OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut

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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
OSTEUROPAFORSCHUNG
IM WANDEL DER ZEIT

EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS

    2021/2022

    Herausgegeben von:

    CLEMENS GÜNTHER
    TATIANA KHARKOVA
    MIHAI VARGA

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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
8. FORSCHUNG IN OSTEUROPA
                                                              UNTER DRUCK –
Inhaltsverzeichnis                                            WISSENSCHAFTSPOLITIK IN
                                                              AUTORITÄREN SYSTEMEN IM
EINLEITUNG                                                    VERGLEICH
Clemens Günther, Mihai Varga .......... 3                     Josephin Bretschneider, Jakob Burger,
                                                              Anna Khaerdinova, Jonas Ksienzyk,
1. MACHT POLITIK FORSCHUNG                                    Aleksandar Ljubomirović und Juri
ODER FORSCHUNG POLITIK?                                       Marschall .......................................... 37
Thilo Dekant, Lea Feldhaus, Paola
Galwas, Henri Koblischke und                                  9. FORSCHUNG UND ERINNERUNG
Valentina Sanduljak ............................ 8            AN DEN
                                                              NATIONALSOZIALISTISCHEN
2. 1968 AM OEI – EINE                                         GENOZID AN DEN SINTI & ROMA IN
ANNÄHERUNG AN DIE                                             DEUTSCHLAND UND POLEN. ORTE,
VERGANGENHEIT. IM GESPRÄCH.                                   AKTEUR:INNEN, ENTWICKLUNGEN
IM ARCHIV                                                     Léna Mücke, Johann Stephanowitz,
Anusch Arash, Elisa Eveilleau und                             Stefan Strietzel, Daniel Styczynski,
Lukas Daub ...................................... 12          Sophia Othmer und Cosmas Tanzer 42

3. FEMINISTISCHE FOSCHUNG –                                   10. GEOPOLITISCHE MANÖVER:
FRÜHER UND HEUTE                                              DER UMZUG DER CEU VON
Florica Barth, Myriel Baumgart, Felix                         BUDAPEST NACH WIEN
Duckert, Laura Höner und Maria                                Vitali Fischer, Aleksandar Kerošević,
Strejckova ......................................... 17       Anne Lemke und Fabio Thieme ....... 45

4. FRAUEN IN DER WISSENSCHAFT                                 11. POLITISIERUNG HISTORISCHER
AM BEISPIEL DES OSTEUROPA-                                    FORSCHUNG: ANERKENNUNG DES
INSTITUTS                                                     HOLODOMOR ALS GENOZID AM
Klaudia Broßzeit ............................... 21           UKRAINISCHEN VOLK
                                                              Vladislav Ivanov, Margarita Kayanja,
5. NORD STREAM 2 – PROBLEME                                   Maria Kireenko und Anastasiia Maga-
UND HERAUSFORDERUNGEN DER                                     zova .................................................. 48
OSTEUROPAFORSCHUNG
Fiete Lembeck, Olivera Tornau und
Benjamin Vogel ................................ 24

6. PROJEKT: QUEER (RESEARCH)
IN POLAND AND RUSSIA
Andrey Dimitriev, Veronika Haluch,
Nicole Malodobry, Lidia Mgebrishvili
und Franziska Pullmann ................... 28

7. STUDIEREN AM OEI – GESTERN
UND HEUTE
Michael Derho, Maximilian Lauer und
Amy Zimmermann ............................ 34

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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
Einleitung                                         neue Abteilungen wurden eingerichtet,
                                                   eine Fachbibliothek wurde aufgebaut
2021 feiert das Osteuropa-Institut (OEI)           und Forschungsprojekte mit internatio-
der FU Berlin sein siebzigjähriges Jubi-           nalen Kooperationspartnern konnten
läum. Durch den Zusammenbruch der                  realisiert werden.
nationalsozialistisch kompromittierten
Ostforschung nach dem Zweiten Welt-                Die Erforschung der Welt jenseits des
krieg und dem Verlust ihrer ehemaligen             Eisernen Vorhangs war im Kalten Krieg
Zentren in den nun verlorenen Ostge-               eine eminent politische Angelegenheit.
bieten galt es, neue Strukturen der Be-            So gab es von politischer Seite durch-
schäftigung mit Osteuropa zu etablie-              aus Interesse, das Osteuropa-Institut
ren. Diese Strukturen sollten sich dabei           als Stätte der Feindbeobachtung und -
nicht nur in kritischer Distanz zur bishe-         aufklärung zu instrumentalisieren, dem
rigen Forschung über Osteuropa befin-              sich die Wissenschaftler vor Ort aller-
den, sondern auch den neuen Realitä-               dings geschickt entzogen (Stegelmann
ten des Kalten Krieges gerecht werden.             2015: 164). Anstatt zur Speerspitze des
Nach einigen Überlegungen über Ort                 Antikommunismus zu werden, wurde
und Zuschnitt eines neuen Osteuropa-               das Institut in den 1960er Jahren gar zu
Instituts traf man im Herbst 1950 die              einem der Bezugspunkte der aufkom-
Entscheidung, dieses Institut in Berlin            menden Studentenbewegung. Ursula
anzusiedeln. An der FU Berlin nahm                 Stegelmann spricht von Hans-Joachim
Georg Kennert die aus der Bundespoli-              Lieber, der damals Professor für Sozio-
tik kommenden Vorschläge auf und ent-              logie am OEI war, als „Ziehvater der
wickelte Ideen für ein solches Institut,           Linken“ (Stegelmann 2015: 175). Rudi
das sich vor allem Russland und der                Dutschke arbeitete später gar als Stu-
Sowjetunion, aber auch Mittel- und                 dentische Hilfskraft am Osteuropa-Insti-
Südosteuropa widmen sollte. Am 24.                 tut.
November 1951 wurde das Osteuropa-
Institut schließlich feierlich eingeweiht.         In den 1970er Jahren konnte das Ost-
(Baske 2011: 97f.)                                 europa Institut bei der Deutschen For-
                                                   schungsgemeinschaft (DFG) einen
Von Beginn an war das Osteuropa-                   Sonderforschungsbereich (SFB) zum
Institut interdisziplinär strukturiert. Hier       Thema „Die Sowjetunion und ihr Ein-
sollten sozial- und geisteswissenschaft-           flussbereich seit 1917. Industrialisie-
liche Disziplinen in einen Dialog treten           rung und Gesellschaft in der Sowjet-
und in gemeinsamen Forschungspro-                  union“ einwerben. Das Projekt diente
jekten historische und gegenwartsbezo-             einerseits als Katalysator für eine ge-
gene Fragen zu Osteuropa erforschen.               genwartsrelevante         Osteuropafor-
Von Beginn an wurde am OEI auch ge-                schung, zeigte aber auch die Heraus-
lehrt, wobei es auch Ergänzungslehr-               forderungen interdisziplinärer Arbeit am
gänge für junge Berufstätige gab, die              Institut. So war unklar, welchen Aussa-
sich mit Osteuropa intensiver beschäfti-           gewert das Totalitarismusmodell noch
gen wollten (vgl. Lieber 1963: 53). In der         für die Erforschung der Sowjetunion ha-
Folge expandierte das OEI schnell:
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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
ben konnte und sollte. Außerdem er-              Das Seminar
wies es sich als schwierig, die gefor-           Das Projektseminar „Osteuropafor-
derte Interdisziplinarität in der For-           schung im Wandel der Zeit“, das im
schung auch tatsächlich umzusetzen.              Wintersemester 2020/21 und im Som-
Auch deshalb stiegen wichtige Wissen-            mersemester 2021 stattfand, nimmt das
schaftler aus dem SFB aus. (vgl.                 Institutsjubiläum zum Anlass, um nach
Stegelmann 2015: 194-200) Die damals             der Geschichte und Gegenwart der Ost-
verhandelten Fragen der epistemologi-            europaforschung und der Forschung in
schen Grundlagen der Erforschung au-             Osteuropa zu fragen.
toritärer Regime und der Möglichkeit in-
terdisziplinärer Kooperation, die zwi-           Wissenschaftsforschung ist dabei ein
schen einem regional- und einem fach-            interdisziplinäres Querschnittsthema,
wissenschaftlichen Ansatz vermitteln             das für alle am OEI vertretenen Diszip-
muss, beschäftigen die Osteuropafor-             linen von Interesse ist. Politisch lässt
schung und damit auch das OEI bis                sich nach den institutionellen Voraus-
heute.                                           setzungen von Wissenschaftspolitik so-
                                                 wie nach Möglichkeiten der nationalen
Mit dem Ende des Kalten Krieges geriet           und internationalen Steuerung von Wis-
die Osteuropaforschung in eine Identi-           senschaft fragen. Soziologisch interes-
tätskrise. Die bislang verfolgten For-           sieren u.a. organisationale und wis-
schungsfragen und -strukturen schie-             senssoziologische Fragen. In der Ge-
nen nach dem Ende des Systemgegen-               schichtswissenschaft ist die Wissen-
satzes nicht mehr geeignet und die po-           schaftsgeschichte ein anerkannter Teil-
litische Relevanz der Osteuropafor-              bereich, der sich der historischen Ge-
schung nahm ab. Am Osteuropa-Institut            nese von Forschungsparadigmen, aber
nahm man sich zwar den nun aufkom-               auch von Strukturen, Methoden und
menden Fragen der Transformations-               Theorien widmet. Die Volkswirtschafts-
prozesse schnell an, was sich u.a. in            lehre fragt u.a. nach dem wirtschaftli-
der Etablierung eines Graduiertenkol-            chen Wert akademischer Institutionen.
legs zu diesem Thema 1991 äußerte.               Die Kulturwissenschaften interessieren
Dies konnte aber nicht verhindern, dass          sich schließlich für kulturelle Spezifika
das Osteuropa-Institut im Verlauf der            einzelner Wissenschaftsverständnisse
1990er Jahre in eine Krise geriet. Lehr-         und für die textuelle Form wissenschaft-
stühle wurden abgebaut und die Exis-             licher Ergebnisse.
tenz des OEI stand in Frage.
                                                 Trotz ihrer interdisziplinären Anschluss-
Mittlerweile konnte sich das Institut kon-       fähigkeit fristen wissenschaftspoliti-
solidieren und begleitet in nun fünf Ab-         sche, -kulturelle, -historische, und -sozi-
teilungen (Politik, Soziologie, Volkswirt-       ologische Fragestellungen in den ost-
schaft, Geschichte, Kultur) aufmerksam           europabezogenen Area Studies ein Ni-
und gespannt die gesellschaftliche Ent-          schendasein. Zwar gibt es viele histori-
wicklung in Osteuropa.                           sche Untersuchungen zur Entwicklung
                                                 im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. Ambur-
                                                 ger 1987, Arend 2020), während des

