen von „inklusivem Wachstum“ in der EU diskutiert.

    ●● Das Seminar deckte ein breites Meinungsspektrum ab. Die Vorträge repräsentieren natürlich
       verschiedene individuelle Positionen, sind jedoch allesamt konstruktive Beiträge zu aktuellen
       wirtschaftspolitischen Diskussionen. Die Meinung der Fachvorträge entspricht nicht zwingend der
       Position des BMF.

   Bedeutung der sozialen                                von der Leyen betont in ihrer Agenda für den Zeit­
   Dimension in der                                      raum 2019 bis 2024 die Bedeutung der Europäi­
                                                         schen Säule sozialer Rechte und beabsichtigt, dieser
   Europäischen Union                                    in der politischen Agenda einen hohen Stellenwert
                                                         einzuräumen. Die Europäische Kommission hat
In der Präambel des Vertrags der Europäischen            diese Säule prominent in ihrem jährlichen Jahres­
Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 schrieben die           wachstumsbericht verankert. Dieser Bericht ist we­
Unterzeichner des Vertrags u. a., dass sie fest ent­     sentlicher Bestandteil im Verfahren des Europäi­
schlossen seien, „den wirtschaftlichen und sozia­        schen Semesters und benennt die wirtschafts- und
len Fortschritt ihrer Länder zu sichern“. Neben der      finanzpolitischen Herausforderungen der Mitglied­
wirtschaftlichen Dimension ist auch die soziale          staaten der EU. Im Jahreswachstumsbericht 2019
heute noch fest im Werteverständnis der EU und           werden „anhaltende Einkommensungleichheit“
ihrer Mitglieder verankert. Dies wird in den Grund­      und „regionale und territoriale Ungleichheiten“ zu
sätzen der Europäischen Säule sozialer Rechte, die       den größten Risiken und Herausforderungen ge­
am 17. November 2017 beim Sozialgipfel in Göte­          zählt. Im Jahreswachstumsbericht 2018 betonte die
borg verabschiedet wurde, besonders deutlich. In         Europäische Kommission die Bedeutung von in­
dieser Säule wird die Relevanz von Chancengleich­        klusivem Wachstum. So müsse bei der Umsetzung
heit, Arbeitsmarktzugang, fairen Arbeitsbedingun­        von Strukturreformen deren Verteilungswirkung
gen sowie Sozialschutz und sozialer Inklusion her­       berücksichtigt werden.
vorgehoben und in 20 Grundsätzen formuliert.
Auch die neue Kommissionspräsidentin Dr. Ursula

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Analysen und Berichte                                                                  Monatsbericht des BMF
      Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                                                    Dezember 2019

Das Europäische Semester                                   Inklusives Wachstum
dient der Überwachung, Koordinierung und
Abstimmung der Haushalts-, Wirtschafts-            „Inklusives Wachstum“ ist kein eindeutig defi­

