Erziehung, Garten, Menschenbild - Notizen zur Diskursgeschichte des Schulgartens

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Ulf Jacob                    Erziehung, Garten, Menschenbild.                                  k                2/2002 - 1

Ulf Jacob

Erziehung, Garten, Menschenbild.

Notizen zur Diskursgeschichte des Schulgartens*

Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden,                  und Erziehung konnte das Prinzip «Schulgarten» im
habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem,              deutschsprachigen Raum jene historisch dauerhafte
was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen              Akzeptanz und Anpassungsfähigkeit erlangen, deren
Welt,                                                           ideologische Dimension als Geschichte wechselnder,
bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur,                    modifizierter oder stetig beibehaltener Bedeutungszu-
wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mit-             schreibungen hier skizziert werden soll.
tagssonne.
(Friedrich Hölderlin: Hyperion)                                 Der Erzieher als Gärtner, der Schüler als Pflanze
                                                                Mohammed Rassem hat das Gärtner-Gleichnis2 aus
Einleitung                                                      der Perspektive kulturvergleichender Zusammenschau
«Der Schulgarten ist eine Pflanzstätte für anschauliche         als ein universales Paradigma schöpferischer Welta-
Kenntniß der Natur, für edle Freude an derselben, für           neignung gedeutet, welches nach Hans Peter Thurn in
den Schönheitssinn, für den Gemeingeist, für bessere            der Figur des Totengräbers3 ein destruktives (und nicht
Sitten, endlich für erhöhten Volkswohlstand, überdies           weniger grundlegendes) Schattenbild besitzt. Rückbe-
aber ein Mittel zur Heranziehung eines körperlich kräfti-       zogen auf die jeweiligen gesellschaftlichen Gegeben-
gen Geschlechtes».1                                             heiten wurde diese Metaphorik fortwährend aufge-
  Mit diesen programmatischen Worten umriss Pro-                frischt und angewandt. Im Sinnbild des veredelten,
fessor Dr. Erasmus Schwab, Gymnasialdirektor in Wien            gebundenen und beschnittenen Baumes kommt die
und Protagonist der Schulgartenbewegung, noch ein-              semantische Nachbarschaft von Erziehungs- und Gar-
mal jene pädagogischen Absichten und Hoffnungen,                tenarbeit sowie der Lehrer- und Gärtner-Profession be-
welche bereits 1869 die europaweit vorbildhafte Veran-          sonders augenscheinlich zum Ausdruck. Schon Se-
kerung des Gartenwesens im Österreichischen Schul-              neca erkor in seiner Abhandlung Über die Milde (um
gesetz begleiteten. Weniger einer «Pflanzstätte» für            54/55) jene «verständige[n] Gärtner» zum Vorbild des
Blumen, Obst und Gemüse galt das vornehmliche In-               Weisen, «die nicht nur gut gewachsene Hochstämme
teresse der Initiatoren, vielmehr wollten sie der schu-         aufziehen, sondern auch die aus irgendeinem Grund
lisch institutionalisierten und staatlich sanktionierten        verkrümmten Stämme an Pfähle binden, die ihnen Halt
Vermittlung und Reproduktion bestimmter Vorstellun-             geben. Die einen beschneiden sie, damit die Seitenäste
gen von Natur, Ästhetik, Volkswirtschaft, Sozialethik           nicht den schlanken Wuchs hemmen, andere, die in
sowie leib-seelischer Gesundheit den Boden bereiten.            schlechter Lage zurückgeblieben sind, düngen sie
Nicht profanes Ackergut allein, sondern kultivierte             kräftig, wieder andere, die im Schatten des Nachbarn
Staatsbürger sollten die Ernte sein. Geleitet von den Vi-       verkümmern, schneiden sie frei».4 In einem ganz ähnli-
sionen einer Raum und Bevölkerung gleichermaßen er-             chen Sinne beabsichtigte auch Johann Amos Come-
fassenden «Landesverschönerung» wurde dabei das                 nius, dem um 1650 konzipierten vierten Teil seiner All-
Vermögen des Gartens und der ihm anhängigen Tätig-              gemeinen    Beratung    über   die   Verbesserung     der
keiten vorausgesetzt, die mentale, soziale und körperli-        menschlichen Dinge, der sogenannten Pampaedia (=
che Ausbildung der Schüler den Forderungen eines                Allerziehung), ein Titelblatt voranzustellen, auf welchem
normativen Welt- und Menschenbildes gemäß zu be-                in allegorischer Übertragung das Wirken des Pädago-
einflussen. Nur auf der Basis dieser geradezu archety-          gen durch die Kunst des Baumgärtners dargestellt wer-
pischen, über Jahrhunderte zur Selbstverständlichkeit           den sollte. «Dort», so kommentierte Comenius das
geronnenen Verquickung von Agrikultur, Naturerlebnis            Bildprogramm, «pfropfen die Gärtner vom Baum der
Ulf Jacob                       Erziehung, Garten, Menschenbild.                                       k                       2/2002 - 2

Pansophia (= Allweisheit), den sie zu beschneiden ha-
ben, Reiser auf die Setzlinge. Sie wollen den ganzen
Garten Gottes, das Menschengeschlecht, mit gleich-
gearteten jungen Bäumchen bepflanzen».5 Eine andere
Variation erzieherischer Gartenemblematik findet sich
in Michel Foucaults Studie Überwachen und Strafen.6
Die These      vom    ordnungsmächtig          disziplinierten
Körper-Subjekt wird hier durch eine Illustration aus
dem Werk L'orthopédie ou l'art de prévenir et de corri-
ger dans les enfants les difformités du corps (1749) von
N. Andry bebildert, welche einen verkrümmt gewach-
senen, jungen Eichbaum zeigt, der zur Beseitigung
seines Fehlwuchses mit einem kräftigen Seil an eine
derbe, kerzengerade Stütze gebunden worden ist. Und
noch in dem 1944 uraufgeführten Filmklassiker Die
Feuerzangenbowle, mit einem stets fidelen Heinz Rüh-
mann in der Hauptrolle, vergleicht Geschichtslehrer Dr.
Brett, nach dessen Auffassung eine «neue Zeit» auch
«neue Methoden» verlange, im Brustton pädagogi-
schen Sendungsbewusstseins junge Menschen mit
aufschießenden Bäumchen, die man anbinden müsse,
«daß sie schön gerade wachsen» und «nicht nach allen
Seiten ausschlagen». Disziplin sei das dafür nötige
Band. Besonders kraft dieser, vom gleichnamigen Ro-
man nicht vorgegebenen Sentenz,7 avancierte der for-
sche Kollege (welcher in der literarischen Vorlage noch
                                                                   Abb.1: Arbeitsstellung beim Graben (Krüger / Millat 1978,
als Mathematiklehrer auftrat) im filmischen Alltag von             Schulgartenpraxis, S. 31, Bild 31/1).
Paukern und Pennälern zum Sendboten nationalsozia-
                                                                   chung und Nutzung jedoch nichts überliefert worden
listischer Bildungsideologie.
                                                                   ist, so setzte der Pietist August Hermann Francke ver-
  Im Ergebnis wechselseitiger Spiegelung und perma-
                                                                   mutlich kurz vor 1700 die Idee des Schulgartens in die
nenter Äquivokation korrespondierte der Verschulung
                                                                   Tat um. Pflanzenkunde, Herbarisieren und Gartenarbeit
des Gartens die Vergärtnerung der Schule: Gleich einer
                                                                   galten Francke als probate Techniken, Gottes Werke
jungen Pflanze, die artig in ihrer Baumschule steht, wird
                                                                   kennen und lieben zu lernen, kam es ihm doch vor al-
das Kind in der Menschenschule nunmehr wie ein
                                                                   lem darauf an, die Zöglinge seiner Hallenser Stiftungen
Bäumchen herangezogen. Hinter der bildsprachlichen
                                                                   im «Stande der Gnade» zu halten oder zur Gnade hin
Analogie verbarg und verbirgt sich eine mehr oder we-
                                                                   zu führen. Namentlich «des Sommers bei bequemem
niger bewusste Tendenz zur wesenhaften Ineinssetzung
                                                                   Wetter» sollte es hinaus gehen, um sich in gottgefälliger
des Grundverschiedenen, d. h. auf die Anthropomor-
                                                                   Tätigkeit und Anschauung der Schöpfung zu üben.
phisierung der Pflanzenwelt antwortete die «Floralisie-
                                                                   Dass dieses Bestreben, welches an die gängigen Erzie-
rung» der Menschenwelt als beharrlich nachklingendes
                                                                   hungspraktiken der Klosterschulen anknüpfte, durch
Echo.
                                                                   gegenläufige Methoden zur Rationalisierung der Natur
                                                                   konterkariert      wurde,      verweist     auf    einen      weiter-
Das schulgärtnerische Vermächtnis der Pietisten,                   führenden Gesichtspunkt. Bereits in Franckes Unter-
Philanthropen und romantischen Pädagogen                           richtspraxis deutete sich mit der Gleichzeitigkeit von
Plante schon Comenius in der ersten Hälfte des 17.                 Lehrgarten und Naturalienkammer8 jenes moderne
Jahrhunderts einen der Schule beigesellten Garten mit              Spannungsverhältnis zwischen außenräumlich-ganz-
Bäumen, Blumen und Kräutern, von dessen Verwirkli-                 heitlicher Naturerfahrung und innenräumlich-szientis-
Ulf Jacob                     Erziehung, Garten, Menschenbild.                                       k                         2/2002 - 3

