Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn - De Gruyter

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Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder
die Avantgarden und die Straßenbahn

Kehren wir zurück zum Beginn der zwanziger Jahre und versuchen wir, die Spe-
zifik der historischen Avantgarden nun nicht mehr in der literarischen Area der
Karibik, sondern in einer anderen Area nahezukommen, die innerhalb der
Avantgarden in den Literaturen der Welt eine besonders herausgehobene Rolle
spielen sollte! Ich spreche von den Literaturen im Cono Sur und in erster Linie
von Argentinien.
     Die Galionsfigur der argentinischen Avantgarde war ohne Zweifel Jorge Luis
Borges,1 der spätestens seit 1919 Entscheidendes dazu beigetragen hatte, dass sich
die argentinische Literaturszene mit den Avantgarden Europas, insbesondere mit
den italienischen, französischen und vor allem spanischen Avantgardisten und
hierbei wiederum besonders mit dem „Ultraísmo“ kreativ auseinandersetzte. Wir
werden uns sogleich mit Jorge Luis Borges beschäftigen, wollen zuvor aber versu-
chen, ein kurzes Porträt der Lyrik in Argentinien anhand des sicherlich herausra-
genden Lyrikers Oliverio Girondo in aller Kürze zu skizzieren.
     Im Gegensatz zu den literarischen Areas Mexikos und des andinen Raumes
gibt es innerhalb des argentinischen Nationalstaats einen weitaus geringeren
Anteil indigener Bevölkerung und gegenüber der Karibik einen deutlich gerin-
geren Anteil der schwarzen Bevölkerung. Wir haben es also mit einer literari-
schen Area zu tun, in welcher den kulturellen Polen der indigenen wie der
schwarzen Kulturen ein weitaus geringeres Gewicht innerhalb der Demogra-
phie, vor allem aber auch innerhalb des Spektrums der kulturellen Traditionen
Argentiniens zukommt. Dies gilt im Übrigen auch für Uruguay, keinesfalls aber
für den dritten Nationalstaat des Cono Sur, Paraguay, so dass wir uns mit Blick
auf die Gesamtheit der Area vor Verallgemeinerungen hüten sollten. Konzent-
rieren wir uns in der Folge also auf Argentinien, dessen sozioökonomische Mo-
dernisierung in jenen Jahren vereint mit einer starken Einwanderung gewaltige
Kräfte entfesselte!
     Bereits während der gesamten dritten Phase beschleunigter Globalisierung
war die argentinische Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft, welche ins-
besondere europäische Einwanderergruppen aus Italien, dem Balkan, Deutsch-
land und Polen aufnahm und eine gesellschaftliche Entwicklung erfuhr, die in
ihrer Rasanz innerhalb Lateinamerikas wohl kaum Vergleichbares findet. Die

1 Vgl. auch das Kapitel zu Jorge Luis Borges im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 494 ff.

  Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter.           Dieses Werk ist lizenziert unter
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https://doi.org/10.1515/9783110751321-026
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kulturelle Problematik der historischen Avantgarden, wie wir sie auf Kuba mit
Nicolás Guillén kennengelernt haben, musste daher in Argentinien eine gründ-
lich andere sein – und sie war es in der Tat.
     In Argentinien spielen nicht die engen sozioökonomischen Verbindungen
zu den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern die kulturellen Beziehungen
zu Europa, insbesondere zu Italien, Spanien und allen anderen voran Frank-
reich eine entscheidende Rolle. Denn seit Esteban Echeverría die Argentinier
mit der französischen Romantik vertraut machte und in der „Generación del
37“ die Grundlagen dafür schuf, dass sich Argentiniens Literatur im 19. Jahrhun-
dert ohne den sehnsüchtigen Seitenblick auf Paris niemals zu finden glaubte,
gibt es die besonders privilegierte Relation zur französischen Hauptstadt; eine
Beziehung, die sich selbst noch bis in den Beginn des 21. Jahrhunderts erhielt.
Denn Paris blieb für die argentinischen Literatinnen und Literaten ebenso der
Orientierungspunkt wie es auf Ebene der Theorie die französischen Theoretiker-
innen und Theoretiker blieben. Als Romanist und Komparatist habe ich dies
immer wieder gespürt, wenn mir argentinische Projekte ins Haus flatterten: Bis-
weilen konnte man sie mit verbundenen Augen dank massiver frankophiler
Theoriebausteine als argentinische Vorhaben identifizieren.
     Wenn wir uns mit dem am 17. August 1891 in Buenos Aires geborenen und am
24. Januar 1967 ebendort verstorbenen Oliverio Girondo beschäftigen, dann ist es
ein Leichtes, diesen Dichter als Bestätigung der soeben genannten These einer
Ausrichtung an Frankreich zu präsentieren. Denn Oliverio Girondo, der aus einer
argentinischen Patrizierfamilie stammend zeit seines Lebens keine finanziellen
Probleme kannte, sich seit seiner Kindheit und Jugend Weltreisen leisten konnte
und die französische Hauptstadt wie kaum ein anderer Argentinier kannte, darf
als einer jener Dichter gelten, welche das Paris-Bild in der argentinischen Literatur
weiter überhöhten und mit neuen Akzenten bereicherten.

                   Abb. 65: Oliverio Girondo (1891–1967).

Dass Girondo keineswegs der einzige lateinamerikanische Avantgardist war,
der wesentliche Impulse für sein Schaffen aus Paris erhielt, und dass man kei-
neswegs reich zu sein brauchte, um sich als lateinamerikanischer Lyriker in
Paris wiederzufinden, mögen die Beispiele von Vicente Huidobro und César
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn   841

Vallejo zeigen, mit denen wir uns in einer anderen Vorlesung ausführlich be-
schäftigt haben.2 Denn auch auf deren Schaffen haben die großen französi-
schen Avantgardisten der ersten Stunde und jene Autoren, welche wie Alfred
Jarry und Guillaume Apollinaire diese frühe Generation geprägt hatten, wesent-
lichen Einfluss genommen. Die französische Hauptstadt war zum damaligen
Zeitpunkt die unbestrittene Literaturhauptstadt der Welt.
     Oliverio Girondo wusste sehr wohl um das Bemühen dieser historischen
Avantgarde in Europa, um den radikalen Bruch mit den Institutionen des Lite-
ratur- und Kulturbetriebs; und er gehörte zu jenen Autorinnen und Autoren,
die diesen radikalen Bruch möglichst ebenso unversöhnlich auch in seiner ar-
gentinischen Heimat vollzogen wissen wollten. Schon aus dieser Perspektive ist
Oliverio Girondo also ein lateinamerikanischer Avantgardist, der sich nicht nur
bestens bei seinen europäischen Bezugsautoren auskennt, sondern der mehr
als andere Lateinamerikaner seiner Zeit die grundlegenden Vorstellungen hin-
sichtlich eines Bruchs mit der Institution Literatur zu verwirklichen trachtete.
Diesbezüglich war Girondo eher atypisch: Er war in diesem Sinne – aber nur in
diesem! – sicherlich ein Schriftsteller, zu dem der Zugang von Europa her deut-
lich leichter fällt als etwa bei Autoren wie Alfonso Reyes, Nicolás Guillén oder
José Vasconcelos. Doch sehen wir uns seine Dichtkunst einmal etwas näher an!
     Oliverio Girondo zählte 1924 zu den Mitbegründern der damals so einflussrei-
chen Zeitschrift Martín Fierro, dessen literarischen Namensgeber wir in dieser
Vorlesung ausführlich kennengelernt haben, und war einer der frühen Wegge-
fährten des damals ultraistischen Jorge Luis Borges. Er blieb zeit seines Lebens
den Erfahrungen der französischen Avantgarde treu. Das war angesichts seiner
Biographie keineswegs erstaunlich. Denn als ehemaliger Schüler eines Pariser
Lycée, wo er – wie auch später in England – sich auf das Abitur vorbereitet
hatte, wusste er sich den französischen Avantgardisten, von denen er viele per-
sönlich kannte, sehr nahe. Dies mag nicht zuletzt seine lange Freundschaft mit
Jules Supervielle belegen.
     Während seines Jurastudiums in Buenos Aires, zu dem er sich unter der Be-
dingung verpflichtete, dass ihm seine wohlhabenden Eltern jedes Jahr längere
Europaaufenthalte finanzierten, und noch bis zu Beginn der dreißiger Jahre
war Girondo ein Weltenbummler, der erst im Alter von vierzig Jahren in Buenos
Aires etwas sesshafter wurde. Seine vielfachen Reisen verarbeitete er in einem
ersten Gedichtband, den Veinte poemas para ser leídos en el tranvía, die 1922

