OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT - EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS - Osteuropa-Institut
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OSTEUROPAFORSCHUNG IM WANDEL DER ZEIT EIN PROJEKTSEMINAR DES OSTEUROPA-INSTITUTS 2021/2022 Herausgegeben von: CLEMENS GÜNTHER TATIANA KHARKOVA MIHAI VARGA 1
8. FORSCHUNG IN OSTEUROPA UNTER DRUCK – Inhaltsverzeichnis WISSENSCHAFTSPOLITIK IN AUTORITÄREN SYSTEMEN IM EINLEITUNG VERGLEICH Clemens Günther, Mihai Varga .......... 3 Josephin Bretschneider, Jakob Burger, Anna Khaerdinova, Jonas Ksienzyk, 1. MACHT POLITIK FORSCHUNG Aleksandar Ljubomirović und Juri ODER FORSCHUNG POLITIK? Marschall .......................................... 37 Thilo Dekant, Lea Feldhaus, Paola Galwas, Henri Koblischke und 9. FORSCHUNG UND ERINNERUNG Valentina Sanduljak ............................ 8 AN DEN NATIONALSOZIALISTISCHEN 2. 1968 AM OEI – EINE GENOZID AN DEN SINTI & ROMA IN ANNÄHERUNG AN DIE DEUTSCHLAND UND POLEN. ORTE, VERGANGENHEIT. IM GESPRÄCH. AKTEUR:INNEN, ENTWICKLUNGEN IM ARCHIV Léna Mücke, Johann Stephanowitz, Anusch Arash, Elisa Eveilleau und Stefan Strietzel, Daniel Styczynski, Lukas Daub ...................................... 12 Sophia Othmer und Cosmas Tanzer 42 3. FEMINISTISCHE FOSCHUNG – 10. GEOPOLITISCHE MANÖVER: FRÜHER UND HEUTE DER UMZUG DER CEU VON Florica Barth, Myriel Baumgart, Felix BUDAPEST NACH WIEN Duckert, Laura Höner und Maria Vitali Fischer, Aleksandar Kerošević, Strejckova ......................................... 17 Anne Lemke und Fabio Thieme ....... 45 4. FRAUEN IN DER WISSENSCHAFT 11. POLITISIERUNG HISTORISCHER AM BEISPIEL DES OSTEUROPA- FORSCHUNG: ANERKENNUNG DES INSTITUTS HOLODOMOR ALS GENOZID AM Klaudia Broßzeit ............................... 21 UKRAINISCHEN VOLK Vladislav Ivanov, Margarita Kayanja, 5. NORD STREAM 2 – PROBLEME Maria Kireenko und Anastasiia Maga- UND HERAUSFORDERUNGEN DER zova .................................................. 48 OSTEUROPAFORSCHUNG Fiete Lembeck, Olivera Tornau und Benjamin Vogel ................................ 24 6. PROJEKT: QUEER (RESEARCH) IN POLAND AND RUSSIA Andrey Dimitriev, Veronika Haluch, Nicole Malodobry, Lidia Mgebrishvili und Franziska Pullmann ................... 28 7. STUDIEREN AM OEI – GESTERN UND HEUTE Michael Derho, Maximilian Lauer und Amy Zimmermann ............................ 34 2
Einleitung neue Abteilungen wurden eingerichtet, eine Fachbibliothek wurde aufgebaut 2021 feiert das Osteuropa-Institut (OEI) und Forschungsprojekte mit internatio- der FU Berlin sein siebzigjähriges Jubi- nalen Kooperationspartnern konnten läum. Durch den Zusammenbruch der realisiert werden. nationalsozialistisch kompromittierten Ostforschung nach dem Zweiten Welt- Die Erforschung der Welt jenseits des krieg und dem Verlust ihrer ehemaligen Eisernen Vorhangs war im Kalten Krieg Zentren in den nun verlorenen Ostge- eine eminent politische Angelegenheit. bieten galt es, neue Strukturen der Be- So gab es von politischer Seite durch- schäftigung mit Osteuropa zu etablie- aus Interesse, das Osteuropa-Institut ren. Diese Strukturen sollten sich dabei als Stätte der Feindbeobachtung und - nicht nur in kritischer Distanz zur bishe- aufklärung zu instrumentalisieren, dem rigen Forschung über Osteuropa befin- sich die Wissenschaftler vor Ort aller- den, sondern auch den neuen Realitä- dings geschickt entzogen (Stegelmann ten des Kalten Krieges gerecht werden. 