tischer Naturbeschreibung an, das noch heute zum
ideologischen Horizont des Schulgartendiskurses ge-
hört.
   Auch die Herrnhuter Brüderunität des durch Francke
beeinflussten Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf,
die sich 1727 als Nachfolgerin der Böhmischen Brü-
dergemeine konstituierte und daher namentlich dem
geistigen Erbe Comenius' verpflichtet sah, nutzte das
Verfahren praktischer Gartenarbeit zur Vermittlung ihrer
Welt- und Herzensfrömmigkeit. So beschrieb noch Her-
mann Fürst von Pückler-Muskau, der ab 1792 mehrere
Jahre «in religiös-sinnlichen Entzündungen»9 bei den
Herrnhutern in Uhyst verbrachte und trotz aller späte-
ren, anti-herrnhutischen Dementi von pietistischen Le-
bens- und Glaubensgrundsätzen tief durchdrungen
blieb, «das kleine Gärtchen, wo Jeder sein Beet hat».
Zurückgekehrt an diese Stätte seiner Kindheit, erinnerte
er sich, «wie dort meine Gartenpassion zuerst
erwachte, und ich stets darauf sann: meinem Beete
eine neue Form und ein andres Aussehen zu geben».10
   Doch     das   Initiationserlebnis   des        angehenden
Parkgestalters, der ab 1811 die Muskauer Residen-
                                                                 Abb.2: Arbeitsstellung beim Grubbern (Krüger / Millat 1978,
zlandschaft auch im Sinne eines allumfassenden                   Schulgartenpraxis, S. 32, Bild 32/1).
Schul-Gartens zur Bildung und Veredelung seiner
                                                                 unverdorbenen Menschen richteten sich ihr pädagogi-
standesherrschaftlichen Untertanen in ein Gartenreich
verwandelte, liess bereits den düsteren Doppelsinn               sches Engagement im Spannungsfeld von Emanzipa-

dieser Passion erahnen. «Einmal», so der Fürst in sei-           tion und Integration auf die Formierung funktions-
ner freilich literarisch dramatisierten Darstellung, «hatte      fähiger Glieder für den Organismus des Staates.
ich das Unglück, in der Hast einen meiner Mitschüler,            Charakterbildung, Körperertüchtigung und die Vermit-
der sich eben bückte, mit der Hacke so schwer in den             tlung spezifischer Fertigkeiten waren das Ziel, die Hin-
Kopf zu hauen, daß sein Blut auf meine Blumen                    wendung zu den Realien der Welt der Weg ihrer
strömte und mir die Gärtnerei lange verleidete».11               Menschenfreundlichkeit - und der Schulgarten ein ge-

   Eingedenk eines tief verinnerlichten Schuld-und-              eignetes Medium. Neben den entsprechenden Einrich-

Sühne-Traumas, das sich in der erinnernden Ver-                  tungen im Dessauer Philanthropin unter Johann Bern-
schmelzung von herrnhutischer Gartenandacht und                  hard Basedow und seinen Nachfolgern machten ab
blutigen Blumen effektvoll auszusprechen schien, ge-             1784 besonders die Schnepfenthaler Unternehmun-
mahnte dieses Kontrasterlebnis nachdrücklich an die -            gen des Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann von
in Pückler-Muskaus Selbstzeugnissen immer wieder                 sich reden. Der Thüringer Reformer wirkte darauf hin,
melancholisch reflektierte - Bedrohung aller individu-           «vielen Krankheiten durch die Lebensart, die wir führen,
ellen wie sozio-kulturellen Ordnungsentwürfe durch               vorzubeugen. [...] Außerdem, daß wir unsere Spiel-
Aus- und Einbrüche anomischer Gewalt.         12                 stunden haben, haben wir noch eine Menge Geschäfte
   Vor dem Hintergrund von europäischer Aufklärung,              zu besorgen, die nicht anders als in freier Luft gesche-
reformorientiertem Absolutismus und fortschreitender             hen können. Es hat jeder von uns ein Gärtchen, daß
Verbürgerlichung der Gesellschaft agierten die deut-             doch notwendig bearbeitet werden muß, wenn wir da-
schen Philanthropen. Orientiert an der sensualistischen          ran unsere Lust sehen und Vorteil davon haben wol-
Erfahrungsphilosophie eines John Locke und inspiriert            len».13 Im Verbund von Naturbeobachtung (mit einem á
durch Jean Jacques Rousseaus Ideal des natürlichen,              la Linné systematisierenden und klassifizierenden
Ulf Jacob                    Erziehung, Garten, Menschenbild.                                       k                       2/2002 - 4

Blick), Arbeitserziehung, Frischlufthygiene und körperli-
cher Übung dienten die Schnepfenthaler Gärten als in-
tegraler Bestandteil einer auf ganzheitliche Menschen-
bildung angelegten Umgebung.
   Die im Gefolge der napoleonischen Kriege ein-
setzende Phase der Restauration gewährte kein förder-
liches Klima für pädagogische Neuerungen. Das Ver-
mächtnis der Philanthropen geriet in Vergessenheit,
blieb auf modellartige Lehranstalten beschränkt und
wurde im allgemeinen Schulwesen kaum rezipiert.
Damit stagnierte zwar auch die Weiterentwicklung der
Schulgartenidee, doch lebte sie eingenischt und auf
Umwegen fort. In der Schweiz wertschätzte Johann
Heinrich Pestalozzi, der während einer Hausrede 1818
die Verwandtschaft von Gärtner und Pädagoge aus-
drücklich hervorhob,14 die Wirkungen der Gartenarbeit
und Friedrich Fröbel reimte in Thüringen: «Komm, wir
wollen in den Garten, All' die Pflänzchen dort zu
warten»,15 führte die ihm anvertrauten Kinder auch re-
aliter ins umfriedete Grün und gebrauchte 1840 zur Le-
gitimation seines Kindergartens ebenfalls das alte
Gleichnis vom Erzieher als Gärtner und vom Kind als
Pflänzlein: «Wie in einem Garten unter Gottes Schutz
                                                                Abb.3: Arbeitsstellung beim Harken (Krüger / Millat 1978,
und unter der Sorgfalt erfahrener einsichtiger Gärtner          Schulgartenpraxis, S. 32, Bild 32/2).
im Einklange mit der Natur die Gewächse gepflegt wer-
den, so sollen hier die edelsten Gewächse, Menschen,            Arbeitspathos, Gesundheit, Heimat: Schulgärten
Kinder als Keime und Glieder der Menschheit in Über-            zwischen industrieller Revolution und Erdsegen
einstimmung mit sich, mit Gott und Natur erzogen [...]          Jene eingangs zitierte Proklamation des Wiener Profes-
werden».16 Im romantischen Geist der Identität von Mi-          sors Schwab markierte also keineswegs die Stunde
krokosmos und Makrokosmos erweiterte sich der Gar-              Null des Schulgartens, doch hatten sich die sozio-
ten zum Ort transzendentaler Selbst- und Welterfah-             ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen
rung.                                                           mittlerweile entscheidend verändert. Die moderne
   Mit der Gartenpraxis und -theorie von Pietisten, Phil-       Schulgartenbewegung, changierend zwischen Affirma-
anthropen und Romantikern wurde ein Grundkanon                  tion und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, or-
vorgegeben, dessen Topoi auch im weiteren stets aufs            ganisierte sich im Reflex auf Industrialisierung, Verwis-
Neue reanimiert und anverwandelt werden sollten: Der            senschaftlichung, Urbanisierung und Nationalstaat-
im Schulgarten realisierbare Konnex zwischen Außen-             lichkeit. Ihr Menschenbild war dem volkswirtschaftlich
raum und Tätigkeit bewährte sich als institutionalisierte       nützlichen und patriotisch gesonnenen Bürger in Stadt
Form von Wissen (Naturerkenntnis), Spiritualität (Erleb-        und Land verschrieben. Nicht von ungefähr präsentier-
nis des Schöpfers in seinen Werken), Sozialität (Einglie-       ten im Jahre 1873 sowohl Österreich als auch Preußen
derung in die jeweilige Gemeinschaft bzw. in das Ganze          ihre    schulischen       Mustergärten         auf    der     Wiener
der Menschheit), Wirtschaftlichkeit, Arbeit und körperli-       Weltausstellung und ordneten sie dort zwischen
cher Ertüchtigung (individuelle und gesellschaftliche           Maschinenkult und kolonialer Exotik in das Tableau des
Reproduktion), d. h. als Medium einerseits zur idealen          kapitalistischen Zeitalters ein. Das staatliche Bildungs-
Formung des Einzelnen sowie andererseits zur Stiftung           wesen nahm die mit der industriellen Revolution ein-
von funktionaler Einheit und sinnhaltiger Ordnung im            hergehende Revolution der Naturwissenschaften zum
Miteinander aller.                                              Anlass einer durchgreifenden Reform des naturkundli-
Ulf Jacob                    Erziehung, Garten, Menschenbild.                                      k                     2/2002 - 5