                                                                                                                             Analysen und Berichte
und Reformpolitik in den Mitgliedstaaten           nierter Begriff. Im Allgemeinen wird darunter die
der EU. Jedes Jahr analysiert die Europäische      Idee verstanden, dass möglichst alle Gesellschafts­
Kommission im Rahmen des Stabilitäts- und          mitglieder vom Wirtschaftswachstum profitie­
Wachstumspakts, der Verfahren zur Vermei-          ren sollen und niemand zurückgelassen werden
dung und Korrektur makroökonomischer               darf. Die Organisation für wirtschaftliche Zusam­
Ungleichgewichte und der Strategie Euro-           menarbeit und Entwicklung (OECD) beschreibt
pa 2020 eingehend die wirtschaftliche und          den Begriff als „economic growth that is distrib­
finanzielle Lage der Mitgliedstaaten, welche       uted fairly across society and creates opportunities
dann im Vorfeld ihrer nationalen Haushalts-        for all“ („Wirtschaftswachstum, welches gleichmä­
verfahren politische Leitlinien und Empfeh-        ßig alle Gesellschaftsschichten erreicht und Chan­
lungen erhalten.                                   cen für alle generiert“). Inklusives Wachstum steht
Die Mitgliedstaaten sollten die politischen        seit 2015 explizit auch auf der Agenda der G20, die
Prioritäten sowohl bei der Ausarbeitung ih-        sich ein „strong, sustainable, balanced and inclu­
rer Stabilitäts- und Konvergenzprogramme           sive growth“ („starkes, nachhaltiges, ausgewoge­
als auch bei der Erstellung ihrer Nationalen       nes und inklusives Wachstum“) zum Ziel setzt. Es
Reformprogramme berücksichtigen. In den            ist möglich, zwischen absolutem und relativem in­
Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen le-          klusiven Wachstum zu differenzieren. Unter dem
gen die Mitgliedstaaten ihre finanzpoliti-         absoluten Gesichtspunkt ist Wirtschaftswachstum
sche Strategie dar, um tragfähige öffentliche      inklusiv, sofern die Einkommensschwächsten da­
Finanzen zu erreichen. In ihren Nationalen         von profitieren. Um auch der relativen Definition
Reformprogrammen nehmen die Mitglied-              zu genügen, müssen die Einkommen der Einkom­
staaten zu den Herausforderungen Stellung,         mensschwächsten stärker steigen als die der Ge­
welche die Kommission in ihren Länderbe-           samtbevölkerung. Darüber hinaus wird „inklusives
richten identifiziert hat. Insbesondere legen      Wachstum“ mit Chancengleichheit, Nachhaltig­
die Mitgliedstaaten ihre Maßnahmen zur             keit, Teilhabe und sozialer Mobilität assoziiert.1 Ge­
Umsetzung der länderspezifischen Empfeh-           mein ist den jeweiligen Definitionen, dass sie expli­
lungen des Vorjahres und zur Verwirklichung        zit oder implizit die Reduktion von Ungleichheiten
der Ziele der EU-2020-Strategie dar.               als Ziel beinhalten.
Auf Grundlage dieser Reformprogramme
und Stabilitäts- und Konvergenzprogram-
me erarbeitet die Kommission Entwürfe zu
länderspezifischen Empfehlungen. Der Fo-
kus und Schwerpunkt dieser Empfehlungen
kann sich von Jahr zu Jahr unterscheiden
und berücksichtigt die spezifischen Situa-
tionen und Herausforderungen der einzel-
nen Mitgliedstaaten. Diese Empfehlungen
werden im Ministerrat diskutiert, beschlos-
                                                       1 Vergleiche Anand, R., Mishra, S., Peiris, S. J. (2013) „Inclusive
sen und nach der Billigung des Europäischen
                                                         Growth Revisited: Measurement and Determinants“, in:
Rats schließlich angenommen.                             Economic Premise, No. 122, July 2013, The World Bank.

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Analysen und Berichte                                                     Monatsbericht des BMF
          Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                                       Dezember 2019