2015: 164). Anstatt zur Speerspitze des Nach einigen Überlegungen über Ort Antikommunismus zu werden, wurde und Zuschnitt eines neuen Osteuropa- das Institut in den 1960er Jahren gar zu Instituts traf man im Herbst 1950 die einem der Bezugspunkte der aufkom- Entscheidung, dieses Institut in Berlin menden Studentenbewegung. Ursula anzusiedeln. An der FU Berlin nahm Stegelmann spricht von Hans-Joachim Georg Kennert die aus der Bundespoli- Lieber, der damals Professor für Sozio- tik kommenden Vorschläge auf und ent- logie am OEI war, als „Ziehvater der wickelte Ideen für ein solches Institut, Linken“ (Stegelmann 2015: 175). Rudi das sich vor allem Russland und der Dutschke arbeitete später gar als Stu- Sowjetunion, aber auch Mittel- und dentische Hilfskraft am Osteuropa-Insti- Südosteuropa widmen sollte. Am 24. tut. November 1951 wurde das Osteuropa- Institut schließlich feierlich eingeweiht. In den 1970er Jahren konnte das Ost- (Baske 2011: 97f.) europa Institut bei der Deutschen For- schungsgemeinschaft (DFG) einen Von Beginn an war das Osteuropa- Sonderforschungsbereich (SFB) zum Institut interdisziplinär strukturiert. Hier Thema „Die Sowjetunion und ihr Ein- sollten sozial- und geisteswissenschaft- flussbereich seit 1917. Industrialisie- liche Disziplinen in einen Dialog treten rung und Gesellschaft in der Sowjet- und in gemeinsamen Forschungspro- union“ einwerben. Das Projekt diente jekten historische und gegenwartsbezo- einerseits als Katalysator für eine ge- gene Fragen zu Osteuropa erforschen. genwartsrelevante Osteuropafor- Von Beginn an wurde am OEI auch ge- schung, zeigte aber auch die Heraus- lehrt, wobei es auch Ergänzungslehr- forderungen interdisziplinärer Arbeit am gänge für junge Berufstätige gab, die Institut. So war unklar, welchen Aussa- sich mit Osteuropa intensiver beschäfti- gewert das Totalitarismusmodell noch gen wollten (vgl. Lieber 1963: 53). In der für die Erforschung der Sowjetunion ha- Folge expandierte das OEI schnell: 3
ben konnte und sollte. Außerdem er- Das Seminar wies es sich als schwierig, die gefor- Das Projektseminar „Osteuropafor- derte Interdisziplinarität in der For- schung im Wandel der Zeit“, das im schung auch tatsächlich umzusetzen. Wintersemester 2020/21 und im Som- Auch deshalb stiegen wichtige Wissen- mersemester 2021 stattfand, nimmt das schaftler aus dem SFB aus. (vgl. Institutsjubiläum zum Anlass, um nach Stegelmann 2015: 194-200) Die damals der Geschichte und Gegenwart der Ost- verhandelten Fragen der epistemologi- europaforschung und der Forschung in schen Grundlagen der Erforschung au- Osteuropa zu fragen. toritärer Regime und der Möglichkeit in- terdisziplinärer Kooperation, die zwi- Wissenschaftsforschung ist dabei ein schen einem regional- und einem fach- interdisziplinäres Querschnittsthema, wissenschaftlichen Ansatz vermitteln das für alle am OEI vertretenen Diszip- muss, beschäftigen die Osteuropafor- linen von Interesse ist. Politisch lässt schung und damit auch das OEI bis sich nach den institutionellen Voraus- heute. setzungen von Wissenschaftspolitik so- wie nach Möglichkeiten der nationalen Mit dem Ende des Kalten Krieges geriet und internationalen Steuerung von Wis- die Osteuropaforschung in eine Identi- senschaft fragen. Soziologisch interes- tätskrise. Die bislang verfolgten For- sieren u.a. organisationale und wis- schungsfragen und -strukturen schie- senssoziologische Fragen. In der Ge- nen nach dem Ende des Systemgegen- schichtswissenschaft ist die Wissen- satzes nicht mehr geeignet und die po- schaftsgeschichte ein anerkannter Teil- litische Relevanz der Osteuropafor- bereich, der sich der historischen Ge- schung nahm ab. Am Osteuropa-Institut nese von Forschungsparadigmen, aber nahm man sich zwar den nun aufkom- auch von Strukturen, Methoden und menden Fragen der Transformations- Theorien widmet. Die Volkswirtschafts- prozesse schnell an, was sich u.a. in lehre fragt u.a. nach dem wirtschaftli- der Etablierung eines Graduiertenkol- chen Wert akademischer Institutionen. legs zu diesem Thema 1991 äußerte. Die Kulturwissenschaften interessieren Dies konnte aber nicht verhindern, dass sich schließlich für kulturelle Spezifika das Osteuropa-Institut im Verlauf der einzelner Wissenschaftsverständnisse 1990er Jahre in eine Krise geriet. Lehr- und für die textuelle Form wissenschaft- stühle wurden abgebaut und die Exis- licher Ergebnisse. tenz des OEI stand in Frage. Trotz ihrer interdisziplinären Anschluss- Mittlerweile konnte sich das Institut kon- fähigkeit fristen wissenschaftspoliti- solidieren und begleitet in nun fünf Ab- sche, -kulturelle, -historische, und -sozi- teilungen (Politik, Soziologie, Volkswirt- ologische Fragestellungen in den ost- schaft, Geschichte, Kultur) aufmerksam europabezogenen Area Studies ein Ni- und gespannt die gesellschaftliche Ent- schendasein. Zwar gibt es viele histori- wicklung in Osteuropa. sche Untersuchungen zur Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. Ambur- ger 1987, Arend 2020), während des 4