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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
Sozialismus (u.a. Esakov 1971, Shey-           Ausstellungen einer breiteren Öffent-
nin 1978, Fortescue 1990) und zur              lichkeit zugänglich gemacht. Schließlich
Transformationszeit (u.a. Mayntz/Schi-         trägt das diesjährige Thema des Pro-
mank/Weyngart 1995, Graham 2008),              jektkurses auch zur kritischen Selbst-
aber nur relativ wenige gegenwartsbe-          verständigung über die eigene Rolle als
zogene Studien mit allgemeinerem               Osteuropaforscher:in sowie über Insti-
Charakter.                                     tutionen der Osteuropaforschung bei.

Osteuropaforschung umfasst im Semi-            Forschung über Osteuropa
narkontext zwei Bedeutungsdimensio-            Die erste Sektion der Berichte umfasst
nen, die eng miteinander verschränkt           Forschungsarbeiten zur Geschichte
sind: Forschung in und Forschung               und Gegenwart der deutschen Osteuro-
über Osteuropa. Fünf der Projektgrup-          paforschung. Drei der Projekte beschäf-
pen beschäftigten sich, überwiegend            tigen sich mit dem Osteuropa-Institut
am Beispiel des Osteuropa-Instituts, mit       und seiner Geschichte. Die Gruppe
der Genese und Aktualität der Osteuro-         1968 am Osteuropa-Institut widmet sich
paforschung an der FU Berlin, sechs            dem Schlüsseljahr 1968 und schaut,
Projektgruppen widmeten sich aktuel-           u.a. in Form eines ausführlichen Inter-
len und historischen Fragen der Wis-           views mit Gretchen Dutschke-Klotz, auf
senschaftsforschung in Osteuropa. Das          die Rolle des OEI während der damali-
Untersuchungsfeld erstreckt sich dabei         gen Studentenproteste. Die Gruppe
über eine Vielzahl osteuropäischer Län-        Frauen in der Wissenschaft blickt auf
der, von Polen, über die Tschechische          die Karriere von Wissenschaftlerinnen
Republik, Ungarn, Serbien, die Ukraine         am OEI und untersucht deren Heraus-
bis nach Russland.                             forderungen und Handlungsstrategien.
                                               Die Gruppe Studieren am OEI ver-
Die tiefere Beschäftigung mit der ge-          gleicht am Beispiel aktueller Studieren-
genwärtigen und historisch gewachse-           der und Absolvent:innen aus den
nen Wissenschaftslandschaft in Osteu-          1990er Jahren, wie sich die Bedingun-
ropa bietet den Studierenden dabei viel-       gen und Formen des Studiums am OEI
fältige Möglichkeiten. Sie erschließen         im Laufe der Zeit wandelten.
sich eigenständig bislang wenig bear-
beitete Themenfelder und entwickeln            Zwei Projekte beschäftigen sich mit ak-
hierfür ein methodisches und theoreti-         tuellen Fragen der v.a. politikwissen-
sches Design. Im Kontext des Seminars          schaftlichen Osteuropaforschung. Die
lernen die Studierenden Interviews vor-        Gruppe Macht Forschung Politik? er-
zubereiten, durchzuführen und auszu-           weitert das Untersuchungsfeld über das
werten, sie machen sich vertraut mit           OEI hinaus und blickt auf Formen und
Methoden der archivalischen For-               Funktionen der Politikberatung in der
schung und der Auswertung histori-             gegenwärtigen     Osteuropaforschung.
scher Quellen. Die gewonnenen Ergeb-           Die Gruppe zu Nord Stream 2 blickt auf
nisse werden dabei in Form individuell         das umstrittene Pipelineprojekt aus der
gewählter Endprodukte wie Blogs, Po-           Perspektive der Regionalforschung und
dcasts, Dokumentarfilme oder (Online-)

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fragt, wie und in welchem Ausmaß Fa-            Ebenso umstritten wie Genderthemen
chexpertise in der deutschen Diskus-            sind in vielen osteuropäischen Ländern
sion über das Projekt eine Rolle spielte.       geschichtswissenschaftliche Forschun-
                                                gen. Zwei Projektgruppen blicken in das
Forschung in Osteuropa                          historiographische Feld. Die Gruppe
In den letzten Jahren lässt sich eine be-       Forschung und Erinnerung an den nati-
denkliche Zunahme staatlicher Inter-            onalsozialistischen Genozid an den
ventionen in die Wissenschaft beobach-          Sinti und Roma in Deutschland und Po-
ten. Dies betrifft zwar nicht nur Osteu-        len schaut sich an, wie der lange Zeit
ropa, scheint dort aber besonders präg-         verdrängte und wenig beachtete Völ-
nant: Universitäten und Studiengänge            kermord an den Sinti und Roma gegen-
verlieren ihre Akkreditierung und müs-          wärtig und historisch in Deutschland
sen im Regelbetrieb mit Schikanen               und Polen erinnert wird. Sie befragt er-
rechnen, unliebsame Wissenschaft-               innerungskulturelle Akteur:innen und
ler:innen werden entlassen oder in die          analysierte die Orte der Erinnerung. Die
Emigration getrieben, Finanzmittel wer-         Gruppe zum Holodomor untersucht die
den gekürzt und internationale Koope-           Arbeit der deutsch-ukrainischen Histori-
rationen erschwert. In den Medien fin-          kerkommission und interessiert sich vor
den sich für diese und ähnliche Vorfälle        allem für die Politisierung der For-
viele Beispiele, aber nur selten werden         schung zum Holodomor und die umstrit-
diese in einen größeren Zusammen-               tene Frage, ob dieser als Genozid be-
hang eingeordnet. Eben das ist das Ziel         zeichnet werden solle.
der sechs Projektgruppen, die sich mit
der Forschung in Osteuropa beschäfti-           Arbeiten die vier genannten Gruppen
gen.                                            vorwiegend themenbezogen, so inte-
                                                ressieren sich die beiden letzten Grup-
Zwei Projektgruppen widmen sich dem             pen für wissenschaftliche Institutionen.
Zustand feministischer und genderbe-            Die Gruppe zum Umzug der CEU von
zogener Forschung in Osteuropa. Die             Budapest nach Wien blickt auf den
Gruppe Feministische Forschung früher           kürzlichen Umzug der prestigeträchti-
und heute untersucht am Beispiel                gen Central European University von
Tschechiens und Russland die Entwick-           Budapest nach Wien, nachdem diese
lung feministischer Forschung in beiden         ihre Lehrerlaubnis in Ungarn verlor. Sie
Ländern und gibt einen Überblick von            untersucht die Motive für das Verbot
der spätsozialistischen Zeit bis in die         und spricht mit Beteiligten, die als Stu-
Gegenwart. Die Gruppe Queer Rese-               dierende oder Lehrende den Umzug er-
arch in Poland and Russia untersucht            lebten. Die Gruppe Wissenschaftspoli-
ebenfalls vergleichend die Probleme,            tik in autoritären Systemen vergleicht
mit denen die Forschung zu queeren              schließlich einige jüngere Vorfälle an
Themen in beiden Ländern konfrontiert           russischen, ungarischen und serbi-
ist und sucht nach den Gründen für und          schen Universitäten, deren Gemein-
den Antwortstrategien der Forschenden           samkeiten in der Infragestellung akade-
auf diese Problemlagen.