2 Vgl. ebda., S. 235 ff., 261 ff. u. S. 281 ff.
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erschienen und in Form von Zwanzig Gedichte[n], in der Straßenbahn zu lesen3
Bewegungsfragmente darstellten, die spezifisch avantgardistische Charakteris-
tika aufweisen.
     Diese Tatsache lässt sich an diesen europäischen, aber auch argentinischen
Reiseskizzen sehr gut beobachten. Ich habe Ihnen aus den Veinte poemas para
ser leídos en el tranvía zwei Gedichte ausgewählt, die einmal die Stadt (Buenos
Aires) und ein andermal den Strand (Mar del Plata) porträtieren, ein Gegensatz,
den Girondo auch anhand anderer europäischer Orte wie Paris und Biarritz, Ve-
nedig und Chioggia wiederaufnahm. Hier also seine Studie von Buenos Aires,
mit deren Hilfe er uns in Apunte callejero eine mobile Perspektive zugleich aus
der Bewegung und für die Bewegung liefert:

      Auf der Terrasse eines Cafés ist eine graue Familie. Einige Brüste gehen schielend vorbei
      auf der Suche nach einem Lächeln über den Tischen. Der Lärm der Automobile entfärbt
      die Blätter der Bäume. In einem fünften Stock kreuzigt sich jemand, indem er die Fenster-
      flügel weit aufstößt.
            Ich denke daran, wo ich die Kioske, die Straßenlaternen, die Passanten aufheben
      werde, die mir durch die Pupillen hereinkommen. Ich fühle mich so voll, dass ich Angst
      bekomme, zu platzen... Ich müsste etwas Ballast auf dem Bürgersteig abwerfen...
            Als ich an eine Ecke komme, trennt sich mein Schatten von mir und wirft sich plötz-
      lich zwischen die Räder einer Straßenbahn.4

Wir haben es in diesem Prosagedicht mit hochmodernen Straßenszenen zu tun,
wie sie auf ähnliche Weise für den Innenraum von Bars – und mit ähnlich
frauenfeindlichen Anklängen – ein Albert Cohen zeitgleich in Genf entwarf.5 Zu
den urbanen Emblemen der Moderne zählen lautstarke Automobile, (elektrifi-
zierte) Straßenlaternen oder auch die ubiquitären Trams, die den Massentrans-
port in den großen Metropolen bewältigen. Diese Straßennotiz endet mit eben
jenem Element, das bereits im Titel der Prosagedichtsammlung auftaucht: eben
der Straßenbahn, in welcher diese Gedichte gelesen werden sollen.
     Ihren Titel erhielt die Sammlung zum einen aufgrund der Bemühungen Oli-
verio Girondos, das Buch so billig zu machen, dass es seine Leserschaft nicht
teurer zu stehen kommt als eine Straßenbahnfahrkarte, was auch gelang. Dass
das Lesepublikum als Dank hierfür die Gedichte auch gleich in der Straßen-
bahn lesen soll, ist da nur natürlich und wird im Titel angedeutet. Dabei ist be-

3 Zu einer existierenden Übertragung ins Deutsche vgl. Wentzlaff-Eggebert, Harald: Nachwort.
In: Girondo, Oliverio: Milonga. Zwanzig Gedichte im Tangoschritt. Göttingen. Verlag Bert
Schlender 1984, S. 66–77.
4 Girondo. Oliverio: Apunte callejero. In (ders.): Veinte poemas para ser leídos en el tranvía.
Calcomanías. Espantapájaros. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina 1981, S. 16.
5 Vgl. Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 321 ff.
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merkenswert, dass der Ort der Lektüre ein Ort in Bewegung ist, so wie sich die
Gedichte selbst auch einer ständigen Bewegung (in) der modernen Großstadt
verdanken.
    Die Tram oder Straßenbahn ist zum damaligen Zeitpunkt noch ein recht
neues Phänomen der Großstadt und verweist auf deren sozioökonomischen Mo-
dernisierungsschub (Abb. 66 u. 67). Buenos Aires ist in den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr die „gran aldea“, das große Dorf, son-
dern zu jener großen Metropole geworden, die auch europäische Besucher
stark beeindrucken sollte. Die Lektüre in der Straßenbahn macht ein rasches
Aufnehmen der Gedichte erforderlich; mindestens ebenso rasch, wie die Noti-
zen auf der Straße aufgenommen zu sein vorgeben: Alles ist von einer großen
Geschwindigkeit durchzogen, welche sich ebenso dem Schreiben wie dem
Lesen aufprägt. Hat der Dichter überhaupt Zeit, die sich in ihm aufgestauten,
durch seine Pupillen eingedrungenen Bilder seiner inneren Camera obscura
zu verarbeiten?

Abb. 66: Fahrgäste im Inneren einer elektrischen Straßenbahn in Buenos Aires, ca. 1897.
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Abb. 67: Straßenbahn in Buenos Aires mit Feiernden des 17. Oktobers 1945 (Geburt des
Peronismus).