Sozialismus (u.a. Esakov 1971, Shey- Ausstellungen einer breiteren Öffent- nin 1978, Fortescue 1990) und zur lichkeit zugänglich gemacht. Schließlich Transformationszeit (u.a. Mayntz/Schi- trägt das diesjährige Thema des Pro- mank/Weyngart 1995, Graham 2008), jektkurses auch zur kritischen Selbst- aber nur relativ wenige gegenwartsbe- verständigung über die eigene Rolle als zogene Studien mit allgemeinerem Osteuropaforscher:in sowie über Insti- Charakter. tutionen der Osteuropaforschung bei. Osteuropaforschung umfasst im Semi- Forschung über Osteuropa narkontext zwei Bedeutungsdimensio- Die erste Sektion der Berichte umfasst nen, die eng miteinander verschränkt Forschungsarbeiten zur Geschichte sind: Forschung in und Forschung und Gegenwart der deutschen Osteuro- über Osteuropa. Fünf der Projektgrup- paforschung. Drei der Projekte beschäf- pen beschäftigten sich, überwiegend tigen sich mit dem Osteuropa-Institut am Beispiel des Osteuropa-Instituts, mit und seiner Geschichte. Die Gruppe der Genese und Aktualität der Osteuro- 1968 am Osteuropa-Institut widmet sich paforschung an der FU Berlin, sechs dem Schlüsseljahr 1968 und schaut, Projektgruppen widmeten sich aktuel- u.a. in Form eines ausführlichen Inter- len und historischen Fragen der Wis- views mit Gretchen Dutschke-Klotz, auf senschaftsforschung in Osteuropa. Das die Rolle des OEI während der damali- Untersuchungsfeld erstreckt sich dabei gen Studentenproteste. Die Gruppe über eine Vielzahl osteuropäischer Län- Frauen in der Wissenschaft blickt auf der, von Polen, über die Tschechische die Karriere von Wissenschaftlerinnen Republik, Ungarn, Serbien, die Ukraine am OEI und untersucht deren Heraus- bis nach Russland. forderungen und Handlungsstrategien. Die Gruppe Studieren am OEI ver- Die tiefere Beschäftigung mit der ge- gleicht am Beispiel aktueller Studieren- genwärtigen und historisch gewachse- der und Absolvent:innen aus den nen Wissenschaftslandschaft in Osteu- 1990er Jahren, wie sich die Bedingun- ropa bietet den Studierenden dabei viel- gen und Formen des Studiums am OEI fältige Möglichkeiten. Sie erschließen im Laufe der Zeit wandelten. sich eigenständig bislang wenig bear- beitete Themenfelder und entwickeln Zwei Projekte beschäftigen sich mit ak- hierfür ein methodisches und theoreti- tuellen Fragen der v.a. politikwissen- sches Design. Im Kontext des Seminars schaftlichen Osteuropaforschung. Die lernen die Studierenden Interviews vor- Gruppe Macht Forschung Politik? er- zubereiten, durchzuführen und auszu- weitert das Untersuchungsfeld über das werten, sie machen sich vertraut mit OEI hinaus und blickt auf Formen und Methoden der archivalischen For- Funktionen der Politikberatung in der schung und der Auswertung histori- gegenwärtigen Osteuropaforschung. scher Quellen. Die gewonnenen Ergeb- Die Gruppe zu Nord Stream 2 blickt auf nisse werden dabei in Form individuell das umstrittene Pipelineprojekt aus der gewählter Endprodukte wie Blogs, Po- Perspektive der Regionalforschung und dcasts, Dokumentarfilme oder (Online-) 5