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mischer Unabhängigkeit und der politi-                    Freien Universität Berlin (Hg.): Fünfzehn
schen Instrumentalisierung von Wis-                       Jahre Freie Universität Berlin, S. 52–54.

senschaft liegen.
                                                         Mayntz, Renate; Schimank, Uwe; Weingart, Pe-
                                                          ter (Hg.): Transformation mittel- und osteuro-
Die vorliegende Broschüre vereint die                     päischer Wissenschaftssysteme: Länderbe-
Ergebnisse des Jahrgangs 2020/21.                         richte. Opladen: Leske + Budrich, 1995.
Der Dank für die Erstellung und Redak-
                                                         Sheynin, Ju.: Science Policy: Problems and
tion der Broschüre geht an die Gruppen                    Trends. Moscow: Progress, 1978.#
und die studentische Hilfskraft Tatiana
Kharkova. Ein Dank geht außerdem an                      Stegelmann. Ursula: Das Berliner Osteuropa-
das Osteuropa-Institut, das den Kurs                      Institut: Organisationsbiografie einer interdis-
großzügig finanziell unterstützte und an                  ziplinären Hochschuleinrichtung 1945 – 1976.
                                                          Frankfurt am Main: PL Academic Research,
alle Workshopleiter:innen.                                2015.

          Clemens Günther, Mihai Varga

Literatur

Amburger, Erik (Hg.): Wissenschaftspolitik in
 Mittel- und Osteuropa: Wissenschaftliche Ge-
 sellschaften, Akademien und Hochschulen im
 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Essen:
 Hobbing, 1987.

Arend, Jan (Hg.): Science and Empire in East-
 ern Europe: Imperial Russia and the Habs-
 burg Monarchy in the 19th Century. Göttingen:
 Vandenhoeck & Ruprecht, 2020.

Baske, Siegfried: Das Osteuropa-Institut der
 Freien Universtität Berlin, in: Kubicki, Karol;
 Lönnendonker, Siegward (Hg.): Die Kultur-
 und Ethnowissenschaften an der Freien Uni-
 versität Berlin, Berlin 2011, S. 97-122.

Esakov, V.: Sovetskai´ja nauka v gody pervoj
 pjatiletki: Osnovnye napravlenija gosudarst-
 vennogo rukovodstva naukoj. Moskva: Nauka,
 1971.
Fortescue, Stephen: Science Policy in the So-
 viet Union.London: Routledge, 1990.

Graham, Loren; Dezhina, Irina: Science in the
 New Russia: Crisis, Aid, Reform. Blooming-
 ton: Indiana University Press, 2008.

Lieber, Hans-Joachim: Das deutsche Zentrum
  der Osteuropa-Forschung. Das Osteuropa-
  Institut an der Freien Universität, in: AStA der