     Fast will es so scheinen, als wäre dies nicht der Fall. Denn diese scheinbar
spontan hingeworfenen „Apuntes“ werden durchaus nur auf den ersten Blick
in logisch-kausale Zusammenhänge eingebaut. Die ersten Sätze scheinen sich
noch einer solchen mehr oder minder logischen Abfolge zu verdanken; doch
bald bemerken die Leserinnen und Leser, dass sich zwischen der grauen sitzen-
den Familie und den vorbeispazierenden Brüsten keine weitere Entwicklung
anbahnt, die vom Prosagedicht oder Text weiterverfolgt worden wäre. Es sind
kurze rasche Blicke, wie aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Und erst
durch die Lese-Akte selbst entsteht eine Verbindung zwischen diesen Text-
Inseln, welche durch ihre klare Diskontinuität geradezu isoliert in diesem Groß-
stadtgedicht hervorstechen.
     Lassen sich also durch die Lektüre geheime Verbindungen herstellen? Viel-
leicht bekreuzigt sich jemand ganz oben im fünften Stock wegen eben dieser
Brüste, die ohnehin literarisches Lust-Objekt einer männlichen historischen Avant-
garde wie Neoavantgarde waren?6 Und hören wir keine Reaktionen, weil der Lärm

6 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Mit Haut und Haar? Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón
Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Manuel de Prada. In: Romanistische Zeitschrift
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der Automobile – ein weiteres Emblem der modernisierten Großstadt – etwa so
laut ist? Vielleicht also gibt es doch Beziehungen zwischen den kurzen Beobach-
tungen oder Vorfällen, die ein wenig an das erinnern, was Roland Barthes in sei-
nem Reisetagebuch aus Marokko Incidents genannt hat, also Vorfälle oder
Einschnitte.7 Doch dies führt uns schon auf Wege von den historischen Avant-
garden zu den Neoavantgarden: Bleiben wir erst einmal bei den historischen!
     Das Gemeinsame enthüllt sich in der zweiten Strophe des Prosagedichts. Es
ist das Eindringen durch die Pupillen, also die Dominanz des Optischen, die
nach Platz und Aufschreibe-Möglichkeit im Innern sucht; in einem Innern, das
laut Aussage des lyrischen Ich zu platzen droht. Es ist so – und auch an dieser
Stelle ergibt sich eine klare Parallele zu Albert Cohen –, als ob die gesehenen
Gegenstände sich im Inneren des Dichters, im Kopf des Schreibenden anhäufen
würden und gewaltigen Platz einnähmen. Das Ich, so scheint es, müsste auf
dem Gehsteig etwas Ballast abwerfen; ein Gedanke, der an den Flaneur der
Großstadt und an dessen Großvater Charles Baudelaire – die Urgroßväter lassen
wir einmal außer Betracht – erinnert. Im Übrigen ist die Überfülle der Innenwelt,
die die Außenwelt in sich aufnimmt, ein altes Motiv, das in der abendländischen
Literatur spätestens seit Augustinus gegenwärtig ist.
     Selbst die letzte Strophe scheint sich durch unsere Lektüre noch in einen
wie auch immer gearteten losen kausalen Zusammenhang bringen zu lassen.
Denn das Ich wirft zwar keinen Ballast ab, wohl aber seinen Schatten, der sich
zwischen die Räder der vorbeifahrenden Tram wirft. Dadurch bleibt ein Mann
ohne Schatten zurück – ebenfalls ein altes literarisches Motiv, das das Ich in
eine lange Traditionsreihe unheimlicher Gestalten stellt, die spätestens mit
Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso ein breites
Publikum erreicht haben. Denn diese Gestalten haben ihren Schatten verloren,
weil sie mit dem Teufel im Bunde stehen. Sie sehen, dass bei Oliverio Girondo –
ähnlich wie bei anderen lateinamerikanischen Avantgardisten – der Bruch mit
der literarischen Tradition keineswegs hart vollzogen wird.
     Mit welchem Teufel aber ist dieser lyrische Berichterstatter, dieser ‚Straßen-
notizenautor‘ im Bunde? Vielleicht ist es der Teufel der Modernisierung und der
Großstadt, der letztlich doch alle fragmentierten Eindrücke wie auch immer
miteinander in Beziehung bringt ungeachtet der Tatsache, dass die einzelnen
Elemente, Personen, Gegenstände nur einen winzigen Zeitpunkt, einen winzi-
gen Augenblick lang miteinander in Kontakt treten? Zumindest ist dies in der

für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXV, 3–4
(2001), S. 429–465.
7 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: LebensZeichen. Roland Barthes zur
Einführung. Zweite, unveränderte Auflage. Hamburg: Junius Verlag 2013.
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Pupille des Beobachters der Fall, der etwas länger belichtete, nur an den Rän-
dern freilich unscharf werdende Bilder von ihnen macht. Denn es handelt sich
um literarische Momentaufnahmen, die auf ein anderes technisches Medium
verweisen, das der sich rasch entwickelnden Photographie, das zusammen mit
dem Film das Leben in der Großstadt zu porträtieren begann.
     Die Szenerie der Metropole ist im Übrigen keineswegs nur positiv einge-
färbt. Dies zeigen schon die Blätter, die von den Automobilen entfärbt werden,
ebenso wie die Straßenbahn, die den Schatten des Ich überfährt. Auch das Ich
selbst droht wegen Reizüberflutung zu platzen, sucht eine Möglichkeit, die
Vielfalt der aufgenommenen Szenen und Gegenstände in sich zu behalten,
ohne zugleich seine Existenz aufgeben zu müssen. Das Ich ist in Oliverio Giron-
dos Gedicht weit mehr als eine photographische Linse: Es ist ein scharfes Be-
wusstsein, das sich der Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit all dieser
„Apuntes“, dieser Augenblicke, dieser skizzenhaften Momentaufnahmen be-
wusst ist.
     Die Ausschnitthaftigkeit der in Girondos Prosagedicht ins Auge gefassten Ge-
genstände erinnert an die zeitgenössischen Experimente und Ausdrucksformen
des Kubismus.8 Aus eben diesem Grunde sind die beobachteten Objekte auch
nicht unverbunden und nur heterogen, sondern zugleich aus unterschiedlichen
Perspektiven aufgenommen – gleichsam wie auf der Fahrt mit einer rollenden
Kamera oder eben einer ratternden Straßenbahn. Die kubistische Multiperspekti-
vität überlagert gegensätzliche und sich überlappende Blickpunkte in einem ein-
zigen künstlerischen Objekt.
     Dabei müssen wir innerhalb dieser multiperspektivischen Konstruktion
noch das Lesepublikum hinzusetzen, insofern es zu den literarisch registrierten
Bildern und Eindrücken nun noch die selbst in der Straßenbahn aufgenomme-
nen Lese-Impressionen hinzufügt, eigene Relationen herstellt und Verbindun-
gen kreiert, welche dem Gedichttext neue und bislang ungesehene Aspekte
einverleiben. Damit wird klar, dass in diesem Vergänglichen und Augenblicks-
haften wiederum etwas Dauerhaftes, ja Repräsentatives und Durchgängiges
aufscheint; eine semantische Doppelung, die wir seit Charles Baudelaire als
Kennzeichen der Moderne wie auch des Modernebegriffs kennen.
     Es dominiert nicht allein die Multiperspektivität, sondern auch die Multire-
lationalität: Letztlich ist alles mit allem verbunden, ist die Stadt ein giganti-

8 Vgl. zu diesem Aspekt auch Wentzlaff-Eggebert, Harald: Lust und Frust bei der Eindeutschung
der Provokation. Der argentinische Bürgerschreck Oliverio Girondo in deutscher Übersetzung. In:
Schrader, Ludwig (Hg): Von Góngora bis Nicolás Guillén. Spanische und lateinamerikanische
Literatur in deutscher Übersetzung – Erfahrungen und Perspektiven. Tübingen: Narr Verlag 1993,
S. 85–94.
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scher Organismus, der ständig neue Begegnungen schafft, die freilich nach
jenem Organisationsprinzip verlaufen, das André Breton wenige Jahre später
als „hasard objectif“, als „objektiven Zufall“ bezeichnen sollte.9 Das Ich dieses
Prosagedichts ist zuvörderst damit beschäftigt, solche objektiven Zufälle zu
provozieren und vielfältigste, vieldeutige Verbindungen herzustellen. „Pasan
unos senos bizcos“: die vorbeilaufenden schielenden Brüste haben vielleicht
letztlich auf unseren Beobachter geschielt, wobei zugleich das seit Baudelaire
eingeführte Motiv der Zufallsbekanntschaft in der Großstadt, materialisiert in
seinem Gedicht À une passante, eingespielt wird.10 Die Körperlichkeit ist in die-
sem Gedicht, wenn auch nur im Sinne eines fragmentierten Körpers als Körper-
Objekt, durchaus vorhanden.
     Diese Besonderheit zeigt sich auch in einem weiteren Gedicht, zu dessen
Analyse wir nun kommen: Croquis en la arena. Es ist die versprochene poeti-
sche Auseinandersetzung mit einer Strandlandschaft in der künstlerischen
Form eines „croquis“, einer Skizze also. Der Maler Oliverio Girondo wusste sehr
wohl, wovon er sprach:

    Der Morgen spaziert am von der Sonne staubigen Strand.

