Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG

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Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten | Ausgabe 1-2019 | www.ngg.net

einigkeit                                                                Das Magazin der NGG

Europa –
ist das wichtig? Oder kann das weg?
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
einigkeit

… ist grenzenlos.
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
EDITORIAL

                       Welches Europa
                       wollen wir?
                       Am 26. Mai ist Europawahl. Ein Tag, an dem wir mit unserer Stimme
                       nicht nur über die Stärke der Fraktionen im Europäischen Parlament,
                       sondern vor allem über die Zukunft der europäischen Idee entschei-
                       den. „Wir zuerst und uns das Meiste!“ So tönt es immer lauter: Euro-
                       pas Nationalisten und Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch.
                       Von Skandinavien bis Italien haben sie sich inzwischen fast überall
                       auf dem Kontinent mindestens als relevante politische Kräfte etab-
                       liert und machen ihren Einfluss auch auf europäischer Ebene gel-
                       tend. Gleichgültig, ob es den rechten Kräften darum geht, „nur“ den
Foto: Stephan Pramme

                       Euro abzuwickeln oder gleich das ganze europäische Haus zum Ein-
                       sturz zu bringen: Sie sind eine bitterernstzunehmende Gefahr für die
                       Gemeinschaft, die uns seit mehr als 70 Jahren den Frieden sichert.

                       Deshalb haben wir Europa das ganze Heft gewidmet! Denn am 26.
                       Mai entscheidet jeder und jede Einzelne von uns, in welchem Europa
                       er oder sie leben möchte. Dass sich ein großer Teil der Jugend bereits
                       für ein freies, gerechtes und soziales Europa entschieden hat, das
                       zeigen wir ab Seite 6.

                       Vieles stünde auf dem Spiel, würden wir die europäische Idee aufge-
                       ben. Nicht zuletzt auch der größte einheitliche Markt der industriali-
                       sierten Welt. Die europäische Wirtschaft ist eng verflochten – umso
                       schwieriger, wenn einer der Gemeinschaft den Rücken kehren will:
                       Mit Großbritannien wird erstmals ein Land die EU und den Binnen-
                       markt verlassen. Mit bislang unabsehbaren Folgen. In den Unterneh-
                       men herrscht Unsicherheit und Schweigen. Mehr ab Seite 20.

                       Was Europa Tag für Tag für den Einzelnen bedeutet, das spüren ganz
                       besonders die sogenannten Grenzgänger. Sie arbeiten in Deutsch-
                       land und haben ihren Wohnsitz in einem Nachbarland. Ab Seite 26
                       berichten wir von einer Tour entlang der deutschen Grenze.

                       Vor Euch liegen viele Seiten Europa. Am 26. Mai entscheidet Ihr –
                       Wählt ein soziales Europa!

                       Guido Zeitler
                       Vorsitzender der NGG

                                                                                           einigkeit 1-2019    3
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
Foto: Kai-Uwe Knoth
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6      FOKUS | EUROPA
       Flüchtlingsdrama, Brexit und Rechtspopulismus: An Herausforderungen man-                          18   MENSCHEN | PORTRÄT
                                                                                                              Hermann Soggeberg ist Euro-Be-
       gelt es der EU vor der Europawahl am 26. Mai 2019 nicht. Wohin wird die Reise                          triebsrat bei Unilever. Ein Europa der
       gehen für das Bündnis, das uns mehr als 70 Jahre Frieden gebracht hat?                                 Nationalstaaten ist für ihn undenkbar

       FOKUS | EUROPA                                                                                         MENSCHEN

    6 Europa – ist das wichtig?                14 Eine starke Gemeinschaft                                18 Porträt
       Oder kann das weg? Keinesfalls,             705 Sitze gilt es, im Mai neu zu                           Genau mein Ding: Hermann
       sagt die Jugend, die Europa in              verteilen. Wer mit entscheiden will,                       Soggeberg hat seinen Platz
       vollen Zügen genießt                        muss wissen, wie es geht und wer                           gefunden
                                                   zur Wahl steht
    10 Maximale Krümmung                                                                                  24 Jubilare
       Die lustigsten und dümmsten Witze       15 Das geht uns alle an                                        Wir gratulieren
       werden über die EU-Regulierungs-            Die Politik muss die Menschen
       wut gemacht, meint Peter Zudeick            in den Mittelpunkt stellen, fordert
                                                   der NGG-Vorsitzende
    13 So muss Europa sein!
       Das „Europäische Kollektiv Mitbe-       16 Geh‘ ich oder geh‘ ich nicht?
       stimmung – European Collective“             Eines ist sicher: Wer nicht wählt,
       steht für ein soziales Europa               der stärkt die Falschen

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IN DIESER AUSGABE

                                                                                                                                                                        Foto: Uwe Völkner/Fotoagentur FOX
                                          Foto: Uwe Völkner/Fotoagentur FOX

20   BRANCHE
     Europäischer Binnenmarkt: Auch                                           26   NGG VOR ORT
                                                                                   Die EU-Gesetze sollten für alle gleich sein: 12.000 französische Grenzgänger, hier
     der Hannoveraner Kekshersteller                                               Betriebsräte von Ludwig Schokolade, haben sich organisiert und suchen die Nähe
     Bahlsen produziert im Ausland                                                 zur NGG im Saarland

     BRANCHE                                                                       NGG VOR ORT                                  KURZ NOTIERT

 20 Marktplatz Europa                                                          26 Grenzgänger –                             34 Rechtstipp
     Branchenweit profitieren große und                                           Das Beste aus zwei Welten                     Mehr Geld für Teilzeitbeschäftigte
     kleine deutsche Unternehmen vom                                               Für mehr als 1,2 Millionen Be-               in der Systemgastronomie
     zollfreien Marktplatz Europa. Der                                             schäftigte führt der tägliche Weg
     drohende Brexit hat für alle spür-                                            zur Arbeit über eine EU-Bin-             34 Ausblick
     bare Folgen                                                                   nengrenze                                    Mensch vor Marge

                                                                                                                            35 Impressum
                                                                                   NGG AKTIV

                                                                               17 Für gute Arbeitsbedingungen
                                                                               33 und gegen Profitgier

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                      tu decides!

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                                                                                                                           tiddeċiediint!
                                                                                                                      do chinneadhsa!

                                          Ta décision!
                          ¡Tú decides!
                   Sei tu a decidere!

                                         Europa
                                 ti odlučuješ!

                           ti odločaš!                                               Du beslutter!
                            Ty rozhoduješ!                                          Du entscheidest! Tu                Du bestämmer!
                                                                      Jij beslist! you decide!                                      sinä päätät!
                           Tu hotărăști!
                     ти решаваш!                      Ty rozhodneš!
                                                                                                     Ty decydujesz!
                                                                                                          izlem!
                                                                                                                                    Sina otsustad!

                   Εσύ αποφασίζεις!
                                                                                                                      tu sprendi!

                                             Te döntesz!
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FOKUS | EUROPA

Europa – ist das wichtig?
  Oder kann das weg? Du entscheidest! Vom 23. bis 26. Mai 2019 finden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Wahlen
zum Europäischen Parlament statt. Rund 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, an den Wahlurnen über die
künftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments mit seinen 705 Abgeordneten abzustimmen.

Finanzkrise und Flüchtlingsdrama, Brexit-         Mitgliedsländer gehen? Es liegt nicht zuletzt                          der gerade sein Abitur nachholt, hat im
Dilemma und rechtspopulistische Wahlsie-          an jedem Einzelnen, lautstark entworfenen                              Nestlé-Konzern Süßwarentechnologe gelernt.
ger: An Herausforderungen mangelt es der          Feindbildern Offenheit und gesellschaftli-                             Heute arbeitet der ehemalige Jugend- und
Europäischen Union kurz vor der Europa-           chen Dialog entgegenzusetzen. Die anste-                               Auszubildendenvertreter ehrenamtlich in
wahl am 26. Mai 2019 wahrlich nicht – auch        hende Wahl ist die beste Gelegenheit, mitzu-                           den Jugendausschüssen der Region und im
nicht an mahnenden Worten von allen Seiten.       bestimmen und sich klar zu positionieren ...                           Landesbezirk mit. „Europa ist für mich nur
                                                  für Europa.                                                            positiv besetzt“, sagt er und erzählt von ei-
Es ist Zeit, grundlegende Reformen auf den                                                                               nem Aufenthalt im britischen York im Rah-
Weg zu bringen und die EU durch eine ge-          Das ist das Coole an uns                                               men seiner Ausbildung. „Ich habe dort ein
meinsame Wirtschafts-, Außen- und Sicher-         Dabei ist ein gemeinsames Europa für das                               Praktikum in der Forschungs- und Entwick-
heitspolitik zu festigen. Doch noch ist keines-   Gros der jungen Europäer alternativlos.                                lungsabteilung von Nestlé gemacht. Interna-
falls sicher, ob es der Politik gelingen wird,    Selbst in Großbritannien stimmten 73 Pro-                              tional zu arbeiten, ist natürlich super. Da ent-
zu versöhnen statt zu spalten. Wird die Eu-       zent der unter 25-Jährigen für einen Verbleib                          stehen nochmal ganz andere Kontakte als
ro-Zone also aus den Fugen geraten? Und           in der EU. „Ich bin Europäer!“, sagt auch                              beim Reisen.“
wird der vielbeschworene Ruck durch die           Tornino Deniz aus Hamburg. Der 22-Jährige,