                                                     7
OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
1. Macht Politik Forschung                      der konkrete Einfluss bestimmter politi-
                                                scher Beratung auf die politische Ent-
oder Forschung Politik?                         scheidungsfindung meist nicht zurück-
                                                verfolgen lässt, gilt es, andere Kriterien
WISSENSCHAFTLICHE POLITIKBERATUNG               zur Bewertung „guter“ Politikberatung
IN DEUTSCHLAND WÄHREND DER RUSS-                heranzuziehen.
LAND-UKRAINE-KRISE
                                                Fallauswahl und Relevanz
                                                Wir rücken die Politikberatung während
                                                der Russland-Ukraine-Krise (2013 bis
                                                2015) in den Fokus unserer Analyse.
                                                Nach dem Zusammenbruch der Sowjet-
Bild © Projektgruppe                            union und dem Ende des Kalten Krie-
                                                ges sank die Nachfrage nach Osteuro-
                                                paforschung und seiner Expertise, weil
Thilo Dekant, Lea Feldhaus, Paola
                                                der Westen sich nicht mehr vom “Ost-
Galwas, Henri Koblischke und Valen-
                                                block” bedroht fühlte. Die völkerrechts-
tina Sanduljak
                                                widrige Annexion der Krim (2014) durch
                                                Russland sorgte für schwere Unruhen
Abstract
                                                im Osten der Ukraine. Ein Abebben die-
In unserem Projekt widmen wir uns der
                                                ser Unruhen war nicht in Sicht, weshalb
wissenschaftlichen Politikberatung in
                                                die Auseinandersetzungen für das „er-
Deutschland. Dazu untersuchen wir, ob
                                                forderliche Adrenalin“ in Europa sorg-
und in welchem Umfang in Deutschland
                                                ten. Ein Krieg mitten in Europa konnte
wissenschaftliche Politikberatung vor
                                                nicht ohne Auswirkungen auf die restli-
dem Hintergrund der Russland-Ukra-
                                                che Welt bleiben. Das plötzliche und
ine-Krise stattgefunden hat. Hierfür ha-
                                                unerwartete      Handeln      Russlands
ben wir Expert:inneninterviews durch-
                                                machte dieses außenpolitisch zu einem
geführt und analysiert und diese
                                                unberechenbaren und gefährlichen
schließlich für eine Podcastreihe aufbe-
                                                Partner. Die fehlende Kooperationsbe-
reitet, um das komplexe und ambiva-
                                                reitschaft und Provokationen der russi-
lente Feld der wissenschaftlichen Poli-
                                                schen Seite zeigten, wie groß der Be-
tikberatung einem breiteren Publikum
                                                darf an Russland- und Osteuropaken-
zugänglich zu machen. Zusätzlich ha-
                                                ner:innen tatsächlich ist.
ben wir unser Projekt mit einem Work-
                                                Zusammenarbeit zwischen Politikbera-
In-Progress Blog (https://userblogs.fu-
                                                tung und Politik nimmt in Zeiten akuter
berlin.de/macht-forschung-politik/) be-
                                                Krisen zu. Diese sind ein Signal für „real
gleitet. Wir konnten herausfinden, dass
                                                time“-Reaktionen und handlungsrele-
Politikberatung in erster Linie eine Ent-
                                                vantes Wissen. Die Osteuropafor-
scheidungsgrundlage für Politiker:innen
                                                schung wurde von der Russland-Ukra-
darstellen soll, basierend auf einer Auf-
                                                ine-Krise erschüttert und musste im
bereitung von Fakten, möglichen Zu-
                                                Zuge dessen Bereitschaft zeigen, Ein-
kunftsszenarien und Handlungsoptio-
                                                schätzungen, Prognosen und Hand-
nen. Beide Seiten, sowohl die der Wis-
                                                lungsempfehlungen        auszusprechen,
senschaft als auch die der Politik, ge-
                                                um von der Politik als operative Politik-
ben an, von dem Austausch zu profitie-
                                                beratung, die juristische Normen und
ren, sie erkennen jedoch auch ein Prob-
                                                politische Abläufe kennt, verstanden
lem in der immerwährenden zeitlichen
                                                und angefordert zu werden. Um ein
Knappheit. Insbesondere die Wissen-
                                                Verständnis für Politikberatung zu ge-
schaft muss sich dabei dem schnellen
                                                winnen, bietet sich die Russland-Ukra-
politischen Geschäft anpassen. Da sich
                                                ine-Krise als international und politisch
                                            8
OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
relevantes Fallbeispiel     dementspre-          grundsätzliche Vorgänge in der wissen-
chend gut an.                                    schaftlichen Politikberatung zu verste-
                                                 hen.
Methodisches Vorgehen
Um unsere Fragen beantworten zu kön-
nen, hielten wir es für sinnvoll, unsere
Literaturrecherche mit praktischen Er-
fahrungen der jeweiligen Berater:innen
bzw. Beratenden zu verknüpfen. Wir
suchten          spannende          Inter-
viewpartner:innen, die möglichst wäh-
rend unserer Untersuchungsperiode
“aktiv” und mit der Problematik rund um
die Ostukraine und dem osteuropäi-
schen Raum konfrontiert waren. Infrage
kamen Politiker:innen oder Referent:in-
nen, die in der Außenpolitik (Auswärti-
ges Amt, Bundesregierung, o.Ä.) be-              Bild von Pixabay
schäftigt waren und die Russland-Ukra-
ine-Krise “live” miterlebten. Außerdem           2. Episode
benötigen wir Expert:innen (Regio-               In unserer zweiten Episode wollen wir
nalspezialist:innen,       Osteuropafor-         die Frage beantworten: Was ist eigent-
scher:innen), welche in der wissen-              lich Politikberatung und wie läuft sie ab?
schaftlichen Politikberatung tätig waren         Um diese Frage zu beantworten, neh-
und bei der Untersuchung der Vor-                men wir unsere Daten aus den Inter-
kommnisse während der Russland-Uk-               views und spielen hier auch zwei inte-
raine-Krise mitwirkten (bspw. Centre for         ressante Interviewausschnitte ein.
European Policy Studies, Wirtschafts-            “Also im Prinzip geht es [bei Politikbera-
forschung, Osteuropainstitute verschie-          tung] darum, eine bessere Entschei-
dener Hochschulen).                              dungsgrundlage zu schaffen für Ent-
                                                 scheidungsträger:innen, indem sie mit
1. Episode                                       den Argumenten vertraut [gemacht wer-
Die erste Episode unseres Podcasts               den], die für eine gewisse Politik oder
stellt eine Einleitungsfolge dar. Wir ha-        gegen eine andere sprechen” (ano-
ben verschiedene steile Thesen rund              nyme:r Interviewpartner:in). Dazu nutzt
um den Konflikt zwischen Russland und            man verschiedene direkte und indirekte
der Ukraine 2013-2014 aus unter-                 Kanäle, unter anderem (in-)formelle
schiedlichen Blickwinkeln diskutiert, um         Gespräche, Veranstaltungen, Studien
die Konfliktbehaftung und auch die Re-           und Policy Paper und Medienauftritte.
levanz der Thematik zu verdeutlichen.            Hierzu kommen Politikberatungsange-
Um auch Hörer:innen zu erreichen, die            bote von verschiedenen Akteuren, wie
noch nicht mit allen Details des Kon-            Privatpersonen, Beratungsagenturen,
flikts und seiner Bedeutung für die inter-       Stiftungen oder Universitäten, die so
nationalen Beziehungen vertraut sind,            versuchen, Einfluss auf politische Ent-
haben wir außerdem ein Interview mit             scheidungen zu nehmen.
der Historikerin und Ukraine-Expertin
Dr. Ricarda Vulpius geführt. Das bes-            3. Episode
sere Verständnis des Konflikts half nicht        In den Interviews erkundigten wir uns
nur uns in unserer Arbeit, sondern ist           ebenfalls nach den Motiven der Wis-
auch für die Hörer:innen eine gute               senschaftler:innen, zu beraten. Die
Grundlage, um anhand der Thematik                meisten wollten zu einer informierteren
                                             9
OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
Debatte und wissenschaftlich fundier-            PolitikerInnen im Austausch mit Bera-
ten Entscheidungen beitragen. Eine ge-           tenden nur Zeit für eine Diskussion zu-
wisse “Expert:innenarroganz” basie-              gespitzter Statements zulassen. Durch
rend auf dem perzipierten eigenen                zeitliche Verknappung lastet ein großer
Mehrwissen spielt ebenfalls eine Rolle.          Meinungsdruck auf Beratenden, der
Darüber hinaus schätzen Wissen-                  zum Verlust von Sachlichkeit und zu
schaftler:innen aber auch den Aus-               Frust führen kann. Dennoch kann wis-
tausch mit Politikschaffenden, weil              senschaftliche Beratung stattfinden,
diese über andere und oftmals auch               was aber ein Verständnis des Politikbe-
bessere Informationen als sie selbst             triebs auf Seiten der Beratenden vo-
verfügen, sie die Überlegungen und               raussetzt. Es ist die Wissenschaft, die
Entscheidungskalküle besser nachvoll-            sich dem Rhythmus der Politik anpas-
ziehen können. Das inspiriert oft auch           sen muss. Gelingt dies, und begegnen
neue Forschung. Darüber hinaus wol-              sich beide Parteien auf Augenhöhe,
len einige Wissenschaftler:innen auch            kann ein fruchtbarer Austausch stattfin-
Einfluss nehmen und ihrem akademi-               den.
schen Wissen praktische Relevanz ver-
leihen.                                          5. Episode
Wissenschaftler:innen und Politiker:in-          In der letzten Episode unseres Po-
nen zeichnen ein ähnliches Bild, warum           dcasts setzen wir uns mit der Frage
Politiker:innen Beratung suchen. Hin-            auseinander, wie viel Einfluss wissen-
tergrundinformationen, das Herausar-             schaftliche Politikberatung auf politi-
beiten von Trends, Konstanten oder               sche Entscheidungsfindung hat. Außer-
Handlungsmechanismen spielen eine                dem diskutieren wir darüber, welche
Rolle. Ebenso erfüllt Politikberatung            Charakteristika „guter“ wissenschaftli-
eine Art “Wachtdog”-Rolle. Wissen-               cher Politikberatung sich definieren las-
schaftler:innen beobachten und weisen            sen. Dank unserer Interviewpartner:in-
Politiker:innen auf Sachverhalte hin, die        nen erkennen wir schnell, Einfluss auf
sich unter dem politischen Wahrneh-              den politischen Betrieb oder politische
mungsradar abspielen. Darüber hinaus             Akteure, lässt sich nur in Ausnahmefäl-
dient der Austausch auch dem Sparring            len und ohne Sicherheit nachvollziehen.
von Argumenten und dem Erlernen                  Wenn Input zurückverfolgt werden
neuer Handlungsoptionen, die noch                kann, dann oft, weil Formulierungen
nicht bedacht wurden.                            aus Strategiepapieren wiedererkannt
                                                 werden oder weil Entscheidungen aus
4. Episode                                       konkreten und längerfristigen Projekten
Episode 4 widmet sich den Handlungs-             hervorgegangen sind. Letztlich stellte
logiken, denen Wissenschaft und Politik          Einfluss sich aber nicht als hilfreichen
unterliegen und soll Schwierigkeiten             Frame dar. Deshalb rückten wir von un-
und Chancen aufzeigen, die sich aus              serer ursprünglichen Annahme, wissen-
der Zusammenarbeit von Beratenden                schaftliche Politikberatung sei gut,
und Beratenen ergeben. Aus den Ge-               wenn sie Einfluss hat, ab. Stattdessen
sprächen konnten wir schließen, dass             eröffnete sich uns ein Portfolio an Cha-
besonders Zeit ein Faktor ist, der dazu          rakteristika „guter“ Politikberatung.
beiträgt, dass sich Wissenschaft und             Dazu gehörten Authentizität des Bera-
Politik in einem Spannungsverhältnis
zueinander befinden. Sei es nun, weil
wissenschaftlichen Beratenden nicht
genug Zeit eingeräumt wird, umfängli-
che Analysen vorzustellen oder weil im-
mer komplexere Herausforderungen,
                                            10
tenden, Nachhaltigkeit der Kommunika-
tion und die Produktion gegenseitiger
Lerneffekte durch den Austausch.