    Arme.
    Amputierte Beine.
    Körper, die sich verkörpern.
    Schwimmende Köpfe aus Kautschuk.

    Indem sie den badenden Frauen ihre Körper nehmen, verlängern die Wellen ihre Rasuren
    auf dem Sägebock des Strandes.

    Alles ist golden und blau!

    Der Schatten der Windschutzbahnen. Die Augen der Mädchen, die sich Romane und Hori-
    zonte spritzen. Meine Freude, Schuhe aus Gummi, lässt mich aufhüpfen auf dem Sand.

    Für achtzig Centavos verkaufen die Photographen die Körper badender Frauen.

    Es gibt Kioske, welche die Dramatik der Brecher ausbeuten. Grüblerische Dienstboten.
    jähzornige Siphons, mit Meeresextrakt. Felsen mit algenbedeckter Seemannsbrust
    und gemalte Herzen von Fechtern. Pulks von Möwen, die den Flug fingieren, zerstört
    von einem Fetzchen
    weißen Papiers.

9 Vgl. zu André Breton das Kapitel über den Surrealismus in Ette, Ottmar: Von den histori-
schen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 336 ff.
10 Vgl. zu diesem Gedicht den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwi-
schen zwei Welten, S. 905 ff.
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      Und vor allem ist da das Meer!

      Das Meer!... Rhythmisch abschweifend. Das Meer! mit seinem Schleim und seiner Epil-epsie.
      Das Meer!... schreien könnt' man's...
                                            ES REICHT!
                                                                                wie im Zirkus.

                                                                  Mar del Plata, Oktober 1920.11

In diesem Gedicht sind es zunächst die zerstückelten Körper, welche als erste die
Aufmerksamkeit von Ich und Lesepublikum auf sich ziehen. Wieder erfolgt die
Aufnahme aus der Bewegung, diesmal aber nicht innerhalb einer urbanen, son-
dern einer maritimen Erholungslandschaft. Unverbundene Arme, amputierte
Beine, Körper und Köpfe tauchen hier im wahrsten Sinne auf, wobei die Amputa-
tion der Beine wohl weniger auf die Körper selbst als auf deren Beobachtung zu-
rückgeht. Die wie Kautschuk auf den Wellen schwimmenden Köpfe zeigen an,
wie diese avantgardistische Observation funktioniert: alles Zusammengehörige
voneinander trennend und als Teile eines „corps morcelé“ herausgreifend.
     Die spezifisch avantgardistische Beobachterposition schreibt sich dem Frag-
mentierten ein und lässt sich nicht von der Zertrennung alles normalerweise Zu-
sammengehörigen ablösen – auch wenn die Farbgebung des Prosagedichts doch
noch sehr dem Modernismo zuneigt. Im Spiel der Wellen mit den Körpern werden
diese zumeist weiblichen Körper im männlichen Blick aus dieser Beobachterper-
spektive gleichsam entmenschlicht, zu Gegenständen, so wie die schwimmenden
Köpfe im Gedicht aus Kautschuk gemacht sind. Wie anders ist dieser männliche
Blick als die zeitgleiche Lyrik einer Alfonsina Storni, die später bei Mar del Plata
ihr Leben beendete!12 Doch die Grundstimmung dieser Strandszene bei Oliverio
Girondo ist heiter, ein fröhliches „découpage“ des Vorhandenen. Und dass „alles
aus Blau und Gold“ ist, wussten schon die Modernisten der Schule Rubén Daríos
und vor allem dessen poetische Epigonen. Der Satz, in den 20er Jahren niederge-
schrieben, verbirgt eine Sprengladung, die erst einige Zeilen später hochgehen
soll und explodiert.
     Das Ich des männlichen Dichters gerät in einen künstlerisch-ästhetischen
Konflikt. Denn gerade jene Szenerien mit badenden Frauen dienen noch ande-
ren Männern am Strand als Darstellungsobjekte: den Photographen. Sie verkau-

11 Girondo, Oliverio: Croquis en la arena. In (ders.): Veinte poemas para ser leídos en el tran-
vía, S. 13 f.
12 Vgl. zu Alfonsina Storni die den hispanoamerikanischen Lyrikerinnen des Jahrhundertbe-
ginns gewidmeten Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Post-
moderne, S. 423 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn      849

fen ihre Kunst Instantartig für achtzig Centavos: Die Photographen setzen
damit die Oberflächen ihrer weiblichen Körper-Objekte in klingende Münze um
dank jener technischen Reproduzierbarkeit, in deren Zeitalter Girondo und
Walter Benjamin13 gemeinsam schreiben. Demgegenüber ist das Gedicht des ar-
gentinischen Avantgardisten lediglich Handarbeit, ein Croquis, das wie eine
zeichnerische Skizze keine technische Reproduktionsapparatur benötigt.
     Doch damit nicht genug! Denn zu allem Überfluss ist da auch noch die Kul-
tur der Kioske, die ihre unmittelbar zu konsumierenden Objekte feilbieten bis
zum Überdruss, vollständig klischeehaft, Abziehbildern gleich. Auch am Strand
hat die Modernisierung Einzug gehalten: Es gibt Kioske am Strand, so wie jene
im ersten Gedicht im urbanen Raum der Metropole ihren zentralen Platz bean-
spruchen. Der Strand, die Natur, erscheint als Fortsetzung der urbanen Land-
schaft: Auch diese vermeintliche Natur ist von vielen Menschen, im Grunde
Passanten, mit ihren Körpern und Körperteilen bevölkert und bietet dem Dich-
ter die Möglichkeit, all diese Gegenstände durch die Pupillen in sein Inneres
aufzunehmen.
     Die Klischees setzen sich fort im Meer, dem immer wiederkehrenden Rhyth-
mus, der nun im Gedicht ein für alle Mal abbricht. Denn der Künstler schleudert
ihm ein großgeschriebenes „Basta“ entgegen – einen willentlichen Bruch, der
alles einmal mehr mit zur Schau gestellter Massenkunst, mit dem Zirkus, wohl
eher negativierend vergleicht. Wir haben es in dieser Szenerie also mit einer Art
Poetologie zu tun, die abrechnet mit den zeitgenössischen Formen der Massen-
kultur, aber auch mit dem Blau und Gold der Modernisten und ihrer Wahrneh-
mung von Strand und Meer. Gegen beide Gegensätze, gegen die modernistische
Tradition wie die technische Reproduzierbarkeit, setzt sich der argentinische
Avantgardist zur Wehr und entwirft sein literarisches Croquis.
     Jetzt aber Schluss mit diesem Zirkus! Ein sauberer, glatter Schnitt zu dieser
Institution einer von den Massen freudig ergriffenen klischeehaften und technisch
unendlich reproduzierbaren Kunstfertigkeit! Der avantgardistische Lyriker fordert
als Prosaist den Bruch; und versucht zugleich, ihn in seinem Gedicht ohne Verse
selbst einzulösen.
     Oliverio Girondos Prosagedicht steht für ein Aufbegehren gegen all das,
was um uns herum ständig Sinn erzeugt uns nicht aus seiner Klischeehaftigkeit