chen Unterrichts (in Österreich 1869 und in Preußen
1872). Dem Schulgarten fiel dabei zunächst die Rolle
des «Liefergartens» für botanisches Anschauungsma-
terial zu. Sukzessive entstanden derartige Einrichtun-
gen in vielen deutschen Städten. Doch verlangte das
Selbstverständnis der Industriegesellschaft nicht nur
eine bestimmte Art von pragmatisch verwertbarem
Wissen, sondern auch eine angepasste Konditio-
nierung der Schüler in Moral und Ethik. Dabei stand im
gründerzeitlichen Tugendkatalog an erster Stelle die Ar-
beit. Schon Schwab intonierte ihr Hohelied: «Groß und
nachhaltig ist der erziehende Einfluß der Arbeit. Die Ar-
beit, richtig geleitet und mit Lust und Verständniß
betrieben, ist die Mutter des sittlichen Ernstes im Den-
ken und Handeln. Denn sie lehrt Aufmerksamkeit, Ein-
sicht, Unverdrossenheit, Ausdauer, Ordnung, Pünkt-
lichkeit, ohne welche Eigenschaften überhaupt eine
Arbeit gar nicht zustande gebracht werden kann; sie
erzieht zu Pflichtgefühl, zur Lust am Schaffen, zu Mut
und Selbstüberwindung, gleichzeitig aber auch zur
Anerkennung fremder Thätigkeit und Tüchtigkeit;
[...]».17 So nimmt auch die verstärkte Hinwendung vom
«Liefergarten» und «Lehrgarten» zum «Arbeitsschulgar-           Abb.4: Arbeitsstellung beim Hacken mit der Schlaghacke (Krüger /
ten» nicht wunder, eine Entwicklung, die im Kontext der         Millat 1978, Schulgartenpraxis, S. 33, Bild 33/1).

von Georg Kerschensteiner angeregten Arbeitsschul-
                                                                tigt, es gewöhnt sich die Haut an Sonnenstrahlen und
bewegung18 nach der Jahrhundertwende weiteren
                                                                Schweißtropfen, und der ganze Körper wird gekräf-
Auftrieb erhielt. Schon frühzeitig durchklang die em-
                                                                tigt».21
pirischen Erfahrungen der Schulgartenreformer ein
                                                                   Nach diesem Verständnis bildeten die Schulgärten
agrarromantischer, auf Bodenbindung und bäuerliche
                                                                heilkräftige Implantate im Corpus der kulturkritisch pa-
Lebensart gestimmter Unterton. Bereits im Jahre 1903
                                                                thologisierten Stadtgesellschaft, eine milde Therapie,
bezog der Dresdner Schuldirektor B. Breull in Auswer-
                                                                die unter Ausblendung der sozialen Ursachen von Ar-
tung der I. Deutschen Städte-Ausstellung die für
Gemüt und Persönlichkeit des Kindes gedeihlichen Re-            mut und Verelendung bspw. die «in gesundheitlicher,

sultate von Blumenpflege und schulischer Gartenarbeit           moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht so verderbli-

auf das «herrliche Wort» Peter Roseggers: «Aus der              che Alkoholseuche»22 durch vermehrten Obstgenuss
Scholle sprießt Kraft für die ganze Welt und Segen für          zurückdrängen sollte. Neben der Beförderung von
den, der sie berührt - Erdsegen».19 Noch ein knappes            «Volksgesundheit,        Volkswohlfahrt       und     Volksgesit-
Jahrzehnt später nahm Schuldirektor Dietel aus Leipzig          tung»23 war der schulische Gartenbau dazu berufen,
auf den «Erdsegen» des steiermärkischen Bauern-                 einem aus erzieherlicher Warte namentlich in der Groß-
schriftstellers Bezug.
                     20                                         stadt diagnostizierten «Mangel an Naturanschauung»

  Außer der nötigen fachlichen Qualifikation und Ar-            entgegenzu-wirken. Auf der 2. Internationalen Garten-

beitsbereitschaft sollte die mustergültig sozialisierte         bau-Ausstellung Dresden 1896 widmete sich der

Produktivkraft Mensch auch über einen gesunden, leis-           «Deutsche Lehrerverein für Naturkunde» dieser Aufga-
tungsfähigen Körper verfügen. Schulische Gartenarbeit           be mit einem 1500 m2 umfassenden Mustergarten.
empfahl sich aus medizinischer Sicht als Prophylaxe             Dessen Naturinszenierung berücksichtigte die am
gegen «die Einseitigkeit des Stubensitzens»: «[...]; alle       «meisten verbreiteten Gesteins- und Bodenarten der
Muskeln regen sich, die Sinne werden lebhaft beschäf-           Heimat» und vereinigte «in kleinen Gruppen charakte-
Ulf Jacob                   Erziehung, Garten, Menschenbild.                                      k                      2/2002 - 6

ristische Vertreter natürlicher Pflanzengemeinschaften
aus Laub- und Nadelwald, von Hügel, Feldrain und
Wiese, von Teich und Moor in sich.24 «Echt märkische
Heimatklänge [...] in unserer Brust»25 hingegen er-
weckten die Landschaftsbilder des ab 1909 vor den To-
ren Berlins angelegten Städtischen Schulgartens bei
Blankenfelde. Hier konnte die im «steinernen Meer» der
Metropole naturentwöhnte Schülerschaft Misch- und
Kiefernwaldungen, Sandheide, einen Bachlauf, fennar-
tige Moorwiesen und andere standorttypische Biotope
erleben. Flankierend bemühte sich der Ehrenvorsitzen-
de der «Naturwissenschaftlichen Vereinigung des Berli-
ner Lehrervereins», Rektor H. Schmidt, mit seinem
Lehrbuch Die Unterrichtspflanzen aus dem Schulgarten
Berlin (1914) «dem botanischen Unterricht einen bo-
denständigen Charakter zu verleihen» und durch die
übergreifende Darstellung von Orts- und Lebensge-
meinschaften «überall die besonderen Verhältnisse der
Stadt Berlin sowie der Provinz Brandenburg»26 zu ver-
gegenwärtigen. Über die Schulung einer biologisch
ausgerichteten Naturerfahrung hinaus appellierte die
prononcierte Darstellung regionaler «Lebensgemein-
schaften» an die Heimatverbundenheit der jungen Gar-           Abb.5: Arbeitsstellung beim Hacken mit der Zughacke (Krüger / Millat
                                                               1978, Schulgartenpraxis, S. 33, Bild 33/2).
tenbesucher, sensibilisierte sie für die Unterschiede im
landschaftlichen Nationalhabitus und reproduzierte in          Kriegs-Schülergärten
idealer Typisierung geographische Formationen mit ho-
                                                               Als die Soldaten des Ersten Weltkrieges ins «Feld der
hem Identifikationspotenzial. Im Dienste der «Hei-
                                                               Ehre» zogen, mag manches Innenbild des zu verteidi-
matspflege» bot der «mustergültige Schulgarten» nach
                                                               genden Vaterlandes ein kindliches Gartenidyll mit Män-
Fritz Hasselberg «dem Kinde im engsten Rahmen ein
                                                               nertreu und Eichengrün gewesen sein. Während die
Bild der heimatlichen Natur», welches «es mit tausend
                                                               Dauerkanonaden des Stellungskampfes komplette
Banden an die so lieb gewordene Heimat [fesselt]».27
                                                               Landschaften umpflügten, kettenrasselnde Tanks den
  Mit diesen Ambitionen gab sich die Schulgartenbe-            Boden planierten und Gasschwaden über Drahtver-
wegung als ein Seitenthema des seit 1904 bündisch or-          haue und Trichterfelder trieben, trat auch die Lehrer-
ganisierten «Heimatschutzes» zu erkennen. In eigenwil-         zunft treu ein ins Glied. An der pädagogischen Heimat-
liger Querstellung wandte sich dessen Unbehagen an             front sorgte sie sich um die «Frage der nationalen, der
der Moderne weniger gegen die Industriegesellschaft            staatsbürgerlichen Erziehung, die Bewertung der Ar-
und deren bürgerliche Eliten, als vielmehr gegen die in-       beit, insbesondere auch der körperlichen Arbeit, im
ternationalistischen, proletarischen Massen der Städte,        Sinne der Arbeitsschulbewegung» sowie um «das
die es zu missionieren galt.28 Gleich der Schriftenreihe       ganze große Gebiet der körperlichen Erziehung, na-
Kulturarbeiten von Paul Schultze-Naumburg oder der             mentlich ihre Bedeutung für die Wehrhaftmachung un-
Heide-Literatur eines Hermann Löns zählte dabei die            seres ganzen Volkes». Der dem Gegner unterstellte
Bilderwelt des Schulgartens zu jenen Medien, in denen          «teufliche Plan, ein ganzes Volk dem Hungerelend zu
die sozio-kulturellen Vorstellungsgehalte von «Heimat»         überantworten», gab nicht zuletzt dem «Aschenbrödel
erst generiert werden mussten, bevor sie als allgemein-        der deutschen Pädagogik, dem Schülergarten, die
verbindliche, kollektiv emotionalisierende Sinnzusam-          Gelegenheit [...], aus seinem bescheidenen Dasein her-
menhänge eine eigene Wirkungsgeschichte zeitigen               vorzutreten und an seinem Teil mitzuhelfen, die Pläne
konnten.                                                       unserer Feinde zu schanden zu machen».29 Unter Her-
Ulf Jacob                     Erziehung, Garten, Menschenbild.                                       k                        2/2002 - 7