                                        11
2. 1968 am OEI – Eine Annä-                             Projektablauf und methodisches
                                                        Vorgehen
   herung an die Vergan-                                Die damalige „Studentenbewegung”
   genheit. Im Gespräch. Im                             war prägend für die politische Ge-
   Archiv                                               schichte der alten Bundesrepublik.
                                                        Übergeordnetes Ziel von uns war, die
                                                        individuellen Erfahrungen von Zeit-
Anusch Arash, Elisa Eveilleau und Lu-
                                                        zeug:innen mit der Forschung aus jener
kas Daub
                                                        Zeit zu verbinden. Im Rahmen unseres
                                                        Podcast- und Archivprojekt haben wir
                                                        uns zum einen mit der Forschung am
                                                        OEI auseinandergesetzt: Haben sich
                                                        die Veröffentlichungen vor und nach
                                                        dem Ende der 60er-Jahre verändert?
                                                        Lassen sich Tendenzen erkennen?
                                                        Welche Entwicklungen gab es am Insti-
                                                        tut selbst?
                                                        Zum anderen möchten wir eine Platt-
                                                        form für persönliche Erfahrungen von
                                                        Zeitzeug:innen bieten: Wie haben ehe-
                                                        malige OEI-Studierende die Zeit wahr-
© Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke-Klotz,        genommen? Was für Vorstellungen und
2021                                                    Wünsche hatten sie damals? Wie bli-
                                                        cken sie heute auf die Studierenden-
Das Ziel dieses Projekts bestand darin,                 schaft, soziale Bewegungen und den
das Osteuropa-Institut 70 Jahre nach                    Universitätsbetrieb? Wie war der Kon-
seiner Gründung, aber vor allem mehr                    takt zu Studierenden an osteuropäi-
als 50 Jahre nach den Studentenpro-                     schen Universitäten?
testen 1968 zu beleuchten. Im Zuge un-                  Um Antworten auf unsere Forschungs-
serer Projektarbeit wollten wir heraus-                 fragen zu finden, wählten wir zwei An-
finden, welche Auswirkungen die Stu-                    sätze: Zeitzeug:innen-Gespräche und
dentenbewegungen und Studierenden-                      Archivrecherche. Das Zeitzeug:innen-
proteste auf das Osteuropa-Institut                     Gespräch soll erfolgen, damit ein mög-
selbst hatten, aber auch, welche Per-                   lichst ungefiltertes Bild der Erfahrungen
spektiven und Wünsche die damals be-                    der Gesprächspartner:innen wiederge-
teiligten Studierenden hatten. Wie bli-                 ben und mit unseren Recherchen ein-
cken sie heute auf die Studierenden                     geordnet werden kann. Nach einer ers-
und den Universitätsbetrieb? Wie war                    ten Recherche wurde im Zuge eines
der Kontakt zu Studierenden an osteu-                   Vorbereitungsgespräch ein Interview-
ropäischen Universitäten?                               leitfaden erarbeitet. Anhand von Doku-
Zu diesem Zweck haben wir in den Ar-                    menten, Protokollen und Zeitungsbe-
chiven des Osteuropa-Instituts recher-                  richten möchten wir außerdem die his-
chiert und ehemalige Student:innen                      torischen Überlieferungen und Entwick-
kontaktiert, um ein Zeitzeuginnen-Ge-                   lungen innerhalb der Studierenden-
spräch zu führen. Die Ergebnisse unse-                  schaft am OEI kontextualisieren.
rer Arbeit mündeten in einen Podcast                    Veröffentlicht werden unsere Ergeb-
mit Gretchen Dutschke-Klotz, der ehe-                   nisse in einem Podcast mit wechseln-
maligen Studentenaktivistin, Autorin                    den Themenblöcken. Entstehen soll so-
und Ehefrau des Wortführers der Stu-                    mit ein Projekt, welches Forschenden
dentenbewegung der 1960er-Jahre,
Rudi Dutschke.
                                                   12
als auch der interessierten Öffentlich-           FU, prägte eine Generation progressi-
keit einen Einblick in die damalige Zeit          ver Wissenschaftler, wie z.B. René Ahl-
gibt.                                             berg und Klaus Meschkat. Zu seinen
                                                  Studenten zählte auch Rudi Dutschke.
Aufbruchstimmung
Die 1968er-Jahre waren in vielerlei Hin-          Die Dutschkes am OEI
sicht eine Zeit des Aufbruchs: die Pro-           Zwei zentrale Protagonist:innen der
teste gegen den Vietnamkrieg, die anti-           Studentenbewegung studierten am
autoritäre Bewegung, demokratische                OEI: Gretchen und Rudi Dutschke. Rudi
Aufbrüche im Osten, die Niederschla-              Dutschke war zudem studentische
gung des Prager Frühlings. Neue Le-               Hilfskraft in der Abteilung Soziologie
bensweisen wurden gefordert und aus-              des Instituts. Das Ehepaar engagierte
probiert. Studentinnen und Studenten in           sich im Sozialistischen Deutschen Stu-
Berlin waren besonders aktiv in dieser            dentenbund         (SDS).    Gretchen
Bewegung. Viele bekannte Namen sind               Dutschke-Klotz war Mitbegründerin des
eng mit der FU Berlin verbunden.                  Arbeitskreises Frauen im SDS, einer
Auch am Osteuropa-Institut fand dies              Keimzelle der deutschen Frauenbewe-
seinen Niederschlag. Allerdings stand             gung. Als Studierende waren Gretchen
das Institut nicht so im Zentrum der Pro-         und Rudi Dutschke nach der Wahl Ale-
teste wie das benachbarte Otto-Suhr-              xander Dubčeks in Prag und erlebten
Institut für Politikwissenschaft. Zugleich        als Augenzeug:innen die Tage des Pra-
wandelte sich der Blick auf Osteuropa.            ger Frühlings.
Nur zwei Jahre später erkannte Willy
Brandt mit der Unterzeichnung des
Warschauer Vertrags die deutsche Ost-
grenze 25 Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs an. Sein Kniefall in
Warschau vor dem Mahnmal im ehe-
maligen Getto markierte eine neue
Phase der Auseinandersetzung mit der
deutschen Schuld.

Ein konservatives Institut?
In den Gründungsjahren des Instituts              © Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke-Klotz:
dominierten NS-belastete Professoren              Hochzeitsfoto 1965
am OEI. Mit dem Marxismus-Leninis-
mus-Projekt kamen wichtige Impulse                Gretchen Dutschke-Klotz:
aus der deutschsprachigen Exilwissen-             Dutschke-Klotz, 1942 in Oak Park, Il-
schaft und der US-amerikanischen For-             linois geboren, ist Autorin und ehema-
schung nach Berlin. Linke Intellektuelle          lige Studentenaktivistin. 1964 lernte sie
wie Franz Neumann und Herbert Mar-                Rudi Dutschke in Berlin kennen. Nach
cuse befanden sich in einem jahrelan-             kurzem Aufenthalt in den USA kehrte
gen Dialog mit den Vertretern des OEI.            sie 1965 zurück und heiratete ihn im da-
Der Historiker Werner Philipp begann              rauffolgenden Jahr. 1966 studierte sie
Anfang der 1960er Jahre selbstreflexiv            Theologie und russische Geschichte
den Bruch mit der Ostforschung öffent-            am Osteuropa-Institut FU-Berlin. Nach
lich zu fordern und neue Wege der Ost-            dem Attentat und dem Tod Rudi
europa-Forschung aufzumachen. Der                 Dutschkes verließ sie Deutschland. Seit
Soziologie-Professor     Hans-Joachim             2010 lebt sie wieder in Berlin und ver-
Lieber, von 1965 an auch Rektor der               fasste Bücher über Rudi Dutschke und
                                                  der Zeit der Studentenproteste.
                                             13
Gretchen Dutschke-Klotz: „Naja, also ich
                                                         denke wir hatten damals Hoffnung. Wir
                                                         hatten wirklich Hoffnung das das gelin-
                                                         gen würde. Ich denke schon als die Sow-
                                                         jetunion den Prager Frühling kaputt ge-
                                                         macht hat, war viel Hoffnung zerstört ge-
                                                         wesen. […] Die damalige Bewegung
                                                         wuchs damals immer mehr und mehr und
                                                         auf der ganzen Welt. Damit verbunden
                                                         war die große Hoffnung, dass sich Ver-
                                                         änderungen durchführen könnten. Und
                                                         dass man den Kapitalismus vielleicht zu
                                                         einem Ende bringen könnte und eine an-
                                                         dere Gesellschaft schaffen könnte, eine
                                                         die nicht wie die Sowjetunion und nicht
                                                         wie im Westen war. Heute? (lacht) Also
                                                         mein Eindruck ist nicht gut. Aber vielleicht
                                                         ist das Falsch. Aber was man sieht. Also
© Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke-               ich denke die Situation ist drastisch. Weil
Klotz, 2021                                              ich glaube die Umweltfrage ist sehr drin-
                                                         gend. Aber die Menschen sind nicht be-
Das      Interview     mit    Gretchen                   reit das zu tun, was notwendig ist. Sie se-
                                                         hen das nur als ein Angriff gegen sich
Dutschke-Klotz                                           und nicht als eine Hoffnung auf etwas
Gretchen Dutschke-Klotz, eine Symbol-                    Besseres. Ich kann nicht mehr mein Auto
figur der Studentenrevolte von 1968, er-                 fahren – also bin ich dagegen. Die jun-
zählte uns bei unserem Vorbereitungs-                    gen Leute müssen was machen. Ich
treffen am 16. Juni 2021 und bei der                     hoffe sie werden sagen: „Ich muss doch
                                                         was machen!“. Wenn ich an meine Enkel-
Durchführung unseres Interviews am                       kinder denke – die werden leiden!
08. Juli 2021 ihre Geschichte. Dabei
sprach sie sowohl von ihrer Ankunft in              Archivarbeit – Wie politisch war das
Berlin 1964, als auch ihre Beziehung zu             OEI?
Rudi Dutschke und ihr gemeinsames                   Die Ausrichtung des Osteuropa-Insti-
politisches Engagement.                             tuts zum Ende der 60er-Jahre lässt sich
Im Verlauf erwähnte sie ihre Verbin-                ohne bekannte Niederschriften bzw. O-
dung zu Osteuropa und beschrieb ihr                 Töne damaliger Professor:innen, die
Engagement jenseits der Türen des                   sich mit diesem Thema auseinander-
OEI-Campus, insbesondere während                    setzen, nur schwer nachvollziehen. Aus
der Zeit des Prager-Frühlings und der               dem zugänglichen Archivmaterial soll
Wahl von Alexander Dubček in der                    daher eine Annäherung versucht wer-
Tschechoslowakei, dem sie und Rudi                  den.
beiwohnten. Im Gespräch beschreibt                  Genutzt wird neben dem Archivmaterial
sie die Stimmung als hoffnungsvollen                aus dem Osteuropa-Institut eine Auflis-
Momentum auf den Prager Straßen.                    tung der wissenschaftlichen Arbeiten,
Die Proteste nahm sie „mehr wie ein                 entnommen aus den Mitteilungsblättern
großes Tanzen – als eine Demonstra-                 des „Koordinationsausschuß für Osteu-
tion“ wahr. Darüber hinaus sprach sie               ropaforschung“. Die Analyse umfasst
mit uns über die Bedeutung der damali-              die Veröffentlichungen und For-
gen Studentenbewegung und ihre Hoff-                schungsvorhaben vom 01.01.1967 bis
nung auf eine solidarischere Welt.                  zum 01.05.1971. Die Mitteilungsblätter
                                                    können als Versuch verstanden wer-
Auszug aus dem Gespräch                             den, sich innerhalb der Osteuropafor-
                                                    schung über den jeweiligen aktuellen
     Projektgruppe: „Wie schauen Sie auf die
     Herausforderungen der heutigen Zeit?“          Stand der Institutionen gegenseitig zu