    Messung von Ungleichheit                            Rolle in wirtschafts- und sozialpolitischen Dis­
    Ungleichheit kann sich auf verschiedene             kussionen. So hat z. B. die französische Regierung
    Größen einer Volkswirtschaft oder Gesell-           das Thema „Ungleichheit“ auch zu einem Schwer­
    schaft beziehen. Im Fokus steht häufig die          punktthema der diesjährigen G7-Präsidentschaft
    Verteilung von Markteinkommen (vor Um-              gemacht.
    verteilung durch Steuern und Transferleis-
    tungen) oder Nettoeinkommen (nach Um-
    verteilung). Relevant ist auch die Verteilung          Hintergrund und Inhalt des
    von Vermögen, aber auch die Ungleich-                  Seminars
    heit in Chancen, was sich in Bildung, Ge-
    sundheit oder sozialer Teilhabe manifestie-         Das Thema „inklusives Wachstum“ wurde ange­
    ren kann (für eine ausführliche Diskussion          sichts der zunehmenden Relevanz im Rahmen ei­
    dieser Dimensionen auf globaler Ebene sie-          nes Seminars im BMF am 25. Oktober 2019 disku­
    he BMF-Monatsbericht vom Mai 2019). Um              tiert. Dabei sollte es im Rahmen des Seminars nicht
    Ungleichheit in Einkommen oder Vermö-               darum gehen, neue redistributive Maßnahmen zu
    gen messbar zu machen, wird häufig der              diskutieren. Stattdessen lag der Fokus zum einen
    Gini-Koeffizient verwendet. Sind die Ein-           auf der Evaluation der Verteilungswirkung derje­
    kommen oder das Vermögen für alle Indivi-           nigen Reformen, die auf nachhaltige Fiskalpolitik,
    duen gleich, nimmt der Gini-Koeffizient den         Wachstum und Wettbewerb abzielen. Zum anderen
    Wert 0 an. Er beträgt den Wert 1, wenn ein          sollten bereits bestehende redistributive Systeme
    einziges Individuum das gesamte Einkom-             nach Aspekten ihrer Wachstumswirkungen be­
    men verdient oder das gesamte Vermögen              wertet werden. Diese Verteilungswirkungen müs­
    besitzt. Problematisch am Gini-Koeffizien-          sen von politischen Entscheidungsträgerinnen und
    ten ist, dass er nicht die Struktur der Un-         -trägern bei der Wahl wirtschaftspolitischer Instru­
    gleichheit erfassen kann. Beispielsweise lie-       mente immer mitberücksichtigt werden.
    fert eine Erhöhung des Gini-Koeffizienten
    (zunehmende Ungleichheit) keine Informa-            Zu dem Seminar kamen Vertreterinnen und Vertre­
    tionen darüber, ob sich z. B. das Einkommen         ter aller Mitgliedstaaten der EU, der Europäischen
    der Mittelschicht im Vergleich zu den obe-          Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB)
    ren Einkommen verringert hat, oder ob z. B.         sowie des Bundesministeriums für Arbeit und So­
    der ärmste Teil der Bevölkerung weiter ab-          ziales und des Bundesministeriums für Wirtschaft
    gehängt wurde. Für eine politische Bewer-           und Energie zusammen.
    tung wäre eine solche Unterscheidung aber
    wichtig.
                                                           Europäische Kommission:
                                                           Strukturelle Reformen und
Gerade nach der Finanz- und Wirtschafts­                   inklusives Wachstum
krise 2008/2009 wird in der Öffentlichkeit die er­
folgreiche Erreichung der hinter dem Konzept „in­       Unter dem Vortragstitel „Structural reforms and
klusives Wachstum“ stehenden Ziele zunehmend            inclusive growth in Europe“ („Strukturelle Re­
angezweifelt. Die Annahme, dass alle Gesellschafts­     formen und inklusives Wachstum in Europa“)
mitglieder am Wirtschaftswachstum teilhaben,            sprach zunächst Erik Canton von der Europäi­
wird von vielen nicht mehr geteilt. Kritik an den       schen Kommission über drei verschiedene Blick­
Spielregeln, der Funktionsweise und den Mecha­          winkel auf Ungleichheit im Markt, die jeweils
nismen der marktbasierten Ordnung wird von Me­          unterschiedliche politische Herangehenswei­
dien sowie Politikerinnen und Politikern formu­         sen erfordern: „Pre-Market“-, „In-Market“-, und
liert; soziale Ungleichheit spielt eine wachsende       „Post-Market“-Perspektive. Danach werde aus der

                                                      16
Analysen und Berichte                                                                 Monatsbericht des BMF
           Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                                                   Dezember 2019

  Konsequente Berücksichtigung von Ungleichheiten bei politischen Entscheidungen                            Abbildung 1

                                                                                                                           Analysen und Berichte
        Post-Market                                                                            Pre-Market
                                      Wachstumsfördernde                Mittelausstattung
                                      Steuersysteme                       Infrastruktur

                                   Teilhabe                                   Institutionen
                                   fördernde              Inklusives             Governance
                                   Sozialsysteme
                                                          Wachstum

                                            Inklusive, anpassungsfähige Arbeitsmärkte
                                          Offene Produktmärkte ohne Zutrittsschranken
                                                       Effiziente Kreditmärkte