                                                                                                                            „Meine Generation denkt
                                                                                                                             nicht in Ost und West
                                                                                                                                  und sieht das
                                                                                                                              gemeinsame Europa
                                                                                                                               als feste Größe an.“
                                                                                                                            Tornino Deniz, gelernter Süßwarentechnologe
                                                                                                  Foto: Cordula Kropke

                                                                                                                                                 einigkeit 1-2019     7
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
„Europa bietet uns so viele
       Möglichkeiten,
   zusammenzuarbeiten
      und gemeinsam
    etwas Gutes für alle
       zu erreichen.“
                    Celine Koop

                                                                                                                                              Foto: Cordula Kropke
                                                  Europa sollte sich künftig mehr auf seine    Programm verfügt über ein Budget von 14,7
Was bringt Europa                              Stärken konzentrieren, findet der Hambur-       Milliarden Euro für die Jahre 2014 bis 2020.
für Beschäftigte?                              ger. Vor allem, wenn es gegen Rechts oder       Für die nächste Programmgeneration hat die
                                               gegen eine Aufweichung der Arbeitszeiten –      Kommission sogar eine Verdopplung des Bud-
1. Die EU hat Ansprüche auf Ruhezeiten,        wie sie derzeit in Österreich stattfindet –     gets auf 30 Milliarden Euro vorgeschlagen.
   bezahlten Urlaub und Schutzmaßnah-
                                               gehe. „Gemeinsam könnten wir so vieles er-      Erasmus bietet unter anderem Stipendien und
   men für Nachtarbeit ausgebaut. Rufbe-
   reitschaftszeiten gelten als Arbeitszeit.
                                               reichen: zum Beispiel einen europäischen        Praktika für Schülerinnen und Schüler, Stu-
2. Wirst Du in einem anderen EU-Land           Mindestlohn und eine bessere Integration        denten und Auszubildende. Und diese ma-
   eingesetzt, musst Du ab 2020 zum            von Geflüchteten.“                              chen gern davon Gebrauch.
   gleichen Tarif- bzw. Mindestlohn be-
   zahlt werden wie einheimische Arbeits-
                                               Die Wahlen zum Europäischen Parlament           Auch Tornino Deniz‘ Praktikum in York wur-
   kräfte. Diese „Entsendung“ ist auf
   höchstens zwölf Monate begrenzt.
                                               sind für Tornino Deniz genauso wichtig wie      de von Erasmus gefördert. Fremdsprachen
3. EU-Bürger müssen nur in einem Mit-          die Bundestagswahl. Schließlich will er we-     erlernen, fremde Kulturen erleben, neue
   gliedstaat Sozialversicherungsbeiträge      der in Berlin noch in Straßburg rechte Popu-    Kontakte knüpfen: Ein Auslandsaufenthalt
   zahlen. Beitragszeiten in anderen           listen im Parlament sehen. Eines allerdings     ist nach der Schulzeit eine willkommene Ge-
   EU-Staaten zählen mit.
                                               macht ihn besonders stolz: „Meine Generati-     legenheit, internationale Erfahrungen zu
4. Wird Dein Betrieb aufgekauft, muss
   Dein neuer Arbeitgeber ein Jahr lang
                                               on denkt nicht in Ost und West und sieht das    sammeln. Immer mehr junge Deutsche ent-
   die Arbeitsbedingungen, Verträge und        gemeinsame Europa als feste Größe an: Das       scheiden sich, gleich ihr Studium im Aus-
   Löhne weiterführen.                         ist das Coole an uns!“                          land zu absolvieren. 2014 waren laut Statis-
5. In Unternehmen mit Niederlassungen                                                          tischem Bundesamt gut 137.000 deutsche
   in mindestens zwei EU-Staaten können
                                               Erasmus und Co.                                 Studenten an ausländischen Hochschulen
   Europäische Betriebsräte auch Deine
   Interessen vertreten.
                                               Die Jugend als Fundament einer gemeinsa-        eingeschrieben. Tendenz steigend. Spitzen-
                                               men Zukunft in Freiheit. Dieser Gedanke liegt   reiter mit knapp 20 Prozent war dabei Öster-
Mehr Infos: www.dgb.de/europawahl              auch dem großen EU-Programm für Bildung,        reich, gefolgt von den Niederlanden, Groß-
                                               Jugend und Sport, Erasmus+, zugrunde. Das       britannien und der Schweiz.

 8        einigkeit 1-2019
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
FOKUS | EUROPA

Erasmus und der Europäische Freiwilligen-        MEP teil, dennoch werden hier die Schüle-                        EU-Mitgliedsländer starten, dürfen maximal
dienst (EF) unterstützen zudem das von der       rinnen und Schüler auf die anstehende Wahl                       30 Tage unterwegs sein und können dabei
EU-Kommission 2016 ins Leben gerufene            vorbereitet. Mit Bedauern blickt Celine in                       bis zu vier EU-Länder bereisen.
Europäische Solidaritätskorps (ESK). Seine       Richtung Großbritannien. „Im Brexit kann
18- bis 30-jährigen Teilnehmer helfen bei        ich keinen Sinn sehen“, sagt die junge NGG-                      Maarten Hoffmeyer ist mit seinem kostenlo-
Notlagen in Ländern der EU, in der Flücht-       lerin. „Europa bietet uns doch so viele Mög-                     sen Zugticket im Juli 2018 fast einmal um
lingshilfe oder im Umweltschutz.                 lichkeiten, zusammenzuarbeiten und ge-                           Deutschland herumgefahren. Berlin, Prag,
                                                 meinsam etwas Gutes für alle zu erreichen.“                      Linz, Salzburg, Basel, Straßburg, Luxemburg
Die „Reiseratte“ und der Föderalist              Für Celine bedeutet Europa aber vor allem                        und Brüssel waren die Stationen seiner Rei-
Früh in Kontakt mit der europäischen Idee        Freiheit. „Als Reiseratte fühlt sich der Konti-                  se. „Die Freiheit, die wir haben, spürt man
kommen Schüler und Schülerinnen an den           nent für mich eher an wie ein großes Land!“                      auf so einem Reisetrip natürlich so richtig“,
Schulen, die sich bundesweit – ebenfalls un-                                                                      berichtet er. Auf seinem blog.maarten-hoff-
terstützt von Erasmus – an der Simulation        So stellt sich auch Maarten Hoffmeyer die                        meyer.de berichtet er als #discoverEU-Bot-
des Europäischen Parlaments (MEP) beteili-       Zukunft vor: Europa als Föderation. Ohne                         schafter ausführlich.
gen. Sie lernen, in Ausschüssen zu arbeiten      Grenzen. Ohne Nationalstaaten. Der 19-jäh-
und Resolutionen zu aktuellen Themen zu          rige Abiturient aus Osnabrück hat eines der                      Voneinander profitieren
verfassen. „Ich finde es gut, dass wir in der    15.000 Interrail-Tickets gewonnen, die die                       Freiheit leben und auch andere daran teilha-
Schule immer mehr darüber lernen, wie Eu-        EU-Kommission 2018 erstmals verlost hat.                         ben lassen, dafür setzt sich Magdalena Krü-
ropa funktioniert“, sagt Celine Koop. Die        #discoverEU heißt die Aktion. Dieser Pers-                       ger ein. Die 24-jährige Studentin ist Stipendi-
17-Jährige ist Erstwählerin in Sachen Euro-      pektivwechsel wird mit einem Budget von 12                       atin der Hans-Böckler-Stiftung.
pa. Bei Kommunal- und Landtagswahlen             Millionen Euro gefördert und soll den euro-
durfte sie schon ihre Stimme abgeben. Jetzt      päischen Zusammenhalt stärken, indem er                          In München studiert sie Wirtschaftspädagogik
freut sie sich über die Möglichkeit, sich ein-   jungen Menschen das Gefühl einer europäi-                        und Deutsch als Fremdsprache. Während ih-
zubringen und etwas zu verändern. Ihre           schen Identität näherbringt. Die 18-jährigen                     rer Ausbildung zur Hotelfachfrau im Hilton
Elmshorner Schule nimmt zwar nicht am            Gewinner müssen ihre Reise in einem der 28                       Munich City ist Magda zur NGG gekommen.