                                               14
informieren. Sie enthalten Veröffentli-           Bereiche im Verhältnis zueinander wa-
chungen der Institutionen selbst, Habili-         ren, ist aus dem Archivmaterial nur
tationsschriften, Dissertationen sowie            schwer nachvollziehbar. Einzig der Be-
begonnene Forschungsvorhaben. Fer-                reich der Slawistik mit seinen drei Lehr-
ner wird über Veranstaltungen der Insti-          stühlen lässt sich als wichtigster Teil
tutionen und etwaige Personalverände-             identifizieren.
rungen informiert. Aufgeführt werden in           Mit aktuellen Geschehnissen z. B. dem
den Mitteilungsblättern Universitäten             Prager Frühling, dem Volksaufstand in
und andere wissenschaftliche Institutio-          Ungarn oder anderen Entwicklungen im
nen, die sich in ihrer Forschung mit Ost-         Ostblock bzw. in der Beziehung des
europa bzw. Südosteuropa auseinan-                Ostblocks zur BRD, befassen sich die
dersetzen.     Der      Koordinationsaus-         Veröffentlichungen und Vorhaben kaum
schuss entscheidet dabei selbstständig,           bis gar nicht. Lediglich im Bereich der
ob die jeweilige Forschungseinrichtung            Soziologie können die Titel einzelner
die Kriterien erfüllt, wie aus der Begrü-         Vorhaben mit dem Zeitgeschehen in
ßung des osteuropäischen Forschungs-              Verbindung gebracht werden. Der
bereich der Universität Köln, der sich            Großteil der Veröffentlichungen am OEI
anscheinend erfolgreich beworben                  zum Ende der 1960er-Jahre befasst
hatte, hervorgeht.                                sich mit ‚unpolitischeren‘ Themen wie
                                                  „Gewässernamen in Russland“, der
Beim Blick auf die Veröffentlichungen             „Schlacht um Kasan 1487“ oder mit
und Forschungsvorhaben des Osteu-                 dem „Verwaltungsrecht der DDR“.
ropa-Instituts der Freien Universität             Alles in allem kann angenommen wer-
wird deutlich, dass der Schwerpunkt auf           den, dass aktuelle Geschehnisse sei-
der Abteilung der Slawistik sowie auf             tens Forschung und Lehre eine unter-
dem der Wirtschaft in Osteuropa liegt.            geordnete Rolle spielten, dies wird vor
Von 65 Veröffentlichungen im beschrie-            allem im Vergleich zu anderen Instituti-
benen Zeitraum sind 15 dem Bereich                onen der Osteuropaforschung in der
der Slawistik sowie 12 dem Bereich der            BRD deutlich. Dies könnte darauf hin-
Wirtschaft zuzuordnen. Dies entspricht            deuten, dass die Zeit der 68er auf For-
einem Gesamtanteil von ca. 42 Pro-                schung und Lehre im Vergleich zu den
zent. Bei den Forschungsvorhaben wird             Studierenden kaum eine Auswirkung
allerdings deutlich, dass ihr Anteil abzu-        hatte.
nehmen scheint. Hier decken die bei-
den Bereiche nur gut ein Viertel ab. Ei-          Die Ergebnisse unserer Arbeit und der
nen deutlich wachsenden Anteil haben              Podcast wird auf folgender Seite einzu-
die Bereiche Recht sowie der in dieser            sehen sein: https://1968amosteuro-
Arbeit zusammengefasste Bereich von               painstitut.wordpress.com/
Vorhaben mit soziologischen, ge-
schichtlichen oder politischen Aspekten           Literatur
(ebenfalls rund ein Viertel). Die Fallzahl
von nur 21 dokumentierten For-                    Bohnsack, Ralf (2014). Rekonstruktive Sozial-
schungsvorhaben lässt jedoch nur be-               forschung. Einführung in Methodologie und
dingt Rückschlüsse zu.                             Praxis qualitativer Forschung. Opladen
Die offiziellen Bereiche, nach denen              Lönnendonker, Siegward; Fichter, Tilman P.;
sich das OEI zu dieser Zeit differen-              Staadt, Jochen (1983): Gewalt und Gegenge-
zierte, waren „Slawistik“, „Wirtschaft“,           walt. Unter Mitarbeit von Universitätsbiblio-
„Osteuropäisches Recht“, „Bildung in               thek der FU Berlin.
Osteuropa“, „Medizingeschichte in Ost-
                                                  Seitenbecher, Manuel (2013): Mahler, Maschke
europa“, „Geschichte in Osteuropa“ und             & Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewe-
„Soziologie“. Wie groß die einzelnen               gung? Teilw. zugl.: Potsdam, Univ., Diss.,
                                             15
2012 u.d.T.: Seitenbecher, Manuel: Mahler,
Maschke & Co. Paderborn: Schöningh.