                                                          In-Market
  Quelle: Europäische Kommission

„Pre-Market“-Perspektive die Problematik von                          „In-Market“-Perspektive seien insbesondere die
Ungleichheiten thematisiert, die vor dem Eintre­                      Herstellung von anpassungsfähigen Arbeitsmärk­
ten ins Berufsleben von Bedeutung seien. Dies be­                     ten oder die Sicherung von Arbeitnehmerrech­
treffe z. B. ungleiche Chancen im Bildungssystem                      ten die empfohlenen Handlungsanweisungen. Die
oder den Zugang zu gleichwertigen Einrichtun­                         „Post-Market“-Perspektive betone die Bedeutung
gen der frühkindlichen Erziehung. Handlungsfel­                       von Steuer- und Transfersystemen für die Reali­
der aus diesem Blickwinkel heraus seien z. B. in der                  sierung von Gerechtigkeitsprinzipien. Die Abbil­
Verbesserung der individuellen Kompetenzen und                        dung 1 verdeutlicht, welche Handlungsfelder nach
Fähigkeiten, der Infrastruktur und der institutio­                    Auffassung der Europäischen Kommission typi­
nellen Gestaltung zu sehen. Die „In-Market“-Per­                      scherweise den verschiedenen Perspektiven zu­
spektive adressiere im Wesentlichen Mindeststan­                      geordnet werden. Nach der Meinung von Canton
dards und angemessenen Schutz im Arbeitsleben.                        könne im Europäischen Semester durch die Beach­
Diese zweite Betrachtungsweise sei ganz beson­                        tung dieser verschiedenen Blickwinkel die Qualität
ders durch Prozesse der Globalisierung und des                        der wirtschaftlichen Überwachung in den einzel­
technologischen Wandels betroffen. Nach dieser                        nen Mitgliedstaaten verbessert werden.

                                                                   17
Analysen und Berichte                                                                           Monatsbericht des BMF
              Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                                                             Dezember 2019

   OECD: Wirkung von Reformen                                             Wirtschaftswachstum und sozial gerechte Ver­
   der staatlichen Einnahmen- und                                         teilungswirkung nicht im Widerspruch zueinan­
   Ausgabenstruktur auf Wachstum                                          der stehen müssten. So habe z. B. eine Reduktion
                                                                          der effektiven Steuerlast von Niedrigverdienerin­
   und Ungleichheit
                                                                          nen und -verdienern in Verbindung mit einer Er­
Die zweite Präsentation zeigte Boris Cournède von                         höhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer so­
der OECD zur Frage, inwiefern Reformen der staat­                         wohl unter Gerechtigkeitsaspekten eine positive
lichen Einnahmen- und Ausgabenstruktur die Ein­                           Auswirkung als auch eine wachstumsfördernde
kommensungleichheit senken können, ohne das                               Wirkung. In der Abbildung 2 wird die auf Basis
Wirtschaftswachstum negativ zu beeinflussen.                              des ökonometrischen Modells geschätzte langfris­
Im Fokus standen die Haushaltsstruktur der Mit­                           tige Auswirkung einer solchen Reform auf das ver­
gliedstaaten und ihre Auswirkungen auf volks­                             fügbare Einkommen anhand von Dezilen (Zehn­
wirtschaftliche Größen wie Produktion und Haus­                           telwerten) grafisch dargestellt. Die Balken bilden
haltseinkommen. Dabei wurde deutlich, dass die                            die Schätzunsicherheit ab (Ober- und Untergrenze
Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht große Unter­                           des 90-Prozent-Konfidenzintervalls). Nach die­
schiede aufweisen. Auf der Grundlage einer ökono­                         sen Schätzungen würde im Zuge einer solchen Re­
metrischen Studie verdeutlichte Cournède, dass bei                        form das verfügbare Einkommen der ärmsten 10 %
bestimmten Reformen der öffentlichen Haushalte                            (1. Dezil) langfristig um etwa 1,7 % steigen. Im

   Einkommenszuwachs in allen Bevölkerungsschichten                                                                           Abbildung 2
                                                                             1
   durch steuerliche Entlastung von Geringverdienerinnen und Geringverdienern
   Einkommensveränderung in %

       3,0

       2,5

       2,0

       1,5

       1,0

       0,5

       0,0
                  D1          D2         D3          D4       D5          D6       D7         D8         D9         D 10
             Ärmste 10 %                          Dezil der Einkommensverteilung                           Reichste 10 %

                               Untergrenze                    Schätzung                     Obergrenze

   Anmerkung: Die Ober- und Untergrenzen markieren Konfidenzintervalle von 90 %.
   1 Geschätzter langfristiger Effekt auf die verfügbaren Einkommen bei Senkung der Steuerbelastung von Arbeitseinkommen in
     Höhe von 67 % des Durchschnittseinkommens um 1 Prozentpunkt und gleichzeitiger Erhöhung anderer Steuern zur
     Kompensation des Steuerausfalls.