                                                                                                                  „Die Freiheit, die wir haben,
                                                                                                                      spürt man auf einem
                                                                                                                     Reisetrip natürlich so
                                                                                                                   richtig. Ich finde, Europa
                                                                                                                     sollte ein Land sein.“
                                                                                                                            Maarten Hoffmeyer, Abiturient
                                                                                                   Foto: Privat

                                                                                                                                          einigkeit 1-2019   9
Einigkeit - Europa - ist das wichtig? Oder kann das weg? - Das Magazin der NGG
Maximale Krümmung
                                                 von Peter Zudeick

     Über den größten Nutzen Europas kann es unter verständi-      ein Stück, das die nationalen Handelsorganisationen ge-
     gen Menschen eigentlich keinen Streit geben: Das Thema        schrieben haben. Das war den Eurokraten irgendwann mal
     ist ein zuverlässiger Quell von Heiterkeit. Nicht nur die     so peinlich, dass sie die Handelsklassenverordnung 2009
     lustigsten und dümmsten, auch die ältesten Witze werden       aufgehoben haben. Gegen den Protest von 16 Mitglied-
     über die Regulierungswut der Brüsseler gemacht. Nach          staaten, von Bauernverbänden, Handelsverbänden.
     dem Muster: „Die Zehn Gebote enthalten 279 Wörter, die
     amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300, die Verord-       Genutzt hat die Aufhebung wenig: Weil die Normierung so
     nung der Europäischen Gemeinschaft über den Import von        praktisch ist, wird weiter nach ihr verfahren. Und die Witze-
     Karamellbonbons aber exakt 25.911!“ Als Franz Josef           reißer haben die Gurkenkrümmung immer noch im Reper-
     Strauß 1986 diesen Satz sprach, war er schon ziemlich         toire. Man kann eben auf Europa nicht verzichten, auch
     gebräuchlich, und er wurde seither noch häufiger zitiert,     wenn manches wirklich ärgerlich ist, was da aus Brüssel
     obwohl daran fast nichts stimmt: Die Zehn Gebote haben        kommt. Das Verbot der Glühlampen zum Beispiel – auf
     292 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung        Druck des deutschen Umweltministers Sigmar Gabriel.
     1300 und die Karamellbonbon-Verordnung gar keins. Es
     gibt sie nämlich nicht. Macht aber nichts, der Witz hält      Andererseits kann man auch verstehen, dass viele Men-
     sich. Und jetzt mal ehrlich: Wollen wir auf diese spezifi-    schen in Europa allmählich genug von Europa haben. Die
     sche Art Humor wirklich verzichten?                           Rechtspopulisten in Italien zum Beispiel, die es leid sind,
                                                                   dass Brüssel dafür sorgt, dass Parmaschinken nur aus der
     Wollen wir nicht. Auf den Krümmungsgrad der Gurke             Gegend von Parma so heißen darf. Die Reaktionäre in Rom
     schon mal gar nicht. Der hat es zu einiger Berühmtheit        wollen darauf lieber verzichten. Und den Gelbwesten in
     gebracht, ja, er gilt bis heute als Inbegriff der Brüsseler   Frankreich geht auch viel zu weit, was der Herr Macron mit
     Regelungswut. Verankert in der Verordnung 1677/88 mit         Europa vorhat. Weg damit und weg mit ihm. Allerdings soll
     dem Titel „Handelsklassenverordnung“. Darin steht, dass       vorher noch eins geregelt werden: Lkw-Fahrer unter den
     in der Handelsklasse 1 („Extra“) Äpfel glatt und nicht        Gelbwesten präsentieren bei Protesten an deutsch-franzö-
     schrumpelig und mindestens 50 Millimeter dick sein müs-       sischen Grenzübergängen gerne ihren französischen und
     sen, Erdbeeren mindestens 25 Millimeter im Durchmesser        ihren deutschen Führerschein. Sie brauchen nämlich bei-
                                                                                                                                     Foto: Jolanta Mayerberg/Fotolia.com

     und schön gleichfarbig und Salatgurken eben „gut geformt      de. Also das muss noch schnell harmonisiert werden, aber
     und praktisch gerade“. Was heißt „praktisch gerade“?          dann weg mit Europa.
     „Maximale Krümmung: 10 Millimeter auf 10 Zentimeter
     Länge“. Wer kommt bloß auf solch blühenden Unsinn?
     Nun ja: Händler, Supermärkte, Spediteure. Denn die Gur-       Peter Zudeick ist freier politischer Korrespondent für mehrere
     ken sollen in Kisten mit bestimmten Abmessungen pas-          ARD-Anstalten und Autor des „Satirischen Wochenrückblicks“, der
     sen. Das heißt: Das Brüsseler Kasperletheater spielt hier     unter anderem bei NDR Info zu hören ist.

10   einigkeit 1-2019
FOKUS | EUROPA

   Heute arbeitet sie hier in Teilzeit neben     chen Arbeitsplatz losgelöst. Da war es inter-
dem Studium. „Europa bedeutet für mich           essant zu sehen, was die anderen Gewerk-
die Freiheit, sich zwischen den Kulturen zu      schafter und Gewerkschafterinnen so pla-
bewegen, zu reisen und auch, voneinander         nen. Wie weit sind wir auf dieser grenzüber-
zu profitieren.“ Drei- bis fünfmal pro Woche     greifenden Ebene wirklich?“
hat Magdalena Krüger im Rahmen eines
Praktikums Deutschunterricht für Geflüchte-      Aber die Freiheit in Europa hat manchmal
te gegeben. Noch heute ist sie Teil des Hel-     auch Grenzen, zum Beispiel, wenn es um
ferkreises und unterstützt zum Beispiel bei      bürokratische Hürden geht. „Viele Auszubil-
Kochabenden.                                     dende in der Hotellerie würden sich mehr
                                                 Austausch in Europa wünschen. Aber häufig
Grenzenlos digital                               ist das wegen des bürokratischen Aufwan-
Auch in ihrer Gewerkschaft NGG ist die jun-      des schwierig umzusetzen.“
ge Münchnerin in Sachen Europa aktiv: Initi-                                                                           Forderungen des DGB
iert von der Arbeiterkammer Wien hat sie         Die Hilton Hotels organisieren einen Blick                            zur Europawahl
bereits zweimal in der österreichischen          über den Tellerrand im Rahmen des Wettbe-
Hauptstadt zum Thema „Digitaler Wandel“          werbs, „Hilton Azubi Adventures“. Die Aus-                         1. Europaweit arbeiten. Jetzt aber fair!
                                                                                                                    2. Gleiche Chancen für Frauen
gemeinsam mit jungen Gewerkschaftern aus         zubildenden sind eingeladen, zu einer von
                                                                                                                       in Europa. Jetzt aber echt!
acht EU-Staaten gearbeitet. „Wir müssen          zwei angebotenen Aufgabenstellungen ihre                           3. Investitionen in Europa.
uns stärker vernetzen und nicht so sehr un-      eigenen Ideen zu entwickeln und diese vor                             Jetzt aber für die Menschen!
ser nationales Süppchen kochen“, sagt Mag-       einer Jury zu präsentieren. Die zwölf nationa-                     4. Der Euro als gemeinsame Währung.
dalena Krüger. „Die Unternehmen sind uns         len Gewinner verbringen dann eine Woche                               Jetzt aber sicher machen!
                                                                                                                    5. Frieden in Europa und weltweit.
da zu weit voraus. Durch die Digitalisierung     gemeinsam in einer Metropole.
                                                                                                                       Jetzt aber mit mehr Engagement!
wird die Arbeit ja immer stärker vom eigentli-                                                                      6. Europa in der globalisierten Welt.
                                                                                                                       Jetzt aber gerecht!

                                                                                                                 „Wir müssen uns stärker
                                                                                                                   vernetzen und nicht
                                                                                                                 so sehr unser nationales
                                                                                                                   Süppchen kochen.“
                                                                                                                    Magdalena Krüger, Hotelfachfrau
                                                                                                  Foto: Privat

                                                                                                                                    einigkeit 1-2019      11
Kommission
                                     Regierung
Betriebsrat

                                                               Mitgliedstaaten
                                                                  Frieden
     Freizügigkeit
             Freiheit                            Europäische

 Wahlen                                          Union

Demokratie
                                                                                 Brexit
              grenzenlos Transparenz                                                            Reisen
                Eurozone Mitbestimmung
                                                                             Erasmus
     Parlament                                      Meinung
                                                                                 Politik
            Europa
                                                                             Gleichbehandlung

                        Vernetzung
                                                     Jugend
                                                                                                         Foto: artjazz / Fotolia.com

12   einigkeit 1-2019
FOKUS | EUROPA

So muss Europa sein!
   Was sie verbindet, ist nicht nur, dass sie jung sind und in verschiedenen europäischen Ländern mit einem Stipendium der Hans-Böck-
ler-Stiftung (HBS) studieren oder studiert haben, sondern auch, dass sie ein soziales Europa aktiv mitgestalten wollen: als Mitglieder des
„Europäischen Kollektivs Mitbestimmung – European Collective“.