13 Vgl. zu dieser seriellen Reproduzierbarkeit und den Konsequenzen für die Kunst den be-
kannten Essay von Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit (Erste Fassung). In (ders.): Gesammelte Schriften. Band I, 2. Herausgegeben
von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980,
S. 431–469.
850        Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn

auch und gerade der Empfindungen entlassen will. Die Käuflichkeit einer stets
reproduzierten Kunstfertigkeit wird in Gestalt der achtzig Centavos für eine
Photographie badender Frauen angeprangert. Doch Oliverio Girondo ist zum
Bruch entschlossen, zu einem Bruch, der ihm als finanziell Wohlhabendem
und Abgesichertem freilich keinerlei ökonomische Gefährdung bringen konnte,
musste er doch im Gegensatz zu Photograph und Budenbesitzer nicht von sei-
nem Tun, von seiner künstlerischen Arbeit leben. Denn dem Weltenbummler
standen nicht nur Buenos Aires und Mar del Plata, sondern auch die Großstädte
und Strände etwa von Frankreich und Italien zur Verfügung, wo der argentini-
sche Literat uns vergleichbare fragmentierte Bild-Schriften hinterließ.
     Und noch ein letztes: Die Veinte poemas para ser leídos en el tranvía kosteten
bei ihrem Verkauf – anzueignen durch die Leserinnen und Leser in der fahrenden
Straßenbahn – gerade einmal zwanzig Centavos. Die Körper der badenden Frauen
aber, die die Photographen vertreiben, sind um das Vierfache teurer, kosten sie
doch stolze achtzig Centavos. Und doch ist die Prosadichtkunst Oliverio Girondos
keine billige Lyrik, wendet sie sich auch an eine breite Leserschicht, die nicht
mehr jene der typischen bildungsbürgerlichen Leserschichten von Buenos Aires
ist. Die literarische Avantgarde fährt mit und liest jetzt in der Straßenbahn.
     Der ‚Fall‘ des Weltenbummlers und Avantgardisten Oliverio Girondo kon-
frontiert uns erneut mit der Frage nach jenen transarealen transatlantischen Lite-
raturbeziehungen zwischen Europa und den Amerikas, zwischen Argentinien,
dem Cono Sur, Lateinamerika und den verschiedenen Literaturen Europas. Denn
zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Literaturen Lateinamerikas auf dem
Sprung, weit über ihren Kontinent hinaus wahrgenommen zu werden. In gewis-
ser Weise war die ‚Einlösung‘ dieser Situation der hochrenommierte (und damals
wie heute umstrittene) Literaturnobelpreis für die chilenische Dichterin Gabriela
Mistral im Jahr 1945. Wie also ist das literarische Beziehungsgeflecht zwischen
Europa und Hispanoamerika zu denken? Welches sind die verschiedenen Etap-
pen, die im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu führen sollten, dass die
lateinamerikanischen Literaturen aus dem Konzert der Literaturen der Welt auch
im 21. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken sind? Wie ist das Vorrücken dieser
Literaturen des Subkontinents im Bewusstseinshorizont US-amerikanischer, eu-
ropäischer, aber auch anderer weltweiter Lesergruppen zu erklären?
     Ich möchte versuchen, im Kontext unserer Frage nach Geburt, Leben, Ster-
ben und Tod Antworten auf diese Fragen zu finden. Wie auch immer diese Ant-
worten ausfallen werden, an einem Namen werden wir nicht vorbeikommen:
jenem des Argentiniers Jorge Luis Borges, mit dessen zentraler Bedeutung wir
uns bereits in unserer Vorlesung über die Literaturen des 20. wie des beginnen-
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn     851

den 21. Jahrhunderts beschäftigt haben.14 Einige Biographeme dieses großen ar-
gentinischen Schriftstellers möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, da sie zu-
gleich ein aussagekräftiges Licht auf die transatlantischen Literaturbeziehungen
im vergangenen Jahrhundert zu werfen vermögen.
     Jorge Luis Borges wurde am 24. August 1899 in eine traditionsreiche und
wohlhabende Familie in Buenos Aires hineingeboren und verstarb am 14. Juni
1986 in Genf. Bereits durch seine Genealogie erweist er sich als typischer Argen-
tinier: Seine Vorfahren sind teils spanischer, teils portugiesischer Herkunft,
während seine Großmutter väterlicherseits einer englischen Methodistenfamilie
entstammte. Wie die Familie Oliverio Girondos ist auch jene von Jorge Luis Bor-
ges wohlhabend und international ausgerichtet; aber ausgerechnet 1914, im
Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, reiste sie nach Europa und bezog
ihren Wohnsitz in Genf und Lugano. Mit einem derart langen und erbittert ge-
führten Krieg, der bald weltweite Dimensionen annehmen sollte, hatte die
wohlbehütete argentinische Familie nicht gerechnet.
     Nicht nur die Schweiz, auch Spanien wurde für den jungen Literaten wichtig.
1919 knüpfte der junge Borges auf einer Reise seiner Familie wichtige Kontakte
zu den spanischen und lateinamerikanischen Avantgarden. Der jugendliche
Schriftsteller, der damals noch keinerlei Probleme mit seinem Sehvermögen
hatte, war vom kreativen Potential der historischen Avantgarden und insbeson-
dere vom unter anderem von Vicente Huidobro begründeten „Ultraísmo“15 stark
beeindruckt. Seine schriftstellerischen Anfänge situierten sich folglich im Umfeld
dieser avantgardistischen Zirkel, deren notwendige transatlantische Fokussie-
rung wir in unserer früheren Vorlesung besprochen haben.

                   Abb. 68: Der junge Jorge Luis Borges (1899–1986).