   Quelle: Cournède, Fournier und Hoeller (2018), OECD

                                                                       18
Analysen und Berichte                                                       Monatsbericht des BMF
           Seminar zum Thema „Inequality and Growth“                                         Dezember 2019

Hinblick auf die Einnahmenseite der öffentlichen           seien die Bereitstellung und der intensive Ausbau
Haushalte hätte eine solche Reform eine neutrale           der digitalen Infrastruktur kombiniert mit zielge­
Wirkung. Ebenso sollte eine Erhöhung der öffentli­         richteten Innovationsförderprogrammen essenzi­

                                                                                                                  Analysen und Berichte
chen Investitionen, verbunden mit einer Erhöhung           ell. Auch komme Konzepten wie dem lebenslan­
der Grundsteuer und einer Senkung der Körper­              gen Lernen und der beruflichen, kontinuierlichen
schaftsteuer, nach der Auffassung von Cournède             Weiterbildung und Neuorientierung eine wich­
eine positive Wirkung auf die Ziele einer sozial           tige Rolle für die Erhöhung der Arbeitsproduktivi­
gerechteren Einkommensverteilung und auf das               tät zu. Kastrop hob außerdem hervor, dass die Ent­
Wirtschaftswachstum haben.                                 wicklung von Innovation und Humankapital Hand
                                                           in Hand gehen müssten, da für das Hervorbringen
                                                           von Innovationen gut ausgebildete Arbeitskräfte
   Bertelsmann-Stiftung: Reformen                          notwendig seien.
   der öffentlichen Finanzen,
   Wirtschaftswachstum und
   Einkommensungleichheit                                     Fazit
Der abschließende Vortrag von Prof. Dr. Christian          Das Seminar hat gezeigt, dass es ein breites Mei­
Kastrop von der Bertelsmann-Stiftung handelte              nungsspektrum zum Thema Ungleichheit und
von Zusammenhängen zwischen Reformen der                   Wachstum gibt. Es kann dabei keine Universallö­
öffentlichen Finanzen, Wirtschaftswachstum und             sung für alle geben. Vielmehr muss in Einzelfallana­
Einkommensungleichheit. Dabei zeigte Kastrop               lysen evaluiert werden, wie etwaige Herangehens­
zunächst auf, dass alle Staaten und Regionen               weisen unter den verschiedensten Restriktionen
der EU Wohlfahrts- und Produktivitätsgewinne               optimal zu gestalten sind. Die Vertreterinnen und
durch den gemeinsamen Markt erzielt hätten. Die            Vertreter der verschiedenen Mitgliedstaaten sowie
Verteilung dieser Gewinne sei allerdings sehr he­          der EZB und der Europäischen Kommission konn­
terogen. Sowohl zwischen den Staaten als auch in­          ten mit ihren Erfahrungen im nationalen Kontext
nerhalb der Staaten gebe es große Unterschiede im          Best-Practice-Beispiele anführen und auf mögli­
Hinblick auf das Ausmaß der Vorteile, die der Bin­         che Konfliktsituationen bei der Implementierung
nenmarkt gebracht habe. Eine solche Entwicklung            von Reformen hinweisen. Unter den Beteiligten
berge die Gefahr, dass trotz der Vorteile eine Polari­     bestand Konsens, dass qualitativ hochwertige Bil­
sierung innerhalb der EU befördert werden könne.           dung essenziell ist und der Modernisierung und
Als besonders maßgeblich für diese Entwicklung             Anpassung der Bildungssysteme an die neuen He­
werden drei Ursachen identifiziert. Es bestünden           rausforderungen eine hohe Bedeutung zukommt.
große Unterschiede bei der Produktivität, dem Zu­          Einigkeit bestand ebenfalls darüber, dass bei allen
gang zu digitaler Infrastruktur sowie der Wettbe­          Reformen auch die sozialen Kosten berücksichtigt
werbsintensität. Insbesondere seien Unterschiede           werden und nach Möglichkeit abgemildert werden
in diesen Bereichen zwischen Ballungsräumen und            müssen. Mit Blick auf die aktuelle Klimadebatte
ländlichen Gebieten, auch aufgrund von Agglome­            würden auch Reformanstrengungen zur Errei­
rationsvorteilen, festzustellen. Dieser Entwicklung        chung der Klimaziele auf ihre Verteilungswirkung
müsse effektiv entgegengewirkt werden. Von zen­            hin untersucht werden. Zum Abschluss des Semi­
traler Bedeutung für das Produktivitätswachstum            nars bestand Einvernehmen, dass dem internatio­
seien die Zusammensetzung und die Qualität der             nalen Erfahrungsaustausch für das Finden sinnvol­
öffentlichen Finanzen. Die Qualität öffentlicher           ler Maßnahmen eine hohe Bedeutung zukommt.
Finanzen zeichne sich dadurch aus, dass auf der            Gerade in der Vielzahl der unterschiedlichen natio­
Ausgabenseite ein Fokus auf wachstumsförderli­             nalen Erfahrungen mit Reformen liegt eine Stärke
che Investitionen wie Forschung und Entwicklung,           der EU.
Bildung und aktiver Arbeitsmarktpolitik liege. So