                                                                                                                                                 „Wir wollen eine
                                                                                                                                              eigene, junge Version
                                                                                                                                                  von Europa!“

                                                                                                          Foto: Europäisches Kollektiv
                                                                                                                                                     Tim Kappelt, Stipendiat

Unter dem Motto „March for a New Europe” gingen am 23. Juni 2018 vor allem junge Menschen in Ber-
lin auf die Straße, um für ein neues, solidarisches Europa zu demonstrieren. Unter ihnen auch das Euro-
päische Kollektiv Mitbestimmung – European Collective.

Tim Kappelt ist Teil des Kollektivs. Er studiert     und demokratischen Europa entwerfen. Es                                             Daraus soll danach ein Film entstehen, der
in Wien Internationale Entwicklung und               gab zwar auch viele andere Initiativen, aber                                        unter anderem auf dem Böckler-Seminar
schreibt derzeit in Bonn seine Masterarbeit          irgendwie kamen die Gewerkschaften nicht                                            „Europäisches Gespräch“ gezeigt werden
über „Die Rolle der Gewerkschaften in den            vor. Deshalb haben wir unser Kollektiv ge-                                          soll. Und im „European May“ will das Kollek-
Verhandlungen zur Europäischen Gemein-               gründet.“                                                                           tiv zusammen mit anderen Initiativen weitere
schaft für Kohle und Stahl“: „Wir sind ein                                                                                               Events in Europa organisieren.
Netzwerk von 25 Stipendiaten. Wir haben im           Mit dem „Bulli” durch Europa
Studium gemerkt, dass es schwer ist, vor Ort         Sie kommunizieren meist online miteinan-                                            Das Europäische Kollektiv ist ein gutes Bei-
gewerkschaftliche Strukturen zu finden, wo           der, skypen alle zwei Wochen, tragen alles                                          spiel dafür, wie Europa sein kann und sollte:
wir mitmachen können.                                zusammen, was mit Europa und Arbeitneh-                                             Die Studierenden treffen sich, freunden sich
                                                     merrechten zu tun hat und veröffentlichen                                           an und diskutieren miteinander. Tim: „Neu-
Wir wollen etwas tun                                 es auf www.facebook.com/europeancollecti-                                           lich haben wir uns bei einem Erasmus-Stu-
Als wir uns 2015 mit der Frage beschäftigt           ve . In der analogen Welt treffen sich die Ak-                                      denten in Marseille getroffen. Das war eine
haben, was schiefläuft in Europa – sei es nun        tivisten auf Veranstaltungen oder bieten ei-                                        WG mit Franzosen. Und auf der großen
der Brexit, die Sparpolitik, die Abschottung         gene Workshops und Seminare an. Vor der                                             Dachterrasse haben wir die Sonne, das Mit-
gegen Geflüchtete, die Zuwächse bei rechts-          Europawahl stehen gleich zwei Projekte an:                                          einander und die Sprachenvielfalt genossen,
populistischen Parteien – wollten wir etwas          Auf dem EuroTrip im März geht es mit einem                                          aber eben auch gemeinsam eine Veranstal-
tun. Wir als Gewerkschaftsjugend, die in Eu-         „Bulli“ auf eine von der HBS geförderte Inter-                                      tung vorbereitet: So muss Europa sein!“.
ropa aufgewachsen und zuhause ist, wollten           viewreise durch Belgien, die Niederlande,
eine eigene, junge Vision von einem neuen            Frankreich, Spanien, Italien und Österreich.

                                                                                                                                                                einigkeit 1-2019   13
Foto: bizoo_n/Fotolia
Geh‘ ich oder geh‘ ich nicht?
  In diesem Wahljahr steht für Europa viel auf dem Spiel. Wer die Union erhalten will, hat keine andere Wahl als wählen zu gehen. Denn
Europa wird nicht besser, wenn die, die wählen können, zu Hause bleiben. Ob per Briefwahl oder im Wahllokal, jede Stimme kann ent-
scheidend dafür sein, wie die Gemeinschaft gestaltet wird.

Wählen ist ein Bürgerrecht: Oft werden wir     Aber dennoch: Wer nicht wählt, protestiert      stören. Eine Gemeinschaft wird nicht besser,
alle diesen Satz in den kommenden Wochen       nicht, sondern stärkt die, die er oder sie      wenn jedes Mitglied nur für die Vorteile
noch hören. Und ebenso wird es heißen,         möglicherweise nie hat wählen wollen.           und die nationalen Interessen seines Landes
dass es in diesem Jahr um eine „Schicksals-                                                    kämpft, aber die zwingende Solidarität mit
wahl“ geht. Aber es stimmt tatsächlich.        In diesem Wahljahr kommt dazu, dass sich        den anderen vermissen lässt.
Noch nie stand das geeinte, friedliche Euro-   Rechtspopulisten, EU-Skeptiker und -Feinde
pa so auf der Kippe wie zurzeit.               wählen lassen wollen, um Europa nicht bes-      Die Gewerkschaften sind davon überzeugt,
                                               ser, sondern kaputt zu machen. In Ungarn,       dass Europa gut ist – und besser und gerech-
Die kritische Haltung hat Gründe. Nicht al-    Polen, Italien, Frankreich oder auch            ter werden kann. Aber nicht mit Verweige-
les, was in Europa entschieden wird, scheint   Deutschland: Viele sind unterwegs, um auf       rung – weder als Nichtwähler noch mit einer
sinnvoll. Vieles fehlt noch an der Umsetzung   ihrem Platz im EU-Parlament nicht für ein       Stimme für diejenigen, die Europa zu einem
von Versprechen, die vor fünf Jahren schon     soziales friedliches Miteinander zu streiten,   nationalstaatlichen Selbstbedienungsladen
gemacht wurden.                                sondern im schlimmsten Fall Europa zu zer-      machen oder ganz abschaffen wollen.

 14     einigkeit 1-2019
FOKUS | EUROPA

                                       Das geht uns alle an
                                                         Ein Interview mit Guido Zeitler

                       Zu bürokratisch, die reinste Geldverschwendung: Die EU-        Warum ist die Europa-Wahl am 26. Mai besonders
                       Politik und, ganz pauschal, „die EU“ werden von vielen         wichtig?
                       kritisiert. Ist die Kritik berechtigt?                         Wenn die Populisten und Europa-Gegner gewinnen, steht die
                       Ja, das ist sie in Teilen. Auch wir haben Entscheidungen des   Idee des vereinten, friedlichen Europas tatsächlich in Frage.
                       EU-Parlaments und der europäischen Institutionen in der        Nicht erst die knappe Entscheidung der Wählerinnen und
                       Vergangenheit scharf kritisiert. Zum Beispiel war der Um-      Wähler in Großbritannien für den Brexit sollte aber deutlich
                       gang mit dem hochverschuldeten Griechenland falsch. Die        gemacht haben, dass jetzt gehandelt werden muss. Das Mot-
                       knallharte Sparpolitik ging allein zu Lasten der Bevölkerung   to muss heißen: Ja zu Europa – aber richtig!
                       und hat Menschen schuldlos in Armut getrieben. Auch wur-
                       de die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen     Das klingt so, als stünde das "Projekt Europa" an einem
                       EU-Ländern stiefmütterlich behandelt. Wirklich wichtige        Scheideweg?
                       Themen wurden falsch – nämlich im Sinne der Konzerne           Ja, das Projekt, das uns die längste Friedensphase überhaupt
                       und Banken und nicht der Menschen – oder gar nicht ange-       verschafft hat, droht zu scheitern. Ich hoffe, Parlamentarier
                       gangen. So hat sich der Eindruck eingestellt, dass sich        und Wählerinnen haben den Warnschuss Brexit gehört und
                       EU-Politik vor allem um die Krümmung von Gurken oder           handeln entsprechend: Europäische Politik muss die Men-
                       Öl-Kännchen auf Restauranttischen kümmert. Kein Wunder,        schen in den Mittelpunkt stellen. Ein geeintes Europa kann
                       dass viele Menschen unzufrieden sind.                          nur als ein soziales, gerechtes und solidarisches Europa funk-
                                                                                      tionieren. Zu oft hat „die EU“ für Politikerinnen und Politiker
                       Um was kümmern sich denn die EU-Politikerinnen und             – auch aus Deutschland – als Sündenbock hergehalten. Die
                       Politiker tatsächlich?                                         Schuld für eigene Fehler oder unbeliebte Tatsachen auf das
                       Auf EU-Ebene wird vieles entschieden, das uns ganz direkt      ferne Straßburg oder Brüssel zu schieben, das ist zu billig.
                       angeht. Zum Beispiel, ob wir in Europa unkompliziert reisen    Stattdessen muss der Wert Europas herausgestellt und in die
                       und bezahlen können. Oder, noch konkreter, dass wir im         gemeinsame friedliche Zukunft investiert werden. Es ist viel
                       EU-Ausland seit 2017 keine horrenden Preise mehr für die       Vertrauen zerstört worden, das gilt es zurückzuerobern. Ein
                       Handynutzung zahlen müssen. Wir alle sollten also unser        starkes geeintes Europa ist heute auch aus wirtschaftlicher
Foto: Stephan Pramme

                       demokratisches Recht wahrnehmen und darüber abstim-            Sicht wichtiger denn je. Im von US-Präsident Donald Trump
                       men, wer uns vertritt. Bei der Wahl 2014 haben europaweit      angezettelten weltweiten Handelskrieg kann sich kein euro-
                       nur rund 43 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab-       päisches Land alleine behaupten. Auch Klimawandel und
                       gegeben – zu wenig angesichts der Bedeutung. Für die kom-      Digitalisierung machen an keiner Staatsgrenze halt. Deshalb
                       mende EU-Wahl gilt das sogar in einem besonderen Maße.         muss die EU gestärkt und weiterentwickelt werden.