Nach seiner Rückkehr 1921 in sein Heimatland begründete der angehende
Autor erste literarische Zeitschriften, doch sollte er sich von den historischen

14 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne,
S. 494 ff.
15 Vgl. ebda., S. 235.
852        Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn

Avantgarden zunehmend distanzieren und seine frühen Bände, wo ihm dies
möglich war, sachte wieder aus dem Verkehr ziehen. Man sagte ihm nach, eigen-
händig Exemplare aus Bibliotheken entwendet zu haben, um seine avantgardis-
tisch-ultraistischen Anfänge später zu verbergen. Doch kann kein Zweifel daran
bestehen, dass Borges’ Anfänge ebenso avantgardistisch wie jene Oliverio Giron-
dos und nicht weniger transatlantisch ausgerichtet wie jene des Verfassers der
Veinte poemas para ser leídos en el tranvía waren. Im Unterschied zu Girondo
aber war Borges bei seiner Suche nach literarischen Anschlussmöglichkeiten
stärker an Spanien und der spanischsprachigen Welt orientiert.
     Doch Borges war zugleich auf Buenos Aires – seine Stadt – stolz. Es ließe
sich mit guten Gründen behaupten, dass Argentiniens Hauptstadt damals zu
einem der Zentren internationaler Kunst und Literatur geworden war. Erst 1938,
nach dem Tod seines Vaters, war Borges gezwungen, als Bibliothekar Geld zu
verdienen. Doch sollte er Ende des Jahres bei einem Unfall einen Teil seines Au-
genlichts verlieren: Fortan wurde seine Mutter zu seiner Sekretärin und half
dem familiär erblich vorbelasteten und langsam erblindenden Sohn in vielen
praktischen Belangen. Wie später bei einem Roland Barthes war Borges’ Mutter
für den argentinischen Schriftsteller die vielleicht wichtigste Stütze in seinem
alltäglichen wie schriftstellerischen Leben.
     Es gehört zu den für Borges’ Leben charakteristischen Einschnitten, dass er
1946, im Jahr nach Peróns Machtergreifung, aufgrund der Unterzeichnung
eines antiperonistischen Manifests seines Postens als Bibliothekar enthoben
und strafversetzt wurde auf einen Posten als Geflügelinspektor der städtischen
Marktaufsicht. Jorge Luis Borges war zum damaligen Zeitpunkt freilich längst
ein profilierter und eigenständiger Schriftsteller. Bereits 1944 hatte er den Gro-
ßen Preis des argentinischen Schriftstellerverbandes erhalten, um zwischen
1950 und 1953 dessen Präsident zu werden: Längst war er als einer der führen-
den Autoren des Landes anerkannt. Seit den zwanziger Jahren war Borges
durch Gedichtbände hervorgetreten, hatte sein erzählerisches Werk aber dann
seit den dreißiger Jahren konsequent weiterentwickelt. Es sollten vor allem
diese Erzählungen sein, die ihn weltberühmt machten. Die beiden bedeutends-
ten Sammlungen seiner Erzählungen sind zum einen seine Ficciones (1944) und
zum anderen El Aleph (1949). Sie begründeten in der Tat seinen internationalen
Ruhm. Mit dem friktionalen Spiel der borgesianischen Fiktionen können wir
uns an dieser Stelle jedoch nicht noch einmal auseinandersetzen.
     Nach der Absetzung Peróns wurde Borges 1955 von der Militärregierung
zum Direktor der Nationalbibliothek bestellt; ein Amt, das er bei zunehmender
Erblindung bis 1983 bekleidete. Auf diese Weise wurde er nach José Mármol
und Paul Groussac zum dritten großen Schriftsteller in der argentinischen Lite-
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn           853

raturgeschichte, der erblindet die Leitung dieser größten Bibliothek Argentini-
ens übernahm.
     Die internationale Anerkennung wuchs beständig und weitete sich längst
über die Grenzen Europas – wo Frankreich und Italien die ersten großen An-
satzpunkte seines beeindruckenden schriftstellerischen Renommees waren –
auch in die USA aus. So wurde Borges immer häufiger zu Gastdozenturen und
-aufenthalten nach Europa und an die großen US-amerikanischen Universitä-
ten eingeladen. Mit dem Ruhm wuchsen auch die Feinde, vor allem im literarischen
Feld Argentiniens. Während des sogenannten ‚Boom‘ der lateinamerikanischen Li-
teraturen mit Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos
Fuentes geriet Borges sowohl international als auch in Argentinien unter erhebli-
chen politischen Druck, da man ihm eine ideologisch rechte Position, Kollaboration
mit der Militärregierung und mangelndes politisches Gespür bescheinigte. Doch
über die Jahrzehnte wurde es still um derlei Anfeindungen: Die Schriftsteller Argen-
tiniens fügten sich in ihr Schicksal, das Jahrhundert mit Borges teilen zu müssen.
Dort wurde man sich zunehmend der Tatsache bewusst, wie ‚argentinisch‘ Borges
schrieb, und vereinnahmte ihn zusehends nun als nationalen Schriftsteller. Spätes-
tens mit Beatriz Sarlos Buch über Jorge Luis Borges16 wurde letzterer von der (ehe-
maligen) Linken nun unter kulturtheoretischen Vorzeichen als herausragender
argentinischer Autor anerkannt: Nichts stand mehr im Wege, Jorge Luis Borges in
die große Ikone der Literatur und Kultur seines Heimatlandes zu verwandeln.
     Der „politische Dinosaurier“, wie ihn Ernesto Sábato einmal nannte, hat seine
Erblindung als Autor und Mensch nicht nur ertragen, sondern in eine kreative
Energie verwandelt, die ihn von allen anderen Schriftstellern abhob. Seine Augen
waren für ihn eine dauerhafte Belastung, sicherlich auch ein Schmerz, bildeten
aber zugleich den schöpferischen Antrieb für eine an Überraschungen reiche
internationale Laufbahn. 1986 heiratete er – seine Mutter war 1975 neunundneun-
zigjährig verstorben – seine langjährige Sekretärin María Kodama und das Paar
übersiedelte nach Genf. Dort starbt Borges am 14. Juni 1986, mit internationalen
literarischen Auszeichnungen und Preisen überhäuft – mit Ausnahme des Litera-
turnobelpreises, der ihm wohl auf Grund seiner zweideutigen Aussagen zur Nazi-
Geschichte versagt blieb.
     Die internationale Rezeption des hispanoamerikanischen Modernismo be-
schränkte sich zum größten Teil noch auf die spanischsprachige Welt. Eine
neue Phase europäisch-lateinamerikanischer Literaturbeziehungen begann je-

16 Vgl. Sarlo, Beatriz: Jorge Luis Borges. A Writer on the Edge. Edited by John King. London –
New York: Verso 1993.
854          Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn

doch nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Rezeption des erzählerischen
Werkes von Jorge Luis Borges. Freilich gilt es, hierbei nicht die Tatsache zu ver-
gessen, dass lateinamerikanische Lyrikerinnen wie Gabriela Mistral und Juana
de Ibarbourou noch in der ersten Jahrhunderthälfte mit ihren Schöpfungen ein
Lesepublikum erreichten, das sich keineswegs mehr auf die Länder des Sub-
kontinents oder die hispanophone Welt begrenzen lässt; ein Faktum, auf das
ich bereits in meiner Vorlesung über die Literaturen des 20. Jahrhunderts auf-
merksam gemacht habe und das ich nicht zu wiederholen brauche.
     Zwar soll hier keineswegs das Gewicht der historischen Avantgarden in La-
teinamerika außer Acht gelassen oder übersehen werden, dass Autoren wie Al-
fonso Reyes17 sich – freilich in durchaus modernistischer Tradition – als wichtige
kulturelle Vermittler beiderseits des Atlantik große Verdienste erwarben und
Schriftsteller wie Alejo Carpentier, Vicente Huidobro oder César Vallejo als wich-
tige Gesprächspartner europäischer Autoren agierten. Zweifellos führte der Spani-
sche Bürgerkrieg – wie in seiner Folge der Aufenthalt vieler aus Hitlerdeutschland
oder Frankreich exilierter Intellektueller – zu einer Vielzahl neuer kultureller Be-
rührungspunkte; zweifellos wurden während dieser Phase jene Kommunikations-
strukturen innerhalb Lateinamerikas ausgebaut, welche seit dem letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts entstanden waren; und zweifellos gingen die literarischen
Avantgarden in Lateinamerika einen überaus kreativen eigenen Weg beim Um-
gang mit den kulturellen Traditionen Europas, die als Grundmuster nun wesent-
lich freier umgestaltet wurden.18 Gewiss lassen sich viele Entwicklungen der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne all jene transatlantischen Reisen, Vor-
stöße oder Exilsituationen nicht denken, die gerade auch zwischen den beiden
Weltkriegen die Intellektuellen, die Literat*innen und die Philosoph*innen beider
Welten miteinander ins Gespräch brachten – denken wir nur an die Rolle von
María Zambrano, von José Gaos oder anderer Intellektueller in Mexiko. Doch trotz
des in den zwanziger und dreißiger Jahren gewachsenen Selbstbewusstseins der
lateinamerikanischen Schriftsteller scheint die Rezeption lateinamerikanischer Li-
teratur in Europa noch nicht über bestimmte enge Zirkel europäischer Intellektuel-
ler hinaus gewirkt zu haben, so dass von einer Erschließung breiter europäischer
Leserschichten noch nicht gesprochen werden kann – Diese Situation aber än-
derte sich Stück für Stück und erstaunlich rapide.