                                                         19
Analysen und Berichte                                                      Monatsbericht des BMF
                                                                                           Dezember 2019

Bergbausanierung der LMBV:
Nachhaltiger Wandel in den Kohleregionen

    ●● Seit 25 Jahren saniert die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV)
       als Treuhandnachfolgeunternehmen die Hinterlassenschaften des DDR-Braunkohlenbergbaus.

    ●● Für den Zeitraum 2018 bis 2022 stehen der LMBV 1,23 Mrd. € zur Finanzierung von Projekten
       der Braunkohlesanierung zur Verfügung. Mit diesen Mitteln werden nachhaltige Infrastruktur­
       maßnahmen gefördert und die Grundlagen geschaffen für eine Ansiedlung von Industrie und
       Gewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Tourismus in der Region.

   Einleitung                                               „Von der Goitsche zur
                                                            Goitzsche“ – Der Großtagebau
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den ost­           Goitsche bei Bitterfeld wird
deutschen Revieren der Lausitz und Mitteldeutsch­
lands Braunkohle gewonnen, veredelt und ver­
                                                            zum Naherholungsgebiet
stromt. Immer größere Flächen wurden vom                    Großer Goitzschesee
Bergbau in Anspruch genommen und zu DDR-Zei­
ten nur teilweise wieder rekultiviert. Die Sanierung     Bereits im Jahr 1839 erfolgte der erste Aufschluss
dieser Hinterlassenschaften des DDR-Braunkoh­            der Braunkohle-Grube Auguste am Pomselberg
lenbergbaus liegt seit 1995 in der Verantwortung der     bei Bitterfeld und der Bergbau prägte danach das
LMBV. Die Beteiligungsführung für das 100 %ige           Leben in der Chemie- und Kohlestadt für über
Bundesunternehmen liegt seit dem Jahr 2000 beim          100 Jahre. Die im Jahr 1991 beschlossene Stilllegung
BMF.                                                     der Großtagebaue Goitsche und Holzweißig bildete
                                                         daher für die Region eine einschneidende Zäsur.
Allein für den Zeitraum 2018 bis 2022 stehen der         Anstelle der früheren aktiven Tagebauen verblie­
LMBV 1,23 Mrd. € zur Finanzierung von Projekten          ben nur noch stark in Mitleidenschaft gezogene
der Braunkohlesanierung zur Verfügung. Mit die­          Landschaften mit Tagebauhohlformen in einem
sen Mitteln konnten bereits vielfältige Maßnah­          Volumen von 340 Mio. m³. Als Folge der beschlosse­
men vorangebracht werden, von denen nachfol­             nen Stilllegung mussten sich darüber hinaus mehr
gend einige vorgestellt werden sollen.                   als 1.300 Menschen beruflich neu orientieren. Im
                                                         Rahmen der Sanierung durch die LMBV gelang es
                                                         dabei, einen großen Teil dieser Betroffenen wieder
                                                         in eine nachhaltige Beschäftigung zu bringen.

                                                       20
Analysen und Berichte                                                                         Monatsbericht des BMF
             Bergbausanierung der LMBV: Nachhaltiger Wandel in den Kohleregionen                                 Dezember 2019

Der Strukturwandel beinhaltete daher auch die                                unterschiedliche Nutzungsarten am innenstadt­
Chance für einen erfolgreichen Neubeginn, der                                nahen Seeufer vorsieht. Die Goitzsche wurde da­
durch die LMBV mitgestaltet wurde: Die Sanie­                                durch – maßgeblich unterstützt durch die LMBV –