                                                                                                                                     einigkeit 1-2019   15
FOKUS | EUROPA

Eine starke Gemeinschaft
  Rund 400 Millionen Menschen in den 27 Staaten der Europäischen Union wählen im Mai das neue Parlament. In den vergangenen
Jahren hat es immer mehr Rechte erhalten. Seine Entscheidungen bestimmen auch über Dein Leben und Deine Arbeit. 96 der insgesamt
705 Abgeordneten werden aus Deutschland kommen.

Die Europawahlen sind – sieht man die Wahl-     populisten mit ihren europafeindlichen Plä-       SPD gehört, sind die zweitstärkste Gruppe.

                                                                                                                                                   Foto: bizoo_n / Fotolia.com
beteiligung in der Vergangenheit – ein eher     nen an Gewicht. Die Wahl im Mai heißt             Die deutschen Liberalen gehören der ALDE
vernachlässigtes demokratisches Recht. Da-      deshalb: Wollen wir weiterhin in Frieden          an, Bündnis 90/Die Grünen den europäi-
bei wird es immer wichtiger, mit zu entschei-   miteinander leben und als starker Wirt-           schen Grünen (EGP). Die Linken gehören
den, wer in Europa das Sagen hat. Zuneh-        schaftsmarkt auch Einfluss auf die globale        zur EL, der Fraktion der europäischen Lin-
mend gewinnen national-orientierte Rechts-      Entwicklung nehmen?                               ken. Die AfD hat derzeit nur ein Mandat und
                                                                                                  gehört zur EFDD, der Fraktion, in der sich
                                                Das Europäische Parlament hat in den ver-         die EU-Skeptiker aus den populistisch aus-
                                                gangenen Jahren zunehmend mehr Rechte             gerichteten Parteien zusammengeschlossen
Die Kommissare                                  erhalten. Die Parlamentarier, die sich in         haben. Die Rechtspopulisten sitzen derzeit
                                                Fraktionen zusammenschließen, entschei-           in der ENF. Es ist absehbar, dass die Rech-
Die 26 Kommissare und ihr derzeitiger           den über jede Gesetzesvorlage sowie Rechts-       ten sich nach der Wahl neu ordnen werden.
Präsident Jean-Claude Juncker sind
                                                vorschriften und müssen den Haushalt der          Vor allem, wenn sie den Wahlprognosen ent-
jeweils für ein Fachgebiet zuständig, wie
die Ministerien in den Nationalstaaten.
                                                EU genehmigen.                                    sprechend erheblich mehr Abgeordnete stel-
Die Kommission schlägt neue Richtlinien                                                           len werden.
und Verordnungen vor und überwacht              Die 705 Abgeordneten des EU-Parlaments
die Umsetzung der EU-Vorgaben in den            sind eine festgeschriebene Größe. Die Zahl        Die Wählerinnen und Wähler entscheiden
einzelnen Staaten.
                                                der Parlamentarier wird nach einem Schlüs-        also mit, ob sie denen eine Stimme geben,
Die Regierungen                                 sel auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt.   die die EU letztlich abschaffen wollen – wie
                                                Das Parlament ist das Kontrollorgan der           die AfD mit ihrem „Dexit“-Beschluss. In der
Im Europäischen Rat sind die Regierun-          EU-Kommission und des Europäischen Ra-            Europäischen Union entscheidet zwar nicht
gen der EU-Mitgliedstaaten vertreten,           tes. Es kann zwar keine Gesetze einbringen,       allein das Parlament, aber eine starke Frakti-
außerdem der Rats- und der Kommissions-
                                                aber es wird auch kein Gesetz ohne die Zu-        on aus Rechtspopulisten und Gegnern kann
präsident. Der Rat formuliert die politi-
schen Ziele. Die Entscheidungen müssen
                                                stimmung des Parlaments umgesetzt. In 20          aus einer weitgehenden Erfolgsgeschichte
einstimmig oder mit so genannter qualifi-       Fach- und zwei Unterausschüssen werden            ein Desaster machen.
zierter Mehrheit getroffen werden.              die unterschiedlichen Politikfelder beraten.
                                                                                                  Dabei gibt es fraglos berechtigte Kritik an
Mehr Infos unter:                               Aktuell gibt es acht Fraktionen. Die Konser-      den europäischen Entscheidungen. Wer also
www.bpb.de/internationales/
europa/europaeische-union/                      vativen, in Deutschland also CDU und CSU,         ein sozialeres, friedliches Europa will, der
                                                haben zur Zeit in ihrer EVP-Fraktion die          sollte sich die Wahlprogramme der Parteien
www.diesmalwaehleich.eu/                        meisten Abgeordneten. Die europäischen            sehr genau anschauen.
                                                Sozialdemokraten (PES), zu denen auch die

 16       einigkeit 1-2019
NGG AKTIV

                      Rider sind Fighter
                                                                                                           Rider sind „Fighter”: Sie kämpfen für ihre
                                                                                                           Rechte. Das haben die Fahrerinnen und
                                                                                                           Fahrer der Essenslieferdienste Deliveroo,
                                                                                                           Foodora und Lieferando Anfang Februar auf
                                                                                                           dem 2. „Riders Day Germany” in Hamburg
                                                                                                           deutlich gemacht. Sie haben ganz konkrete
                                                                                                           Forderungen an ihre Arbeitgeber: Vergütung
                                                                                                           ihrer privaten Arbeitsmittel wie Fahrrad und
Foto: Peter Bisping

                                                                                                           Handy, unbefristete Verträge und die Aner-
                                                                                                           kennung von Betriebsräten.

                                                                                                                      Mehr Informationen online
                      Sie sind bereit, für ihre Rechte zu kämpfen, so die klare Botschaft der Fahrer von
                                                                                                                          www.ngg.net/RidersDay
                      Deliveroo, Foodora und Lieferando auf dem 2. „Riders Day Germany” in Hamburg.

                      Die Mauer muss weg!
                      Um die Arbeitsbedingungen in der System-
                      gastronomie ging es Ende Januar auf dem
                      „1. Fast Food Workers Congress“ der
                      NGG-Landesbezirke Bayern und Südwest in
                      Ulm. Auf einem Aktionstag rissen die Be-
                      schäftigten von McDonald´s, Burger King,
                      Starbucks, Nordsee, Kentucky Fried Chi-

                                                                                                                                                              Foto: Daniel Schreiber
                      cken und Co. symbolisch die sich immer
                      weiter auftürmende Mauer aus Problemen
                      ein. Es geht insbesondere um Überstunden,
                      Abrufbereitschaft, Eingruppierung und
                      Dienstplangestaltung. Es ist an der Zeit,
                                                                  In der Ulmer Innenstadt haben am 29. Januar 2019 die „Fast Food Workers“
                      dass sich die „Fast Food Workers“ verstärkt symbolisch und lautstark die Problem-Mauer eingerissen.
                      organisieren und gemeinsam mit der NGG
                      für mehr Fairness, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestimmung, eine             Mehr Informationen online
                      höhere Bezahlung und gute Aufstiegschancen kämpfen.                                       www.ngg.net/ Fastfood

                      Von Menschen und Margen
                      Um noch höhere Gewinne einzufahren, sollten beim welt-                sen: Nach einer zermürbenden, fünf Jahre dauernden
                      größten Nahrungsmittelhersteller Nestlé hunderte Arbeits-             Auseinandersetzung, während der sie Tag für Tag in eine
                      plätze wegfallen. Dagegen haben sich die Beschäftigten                „Geister-Fabrik“ ohne Arbeit gingen, können nun alle un-
                      unter dem Motto „Mensch vor Marge“ gewehrt: Kurz vor                  ter 58 Jahren innerhalb der nächsten zwei Jahre in eine
                      Weihnachten 2018 hat die NGG den Konzernumbau tarif-                  neu zu errichtende Fabrik nahe Madrid zurückkehren.
                      lich geregelt: Es gibt Abfindungen für langjährige Beschäf-           Und es gibt Vorruhestandsregelungen und Freistellungen
                      tigte, Regelungen zur Altersteilzeit für Beschäftigte ab 57           mit Gehaltsfortzahlung sowie einen Sozialplan. Juan Car-
                      Jahren, finanzielle Unterstützung für individuelle Aus- und           los Asenjo, Betriebsratsvorsitzender: „Das gibt all jenen
                      Weiterbildung und Transfergesellschaften.                             Hoffnung, die sich
                                                                                            Ungerechtigkeit am
                                                                                                                     Mehr Informationen online
                      Einen besonders langen Atem haben die Beschäftigten                   Arbeitsplatz wider-
                                                                                                                      www.ngg.net/Fuenlabrada
                      der Coca-Cola-Fabrik im spanischen Fuenlabrada bewie-                 setzen."