fragt, wie und in welchem Ausmaß Fa- Ebenso umstritten wie Genderthemen chexpertise in der deutschen Diskus- sind in vielen osteuropäischen Ländern sion über das Projekt eine Rolle spielte. geschichtswissenschaftliche Forschun- gen. Zwei Projektgruppen blicken in das Forschung in Osteuropa historiographische Feld. Die Gruppe In den letzten Jahren lässt sich eine be- Forschung und Erinnerung an den nati- denkliche Zunahme staatlicher Inter- onalsozialistischen Genozid an den ventionen in die Wissenschaft beobach- Sinti und Roma in Deutschland und Po- ten. Dies betrifft zwar nicht nur Osteu- len schaut sich an, wie der lange Zeit ropa, scheint dort aber besonders präg- verdrängte und wenig beachtete Völ- nant: Universitäten und Studiengänge kermord an den Sinti und Roma gegen- verlieren ihre Akkreditierung und müs- wärtig und historisch in Deutschland sen im Regelbetrieb mit Schikanen und Polen erinnert wird. Sie befragt er- rechnen, unliebsame Wissenschaft- innerungskulturelle Akteur:innen und ler:innen werden entlassen oder in die analysierte die Orte der Erinnerung. Die Emigration getrieben, Finanzmittel wer- Gruppe zum Holodomor untersucht die den gekürzt und internationale Koope- Arbeit der deutsch-ukrainischen Histori- rationen erschwert. In den Medien fin- kerkommission und interessiert sich vor den sich für diese und ähnliche Vorfälle allem für die Politisierung der For- viele Beispiele, aber nur selten werden schung zum Holodomor und die umstrit- diese in einen größeren Zusammen- tene Frage, ob dieser als Genozid be- hang eingeordnet. Eben das ist das Ziel zeichnet werden solle. der sechs Projektgruppen, die sich mit der Forschung in Osteuropa beschäfti- Arbeiten die vier genannten Gruppen gen. vorwiegend themenbezogen, so inte- ressieren sich die beiden letzten Grup- Zwei Projektgruppen widmen sich dem pen für wissenschaftliche Institutionen. Zustand feministischer und genderbe- Die Gruppe zum Umzug der CEU von zogener Forschung in Osteuropa. Die Budapest nach Wien blickt auf den Gruppe Feministische Forschung früher kürzlichen Umzug der prestigeträchti- und heute untersucht am Beispiel gen Central European University von Tschechiens und Russland die Entwick- Budapest nach Wien, nachdem diese lung feministischer Forschung in beiden ihre Lehrerlaubnis in Ungarn verlor. Sie Ländern und gibt einen Überblick von untersucht die Motive für das Verbot der spätsozialistischen Zeit bis in die und spricht mit Beteiligten, die als Stu- Gegenwart. Die Gruppe Queer Rese- dierende oder Lehrende den Umzug er- arch in Poland and Russia untersucht lebten. Die Gruppe Wissenschaftspoli- ebenfalls vergleichend die Probleme, tik in autoritären Systemen vergleicht mit denen die Forschung zu queeren schließlich einige jüngere Vorfälle an Themen in beiden Ländern konfrontiert russischen, ungarischen und serbi- ist und sucht nach den Gründen für und schen Universitäten, deren Gemein- den Antwortstrategien der Forschenden samkeiten in der Infragestellung akade- auf diese Problemlagen. 6
mischer Unabhängigkeit und der politi- Freien Universität Berlin (Hg.): Fünfzehn schen Instrumentalisierung von Wis- Jahre Freie Universität Berlin, S. 52–54. senschaft liegen. Mayntz, Renate; Schimank, Uwe; Weingart, Pe- ter (Hg.): Transformation mittel- und osteuro- Die vorliegende Broschüre vereint die päischer Wissenschaftssysteme: Länderbe- Ergebnisse des Jahrgangs 2020/21. richte. Opladen: Leske + Budrich, 1995. Der Dank für die Erstellung und Redak- Sheynin, Ju.: Science Policy: Problems and tion der Broschüre geht an die Gruppen Trends. Moscow: Progress, 1978.# und die studentische Hilfskraft Tatiana Kharkova. Ein Dank geht außerdem an Stegelmann. Ursula: Das Berliner Osteuropa- das Osteuropa-Institut, das den Kurs Institut: Organisationsbiografie einer interdis- großzügig finanziell unterstützte und an ziplinären Hochschuleinrichtung 1945 – 1976. Frankfurt am Main: PL Academic Research, alle Workshopleiter:innen. 2015. Clemens Günther, Mihai Varga Literatur Amburger, Erik (Hg.): Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa: Wissenschaftliche Ge- sellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Essen: Hobbing, 1987. Arend, Jan (Hg.): Science and Empire in East- ern Europe: Imperial Russia and the Habs- burg Monarchy in the 19th Century. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020. Baske, Siegfried: Das Osteuropa-Institut der Freien Universtität Berlin, in: Kubicki, Karol; Lönnendonker, Siegward (Hg.): Die Kultur- und Ethnowissenschaften an der Freien Uni- versität Berlin, Berlin 2011, S. 97-122. Esakov, V.: Sovetskai´ja nauka v gody pervoj pjatiletki: Osnovnye napravlenija gosudarst- vennogo rukovodstva naukoj. Moskva: Nauka, 1971. Fortescue, Stephen: Science Policy in the So- viet Union.London: Routledge, 1990. Graham, Loren; Dezhina, Irina: Science in the New Russia: Crisis, Aid, Reform. Blooming- ton: Indiana University Press, 2008. Lieber, Hans-Joachim: Das deutsche Zentrum der Osteuropa-Forschung. Das Osteuropa- Institut an der Freien Universität, in: AStA der 7
1. Macht Politik Forschung der konkrete Einfluss bestimmter politi- scher Beratung auf die politische Ent- oder Forschung Politik? scheidungsfindung meist nicht zurück- verfolgen lässt, gilt es, andere Kriterien WISSENSCHAFTLICHE POLITIKBERATUNG zur Bewertung „guter“ Politikberatung IN DEUTSCHLAND WÄHREND DER RUSS- heranzuziehen. LAND-UKRAINE-KRISE Fallauswahl und Relevanz Wir rücken die Politikberatung während der Russland-Ukraine-Krise (2013 bis 2015) in den Fokus unserer Analyse. Nach dem Zusammenbruch der Sowjet- Bild © Projektgruppe union und dem Ende des Kalten Krie- ges sank die Nachfrage nach Osteuro- paforschung und seiner Expertise, weil Thilo Dekant, Lea Feldhaus, Paola der Westen sich nicht mehr vom “Ost- Galwas, Henri Koblischke und Valen- block” bedroht fühlte. Die völkerrechts- tina Sanduljak widrige Annexion der Krim (2014) durch Russland sorgte für schwere Unruhen Abstract im Osten der Ukraine. Ein Abebben die- In unserem Projekt widmen wir uns der ser Unruhen war nicht in Sicht, weshalb wissenschaftlichen Politikberatung in die Auseinandersetzungen für das „er- Deutschland. Dazu untersuchen wir, ob forderliche Adrenalin“ in Europa sorg- und in welchem Umfang in Deutschland ten. Ein Krieg mitten in Europa konnte wissenschaftliche Politikberatung vor nicht ohne Auswirkungen auf die restli- dem Hintergrund der Russland-Ukra- che Welt bleiben. Das plötzliche und ine-Krise stattgefunden hat. Hierfür ha- unerwartete Handeln Russlands ben wir Expert:inneninterviews durch- machte dieses außenpolitisch zu einem geführt und analysiert und diese unberechenbaren und gefährlichen schließlich für eine Podcastreihe aufbe- Partner. Die fehlende Kooperationsbe- reitet, um das komplexe und ambiva- reitschaft und Provokationen der russi- lente Feld der wissenschaftlichen Poli- schen Seite zeigten, wie groß der Be- tikberatung einem breiteren Publikum darf an Russland- und Osteuropaken- zugänglich zu machen. Zusätzlich ha- ner:innen tatsächlich ist. ben wir unser Projekt mit einem Work- Zusammenarbeit zwischen Politikbera- In-Progress Blog (https://userblogs.fu- tung und Politik nimmt in Zeiten akuter berlin.de/macht-forschung-politik/) be- Krisen zu. Diese sind ein Signal für „real gleitet. Wir konnten herausfinden, dass time“-Reaktionen und handlungsrele- Politikberatung in erster Linie eine Ent- vantes Wissen. Die Osteuropafor- scheidungsgrundlage für Politiker:innen schung wurde von der Russland-Ukra- darstellen soll, basierend auf einer Auf- ine-Krise erschüttert und musste im bereitung von Fakten, möglichen Zu- Zuge dessen Bereitschaft zeigen, Ein- kunftsszenarien und Handlungsoptio- schätzungen, Prognosen und Hand- nen. Beide Seiten, sowohl die der Wis- lungsempfehlungen auszusprechen, senschaft als auch die der Politik, ge- um von der Politik als operative Politik- ben an, von dem Austausch zu profitie- beratung, die juristische Normen und ren, sie erkennen jedoch auch ein Prob- politische Abläufe kennt, verstanden lem in der immerwährenden zeitlichen und angefordert zu werden. Um ein Knappheit. Insbesondere die Wissen- Verständnis für Politikberatung zu ge- schaft muss sich dabei dem schnellen winnen, bietet sich die Russland-Ukra- politischen Geschäft anpassen. Da sich ine-Krise als international und politisch 8