                                                                                                                                      Analysen und Berichte
rungsmaßnahmen begannen unmittelbar nach der                                 zu einer einzigartigen Kunst- und Kulturlandschaft
Betriebseinstellung im Jahr 1991. Es wurden Bö­                              mit hoher touristischer Attraktivität und hohem
schungen mit einer Gesamtlänge von circa 60 km                               Erholungspotenzial für die Menschen.
gesichert, Erdmassen in einer Größenordnung von
circa 50 Mio. m³ bewegt, circa 1,1 Mio. m³ Massen
verdichtet, etwa 235 ha land- und forstwirtschaft­                                 Von der Halbinsel im Tagebau zum
liche Flächen hergestellt und eine Wasserfläche                                    künftigen Seebad Zwenkau
von circa 1.350 ha geschaffen. Bis dato wurden in
der Goitzsche für die Bergbausanierung 300 Mio. €                            Der Großtagebau Zwenkau im Freistaat Sachsen
eingesetzt.                                                                  prägte die Landschaft südlich von Leipzig und die
                                                                             Mittelstadt Zwenkau viele Jahre. Heute zieht der
Im Jahr 2009 konnte die aufwendige Wiedernutz­                               Zwenkauer See mit seinem modernem Hafen Men­
barmachung des ehemaligen Tagebaus durch die                                 schen aus nah und fern an.
LMBV weitgehend abgeschlossen werden und
eine vielfältige Natur- und Wasserlandschaft war                             Mit dem rund 960 ha großen Zwenkauer See sowie
vor den Toren der Stadt Bitterfeld entstanden. Der                           sieben weiteren LMBV-Gewässern wurden allein
LMBV-Film „Von der Goitsche zur Goitzsche“1 zeigt                            südlich von Leipzig 3.500 ha neue Wasserflächen
diesen beeindruckenden Landschaftswandel einer                               geschaffen. Dabei entstanden völlig neue Land­
vormals industriell genutzten Region. Begleitend                             schaftsqualitäten, in denen die Bergbaufolgeseen
zur Sanierung wurde in enger Abstimmung zwi­                                 der LMBV ein fast schon maritimes Flair verbreite­
schen Kommunen und LMBV auch die Chance ge­                                  ten, während der vorbergbauliche Raum noch von
nutzt, ein ganzheitliches Nutzungskonzept für die                            landwirtschaftlichen Strukturen geprägt war.
Goitzsche-Region zu erarbeiten.
                                                                             Der Tagebau Zwenkau, 1921 als Tagebau Böhlen
Das Konzept „Landschaftspark Goitzsche“ wurde                                aufgeschlossen, wurde 1999 als letzte Förderstätte
so geboren. Es steht für einen der Erholung die­                             der LMBV im mitteldeutschen Revier endgültig
nenden Naturraum unter dem Leitbild „einzigar­                               stillgelegt. Seit der Einstellung des Braunkohleab­
tige Kunst- und Kulturlandschaft mit hoher tou­                              baus im Raum Zwenkau hat sich der Landstrich
ristischer Attraktivität“. Beleg für diesen Anspruch                         südlich von Leipzig grundlegend gewandelt. Stand­
sind Landschaftskunstobjekte, die teilweise bereits                          sichere Böschungssysteme wurden hergestellt und
im Rahmen der EXPO 2000 realisiert und vom Land                              das Restloch, das der Bergbau hinterlassen hatte,
Sachsen-Anhalt über die Bergbausanierung finan­                              wurde zu einem fast 1.000 ha großen See mit Hoch­
ziert werden konnten. Dazu gehören beispiels­                                wasserschutz- und Naherholungsfunktion geflutet.
weise die schwimmende Seebrücke mit Pegelturm
oder der Agora-Park mit Arena auf der Halbinsel                               An den Ufern des Sees entstanden seither im Rah­
Pouch; sie suchen in Form und Größe in Deutsch­                               men der Arbeiten der LMBV naturnahe Bereiche
land ihresgleichen. In diesem Zusammenhang ent­                               ebenso wie asphaltierte Wegabschnitte, ein viel be­
stand auch die Idee der „Bitterfelder Wasserfront“;                           suchter Ausstellungspavillon am Kap Zwenkau – als
ein Projekt, das neben einer markanten Uferform                               Erinnerung an die Abraumförderbrücke AFB 18 –
                                                                              und nicht zuletzt ein großer Hafen. Bereits seit 2008
1   Link zum Youtube-Video:
                                                                              fährt von dort das Passagierschiff „MS Santa
    http://www.bundesfinanzministerium.de/mb/20191241                         Barbara“ als Touristenattraktion über die Gewässer.

                                                                         21
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