vorhebung seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung
bahnte sich im «Kriegs-Schülergarten»30 die endgültige
Durchsetzung des Schülerarbeitsgartens an. Damit
geriet der Krieg zum Katalysator längst aufgestauter
Reformen. Im Ausnahmezustand der nationalen Mobil-
machung wurde die Gartenarbeit einmal mehr zur
Schule patriotischer Tugenden und zum Elixier einer
geistig-körperlichen Neugeburt verklärt. Ein Hang zum
Antiintellektualismus war dabei nicht zu überhören:
«Gottlob», so stellte der Schulrektor und Gartenbefür-
worter Heinrich Förster mit Genugtuung fest, «daß in
unserer Zeit, da durch den Krieg die Wertung der
Körperarbeit eine so große Umwandlung erfahren, da
gar mancher ’Kopfarbeiter’ als gemeiner Schipper dem
Vaterlande die größten Dienste leistet, die bisher von
manchem mit Geringschätzung behandelt körperliche,
die Handarbeit, wieder zu Ehren gekommen ist».31 Das
reaktionäre Gedankensyndrom aus Stadtfeindschaft,
Bauern- und Siedlertum, Erde und familiärer Gemein-
schaft marschierte. «Unser Volk lernt wieder», so zi-
tierte Förster an gleicher Stelle aus einem Artikel von
                                                                 Abb.6: Arbeitsstellung beim Häufeln (Krüger / Millat 1978,
Walter Classen in der Thüringer Lehrerzeitung, «daß              Schulgartenpraxis, S. 34, Bild 34/1).
das Paradies nicht ist, am Sonntag für Tingeltangel und
                                                                 Kämpfende Jugend im Schülerarbeitsgarten:
hundert Betäubungen 20 Mk. ausgeben zu können,
                                                                 Reform und Reaktion
sondern das Paradies ist Gartenland und Hühner und
Futter für die Schweine und der Geruch der umgegra-              Im Anschluss an die Kriegsjahre nahm die Schulgarten-

benen Ackerscholle! [...] Deutsches Volk, auf der Feld-          bewegung in der reform- und experimentierfreudigen,
                                                                 von politischen Differenzen und Extremen geprägten
flur erwachsen, braucht den Boden des Feldes unter
                                                                 Atmosphäre der Weimarer Republik einen kräftigen
sich - [...]; aber die Urzelle unseres Volkes ist die Fami-
                                                                 Aufschwung. Davon zeugte nicht zuletzt die Institutio-
lie. Und die Familie bedarf des Bodens».32 Die obligate
                                                                 nalisierung entsprechender Bestrebungen in der «Ar-
Kriegs-Euphorie korrumpierte den alltäglichen Sprach-
                                                                 beitsgemeinschaft deutscher Schulgärtner» und der
gebrauch; der Garten wandelte sich zum (rhetorischen)
                                                                 «Arbeitsgemeinschaft für Arbeitsschulgärten». Neben
Schlachtfeld. Mit der Diktion eines Frontberichterstat-
                                                                 pragmatischen, auf Selbstversorgung und Subsistenz-
ters notierte Rektor Förster, dass in der Weidenborn-
                                                                 wirtschaft abhebenden Erwägungen in den Hunger-
Mittelschule zu Frankfurt am «18. April 1915 [...] die
                                                                 jahren     von     Nachkriegszeit,        Inflation     und      Welt-
Feindseligkeiten gegen den starren, struppigen Boden
                                                                 wirtschaftskrise schrieben sich auch die ideologischen
eröffnet [wurden]».33 Auch Professor E. Beyer meldete
                                                                 Motivlinien des Schulgartendiskurses fort. Dabei korre-
1916 aus der Oberrealschule Fulda einen kleinen
                                                                 lierte das auf Selbsttätigkeit und Erfahrungswissen
Stellvertreterkrieg; da sich die Pflanzen in den nach
                                                                 ausgerichtete        Arbeitsschulprinzip         hinsichtlich      der
Herkunft und Standort parzellierten Einrichtungen nicht
                                                                 Schulgartenfrage zusehends mit heimattümelnden,
an das vorgegebene Ordnungsschema halten wollten                 agrarromantischen, letztendlich kulturpessimistischen
und die gezogenen Grenzen überwanden, musste, «be-               und modernitätsmüden Strömungen. Auf die Irrita-
ständige Jagd auf diese Eindringlinge helfen, den ein-           tionen und Widernisse ihrer als chaotisch und unüber-
zelnen Teilen ihr natürliches Aussehen zu erhalten».34           schaubar erfahrenen, sich jeder allgemein verbindli-
                                                                 chen      Ordnungsidee           verweigernden           Gegenwart
Ulf Jacob                      Erziehung, Garten, Menschenbild.                                       k                         2/2002 - 8

antworteten viele Verfechter einer lebensreformerisch
inspirierten Kulturkritik mit der Propagierung bäuerli-
cher, d. h. im Kern antistädtischer Gegenwelten. Apolo-
geten der verschiedensten weltanschaulichen Schat-
tierungen stilisierten den ländlichen Raum zum Ort der
Erlösung von den Gebrechen urbaner Entartung.
  So wählte der Schweizer Autor Joh. Hepp 1919/20
für den in Deutschland nachhaltig rezipierten Aufsatz
Schulgärten und Schülergärten35 ein weiteres Mal das
bekannte «Erdsegen»-Zitat Roseggers als Motto. Im
Rückgriff auf die Gedankenwelt seiner Vorgänger lie-
ferte Hepp einen manifestartigen Referenztext der ar-
beitsorientierten Schulgartenbewegung. Von der Na-
turentfremdung des Stadtkindes, über den Niedergang
der Familie «zur reinen Konsumtionsgemeinschaft» bis
hin zur Diffamierung der «städtischen Bildung» als
einem «grosse[n] Vorrat an Wörtern» und «oberflächli-
che[n] Wissen ohne gestaltende Kraft» waren alle we-
sentlichen Argumentationsfiguren gärtnerischer Fort-              Abb.7: Arbeiten mit dem Reihenzieher (Krüger / Millat 1978,
schrittsskepsis versammelt. Der allgemein beklagten               Schulgartenpraxis, S. 46, Bild 46/1).