relevantes Fallbeispiel dementspre- grundsätzliche Vorgänge in der wissen- chend gut an. schaftlichen Politikberatung zu verste- hen. Methodisches Vorgehen Um unsere Fragen beantworten zu kön- nen, hielten wir es für sinnvoll, unsere Literaturrecherche mit praktischen Er- fahrungen der jeweiligen Berater:innen bzw. Beratenden zu verknüpfen. Wir suchten spannende Inter- viewpartner:innen, die möglichst wäh- rend unserer Untersuchungsperiode “aktiv” und mit der Problematik rund um die Ostukraine und dem osteuropäi- schen Raum konfrontiert waren. Infrage kamen Politiker:innen oder Referent:in- nen, die in der Außenpolitik (Auswärti- ges Amt, Bundesregierung, o.Ä.) be- Bild von Pixabay schäftigt waren und die Russland-Ukra- ine-Krise “live” miterlebten. Außerdem 2. Episode benötigen wir Expert:innen (Regio- In unserer zweiten Episode wollen wir nalspezialist:innen, Osteuropafor- die Frage beantworten: Was ist eigent- scher:innen), welche in der wissen- lich Politikberatung und wie läuft sie ab? schaftlichen Politikberatung tätig waren Um diese Frage zu beantworten, neh- und bei der Untersuchung der Vor- men wir unsere Daten aus den Inter- kommnisse während der Russland-Uk- views und spielen hier auch zwei inte- raine-Krise mitwirkten (bspw. Centre for ressante Interviewausschnitte ein. European Policy Studies, Wirtschafts- “Also im Prinzip geht es [bei Politikbera- forschung, Osteuropainstitute verschie- tung] darum, eine bessere Entschei- dener Hochschulen). dungsgrundlage zu schaffen für Ent- scheidungsträger:innen, indem sie mit 1. Episode den Argumenten vertraut [gemacht wer- Die erste Episode unseres Podcasts den], die für eine gewisse Politik oder stellt eine Einleitungsfolge dar. Wir ha- gegen eine andere sprechen” (ano- ben verschiedene steile Thesen rund nyme:r Interviewpartner:in). Dazu nutzt um den Konflikt zwischen Russland und man verschiedene direkte und indirekte der Ukraine 2013-2014 aus unter- Kanäle, unter anderem (in-)formelle schiedlichen Blickwinkeln diskutiert, um Gespräche, Veranstaltungen, Studien die Konfliktbehaftung und auch die Re- und Policy Paper und Medienauftritte. levanz der Thematik zu verdeutlichen. Hierzu kommen Politikberatungsange- Um auch Hörer:innen zu erreichen, die bote von verschiedenen Akteuren, wie noch nicht mit allen Details des Kon- Privatpersonen, Beratungsagenturen, flikts und seiner Bedeutung für die inter- Stiftungen oder Universitäten, die so nationalen Beziehungen vertraut sind, versuchen, Einfluss auf politische Ent- haben wir außerdem ein Interview mit scheidungen zu nehmen. der Historikerin und Ukraine-Expertin Dr. Ricarda Vulpius geführt. Das bes- 3. Episode sere Verständnis des Konflikts half nicht In den Interviews erkundigten wir uns nur uns in unserer Arbeit, sondern ist ebenfalls nach den Motiven der Wis- auch für die Hörer:innen eine gute senschaftler:innen, zu beraten. Die Grundlage, um anhand der Thematik meisten wollten zu einer informierteren 9
Debatte und wissenschaftlich fundier- PolitikerInnen im Austausch mit Bera- ten Entscheidungen beitragen. Eine ge- tenden nur Zeit für eine Diskussion zu- wisse “Expert:innenarroganz” basie- gespitzter Statements zulassen. Durch rend auf dem perzipierten eigenen zeitliche Verknappung lastet ein großer Mehrwissen spielt ebenfalls eine Rolle. Meinungsdruck auf Beratenden, der Darüber hinaus schätzen Wissen- zum Verlust von Sachlichkeit und zu schaftler:innen aber auch den Aus- Frust führen kann. Dennoch kann wis- tausch mit Politikschaffenden, weil senschaftliche Beratung stattfinden, diese über andere und oftmals auch was aber ein Verständnis des Politikbe- bessere Informationen als sie selbst triebs auf Seiten der Beratenden vo- verfügen, sie die Überlegungen und raussetzt. Es ist die Wissenschaft, die Entscheidungskalküle besser nachvoll- sich dem Rhythmus der Politik anpas- ziehen können. Das inspiriert oft auch sen muss. Gelingt dies, und begegnen neue Forschung. Darüber hinaus wol- sich beide Parteien auf Augenhöhe, len einige Wissenschaftler:innen auch kann ein fruchtbarer Austausch stattfin- Einfluss nehmen und ihrem akademi- den. schen Wissen praktische Relevanz ver- leihen. 