                                             16
3. Feministische For-                          wenn auch nicht komplett revidiert: von
                                               erzieherischen und häuslichen Tätigkei-
   schung – früher und                         ten wurde sie im sozialistischen Alltag
   heute                                       der sich neu formierenden Staaten im
                                               Osten Europas zunehmend zu einer ar-
Florica Barth, Myriel Baumgart, Felix          beitstätigen Kraftzelle der Arbeiter-
Duckert, Laura Höner und Maria                 masse. Das bedeutete allerdings nicht,
Strejckova                                     dass sie von der Hausarbeit und der
                                               Kindererziehung entbunden war. Rela-
Abstract                                       tiv unberührt schien der gesamte Ost-
Wie bewerten moderne Wissenschaft-             block von der folgenden Wiedergeburt
ler:innen aus der Feminismus- bezie-           und zweiten Welle des Feminismus in
hungsweise Genderforschung die histo-          den 60er- beziehungsweise 80er-Jah-
rischen Entwicklungen im sozialisti-           ren. Nach dem Zusammenbruch des
schen Osteuropa und den heutigen Sta-          Sozialismus scheinen konservative
tus Quo?                                       Frauenbilder das Bild des östlichen Eu-
Dieser Fragestellung sind wir in unse-         ropas wieder zu dominieren.
rem Projekt nachgegangen. Dieses               Fakt ist aber auch: Heutzutage gibt es
baut auf der Analyse von Interviews mit        eine eigene Forschung über all die ge-
verschiedenen      Expert:innen    aus         sellschaftlichen und sozialen Aspekte
Deutschland, Tschechien, Russland              des modernen Diskurses über die Frau,
und der Ukraine auf, die durch Lehr-           die sogenannte Feminismusforschung,
stühle in Gender Studies oder allgemei-        die eng mit den Gender Studies verbun-
nes Interesse mit dem Thema verbun-            den ist. Die Genderforschung ist eine
den sind.                                      relativ neue Institution, das Fach Gen-
Diese Broschüre beinhaltet einen               der Studies an höheren Bildungsinstitu-
Raum- und Zeitvergleich über den Fe-           tionen wirkt einerseits etabliert, beson-
minismus, seine Forschung sowie die            ders in der westlichen Hemisphäre, an-
Entstehung und Adaptierung der Gen-            dererseits gibt es Strömungen in ost-
der Studies im Osten Europas seit den          und westeuropäischen Gesellschaften
1980er-Jahren sowie die Etablierung            und politische Bestrebungen, dieses
und Entwicklung ebendieser Gender              wieder aus Universitäten, Hochschulen
Studies heute am Beispiel des postsow-         und anderen Aspekten des Lebens zu
jetischen Russlands und, im Vergleich,         verbannen.
dem des heutigen Tschechiens. Es               Der Werdegang des damaligen sozia-
werden Erfolge, Rückschläge, Hürden            listischen und modernen kapitalisti-
und ein möglicher Ausblick für die Zu-         schen Russlands aus Sicht der Gender-
kunft der wissenschaftlichen Auseinan-         forschung hing stark mit einem seiner
dersetzung mit dem Thema dargelegt.            radikalsten politischen Machthaber, Jo-
                                               sef Stalin, zusammen: dieser sah
Feministische Gedanken und Bewe-               Frauen als Arbeiterinnen und Wirtschaf-
gungen gibt es in Europa seit dem 19.          terinnen ebenso wie als wichtige Produ-
Jahrhundert. Ziel dieser Bewegungen            zentinnen des sozialistischen Nach-
waren mehr Anerkennung und finanzi-            wuchses. Somit galt die Frauenfrage
elle Unabhängigkeit der Frau in einer          als geklärt und eine wissenschaftliche
stark patriarchal geprägten Gesell-            Auseinandersetzung mit der ge-
schaft. Mit dem Aufkommen des Sozia-           schlechtsspezifischen Thematik gab es
lismus wurden im 20. Jahrhundert auf           offiziell nicht. Erst gegen Ende und
politischer und soziologischer Ebene           nach Zerfall des sozialistischen Sys-
die Sichtweise auf die Frau sowie ihre         tems wurden Zentren für die wissen-
gesellschaftliche Rolle neu bewertet,          schaftliche Auseinandersetzung mit
                                          17
Genderforschung gegründet, so wie                 Bild von Pixabay
Moskau, Charkiv und Ivanovo; weiter-              nicht gleich einen Vorteil für die Frauen-
hin begann zum Beispiel die Universität           bewegung: Die Wissenschaft bemän-
von Kasan bereits 1991, Gender Stu-               gelte eine rapide Abnahme erwerbstäti-
dies als Studiengang anzubieten, an-              ger Frauen in den 1990er-Jahren, auch
dere Städte Russlands folgten dem Bei-            wenn diese nun mehr zwischen Familie
spiel. Wissenschaftler:innen und Dozie-           und Beruf wählen konnten. Der Weg zu-
rende griffen das Thema mit Enthusias-            rück in die Mutterrolle schien vielen
mus auf, auch der Staat unterstützte              Frauen angesichts der gesellschaftli-
zeitweise die damit verbundenen insti-            chen Lage als die bessere Variante. Zu-
tutionellen Gründungen und andere Bil-            dem wurde der Feminismus von viele
dungsangebote.                                    tschechischen Frauen als “exotischer
Tschechien war zu Zeiten der Sowjet-              Import aus dem Westen” gesehen, die
union ein mit der heutigen Slowakei ver-          postsowjetisch-russische         politische
bundener, dem sozialistischen Block               Konservative sieht in der Gleichstel-
zugehöriger Satellitenstaat. Es gab               lungsfrage einen “westlichen Wahn-
durchaus Überschneidungen in einigen              sinn” (Lissjutkina, Larisa).
Punkten des alltäglichen Lebens: es               Die Osterweiterung der EU seit 2004,
gab eine politisch-offizielle Gleichstel-         ein eigentlich politisch-soziales Ereig-
lung der Frau in Arbeit und Bezahlung,            nis, wird bis heute kontrovers in der For-
ohne aber die „zweite Schicht“ der Frau,          schung diskutiert. Einerseits wurden
Haushalt und Kinderbetreuung, anders              Frauen und Wissenschaftler:innen mit
zu bewerten. Dieser Staat hatte aber              neuen EU-Vorgaben konfrontiert, ande-
trotz der Bindung an die Union eine ei-           rerseits ging die Sorge im Westen um,
gene Dynamik in Gesellschaft und Wirt-            die Erweiterung gen Osten bringe einen
schaft, es gab etwa eine 30-Prozent-              Rückschritt in der Gemeinschaft. Ange-
Frauenquote in der tschechoslowaki-               sichts der jüngsten Geschehnisse in
schen Politikebene, von der Expert:in-            Ungarn und Polen auf politischer Ebene
nen aber heute sagen, dass man                    ist die Öffentlichkeit besorgt, dass be-
Frauen dennoch nie in höheren Positio-            reits erreichte Meilensteine in der
nen gesehen habe. Aber eben auch in               Gleichberechtigung wieder auf dem
der Sicht auf die Stellung der Frau in            Spiel stehen.
beiden Feldern und in der Forschung               Alle für dieses Projekt interviewten
und dadurch eine andere Entwicklung               Russland-Expert:innen sprechen von
vollzogen. Nach dem Ende der UdSSR                einer restriktiveren Gangart der Politik
suchte Tschechien die Nähe zum Wes-               gegen die bereits erwähnten Pro-
ten Europas und wurde somit anders                gramme an Universitäten, Sommer-
mit              der           westlichen         schulen etc. in den letzten Jahren. Viele
                      Feminismus- be-             Projekte und wissenschaftliche Ausei-
                          ziehungsweise           nandersetzungen würden ins (meist eu-
                              Genderfor-          ropäische) Ausland verlegt. Auch die
                         schung       kon-        Gesellschaft sei oft noch sehr kritisch
                         frontiert als das        und ablehnend gegenüber der For-
                         neu      entstan-        schung.
                        dene Russland             Die tschechischen Expertinnen berich-
                       nach dessen Un-            ten ebenfalls von Argwohn und Ableh-
                     abhängigkeit 1991.           nung vieler gegenüber dem Thema und
               Diese Demokratisierung             der Forschung, wenn auch in Tsche-
               und Anlehnung an den               chien eher Gender und Gender Studies
              Westen bedeuteten aber              kritisch gesehen werden. Dafür erfährt
                                                  aber der Feminismus, wenn auch erst
                                             18
langsam und seit kurzem, mehr und                einzelner Feststellungen, Expert:innen
mehr Akzeptanz bei den Menschen und              für den russischen Raum beschrieben
wird somit näher untersucht, ohne Re-            in den Interviews etwa, wie sich unter
pressionen von politischer Seite. Vielen         Vladimir Putins die Situation der Bil-
Frauen würde erst jetzt die Thematik             dungsstätten und Forschungsmöglich-
bewusst, daher werden NGOs gegrün-               keiten verschlechtert habe und unge-
det und Forschungsmöglichkeiten ver-             wiss sei, ob es weiter bergab gehe oder
stärkt in Anspruch genommen.                     der zukünftige politische Erbe Putins ei-
Tschechien und Russland sind durch               nen anderen Weg gehen werde. Auch
verschiedene Entwicklungen in der Fe-            auf tschechischer Seite ist ungewiss,
minismus- beziehungsweise Gender-                wie etwa die derzeitigen politischen
forschung gegangen. Einerseits gibt es           Entwicklungen in Polen und Ungarn die
Ähnlichkeiten in Alltag und Arbeit, ande-        hiesige Stimmung und Herangehens-
rerseits gab es Unterschiede in der Um-          weise an die Forschung zu Gender und
setzung und im Status der wissen-                damit zum Feminismus beeinflussen
schaftlichen und gesellschaftlichen              werden.
Auseinandersetzung mit der Thematik.
Tschechien hatte keinen kommunisti-
                                                 Literatur
schen Apparat, der die Frage einfach
als geklärt abtat, Russland dafür keine
30-Prozent-Quote in der Politik, was             Lissjutkina, Larisa: “ “Ein „Sorgenkind“ im Fer-
                                                   nen Osten Europas: Die Russische Frauen-
letztendlich keine Erleichterung bei bei-
                                                   bewegung und Genderforschung zwischen
den Ländern bedeutete.                             Hoffnung und Verzweiflung”, in: Miethe, In-
Das heißt aber nicht, dass es keinen               grid / Roth, Silke (Hrsg.): Europas Töchter,
Diskurs zum Thema Gender und                       Traditionen, Erwartungen und Strategien von
Frauen in der Wissenschaft gegeben                 Frauenbewegungen in Europa, S. 226
hat. Dieser ist seit den 1980ern in Sow-
                                                 Petö, Andrea: “Eastern Europe: Gender Rese-
jetrussland und in der damaligen                  arch, Knowledge Productions and Instituti-
Tschechoslowakei erkennbar. Unsere                ons”, in: Kortendiek,Beate / Riegraf, Birgit /
Expert:innen berichten von verschiede-            Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdiszip-
nen und unterschiedlich intensiven                linäre Geschlechterforschung, Springer-Ver-
                                                  lag, Wiesbaden 2019, S. 1540
Adaptionen des Feminismus in der Ge-
sellschaft sowie der Forschung und               Roth, Silke: “Nationale und internationale Ein-
konnten dementsprechend diverse                   flüsse - Ein Vergleich europäischer Frauen-
Aussagen zur Situation aus Sicht der              bewegungen“. In: Miethe, Ingrid/Roth, Silke
Wissenschaft in beiden Ländern ma-                (Hrsg.): Europas Töchter. Traditionen, Erwar-
                                                  tungen und Strategien von Frauenbewegun-
chen. Unter anderem war interessant,              gen in Europa. Springer Verlag, Wiesbaden
dass es im postsowjetischen Raum zu-              2003, S. 276
nächst nicht als Gender Studies, son-
dern als Feminologie bezeichnet wurde,           Röder, Ingrid: “Veränderungen in der Chan-
was als ein Abgrenzungsversuch vom                cengleichheit für Mann und Frau in der
                                                  Tschechischen Republik und der Slowakei
westlichen Diskurs gedeutet werden                seit 1989”, in: Forschungsstelle osteuropa an
kann. Diese Bezeichnung hat allerdings            der Universität Bremen: "Neues Europa?"
keinerlei Relevanz in der späten Tsche-           Osteuropa 15 Jahre danach: Beiträge für die
choslowakei oder dem heutigen Tsche-              12. Brühler Tagung junger Osteuropa-Exper-
chien. Im tschechischen Diskurs ist das           ten. Bremen 2004, S. 80
Wort Feminismus Teil der Problematik,            Stein-Redent, Rita: “Verstehen wir uns?”, in:
auch weil es bis heute oft als Schimpf-           Ernst, Waltraud (Hg.): Internationale Frauen-
wort genutzt wird. Selbstverständlich             und Genderforschung in Niedersachsen:
gibt es aber auch Überschneidungen                Grenzregime : Geschlechterkonstellationen