Dekadenz wurde die Kur im Schülergarten ent-                      schutzes» wurden mit der Tätigkeit im Garten unmittel-
gegengesetzt. Auch nach Hepp konnte es «für den so-               bar in Verbindung gebracht. Die Förderung des Ge-
genannten Kopfarbeiter [...] nur heilsam sein, wenn er            meinsinns sah Hepp besonders dort gewährleistet, «wo
auf irgend einem Wege die schöpferische, neue Werke               der Garten als Ganzes bebaut wird und wo neben den
schaffende Kulturarbeit der Hand kennen, achten und               Einzelgärten noch gemeinsames Land vorhanden ist».
lieben gelernt hat». Mit Hinweis auf die Mediziner                Der Schülergarten stellte demnach «eine Arbeitsge-
Custers, Schulthess sowie den Leipziger Heilpraktiker             meinschaft dar, wie sie Dr. Kerschensteiner so lebhaft
Daniel Gottlieb Moritz Schreber schilderte er den
                                                                  befürwortet».36
Schülergarten als Jungborn und Hort der Gesundheit:
                                                                     Durch den Vorsatz, im Schulgarten angesichts zuse-
«Die Gartenarbeit ist so mannigfaltig, dass sich die jun-
                                                                  hends atomisierter Sozialbeziehungen ein neues Ge-
gen Körper dabei nach Herzenslust bewegen, drehen
                                                                  meinschaftsgefühl einzuüben, wurde die Wahl zwischen
und strecken, bücken und wieder recken dürfen. Es rie-
                                                                  Gruppen- und Einzelbeet in den Rang einer sozialphi-
selt das Blut schneller durch die Adern und erzeugt ein
                                                                  losophisch motivierten Entscheidung erhoben. Adolf
Gefühl      gesteigerten    Wohlseins    und     wachsender
                                                                  Teuscher, der 1926 unter Beibehaltung der bewährten
Lebenskraft». In der Absicht, mit der Arbeit im Garten
                                                                  Parolen und ausdrücklicher Bezugnahme auf Hepp das
zugleich «Luft- und Sonnenbäder» zu ermöglichen,
                                                                  Prinzip des Arbeitsschulgartens vertrat, proklamierte
empfahl Hepp, während der gärtnerischen Verrichtun-               die «Erziehung zu hingebender Pflichterfüllung im Dien-
gen die Oberkleider abzulegen, wobei nach seinem                  ste der Gemeinschaft als oberstes Ziel der Schule». Der
Dafürhalten in den «Knabenabteilungen [...] sogar in              Schulgarten schien ihm als Proberaum für die «Arbeits-
den Badhosen gearbeitet werden» konnte.                           gemeinschaft» und «Klassengemeinschaft» überaus
  Wie schon Professor Schwab stellte er der körperli-             praktikabel: «Indem der Garten so zum Kollektiveigen-
chen Konditionierung und Abhärtung des Schülers die               tum der Klasse wird, wird eine starke Verbindung der
moralisch-ethische Menschenbildung zur Seite: Aus-                Gesamtklasse mit diesem Stück Erde geschaffen. Ein-
dauer, Pflichtgefühl, Arbeitsfreude, Ehrgefühl, Sau-              zelkind und Klasse haben ein Stück Land, das ihnen ge-
berkeit, Ordnung und Sparsinn, aber auch Freiheit so-             hört, ihnen anvertraut ist, auf dem sie Wurzel schlagen.
wie    die     gemütvolle     Sensibilisierung      für    das    So wird der Garten der Arbeit ihnen zur Heimstätte».37
«Naturleben» und die «Bestrebungen des Heimat-                    Sollte der Schulgarten jener von Teuscher avisierten
Ulf Jacob                      Erziehung, Garten, Menschenbild.                                   k              2/2002 - 9

«Arbeit an der Lebenserneuerung unseres Volkes»                   «Ausdauer [zu] üben», «körperliche Anstrengung [zu]
genügen, «forderte er Raum, viel Raum». Unterschwel-              überwinden» sowie den «Wert und Sinn der Arbeit über-
lig bot bereits die im Arbeitsschulgarten mit «Landhun-           haupt und gärtnerischer Arbeit insbesondere [zu] ver-
ger» und «Landsuche»    38
                             verbundene Entwicklung des           stehen», den Gesetzen der Schöpfung selbst, derweil er
Gemeinschaftsgedankens einen Vorgeschmack auf den                 doch im emsigen Zwiegespräch mit «Wasser und Erde,
Expansionismus der nur wenig später installierten, un-            Licht und Luft, Tiere[n] und Pflanzen» lediglich sozio-
ter notorischer Raumnot leidenden «Volksgemein-                   kulturell konstruierte und legitimierte Verhaltensweisen
schaft» des Dritten Reiches.                                      übernahm. Die suggestive Imagination einer den

  Im Krisenjahr 1931 begründete Gartenbaurat Heyer                Schülern sich rein und ungetrübt mitteilenden Natur
                                                                  veranlasste die Autorin schließlich zu dem Fazit, dass
aus Frankfurt am Main die Aktualität der Schülerarbeits-
                                                                  mit der Schulgartenpraxis ein Gebiet gegeben und aus-
gärten «historisch»: Orientiert am Vorbild mittelalterli-
                                                                  zubauen sei, «auf dem das uralte Gleichnis vom Gärtner
cher Klosterschulen, erkannte er in der Gartenarbeit ein
                                                                  als Erzieher und vom Erzieher als Gärtner sich buch-
geeignetes Instrument, um «die dem Landbau entfrem-
                                                                  stäblich verwirklicht».42
deten Menschen»39 - womit vor allem die arbeits- und
perspektivlosen Milieus der Großstädte gemeint waren
- wieder zu Siedlern zu erziehen. Zeitgleich wurde das            Schulgärten der Volksgemeinschaft
Arsenal der pädagogischen Pflanzen- und Gärtner-Me-               Eingebunden in den Eklektizismus nationalsozialisti-
taphorik reaktiviert. Ilse Dieckmann, Leiterin der Garten-        scher Ideologie trieb die pädagogische Metaphysik der
bauschule Düsseldorf-Kaiserswerth, stellte in derselben           Ackerkrume braune Blüten. Nach der «Machtergrei-
Ausgabe der Zeitschrift Gartenkunst die Frage, ob es              fung» wurde die Schulgartenfrage Gegenstand der zen-
nicht «einleuchtend» sei, «daß Kinder und Jugendliche             tralistischen Volksbildung des neuen Führerstaates.
im Garten die Stätte finden, wo sie sich auseinander-                Bereits im November 1934 betonte ein Erlass des
setzen können mit kosmischem Werden und Vergehen;                 Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft,
wo sie, ungestört durch die Stellungnahmen der Er-                Erziehung und Volksbildung, dass den «erziehlichen
wachsenen, erleben die Gesetze der Wandlungen und                 und unterrichtlichen Einflüssen, die vom Schulgarten
Verwandlungen des Organischen, so daß die natürliche              ausgehen, [...] im Rahmen einer bodenverwurzelten
und sittliche Metamorphose sich einleitet infolge der             Schularbeit     eine        herausgehobene   Bedeutung
Erkenntnis    natürlicher    Lebensvorgänge         in    ihrer   zu[kommt]».43 Nur fünf Monate später bekräftigte ein
Gesetzmäßigkeit?»40 Erinnerte die Überblendung von                Folgeerlass die ministeriale Wertschätzung des Schul-
«natürlicher» und «sittlicher» Entwicklung zunächst an            gartens und formulierte die Zielvorgabe, «möglichst je-
Fröbels Rede vom «Einklange mit der Natur» und damit              der Schule einen eigenen Schulgarten anzugliedern».44
an ihrerseits traditionsreiche Überzeugungen des 19.              Im Jahre 1937 folgten aus dem selben Hause die
Jahrhunderts,    so   war     diese    Argumentationsfigur        Richtlinien für die Einrichtung und Bewirtschaftung von
darüber hinaus in das schillernde Geflecht zeitgenös-             Schulgärten an Volks- und mittleren Schulen. Darin wur-
sischer Ideologeme verwoben. Ausgehend von der em-                de u. a. die Debatte über Einzel- oder Gruppenbeete
phatischen Verkündung einer neuen Jugendkultur («Ihr              gemäß der herrschenden Leitideologie entschieden:
Weg ist Kampf.») und unter Hinweis auf die ver-                   «Der Schulgarten soll ein Gemeinschaftsgarten sein; er
brauchte, dem «Leben» entfremdete Welt der Alten («ein            dient der Erziehung zum Gemeinschaftsgedanken. Das
müdes Geschlecht»)41 erschien der Schulgarten nicht               Schüler- oder Eigenbeet ist abzulehnen».45 Schulgarten
mehr als ein absichtsvolles, den Kindern und Jugendli-            und Gartenarbeit boten eine ideale Projektionsfläche für
chen von ideologisierten Erwachsenen nahegebrachtes               die Agitatoren nationalsozialistischer Blut-und-Boden-
Medium zivilisationsfeindlicher Hingabe an das «Orga-             Mythologie, die, zum Teil in personaler und professio-
nische», sondern - getaucht in den Schein der Natur-              neller Kontinuität, die relevanten Stereotypen des bis-
wüchsigkeit - als kosmische Offenbarung. Betrachtet               herigen Diskurses aufgriffen und dem gleichgeschalte-
durch diesen Schleier vermeintlicher Authentizität,               ten Welt- und Menschenbild des Dritten Reiches
entstand der Eindruck, als folge der gärtnernde Schüler,          einpassten. So forderte etwa Max Müller, bereits seit
indem er lernt, «eigene Unlustgefühle [zu] bezähmen»,             Mitte der zwanziger Jahre für das Fach engagiert,
Ulf Jacob                              Erziehung, Garten, Menschenbild.                               k                 2/2002 - 10