5. Episode Wissenschaftler:innen und Politiker:in- In der letzten Episode unseres Po- nen zeichnen ein ähnliches Bild, warum dcasts setzen wir uns mit der Frage Politiker:innen Beratung suchen. Hin- auseinander, wie viel Einfluss wissen- tergrundinformationen, das Herausar- schaftliche Politikberatung auf politi- beiten von Trends, Konstanten oder sche Entscheidungsfindung hat. Außer- Handlungsmechanismen spielen eine dem diskutieren wir darüber, welche Rolle. Ebenso erfüllt Politikberatung Charakteristika „guter“ wissenschaftli- eine Art “Wachtdog”-Rolle. Wissen- cher Politikberatung sich definieren las- schaftler:innen beobachten und weisen sen. Dank unserer Interviewpartner:in- Politiker:innen auf Sachverhalte hin, die nen erkennen wir schnell, Einfluss auf sich unter dem politischen Wahrneh- den politischen Betrieb oder politische mungsradar abspielen. Darüber hinaus Akteure, lässt sich nur in Ausnahmefäl- dient der Austausch auch dem Sparring len und ohne Sicherheit nachvollziehen. von Argumenten und dem Erlernen Wenn Input zurückverfolgt werden neuer Handlungsoptionen, die noch kann, dann oft, weil Formulierungen nicht bedacht wurden. aus Strategiepapieren wiedererkannt werden oder weil Entscheidungen aus 4. Episode konkreten und längerfristigen Projekten Episode 4 widmet sich den Handlungs- hervorgegangen sind. Letztlich stellte logiken, denen Wissenschaft und Politik Einfluss sich aber nicht als hilfreichen unterliegen und soll Schwierigkeiten Frame dar. Deshalb rückten wir von un- und Chancen aufzeigen, die sich aus serer ursprünglichen Annahme, wissen- der Zusammenarbeit von Beratenden schaftliche Politikberatung sei gut, und Beratenen ergeben. Aus den Ge- wenn sie Einfluss hat, ab. Stattdessen sprächen konnten wir schließen, dass eröffnete sich uns ein Portfolio an Cha- besonders Zeit ein Faktor ist, der dazu rakteristika „guter“ Politikberatung. beiträgt, dass sich Wissenschaft und Dazu gehörten Authentizität des Bera- Politik in einem Spannungsverhältnis zueinander befinden. Sei es nun, weil wissenschaftlichen Beratenden nicht genug Zeit eingeräumt wird, umfängli- che Analysen vorzustellen oder weil im- mer komplexere Herausforderungen, 10
tenden, Nachhaltigkeit der Kommunika- tion und die Produktion gegenseitiger Lerneffekte durch den Austausch. 11
2. 1968 am OEI – Eine Annä- Projektablauf und methodisches Vorgehen herung an die Vergan- Die damalige „Studentenbewegung” genheit. Im Gespräch. Im war prägend für die politische Ge- Archiv schichte der alten Bundesrepublik. Übergeordnetes Ziel von uns war, die individuellen Erfahrungen von Zeit- Anusch Arash, Elisa Eveilleau und Lu- zeug:innen mit der Forschung aus jener kas Daub Zeit zu verbinden. Im Rahmen unseres Podcast- und Archivprojekt haben wir uns zum einen mit der Forschung am OEI auseinandergesetzt: Haben sich die Veröffentlichungen vor und nach dem Ende der 60er-Jahre verändert? Lassen sich Tendenzen erkennen? Welche Entwicklungen gab es am Insti- tut selbst? Zum anderen möchten wir eine Platt- form für persönliche Erfahrungen von Zeitzeug:innen bieten: Wie haben ehe- malige OEI-Studierende die Zeit wahr- © Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke-Klotz, genommen? Was für Vorstellungen und 2021 Wünsche hatten sie damals? Wie bli- cken sie heute auf die Studierenden- Das Ziel dieses Projekts bestand darin, schaft, soziale Bewegungen und den das Osteuropa-Institut 70 Jahre nach Universitätsbetrieb? Wie war der Kon- seiner Gründung, aber vor allem mehr takt zu Studierenden an osteuropäi- als 50 Jahre nach den Studentenpro- schen Universitäten? testen 1968 zu beleuchten. Im Zuge un- Um Antworten auf unsere Forschungs- serer