17 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Orest und Iphigenie in Mexico. Exilsituation und Identitätssuche
bei José Martís und Alfonso Reyes’ Beschäftigung mit dem Mythos. In: Komparatistische Hefte
(Bayreuth) 14 (1986), S. 71–90.
18 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, insb.
S. 188 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn          855

     Dass diese neue Phase gerade mit dem Werk des Argentiniers Borges und
in Frankreich einsetzt, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, nicht
nur aufgrund der Tatsache, dass Paris – die „ville lumière“ für so viele Argenti-
nier im 19. Jahrhundert – unverkennbar zur zentralen Drehscheibe für die Re-
zeption lateinamerikanischer Literatur in Europa geworden war. Diese Rolle der
Stadt erstaunt dabei am wenigsten: Paris war nicht nur, wie Walter Benjamin
einmal formulierte,19 die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts, sie ist es
auch geblieben bis etwa in die ausgehenden siebziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts. Doch auch wenn Paris heute nicht mehr die kulturelle Hauptstadt
sein kann, da ihr andere Städte wie insbesondere New York den Rang abgelaufen
haben, so blieb es doch gerade für die Lateinamerikanerinnen und Lateinameri-
kaner in Kunst und Literatur ein zentraler Bezugspunkt ihres Schaffens.
     Wir hatten gesehen, welche Bedeutung Paris gerade für die Entwicklung der
hispanoamerikanischen Literatur der Romantik spielte – wie also von der französi-
schen Hauptstadt jene literarischen Impulse ausgingen, die zur eigenen nationalli-
terarischen Entwicklung einzelner Länder und Areas Lateinamerikas wesentlich
beitrugen. Man könnte mit guten Gründen behaupten, dass Paris eine kardinale
Funktion bei der Herausbildung nationalstaatlicher und literarischer Selbstfin-
dung in Hispanoamerika zukam, stand diese doch mit dem geokulturellen Do-
minanten-Wechsel von Madrid nach Paris in engster Verbindung.20 Paris war
das kulturelle Mekka der hispanoamerikanischen Autorinnen und Autoren des
19. Jahrhunderts gewesen; und es sollte auch über weite Strecken des 20. Jahr-
hunderts das intellektuelle Mekka für zahllose Künstler*innen, Schriftsteller*in-
nen und Philosoph*innen aus Lateinamerika bleiben. Insofern verwundert die
prägende Rolle von Paris für die Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen
im vergangenen Jahrhundert keineswegs.
     Sehr wohl aber erstaunt zumindest auf den ersten Blick die herausragende
Rolle von Jorge Luis Borges für die Wahrnehmung lateinamerikanischer Litera-
tur gleichsam auf Augenhöhe in Europa. Dabei war zu Beginn der wesentlich
von Roger Caillois initiierten Borges-Rezeption durchaus noch nicht absehbar,
dass die Ficciones oder El Aleph sich einmal ein breites europäisches Publikum
erschließen würden, wirkten sie doch zunächst vorrangig in den französischen
Intellektuellenzirkeln, aus denen sich der Neo- und Poststrukturalismus entwi-
ckeln sollte. Als Motti oder Epigraphe dienten Fragmente aus Borges’ Werk un-

19 Vgl. Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In (ders.): Das Passa-
gen-Werk. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 45–59.
20 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 279 ff.
856          Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn

gezählten Publikationen der sechziger und beginnenden siebziger Jahre als
Prä-Texte – nun nicht mehr allein in Frankreich, sondern auch in anderen euro-
päischen Ländern oder in den USA.
     Ein ganz bestimmter lateinamerikanischer Schriftsteller aus Buenos Aires war
damit – weitaus mehr als die chilenische Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral –
zum gemeinsamen Bezugspunkt breiter intellektueller Kreise im internationalisier-
ten und globalisierten Kulturhorizont geworden. Jorge Luis Borges begann, durch
die Rezeption seiner seit Beginn der dreißiger Jahre verfassten Ficciones, alle ande-
ren Autorinnen und Autoren seines Kontinents zu überstrahlen. Es handelt sich
um eine bald auch massenmedial unterstützte Entwicklung, die durch seine zu-
nehmend geschickter werdenden Interviews, in welchen der Argentinier ein ums
andere Mal seine Gesprächspartner narrte, noch verstärkt wurde.
     Dies bildete gerade für die hispanoamerikanischen Literaten eine nicht
immer leicht zu verkraftende Situation, mussten doch gerade die argentini-
schen Schriftsteller*innen ihr Jahrhundert mit Borges teilen. Man könnte daher
die These wagen, dass es in Europa bezüglich der hispanoamerikanischen Lite-
raturen zunächst zur Grundlegung eines postmodernen Lektüremusters kam,
bevor andere Lektüre-Modi dieses Muster zeitweilig überdeckten.21 In jedem
Falle lag dieses Lektüremuster zeitlich vor der Rezeption der sogenannten
‚Boom‘-Autoren, deren Erfolge endgültig die Grenzen der Goethe’schen Konzep-
tion der Weltliteratur zu sprengen begannen.
     Die Rezeption der Schriften von Jorge Luis Borges stellte gerade jene Ele-
mente in den Vordergrund, welche nicht direkt auf einen spezifisch amerikani-
schen Verweisungszusammenhang hindeuteten und den Kontext ihrer Genese
in Szene setzten. In aus europäischer Sicht durchaus legitimer Weise ging es
um den Einbau, um die kreative Anverwandlung von Elementen, die mit den
aktuellen Fragestellungen der philosophischen und literarischen Avantgarden
der späten fünfziger und vor allem der sechziger Jahre zu verbinden waren.
Dabei spielte der Borges, den der Autor selbst geschickt vor den Augen seiner
Kritiker versteckt hatte keine Rolle, also jener Borges, der sich den historischen
Avantgarden zugehörig fühlte und bekennender Ultraist war: Er blieb den euro-
päischen Kritikerinnen und Kritikern zum damaligen Zeitpunkt vollständig un-
bekannt. Borges’ ingeniöse Strategie auf dem Weg zu dem, was später als
‚Postmoderne‘ bezeichnet wurde, erwies sich als höchst erfolgreich.
     Die historischen Avantgarden in Lateinamerika können keineswegs als
glatter Bruch mit den Ästhetiken des hispanoamerikanischen Modernismo ge-