schulgärtnerische Bestrebungen «im Zeichen der Volks-                     nötige Anschauungsmaterial. «Wir modernen Men-
erhebung 1933» unter stärkerer Betonung der werktäti-                     schen», so behauptete von Gellersen in seinem Aufsatz
gen und körperlichen Erziehung zu forcieren,46 und                        Geschichte im Garten (1936), «brauchen Linde, Esche,
Adolf Teuscher reformulierte seine «Arbeit an der Le-                     Mistel nur zu nennen, so tauchen in uns die Erinnerun-
benserneuerung des deutschen Volkes» (1926) zur Teil-                     gen an Götter und Helden unserer Vorfahren auf». Fol-
habe des Arbeitsschulgartens an der «völkischen Er-                       gerichtig schlug er die Zusammenstellung bestimmter
neuerung»         47
                       (1936).                                            «Pflanzen von geschichtlicher Bedeutung», wie bspw.

   Im Propagandagewitter der sogenannten «Erzeu-                          «Getreide, Kraut und Unkraut des Steinzeitbauern»,52
gungsschlacht» und des «Vierjahresplanes» wurde der                       zu einzelnen, repräsentativen Gruppen vor. Im schuli-
schulische Gartenraum einerseits als Kampfplatz einer                     schen Gartenflor sollte sich das nordisch-germanophile
militanten, auf Autarkie verpflichteten Wirtschaftspolitik                Raunen der Ahnenforscher zur vegetabilen Form ver-
besetzt, der zufolge ein jeder seinen persönlichen Anteil                 sinnlichen.
am Produktionsheroismus der Volksgemeinschaft zu
leisten hatte, und andererseits zur Keimzelle einer «not-                 Nach-Chaos und Vor-Ordnung: Zum Beispiel Karl
wendige[n] Entstädterung»             48
                                           und Verbäuerlichung des        Foerster
gesamten Sozialgefüges bestimmt. Auch Geschlech-                          Durch Karl Foersters Aufsatz Schülergärten wichtiger
terrollen und Brauchtum, Heimatgefühl und Gefolg-                         als Schulgärten!53 (1947), mit dem Hepps Arbeit
schaftstreue sollten mit Hilfe des gärtnerischen Unter-                   Schulgärten und Schülergärten (1919/20) nochmals
richtes vermittelt werden. Die Leibesertüchtigung der                     einen (unausgesprochen) deutlichen, in einigen Pas-
heranwachsenden Krieger und Mütter stand dabei                            sagen nahezu plagiierenden Widerhall fand, ist ein dis-
obenan. Zudem bewährte sich der Schulgarten auch                          kursives Bindeglied für die Zeit der gesellschaftlichen
«im Dienste der Rassenkunde».49 So erhielt «gerade                        Transformation nach 1945 gegeben. Am Beispiel der
das erbkundliche Pensum» durch die zielgerichtete                         von ganzheitlicher Ordnungspoesie durchdrungenen
Auswahl geeigneter Pflanzen «eine schöne Anschau-                         Persönlichkeit des Bornimer Staudengärtners, Schrift-
lichkeit».   50
                   Modellartig leistete die kategorische Unter-           stellers   und   Gartenphilosophen,   1932   bis   1933
scheidung von Nützlingen und Schädlingen, jener in                        deutschnational organisiert, NSDAP-Mitglied seit 1940
den Richtlinien dekretierte «Kampf dem Verderb», der                      und in der DDR mit Nationalpreis und Vaterländischem
Einübung einer biologistischen Vernichtungsmentalität                     Verdienstorden hoch geehrt, konkretisierte sich die his-
Vorschub. Um ideologische Rückversicherung bemüht,                        torische Dialektik von Kontinuität und Wandel zur indi-
berief sich die Gartenpädagogik immer wieder auf Äu-                      viduellen Biographie.54 Die Zerstörungen und Zerrüt-
ßerungen Adolf Hitlers. «Für was wir zu kämpfen ha-                       tungen des Krieges als Chance begreifend, knüpfte
ben», so wurde bspw. im Buch Der Schulgarten in der                       Foerster nahtlos an die Gewissheiten der vergangenen
Unterrichtspraxis (1937) aus der Führerschrift Mein                       Jahrzehnte an und zog die verschiedenen Register der
Kampf zitiert, «ist die Sicherung des Bestehens und die                   lebensreformerischen und kulturkritischen Gartenideo-
Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Er-                      logie: Wieder wurden das heilsame Leben mit Pflanzen
nährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, [...].                  und Tieren beschworen und die kleinteiligen Liebes-
Jeder Gedanke und jede Idee, jede Lehre und alles Wis-                    und Familienbande der Gemeinschaft im Gartengrün
sen haben diesem Zweck zu dienen». Ohne Umschwei-                         begründet. Erneut fanden sich die pflanzenden, pfle-
fe münzte der Verfasser, Studienrat Dr. Albert Höfner,                    genden und erntenden Mädchen in Einübung ihrer
das Hitler-Wort auf den Gegenstand seiner Überlegun-                      Rolle als Hausfrau und Familienmutter wieder. Und
gen und gelangte zu der Schlussfolgerung: «Von ganz                       noch einmal sollten «Abenteurerdrang», «Schönheits-
besonderer Bedeutung für die Erreichung obiger Ziele                      gefühl», «Bodenständigkeitsbedürfnis», der Zusam-
ist der Schulgarten, der heute für jede Schule unent-                     menhang von «Heimatgefühl und Erdbearbeitung»
behrlich ist».         51
                            Die Fokussierung auf Abstammung und           sowie die «Herzensverbundenheit mit deutschem
rassebiologische Vererbung ging mit der Frage nach                        Boden»55 auf der schulischen Garteninsel gedeihen.
den Ahnen des neuen nationalsozialistischen Men-                          Unbeeindruckt von den Ruinenwüsten der geschun-
schen einher. Auch dafür lieferte der Schulgarten das                     denen Städte wurde die antiurbane Trommel ge-
Ulf Jacob                            Erziehung, Garten, Menschenbild.                                    k              2/2002 - 11