                                                                                                                                                  einigkeit 1-2019                     17
Genau mein Ding
            Hermann Soggeberg ist keiner, der hinschmeißt, wenn´s brenzlig wird. In jüngster Zeit braucht der Gesamtbe-
         triebsratsvorsitzende von Unilever jede Menge Stehvermögen: Soggeberg und seine Kolleginnen und Kollegen kämp-
         fen – im Schulterschluss mit den Nestlé-Betriebsräten und Beschäftigten – gegen das Rendite-Ziel von 20 Prozent.

         Seit 28 Jahren ist der gelernte Bäcker Hermann Sogge-        ten. Weltweit will der Konzern bis 2020 sechs Milliarden
         berg schon im britisch-niederländischen Unilever-Kon-        Euro einsparen. Trotz satter Gewinne droht nun auch in
         zern beschäftigt. „Ich bin im Qualitätsmanagement ein-       Deutschland Arbeitsplatzabbau, unter anderem in der
         gestiegen. Betriebsrat ist für mich nach wie vor einer der   Hamburger Zentrale. Vorstandschef Alan Jope macht
         interessantesten Jobs im Unternehmen. Man kommt              derzeit keine Anstalten, vom Rendite-Ziel abzurücken.
         rum, erfährt vieles. Und man denkt sich oft genug, hier      Dafür wurde die traditionsreiche Margarine-Sparte (Rama
         oder da könnte man schon etwas besser machen.“               und Becel) im vergangenen Jahr bereits an den Finanzin-
                                                                      vestor KKR verkauft.
         „Dann mach´s doch!“ Einem wie Hermann Soggeberg
         muss man das nicht zweimal sagen. Vielmehr war es für        Echte Mitbestimmung
         ihn der einzig gangbare Weg sich einzubringen, selbst        Doch der Widerstand wächst. Unter dem Motto „Mensch
         etwas zu verändern, unermüdlich auf Achse zu sein. An        vor Marge“ mobilisiert die NGG gemeinsam mit Hermann
         den Wochenenden privat mit der Familie, beruflich quasi      Soggeberg und Andreas Zorn (Konzernbetriebsrat bei
         immer. „Das ist bis heute genau mein Ding“, sagt er. „Für    Nestlé) die Beschäftigten gegen ein solches Gebaren.
         mich bedeutet das Freiheit: Im Rahmen des gesetzlich         „Ein Profit von 20 Prozent mit Produkten des täglichen
         Machbaren die vielen Gestaltungsmöglichkeiten auszu-         Bedarfs ist maßlos“, sagt Soggeberg. „Statt Arbeitsplatz-
         schöpfen, um die Arbeitsbedingungen für die Kollegin-        abbau brauchen wir zum Beispiel Qualifizierung, damit
         nen und Kollegen zu verbessern.“                             wir in puncto Digitalisierung nicht ins Hintertreffen gera-
                                                                      ten“, so der 51-Jährige, der seit mehr als acht Jahren
         Nichts ist mehr, wie es war                                  auch Europäischer Betriebsrat bei Unilever ist. Der Euro-
         Unilever ist mit einem Umsatz von 53,7 Milliarden Euro       päische Betriebsrat (UEWC) von Unilever wurde übrigens
         (2017) und 161.000 Beschäftigten der weltweit viertgröß-     2013 für sein anhaltendes Engagement um die Gestal-
         te Lebensmittelkonzern hinter Nestlé, Coca-Cola und          tung der Mitbestimmungsrechte im Unilever-Konzern mit
         Pepsi Cola. Nach Unternehmensinformationen besitzen          dem Deutschen Betriebsräte-Preis in der Kategorie „Eu-
         sieben von zehn Haushalten mindestens ein Unile-             ropa mitbestimmen“ ausgezeichnet.
         ver-Produkt. Doch seit der Hersteller von Knorr-Suppen
         und Langnese-Eis 2017 die Übernahme durch den                Ein Thema, das dem NGG-Hauptvorstandsmitglied am
         US-Konzern Kraft Heinz abwenden konnte, ist laut Sog-        Herzen liegt: „Ein Europa der Nationalstaaten? Unvor-
         geberg bei Unilever „nichts mehr, wie es war“. Um sich       stellbar. Ein vereintes Europa steht für mich für Frieden.
                                                   vor neuen At-      Das ist mir das Wichtigste. Was die Mitbestimmung an-
           Zur Person                              tacken abzu-       geht, so brauchen wir endlich auch auf europäischer be-
                                                   sichern, wer-      ziehungsweise globaler Ebene Regelungen, echte Mitbe-
           Hermann Soggeberg, 51 Jahre, geboren    den die Akti-      stimmung, mit der wir auch etwas durchsetzen können.
           in Dorsten (NRW), gelernter Bäcker,     onäre      mit     Schließlich werden in den multinationalen Konzernen die
           seit 28 Jahren bei Unilever,
                                                   hohen Divi-        Entscheidungen auch international getroffen!“ Sagt´s, lä-
           Gesamtbetriebsratsvorsitzender und
           Europäischer Betriebsrat
                                                   denden bei         chelt und entschwindet zum nächsten Termin irgendwo
                                                   Laune gehal-       in Europa.

18   einigkeit 1-2019
MENSCHEN | PORTRÄT

                       » Unterschiedliche Kulturen
                      und der manchmal lange Weg
                       zum Konsens: Das macht die
                       Arbeit in Europa spannend. «
                                                      Hermann Soggeberg,
                                   Gesamtbetriebsratsvorsitzender Unilever
Foto: Kai-Uwe Knoth

                                               einigkeit 1-2019      19
MEIN ARBEITSPLATZ

                                                                                                                                                            Foto: zhu difeng/Fotolia.com
Exportnation Deutschland: Wie kein zweites Land in Europa profitieren wir vom zollfreien EU-Binnenmarkt. Zu den Gewinnern gehören nicht nur die Konzerne.

             Marktplatz Europa
                 Wer von Freiheit in Europa spricht, der denkt vor allem an Reisen ohne lästige Grenzkontrollen. Doch die EU
             ist auch eine große Welthandelsmacht, stärker als die Wirtschaft der USA. Vom zollfreien Marktplatz Europa pro-
             fitieren nicht nur Konzerne; ein „Nein“ zur Gemeinschaft hat für alle spürbare Folgen.

             Mit fast 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbrau-              Deutsche Autos, Maschinen, Medikamente oder Elektro-
             chern und einer Wirtschaftsleistung von rund 17 Billio-           nik sind gefragt. Aber auch für die heimischen Lebens-
             nen Euro in 2017 ist der europäische Binnenmarkt der              mittelerzeuger macht der Export ein Drittel des Bran-
             größte einheitliche Markt der industrialisierten Welt. Da-        chenumsatzes aus. Die exportstärksten Branchen sind
             bei sind die bislang 28 Mitgliedstaaten sehr unterschied-         die Fleisch- und die Fleisch verarbeitende Industrie so-
             lich aufgestellt: Die deutsche Wirtschaft mit einem sehr          wie die Milch- und die Süßwarenindustrie – hier geht
             hohen Industrieanteil profitiert am stärksten vom zollfrei-       durchschnittlich jede zweite produzierte Tonne in den
             en Binnenmarkt. Hinter den USA liegt denn auch der                europäischen Export.
             europäische Nachbar Frankreich auf Rang zwei der
             wichtigsten Abnehmerländer für deutsche Waren (105,7              Süßes made in Germany
             Milliarden Euro). Großbritannien lag 2017 mit 85 Milliar-         2017 wurden Lebensmittel im Wert von 59,8 Milliarden
             den Euro auf Rang vier.                                           Euro exportiert – und das zu fast 80 Prozent in den

20       einigkeit 1-2019
MEIN ARBEITSPLATZ                                                                                                 BRANCHE

Internationale Exportmärkte der deutschen Ernährungsindustrie
Die Zahlen in den Kreisen zeigen den Anteil der jeweiligen Region an der Gesamtausfuhr im Jahr 2017: Europa ist der
wichtigste Abnehmer für deutsche Nahrungsmittel.