21 Vgl. hierzu ausführlich den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den histori-
schen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 494 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn   857

sehen werden. Wir müssen vielmehr vielfältige Übergänge vom Modernismo zu
den unterschiedlich zu verstehenden postmodernistischen Entwicklungssträn-
gen konstatieren, die auch und gerade jenen Spielraum eröffnen, der für die
hispanoamerikanischen Literaturen des gesamten 20. Jahrhunderts und ihre
Anverwandlungsarten literargeschichtlicher Tradition wie anderer nationallite-
rarischer Filiationen grundlegend geworden ist. Darin situieren sich auch die
historischen Avantgarden Lateinamerikas, die wir in ihrer widersprüchlichen
Haltung zum hispanoamerikanischen Modernismo bereits bei Oliverio Girondo
beobachten konnten.
     Für die Rezeptionsgeschichte von Jorge Luis Borges ist die frühe, die avant-
gardistische Lyrik des jungen argentinischen Schriftstellers folglich von ver-
nachlässigbarer Bedeutung, nicht aber mit Blick auf ein Verständnis jener
Entwicklungen der historischen Avantgarden, die wir in dieser Vorlesung ge-
genüber den Ausführungen in unseren Reflexionen über die Literaturen des 20.
und des beginnenden 21. Jahrhunderts nun aus etwas veränderter Perspektive
untersuchen. In diesem Zusammenhang interessiert uns vor allem, wie Borges
der Problematik von Zeit und Raum zu Leibe rückte.
     Hierbei sollten wir nicht vergessen, dass der Borges, mit dem wir es zwi-
schen 1919 und 1923 zu tun haben, ein wesentlicher Vertreter des Ultraismo ist,
der seine ästhetische Praxis und Reflexion in grundlegender Weise an einer
Theorie der Metapher auszurichten versuchte. Die Metapher war für diesen lite-
raturtheoretisch gebildeten Schriftsteller keineswegs bloße rhetorische Figur
oder literarisches Verfahren, sondern ebenso wie Induktion und Deduktion
eine grundsätzliche Möglichkeit des Menschen, die Welt (als Wille und Vorstel-
lung) zu denken. Die Metapher war daher nicht nur literarisch und poetolo-
gisch, sondern auch epistemologisch und philosophisch für Borges von größter
Bedeutung und Schöpfungskraft.
     Jorge Luis Borges machte damit auf Vorstellungen aufmerksam, die erst
während der letzten Jahrzehnte grundlegend untersucht wurden – denken wir
etwa an Hans Blumenbergs Metaphorologie, die gerade auch die Funktion der
Metapher auf epistemologischem Gebiet erforschte. Für Borges jedenfalls ist sie
eine grundsätzliche Erklärungsform für die Realität, eine Vorstellungsweise,
mit welcher sich der Mensch seiner Welt und ihren Erscheinungen nähert und
diese zu begreifen sucht. Die Metapher ist für den argentinischen Schriftsteller
vor allem in der Lage, verborgene Beziehungen zwischen sehr unterschiedli-
chen Phänomenen der Wirklichkeit aufzudecken und verständlich zu machen.
Diese nicht in allen Teilen originelle, aber jederzeit für ihn schöpferische Meta-
phern-Theorie ist keineswegs nur eine Errungenschaft des jungen Borges; der
argentinische Schriftsteller wird in seinem Gesamtwerk dieser Dimension sei-
nes Denkens und Schreibens eine große, vielleicht sogar entscheidende Rolle
858        Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn

einräumen. Der Metapher kommt daher bei Borges eine Funktion zu, wie sie
dem Modell und mehr noch der Modellbildung in den Wissenschaften zusteht.
     Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der spätere Borges, mithin der
Borges der dreißiger Jahre, geschickt und sehr erfolgreich versuchte, ebenso
sein lyrisches Frühwerk wie auch seine Essays und anderen Prosabände wie
etwa El tamaño de mi esperanza oder die Aufsätze zu Literatur und Ästhetik aus
dem Verkehr zu ziehen und seine avantgardistische Phase aus dem öffentlichen
Bewusstsein zu tilgen. Dabei ‚stahl‘ er nicht nur in Bibliotheken seine frühen
Werke, sondern beabsichtigte hintersinnig, in späteren Publikationen, Vorwor-
ten und Erläuterungen seine Spuren zu verwischen und völlig neue Kontexte für
seine frühen Veröffentlichungen – wo sie sich nicht mehr kaschieren ließen – zu
erfinden oder in Interviews falsche Pisten auszulegen. Borges, dessen später so
grundlegende Ästhetik der Fälschung weltweit Furore machen sollte, wurde
nicht zuletzt Fälscher seiner eigenen Schriften, seiner eigenen Geschichte.
     So deutete der Borges von 1969, längst als einer der ‚Väter‘ der Postmo-
derne ausgerufen, seinen 1923 erschienen Gedichtband Fervor de Buenos Aires
um, indem er ihn in eine kontinuierliche Entwicklung seines Schreibens stellte,
das von Anfang an im Zeichen von Schopenhauer und Whitman gestanden
habe. Man müsse nur ein wenig an den Texten feilen, damit sie diese vielleicht
zunächst noch verborgene Kontinuität preisgäben. Borges verhielt sich nicht
anders als viele Schriftsteller vor ihm, nur medientechnisch versierter. Wir
könnten auf Flaubert und seine erste Education sentimentale verweisen, auf
den frühen Balzac, der sich nicht mehr gerne an seine ersten Romane erinnerte,
an den jungen Jules Verne, der seinen Romanerstling nicht mehr veröffent-
lichte, oder im lateinamerikanischen Bereich auch an Vicente Huidobro, der
seine frühe modernistische Lyrik möglichst rasch einzuordnen versuchte in
jenen „Creacionismo“, den er schon – eine kleine Änderung auf dem Titelblatt
genügte – vor seiner Reise nach Frankreich und vor seiner Begegnung mit Re-
verdy erfunden haben wollte. Doch nicht alles ließ sich vom späten Borges ein-
verleiben, gleichsam kannibalisieren.
     Denn es gab viele Berührungspunkte mit den historischen Avantgarden ins-
besondere am Río de la Plata und dabei auch mit Oliverio Girondo, wie bereits
erwähnt einem der Mitbegründer der avantgardistischen Zeitschrift Martín Fierro.
Jorge Luis Borges war in jenen Jahren die eigentliche Galionsfigur dieser Zeit-
schrift, die zwischen 1924 und 1927 eine kaum zu überschätzende Rolle innerhalb
des literarischen Feldes Argentiniens spielte; eine Zeitschrift, in der Gedichte der
hispanoamerikanischen Avantgarden, aber auch der jungen Franzosen oder
auch Texte von James Joyce erschienen, an dessen Schriften sich Borges wohl als
erster spanischsprachiger Übersetzer wagte. Die Autoren dieser Gruppe waren
auf der Höhe der Zeit. Dies galt in besonderem Maße für Borges, der nicht nur
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