schlagen und der Passivität städtischer, innenräumli-                   Blickfeld der Öffentlichkeit»61 vorgesehen. Allerdings
cher Bildungsideale der freie ländliche Aktionsraum als                 wurde dieser, Anfang 1951 vom Ministerium für Volks-
großer «Rosenbringer» entgegengesetzt, eine Geistes-                    bildung in den Richtlinien und Anregungen zur Arbeit
haltung, die sich vergleichbar auch in den aufgelösten                  im Mitschurin-Schulgarten publizierte Ansatz per Minis-
Stadtlandschaften eines Hans Scharoun nachweisen                        terentscheid alsbald zurückgenommen und im Rekurs
lässt. (Schon Adolf Teuscher sah 1926 die «künftige                     auf das «humanistische Kulturerbe» sowie unter Rück-
Großstadt    [...]      durchsetzt     von     Grünstreifen     und     besinnung auf die Erfahrungen des reformpädagogis-
Grüngürteln, die sich organisch dem Stadtbilde                          chen Arbeitsschulunterrichtes ein eigenständiger Weg
eingliedern».)   56
                      Und wieder bemühte Foerster die wan-              eingeschlagen. Bereits im Jahre 1955/56 wies das Mi-
dervogelige Antinomie von rational zergliedernder                       nisterium die Einrichtung von Schulgärten an allen all-
Stubengelehrsamkeit und ganzheitlichem «Leben mit                       gemeinbildenden Schulen an.62 Integriert in das
der Jahreszeit». Belehrt durch das Desaster des völki-                  Konzept der polytechnischen Einheitsschule, stand die
schen «Gemeinschaftsgartens», rehabilitierte er aller-                  praktische Arbeit der Schüler im Mittelpunkt des Unter-
dings die kleinbürgerlich betriebsamen Ideale von                       richts. Dabei sollten sie «Kenntnisse, Fähigkeiten und
«Eigentumsfreude», «Vorlegeschloß», «Wetteifern und                     Fertigkeiten erwerben, [...] ihr mathematisch-naturwis-
Unterscheidungsdrang», «Ordnung, Sauberkeit» sowie                      senschaftliches und gesellschaftswissenschaftliches
«Schenk- und Tauschfreude»,             57
                                             also die Praxis des        Wissen und Können aus den anderen allgemeinbil-
Einzelbeetes. «Naturnähe», «Himmelsnähe» und «Men-                      denden Fächern anwenden, vertiefen und erweitern
schennähe»   58
                      waren ihm frei nach Fröbel identische             sowie zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen wer-
Anliegen.                                                               den».63 Erfahrungsberichte beglaubigten die Sinnfäl-
                                                                        ligkeit der schulgärtnerischen «Verbindung von Unter-
Die sozialistische Persönlichkeit geht jäten                            richt und produktiver Arbeit». Demzufolge wurden «die
                                                                        Schüler unmittelbar in den gesellschaftlichen Umwäl-
Doch die Zeichen der Zeit deuteten zunächst in eine
                                                                        zungsprozeß einbezogen und an der revolutionären
andere Richtung. In der DDR hieß es in den frühen fünf-
                                                                        Tätigkeit der Werktätigen beteiligt». Individuum und so-
ziger Jahren auch auf dem Gebiet des Schulgartens,
                                                                        ziale Umwelt sollten sich in dialektischer Wechselbezie-
vom «Großen Bruder» Sowjetunion zu lernen. Das
                                                                        hung entfalten: «Indem die Schüler helfen, die Verhält-
Zauberwort lautete «Mitschurin-Garten». In Erinnerung
                                                                        nisse zu verändern, verändern sie sich selbst, [...]».64
an den sowjetischen Biologen und Pflanzenzüchter
                                                                        Auf diesem Weg wurde dem Schulgarten als Pflanz-
Iwan Wladimirowitsch Mitschurin, der bereits 1932 die
                                                                        stätte allseitig entwickelter, sozialistischer Menschen
«kommunistischen Kinder» im Namen Lenins zur Mit-
                                                                        einmal mehr das Potenzial zugesprochen, eine sys-
wirkung an der «Verbesserung der Pflanzenwelt»59
                                                                        temkonforme Synthese von intellektueller, körperlicher
aufrief, war damit eine Form des Unterrichts gemeint,
                                                                        und weltanschaulich-moralischer Bildung leisten zu
die, entsprechend der angestrebten Einheit von Theorie
                                                                        können. Dem Leitbild der sozialistischen Menschenge-
und Praxis, biologische Forschungstätigkeit und Gar-
                                                                        meinschaft gemäß, war die Schulgartenpraxis der DDR
tenarbeit miteinander verband. Außerdem sollten die
                                                                        dabei auf «gesellschaftlich nützliche Tätigkeit», ge-
schulischen Aktivitäten direkt an die Maßgaben der
                                                                        meinschaftliche Nutzung der Anlagen und Einrichtun-
Planwirtschaft angekoppelt und damit als Lehrstück
                                                                        gen   sowie   auf        das   «Verantwortungsgefühl   des
sozialistischer Ökonomie in Szene gesetzt werden.
                                                                        Schülerkollektivs»  65
                                                                                                 ausgerichtet.
Pädagogen, Fachbiologen und Funktionäre der Freien
Deutschen Jugend waren angehalten, in kollektivem
Schulterschluss das sowjetische Experiment zum Er-                      Love and Peace and Schulgarten. Die ökologische
folg zu führen, wobei an dessen Umsetzung auch die                      Renaissance eines pädagogischen Evergreens
Arbeitsgemeinschaften von Jungen Pionieren und FDJ                      Wurde der Schulgartenunterricht in der DDR ideolo-
beteiligt werden sollten.       60
                                      Zur Sicherstellung einer          gisch durch den historisch-materialistischen Optimis-
volkspädagogischen Breitenwirkung waren für die not-                    mus einer fortschreitenden Versöhnung der Wider-
wendigen Demonstrations-, Übungs- und Sonder-                           sprüche zwischen Kopf- und Handarbeit, Stadt und
flächen Standorte «in der Nähe der Schule und im                        Land, Natur und Technik legitimiert, so erhielt die
Ulf Jacob                     Erziehung, Garten, Menschenbild.                                k                  2/2002 - 12

Schulgartenbewegung des Westens erst angesichts                  zelbeet dem unterdrückten Selbstbewusstsein förder-
der Krisenszenarien einer an ihre Grenzen stoßenden              lich sein, die Gartenarbeit im allgemeinen der «sozialen
Wachstumsgesellschaft neuen Auftrieb. Ölschock, Um-              Formung» des Gemeinsinns dienen sowie zum schöp-
weltzerstörung, Atomkriegsgefahr, durch Alarmmeldun-             ferischen Gleichgewicht zwischen Kopf, Herz und Hand
gen von Publizistik und Wissenschaften ins kollektive            hinführen, das Naturerlebnis ein innigliches Verantwor-
Bewusstsein gerückt, evozierten ein Gefühl des                   tungsgefühl für Pflanze und Tier hervorrufen, kurz, es
Verknappung, der Begrenztheit, des Endes. In diesem              ging darum, der zivilisationskritisch verurteilten «Beute-
Zustand apokalyptischer Gestimmtheit wurde die                   macher-Gesellschaft» den Modus «pflegenden Verhal-
Schulgartenidee als konkreter Ansatz zur ökologischen            tens» entgegen zu setzen.67 Als neues, übergesell-
Neubesinnung wiederbelebt. Der als Mängelwesen                   schaftliches   Ordnungs-Paradigma       galt   dabei   der
konzeptualisierte Mensch, von den eigenen Kreationen             ökologische Kreislauf, das Ökosystem, für dessen Ver-
wie weiland der Zauberlehrling übermannt, wollte sich            anschaulichung und Verinnerlichung das «Übungsfeld»
in neuer Unschuld seiner Mutter Erde anschmiegen.                Schulgarten besonders gut geeignet schien.
«Wir gehen in den Wald. [...] Wir werden naß und
schmutzig, lehmbedeckt von oben bis unten. Welch ein             Chillout im Rübenbeet oder Umgraben im Zeitalter
Gefühl! [...] Eine Woche lang nur erscheinen Arbeiter            der technischen Klonierbarkeit
mit Trax und Schaufeln, Lastwagen mit Kies und Schot-
                                                                 Im Laufe der Jahre ist die Umwelt-Rhetorik der Ökolo-
ter, ein Architekt, der leitet und führt. Der Trax, der für
                                                                 giebewegung in den operativen Wortschatz jeder poli-
einmal nicht zerstört, schüttet Hügel auf und baggert
                                                                 tisch korrekt justierten Partei- und Unternehmenspro-
Tälchen aus, wühlt eine tiefe Mulde für den Teich. Der           paganda eingegangen. Währenddessen hat sich ihr
Facharbeiter, mit wachsender Begeisterung, zerkleinert           utopischer, auf revolutionären (oder evolutionären)
Schollen, glättet die Erde, kämmt die Hügel. Das war             Wandel zielender Mehrwert im etablierten Tagesge-
im Frühjahr 1975. [...] Zwei Monate später erstrahlen            schäft der Aktivisten von einst längst verflüchtigt.
die Humushügel in Gold».66                                       Nichtsdestotrotz werden die lieb gewonnenen Sprach-
   Die hier an einem Schweizer Beispiel beschriebene             regelungen der Aufbruchszeit unverdrossen beibe-
Vergemeinschaftung von Schuljugend, Facharbeitern                halten. Wie ein Blick in die Informationsbroschüre Un-
und führendem Architekten durch das Erlebnis ihres zu            ser Schulgarten (1996) lehrt, gilt dies auch für die
guter Letzt änigmatisch aufflammenden Heimatbodens               ökologisch inspirierte Schulgartenbewegung. Der in
transponierte - ob bewusst oder unbewusst - die im               der Bundesrepublik bisher nur fakultativ erteilte
Schulgartendiskurs unter wechselndem Vorzeichen                  Schulgartenunterricht wird - wie gehabt - zur Einübung
überdauernde Erdromantik in die Realität der siebziger           sozialer und ökologischer Kompetenzen empfohlen,
Jahre. Wieder wurde der «Lernbereich Grün» ex nega-              eröffnet Räume für eine «intensive Naturerfahrung»,
tivo als eine Oase des Abwesenden, als Abglanz des               gewährt dem um «Lebensnähe» bemühten Unterricht
Verlorenen oder Vorschein des Erträumten definiert.              didaktische Hilfen, vermittelt zwischen «Hand und
Hier sollte und durfte man kreativ sein, fühlen und spü-         Kopf», bietet Möglichkeiten für fächerübergreifende
ren, sich gestalterisch erproben, den Zwängen oktroy-            Lernerlebnisse und regt «wichtige Identifikationspro-
ierter Ordnungen, namentlich der (innenräumlichen)               zesse» der Schüler an.68 «Neue Aufgaben und Ziele»
«Verschulung des Intellekts»     entkommen. Dem vom              verbinden sich vor allem mit dem Wunsch, über kleine
Homo oeconomicus zum Homo ludens zu läuternden                   Parzellen hinaus mehr und mehr das gesamte
Menschenkind galt es, in Gestalt des Schulgartens ei-            Schulgelände in die Gartenarbeit einzubeziehen. An-
nen Freiraum nichtentfremdeten Selbst- und Welterle-             geregt von dem «Leitgedanken der Perma-Kultur», eine
bens zu eröffnen. Noch einmal verband sich mit dem               «zweite Natur» zu schaffen, die das «Zusammenleben
Schulgarten die Erwartung, durch die Wirkmächtigkeit             der Wildarten mit dem Menschen» ermöglicht, wird das
von Umwelt und selbstvollzogener Tätigkeit den ganzen            Schulareal «zunehmend als zu gestaltender Lebens-
Menschen erreichen und dauerhaft beeinflussen zu                 raum für Tier- und Pflanzenarten gesehen».69 Dem
können: Die Erfahrung des Gartens sollte «Störungen,             Ansinnen, die Schule in eine ökologische Arche zu ver-
Aggressionen, Ängste» schonend therapieren, das Ein-             wandeln, sekundieren kulturskeptische Befunde über
Ulf Jacob                     Erziehung, Garten, Menschenbild.                                k                 2/2002 - 13