                            EU 47,0 Mrd. €                                       Nicht-EU 3,7 Mrd.€
                            Niederlande 8,1                                      Schweiz 1,6
                            Frankreich     5,4
                            Italien        4,9     78,6 %                        Russland 0,8
Amerika 2,5 Mrd. €                                                               Norwegen 0,4
                            UK             4,2                        6,2 %      Türkei     0,3
USA       1,7               Österreich     4,1
Kanada    0,3               Polen          3,9
Brasilien 0,1                                                                                       Asien 5,2 Mrd. €
                                                                                                    China          2,0
                4,2 %                              59,8 Mrd. €                        8,6 %         Südkorea       0,6

                                                                                                                                 Quelle: Statistisches Bundesamt, BVE
                                                                                                    Japan          0,4
                                                                                                    Saudi-Arabien 0,2
                                                      1,6 %
                 0,2 %                   Afrika 0,9 Mrd. €
                                         Südafrika 0,2
Kreuzfahrtschiffe und                     Nigeria    0,2                   Ozeanien 0,4 Mrd. €        0,5 %
Fluglinien 0,1 Mrd. €                    Marokko 0,1                      Australien 0,3

EU-Binnenmarkt. Das heißt, Deutschland ohne den Bin-          NO – und nun?
nenmarkt wäre um einiges ärmer, viele Arbeitsplätze           Bei Bahlsen bereitet man sich auf unterschiedliche Bre-
würde es gar nicht geben. Dabei profitieren nicht allein      xit-Szenarien vor: „Die derzeitige Unsicherheit macht dies
die großen, international aufgestellten Konzerne, son-        nicht leicht! Die Vorbereitungen umfassen kurzfristige ope-
dern auch Mittelständler und Familienbetriebe vom zoll-       rative Themen – im Wesentlichen, wie man das Geschäft
freien Handel auf dem Kontinent. Die Freiheit der Märkte      am Laufen hält – genauso wie die Sicherstellung der Liefer-
hat aber auch Schattenseiten. So kann zwar jeder Euro-        fähigkeit, die Gewährleistung der Lagerhaltung, den Auf-
päer in jedem Mitgliedstaat arbeiten und leben, aber die      bau von Bestandspuffern, aber auch mögliche Auswirkun-
Unternehmen können auch ihre Standorte frei wählen.           gen wie Zollfragen oder Änderungen von Marketingslogans
Unterschiedliche Gesetzgebung, Steuern und Lohnkos-           auf Packungen“, so Deike.
ten haben zu vielen Standortverlagerungen geführt.
                                                              Während noch niemand genau zu wissen scheint, wie
Auch der Hannoveraner Kekshersteller Bahlsen produ-           sich der Ausstieg Großbritanniens auf die einzelnen Ge-
ziert im Ausland: Neben den vier deutschen Standorten         schäftsbilanzen auswirken wird, macht er sich in der
Barsinghausen, Berlin, Schneverdingen und Varel gibt          Süßwarenbranche bereits bemerkbar: Mit dem ersten
es zwei Werke in Polen. Derzeit wächst das Familienun-        NO zu Europa verlor das Pfund an Wert, Importartikel
ternehmen, das 2018 rund 559 Millionen Euro erlöste           wurden teurer, der UK-Umsatz der gesamten Branche
und 2800 Beschäftigte hat, überdurchschnittlich. In 55        ging 2017 um sieben Prozent zurück.
Ländern ist Bahlsen bereits aktiv. Weiteres Wachstum
im In- und Ausland ist geplant. Nach wie vor soll dabei
auch der Markt auf der britischen Insel (UK) eine starke
Rolle spielen. „Auch Großbritannien ist in den letzten
Jahren zu einem wichtigen Fokusmarkt für Bahlsen ge-
worden. Wir haben das Geschäft in UK deutlich ausge-
baut und sind voll auf Kurs, um es bis Ende 2020 zu
verdoppeln“, berichtet Unternehmenssprecherin Ker-
stin Deike.
                                                                                                                                Foro: Mondelez

Das Königreich ist ein wichtiger Exportmarkt für Süßes
aus Deutschland. Etwa fünf Prozent der deutschen Süß-
warenproduktion – Waren im Wert von rund 800 Millio-
nen Euro – werden auf die Insel exportiert.                   Geschmäcker in Europa variieren: Mondelez-Frischkäseproduktion.

                                                                                                            einigkeit 1-2019                                            21
Foto: Uwe Völkner/Fotoagentur FOX

                                                                                                                                                                                         Foto: DMK
Der Städtetourismus boomt. Verunsichert sieht die Branche dem Brexit entge-                                  Von 32,7 Millionen Tonnen Milch, die von deutschen Molkereien verarbeitet
gen: Hierzulande könnte die Zahl der britischen Gäste zurückgehen, auf der                                   werden, geht jede zweite Tonne in den Export, vor allem nach Europa. Auch
Insel wird eine neue Einwanderungspolitik den Fachkräftemangel verschärfen.                                  bei DMK laufen die Brexit-Vorbereitungen auf Hochtouren.

             Warten an den Grenzen                                                                           Deutschen Milchkontor DMK nicht. Auch der norddeut-
             Es geht dabei nicht ausschließlich um den Export. Auch                                          sche Marktführer exportiert auf die Insel: „Die Produkte
             die Zulieferung von Waren und Rohstoffen aus den                                                unterscheiden sich zum Teil im Geschmack und auch in
             EU-Ländern wäre betroffen. Und letztlich vielleicht auch                                        der Verpackung. Zum Beispiel ist der für UK produzierte
             die Arbeitsplätze in Deutschland. In der Lebensmittel-                                          Pudding viel süßer“, so Eckhoff. Die deutsche Milchwirt-
             branche herrscht Unsicherheit – und Schweigen.                                                  schaft sieht einem „harten Brexit“ mit großer Sorge ent-
                                                                                                             gegen: Drittlandzölle für EU-Milcherzeugnisse und zeit-
             So auch bei Mondelez International. Der Lebensmittelrie-                                        aufwändige Veterinärkontrollen an den Grenzen könnten
             se setzte 2018 knapp 23 Milliarden Euro um und ist da-                                          die Folgen sein. „Bei einem ungeordneten Brexit werden
             mit der sechstgrößte Lieferant des Lebensmittelhandels                                          Arbeitsplätze betroffen sein. Dies ist aber abhängig vom
             weltweit. Zu den wichtigsten Marken des Konzerns gehö-                                          Standort und den dort produzierten Waren“, ist man sich
             ren unter anderem Milka, Oreo, Cadbury Schokolade,                                              bei der DMK Group sicher. Der Konzern hat in Deutsch-
             Philadelphia und Miracel Whip. In Deutschland hat Mon-                                          land 20 produzierende Standorte sowie acht weitere im
             delez rund 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an fünf                                        europäischen Ausland.
             Standorten. „Europa steht für 38 Prozent unseres welt-
             weiten Umsatzes“, so Unternehmenssprecherin Heike                                               Weniger Übernachtungen
             Hauerken. Mondelez beschäftigt europaweit etwa 28.000                                           Auch in Hotellerie und Gastgewerbe sieht man dem Bre-
             Menschen an unterschiedlichsten Standorten. Im briti-                                           xit – und damit sinkenden Übernachtungszahlen in
             schen Bournville wird Cadbury Schokolade produziert.                                            deutschen Metropolen – mit Sorge entgegen. Thomas
             Zum Thema Brexit äußert sich der Konzern nicht.                                                 Klein arbeitet im Maritim Hotel in Köln. Er ist Vorsitzender
                                                                                                             des Gesamtbetriebsrats in dem familiengeführten Unter-
             „Bei uns gibt es Worst-Case-Szenarien für einen unge-                                           nehmen. „Bei uns arbeiten Menschen aus 36 Nationen“,
             ordneten Brexit“, berichtet Udo Eckhoff. Wie diese aus-                                         erzählt er. Gefragt danach, was ihm als Erstes zu Europa
             sehen, sagt der Gesamtbetriebsratsvorsitzende beim                                              einfällt, nennt er den Brexit. „Natürlich hat das Auswir-