                                            19
zwischen Kulturen und Räumen der Globali-
sierung, LIT Verlag, Münster 2010, S. 156

                                            20
4. Frauen in der Wissen-                            Wegen ihres Geschlechts werden sie
                                                    oftmals benachteiligt und müssen sich
schaft am Beispiel des Ost-                         ihren Platz in der Wissenschaft hart er-
europa-Instituts                                    kämpfen. Daher sind etwa das Gleich-
                                                    stellungskonzept oder der Frauenför-
Klaudia Broßzeit                                    derplan aus dem akademischen Umfeld
                                                    nicht mehr wegzudenken.
An der Freien Universität wurde im
Jahre 1989 ein großer Meilenstein im                Frauen am OEI
Bereich der Gleichstellung der Ge-                  Trotz der Genderungleichheiten hat es
schlechter gesetzt. Nach der Kommis-                am OEI Frauen gegeben, welche das
sion zur Förderung von Nachwuchswis-                Institut geprägt haben. Dennoch, ein
senschaftlerinnen und dem Plenum der                Blick auf die Fotografien der Einwei-
Frauenbeauftragten folgte im darauffol-             hungsfeier des OEI aus dem Jahre
genden Jahr der Zentrale Frauenrat,                 1961 verweist auf Frauen, die in der Re-
welcher von den weiblichen Mitgliedern,             gel abseits vom eigentlichen Gesche-
der FU gewählt wird und die zentralen               hen sitzen, höchstens vereinzelt im
Frauenbeauftragten, sowie ihre Stell-               Publikum ab der vierten Reihe. Ihre Na-
vertreterinnen in ihrem Amt unterstüt-              men herauszufinden war – ganz anders
zen soll. Warum dies so wichtig ist, zei-           als bei den Männern – schier unmög-
gen Zahlen des Statistischen Bundes-                lich. Heute wird nur mehr an die fünf
amtes. Im Jahre 2019 kamen in                       Gründungsprofessoren       und        Willy
Deutschland auf 36.139 männlich be-                 Brandt erinnert.
setzte     Hauptprofessuren        lediglich        Beinahe in Vergessenheit geraten wäre
12.408 Professorinnen. Demnach be-                  auch Dr. Dora Fischer. Ihre nach über
trägt der Anteil der Frauen gerade ein-             Jahrzehnten im Archiv gefundene Per-
mal etwas über 25 %, immerhin mit stei-             sonalakte erzählt von einer Frau, der
gender Tendenz. Diese Verteilungen                  das OEI so einiges zu verdanken hat.
mögen verwundern, denn bei den Ab-                  Bereits in den 70er Jahren wurde sie in
schlussquoten sind Frauen stärker ver-              der Abteilung Landeskunde als Akade-
treten als ihre Mitstreiter. Erfreulich sind        mische Oberrätin zur Professorin er-
im Vergleich zur Besetzung der Haupt-               nannt und ließ sogar ihren Eintritt in den
professuren zumindest die Zahlen der                Ruhestand um ein Semester verschie-
Habilitationen aus dem vergangenen                  ben, um sich für die Verwirklichung ei-
Jahr, bei denen im Vergleich zum Jahr               ner Exkursion in das damalige „Sowjet-
2010 der Frauenanteil in Deutschland                mittelasien“ und Pakistan mit 15 Studie-
um fünf Prozentpunkte auf 35 % gestie-              renden einzusetzen. Damit ist sie eine
gen ist. Hier ist jedoch anzumerken,                Vorreiterin der späteren Auslandsauf-
dass im Jahre 2020 24,5% weniger                    enthalte.
Männer ihre Habilitation abschlossen
als noch vor zehn Jahren.                           Analyseergebnisse
Durchgesiebt wird bereits in der Post-              Mit dem Einstieg in die Wissenschaft di-
doc-Phase. Viele Nachwuchswissen-                   rekt nach dem Studienabschluss wei-
schaftlerinnen versuchen den Spagat                 sen alle Interviewpartnerinnen aus der
zwischen Karriere und Familienplanung               Berufsgruppe des wissenschaftlichen
erfolgreich zu meistern. Oftmals ste-               Personals eine „klassische“ Biografie
cken sie an diesem Punkt allerdings zu-             auf. Vielfalt im Sinne aussagekräftiger
rück und müssen, falls sie sich doch für            branchenfremder Berufserfahrung oder
eine akademische Laufbahn entschei-                 einer für den wissenschaftlichen Be-
den, mit deutlich schlechteren Chancen              rufseinstieg untypischen Altersklasse
auf eine unbefristete Stelle rechnen.               gibt es nicht. Alle Befragten gaben an,
                                               21
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