die «Kinder in der heutigen Zeit». Im Reflex auf Leis-           monie, den es in Rückbesinnung auf vergessene Wahr-
tungsdruck, Reizüberflutung und naturferne Verhäusli-            heiten einfach wieder herbeizubilden gilt. Die Garanten
chung bietet sich Kindheit als eine kontinuierliche Ver-         der Konsistenz sind auf dem Rückzug. Suburbane Ag-
lustgeschichte dar. Ausgehend von dieser bis auf                 glomerationen verwischen die Grenzen zwischen Stadt
Rousseau zurückdatierenden Nachauflage eines defi-               und Land, die Manipulierbarkeit der Erbinformationen
zitären Menschenbildes, werden Schul- und Fami-                  nimmt dem pflanzlichen und tierischen Leben die Aura
liengärten «als ein schlichter und ehrlicher Versuch» be-        des Gottgegebenen, Natur und Landschaft werden zum
griffen, «unsern Kindern etwas von dem zurück-                   Operationsgebiet profitabler Interventionen und gehen
zugeben, was wir ihnen weggenommen haben».            70         der Ursprünglichkeit einer Conditio sine qua non verlu-

   Handlungs- und Utopiebedarf besteht, doch stellt              stig. Ist damit das auf Ordnungswissen über Natur und
sich vor dem Hintergrund der aktuellen Kontroversen              Gesellschaft, also auf kontrollierte Orientierungssicher-

über Globalisierung, Individualisierung, Multikulturalität,      heit der Heranwachsenden, ausgerichtete Modell

Life sciences oder Virtualisierung die Frage nach der            ’Schulgarten’ in Zeiten der Unsicherheit am Ende? Hat

Angemessenheit und Tragfähigkeit von Konzepten, de-              der Gen-Ingenieur den Erzieher-Gärtner überrundet und

ren Grundannahmen in Auseinandersetzung mit einem                zum Abstieg ohne Wiederkehr ins «cultural lag» des

Typus der Industriegesellschaft entwickelt wurden, des-          Abendlandes verdammt? Ein Nachruf wäre verfrüht,

sen Demontage wir gerade zu beobachten haben. Kann               denn Totgeglaubte leben bekanntlich länger. Doch nicht

es im Sturmwind des entfesselten «Turbokapitalismus»             in der exklusiven Imaginierung einer Insel des anderen,

gelingen, der vielfach beklagten «Entzauberung» mit ei-          vorgeblich wahren Daseins, so zeichnet es sich ab, be-

nem gärtnerischen Gegenzauber zu begegnen? Ist die               steht die neue Herausforderung, sondern in der Öffnung

Generation der «kids», sind die Kinder im Bann von               der schulischen Gartenwelt für die Dissonanzen der Ge-

SMS und Chatroom, Hip Hop und Graffiti, Techno und               genwart. Nicht allein die verdrängte «Natürlichkeit» des

Harry Potter, Skateboard und kleinen bunten Pillen, tat-         Menschen heißt es in der Begegnung mit Flora und

sächlich noch für eine therapeutische Heilung auf dem            Fauna körperlich, gefühlsmäßig und gedanklich zu er-
                                                                 fahren, sondern die sozial und kulturell kodierte
Mutterboden des Schulgartens zu gewinnen? Welche
                                                                 Menschlichkeit der Gartennatur vor Augen zu führen:
Chancen hat der selbstgezogene Kohlrabi gegen Fast
                                                                 als ein Gleichnis des Menschenmöglichen und Men-
Food und koffeinhaltige Getränke aus Übersee?
                                                                 schengemachten, zur Sensibilisierung für die Probleme
Schützt die Pflege von Kräuterbeet und Blumenrabatte
                                                                 einer letztlich nicht naturwüchsigen, vielmehr nach wi-
vor den Gemetzeln der Spielkonsolen und Splatter Mo-
                                                                 derstreitendem Interesse und Ermessen so oder so zu
vies? Lassen sich jene geschwindigkeitsverwöhnten, im
                                                                 gestaltenden Zukunft mit offenem Ausgang. Sollte es
Zugriff von Ökonomie und Massenmedien beizeiten auf
                                                                 gelingen, von der eingehegten Trauerarbeit am verlore-
Sinnkonsum, Werbebotschaft und Verbrauch getrimm-
                                                                 nen Paradies zu einer (selbst-)kritisch Anteil nehmen-
ten Wettbewerber in spe (oder künftigen «Verlierer» der
                                                                 den, für die Differenzen im Hier und Jetzt aufgeschlos-
neoliberalen Auslese), vom Gartenglück mit Pflanzen
                                                                 senen Grün-Kultur zu gelangen, dann könnte man
und Tieren wirklich noch beeindrucken? Spüren sie hin-
                                                                 vielleicht sagen: Der Schulgarten ist tot. Es lebe der
ter dieser friedlichen Anmutung gar die Zumutung einer
                                                                 Schulgarten!
scheinheiligen Doppelmoral? Schlussendlich, wie rele-
vant, glaubhaft und wirkungsvoll ist die Idee des Schul-
gartens - verfügt sie noch über emanzipatorische Ener-           Resümee
gien oder liefert sie nur das ökologische Feigenblatt            Vorbereitet von Pietisten, Philanthropen und Romanti-
einer machtlosen Pädagogik? Angesichts der erodie-               kern, ist die «klassische» Kulturvorstellungen variie-
renden Dekonstruktion und polykulturellen Relativie-             rende Institutionalisierung des Schulgartens als ein
rung einstmals unveränderlich gedachter Werte und                Phänomen gesellschaftlicher Modernisierung ohne das
Axiome wie Gemeinschaft, Arbeit, Leben, Heimat oder              Wachstum der Städte, die Ausbreitung industrialisierter
Raum werden die scheinbaren Gewissheiten ungewiss,               und technisierter Lebenswelten sowie den Progress
schwindet die Hoffnung auf die heilenden Kräfte ewiger           der Wissenschaften gar nicht zu denken. Ihr Pen-
Natur, mithin auf einen unschuldigen Zustand der Har-            delschwung zwischen Systemflucht und Rationa-
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