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BRANCHE

kungen auf uns. Von insgesamt rund 2,2 Millionen Gäs- uns stärker, auch wenn wir es noch intensiver nutzen
ten kamen 2018 rund 104.000 aus Großbritannien.“ müssen. Ohne die EU gäbe es das nicht.“
Wenn diese Gäste wegbleiben, wird sich das auf die Be-
schäftigten auswirken, ist sich der Gewerkschafter si- Das Thema ist auch bei Bahlsen auf dem Tisch, wie die
cher. „Der Ausstieg Großbritanniens ist eine Katastrophe Gesamtbetriebsratsvorsitzende Manuela Haase berich-
und gefährdet die gesamte Konst-                                                         tet. „Unsere Standorte in Deutsch-
ruktion EU.“ Das Maritim sei ver-       „Mit Europäischen Betriebs-                      land sind sehr gut vernetzt. Hier
glichen mit anderen Ketten in Eu-                                                        wird niemand gegeneinander aus-
ropa noch nicht so groß vertreten,
                                         räten können wir länder-                        gespielt, das ist nicht die Kultur
aber das ändert sich schrittweise.        übergreifend Solidarität                       von Bahlsen. Aber auf europäi-
Derzeit gibt es Häuser auf Tenerif-            organisieren.“                            scher Ebene ist der Austausch
fa und Malta. In diesem Jahr kom-                                                        schleppend. Es gab schon einmal
                                                         Peter Schmidt
men Hotels in Polen und Bulgari-                                                         einen Europäischen Betriebsrat,
en dazu, im Jahr 2021 soll eines in Amsterdam folgen. heute sind wir gemeinsam mit dem Arbeitgeber wieder
„Aber einen Europäischen Betriebsrat haben wir noch an dem Thema dran“, so Haase. Bei DMK fehlt eben-
nicht“, erzählt Klein, „das finde ich schade.“                    falls ein europäisches Gremium. Die Kolleginnen und
                                                                  Kollegen aus den Niederlanden nehmen aber regelmä-
Vernetzung in Europa                                              ßig an den Sitzungen des Gesamtbetriebsrates teil.
Während die Unternehmen grenzüberschreitend agieren,
Standorte verlegen und Arbeitsplätze verlagern, steckt die Beim Milka-Produzenten Mondelez hingegen tagt der
Mitbestimmung auf europäischer Ebene noch in den Kin- EBR einmal im Jahr. „Das hat mehr den Charakter eines
derschuhen. Dabei spielen Europäische Betriebsräte Informations- und Erfahrungsaustausches“, sagt
(EBR) eine wichtige Rolle. Sie sorgen für europaweite EBR-Mitglied Klaus Schmidt. „Von echter Mitbestim-
grenzüberschreitende Arbeitnehmervertretung. Rechtli- mung kann da nicht die Rede sein. Da müssen Lösun-
che Grundlage hierfür ist die EBR-Richtlinie der EU. Sie gen her, auf europäischer Ebene.“ Auf die Frage, welche
wurde mittlerweile in 30 Ländern Europas in nationales Konsequenzen der Brexit für die Kolleginnen und Kolle-
Recht umgesetzt.                                                  gen habe, hebt Schmidt die Achseln: „Keiner weiß, was
                                                                  kommen wird!“
Aus Sicht von Peter Schmidt, bei der NGG zuständig für
Europa, ist sie eine große Errungenschaft: „Die EBR-
Richtlinie gibt uns Gewerkschaften und Arbeitnehmern                              EFFAT – Sprachrohr
die Möglichkeit, und das ist einzigartig in der Welt, länder-                     für Millionen
übergreifend Solidarität zu organisieren, weil wir eben
                                                                                  Die Gewerkschaft NGG ist Mitglied der
nicht nur auf lokaler und nationaler Ebene, sondern auch
                                                                                  europäischen Gewerkschaftsföderation
auf europäischer Ebene Betriebsräte haben. Die Unter-                             EFFAT (European Federation of Food,
nehmen stellen sich immer mehr international auf. Mit                             Agriculture and Tourism Trade Unions).
dem EBR haben wir die Möglichkeit, hierauf adäquat zu                             Als europäische Dachorganisation der
reagieren und uns europaweit zu vernetzen. Das macht                              Lebensmittel-, Landwirtschafts- und
                                                                                     Tourismusgewerkschaften ist EFFAT
                                                                                     gegenüber europäischen Institutionen,
                                                                                     Verbänden und Unternehmensleitungen
                                                                                     das Sprachrohr von 22 Millionen Arbeit-
                                                                                     nehmerinnen und Arbeitnehmern aus
                                                                                     120 Gewerkschaften in 35 Ländern.

                                                                                     EFFAT ist eine „Regionalorganisation“
                                                                                     der IUL (www.iuf.org) und hat ihren Sitz
                                                                                     in Brüssel. Präsidentin der EFFAT ist
                                                                                     Malin Ackholt aus Schweden,
                                                                 Foto: Frank Pusch

                                                                                     Generalsekretär Harald Wiedenhofer
                                                                                     aus Deutschland.

                                                                                     Mehr Infos unter:
„Keiner weiß, was kommen wird!“ Klaus Schmidt, stellvertreten-
                                                                                     www.effat.org
der Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Mondelez International,
sieht einem harten Brexit mit Sorge entgegen.

                                                                                                                       einigkeit 1-2019     23
Herzlichen Dank für Eure Treue!
           In dieser Ausgabe gratulieren wir Mitgliedern, die im ersten Quartal der Jahre 1949 (vor 70 Jahren) und 1969
        (vor 50 Jahren) in die Gewerkschaft NGG eingetreten sind. Seit mehr als 150 Jahren sind es die Mitglieder, die
        unsere Organisation zu dem machen, was sie ist und bleibt: eine starke und lebendige Gewerkschaft, die ihren
        Mitgliedern zur Seite steht. Wir sind dankbar und sehr stolz, dass uns so viele von Euch über Jahrzehnte ihr Ver-
        trauen schenken.

         Seit 70 Jahren Mitglied
         Allgäu: Rolf Huettenrauch                               Bielefeld-Herford: Reinhold Reinhard Gottschewski,
         Berlin-Brandenburg: Joachim Fleischer                   Horst Mazurkiewiecz

         Darmstadt und Mainz: Hans Marquard                      Bremen-Weser-Elbe: Hans Knuth, Alfred Gerken

         Detmold-Paderborn: Konrad Sarrazin                      Bünde-Lübbecke-Minden: Horst-H. Hundertmark
         Hannover: Wilhelm Behling                               Darmstadt und Mainz: Andreas Wolf, Erich Boneberg
         Hamburg-Elmshorn: Bernhard Umland                       Detmold-Paderborn: Hans Greiff
         Leipzig-Halle-Dessau: Hedwig Völkel,                    Dortmund: Heinrich Gaertner, Manfred Ulber,
         Hans-Juergen Andert                                     Günter Szkudlarek
         Lüneburg: Dietrich Karohl                               Dresden-Chemnitz: Ingrid Schlegel, Gerlinde Döring,
         Mannheim-Heidelberg: Helmut Berwanger                   Marita Herrmann

         Mecklenburg-Vorpommern: Erwin Dietze                    Düsseldorf-Wuppertal: Anton Deibler, Gerhard Meyer,
         Niederbayern: Josef Frisch                              Johann Dölle

         Nord-Mittelhessen: Hans Becker                          Hannover: Klaus Alten, Wilfried Schröder,
                                                                 Bernd Bettermann, Kurt-Rainer Wengerek
         Nordrhein: Heinz Jr Angenend
                                                                 Heilbronn: Kurt Walter, Barbara Ebner-Müller
         Oberfranken: Alfred Raps, Hans Fröba
         Saar: Horst Dillschneider                               Hamburg-Elmshorn: Paul Schmelz, Alois Fehrholz,
                                                                 Inge Krafft, Edith Wischnowski, Jürgen Zinger,
         Schwaben: Karl Weissenböck                              Günter Fieken, Werner Henne, Dieter Witt
         Schwarzwald-Hochrhein: Heinz Schlempp                   Köln: Heinz Klenner, Heinz Schmitz, Cilli Beckers
         Stuttgart: Horst Bühler
                                                                 Krefeld-Neuss: Angelika Schonz, Robert Schröder,
         Südwestfalen: Wolfgang Ostholt                          Helmut Verhagen, Gerhard Wondrak
                                                                 Leipzig-Halle-Dessau: Ilona Gay, Kurt Pachulski
        Seit 50 Jahren Mitglied
         Aachen: Marija Cacic, Rosemarie Colling,                Lübeck: Uwe Guetschow, Heinz Wendt, Othmar Hart,
         Gertrud Vergöls                                         Roland Heidrich

         Allgäu: Bonifaz Mohr, Karl Kornes                       Lüneburg: Christel Dietrich, Frido Ehbrecht,
                                                                 Reinhold Duetsch
         Baden-Württemberg-Süd: Eleonore Binder,
                                                                 Mannheim-Heidelberg: Rudolf Maier, Karl Becher,
         Gerhard Honegger, Hedwig Klopfer, Oskar Rohr,
                                                                 Vladislav Drechsler
         Erich Schoch, Luzinda Knorr, Klaus Grimmel
                                                                 Mecklenburg-Vorpommern: Michael Eschert,
         Berlin-Brandenbug: Gerd Brandt, Peter Fiedel,
                                                                 Jutta Wolfgramm, Renate Jantzen
         Edda Goß, Gerhard Huschke, Rosemarie Jacob,
         Dieter Jauch, Elken Weber, Marianne Grude,              Mittelbaden-Nordschwarzwald: Hans Großmann,
         Bernd Köding, Monika Wahl, Martin Wappler               Rudolf Huber

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