Projektarbeit wollten wir heraus- fragen zu finden, wählten wir zwei An- finden, welche Auswirkungen die Stu- sätze: Zeitzeug:innen-Gespräche und dentenbewegungen und Studierenden- Archivrecherche. Das Zeitzeug:innen- proteste auf das Osteuropa-Institut Gespräch soll erfolgen, damit ein mög- selbst hatten, aber auch, welche Per- lichst ungefiltertes Bild der Erfahrungen spektiven und Wünsche die damals be- der Gesprächspartner:innen wiederge- teiligten Studierenden hatten. Wie bli- ben und mit unseren Recherchen ein- cken sie heute auf die Studierenden geordnet werden kann. Nach einer ers- und den Universitätsbetrieb? Wie war ten Recherche wurde im Zuge eines der Kontakt zu Studierenden an osteu- Vorbereitungsgespräch ein Interview- ropäischen Universitäten? leitfaden erarbeitet. Anhand von Doku- Zu diesem Zweck haben wir in den Ar- menten, Protokollen und Zeitungsbe- chiven des Osteuropa-Instituts recher- richten möchten wir außerdem die his- chiert und ehemalige Student:innen torischen Überlieferungen und Entwick- kontaktiert, um ein Zeitzeuginnen-Ge- lungen innerhalb der Studierenden- spräch zu führen. Die Ergebnisse unse- schaft am OEI kontextualisieren. rer Arbeit mündeten in einen Podcast Veröffentlicht werden unsere Ergeb- mit Gretchen Dutschke-Klotz, der ehe- nisse in einem Podcast mit wechseln- maligen Studentenaktivistin, Autorin den Themenblöcken. Entstehen soll so- und Ehefrau des Wortführers der Stu- mit ein Projekt, welches Forschenden dentenbewegung der 1960er-Jahre, Rudi Dutschke. 12
als auch der interessierten Öffentlich- FU, prägte eine Generation progressi- keit einen Einblick in die damalige Zeit ver Wissenschaftler, wie z.B. René Ahl- gibt. berg und Klaus Meschkat. Zu seinen Studenten zählte auch Rudi Dutschke. Aufbruchstimmung Die 1968er-Jahre waren in vielerlei Hin- Die Dutschkes am OEI sicht eine Zeit des Aufbruchs: die Pro- Zwei zentrale Protagonist:innen der teste gegen den Vietnamkrieg, die anti- Studentenbewegung studierten am autoritäre Bewegung, demokratische OEI: Gretchen und Rudi Dutschke. Rudi Aufbrüche im Osten, die Niederschla- Dutschke war zudem studentische gung des Prager Frühlings. Neue Le- Hilfskraft in der Abteilung Soziologie bensweisen wurden gefordert und aus- des Instituts. Das Ehepaar engagierte probiert. Studentinnen und Studenten in sich im Sozialistischen Deutschen Stu- Berlin waren besonders aktiv in dieser dentenbund (SDS). Gretchen Bewegung. Viele bekannte Namen sind Dutschke-Klotz war Mitbegründerin des eng mit der FU Berlin verbunden. Arbeitskreises Frauen im SDS, einer Auch am Osteuropa-Institut fand dies Keimzelle der deutschen Frauenbewe- seinen Niederschlag. Allerdings stand gung. Als Studierende waren Gretchen das Institut nicht so im Zentrum der Pro- und Rudi Dutschke nach der Wahl Ale- teste wie das benachbarte Otto-Suhr- xander Dubčeks in Prag und erlebten Institut für Politikwissenschaft. Zugleich als Augenzeug:innen die Tage des Pra- wandelte sich der Blick auf Osteuropa. ger Frühlings. Nur zwei Jahre später erkannte Willy Brandt mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags die deutsche Ost- grenze 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an. Sein Kniefall in Warschau vor dem Mahnmal im ehe- maligen Getto markierte eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld. Ein konservatives Institut? In den Gründungsjahren des Instituts © Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke-Klotz: dominierten NS-belastete Professoren Hochzeitsfoto 1965 am OEI. Mit dem Marxismus-Leninis- mus-Projekt kamen wichtige Impulse Gretchen Dutschke-Klotz: aus der deutschsprachigen Exilwissen- Dutschke-Klotz, 1942 in Oak Park, Il- schaft und der US-amerikanischen For- linois geboren, ist Autorin und ehema- schung nach Berlin. Linke Intellektuelle lige Studentenaktivistin. 1964 lernte sie wie Franz Neumann und Herbert Mar- Rudi Dutschke in Berlin kennen. Nach cuse befanden sich in einem jahrelan- kurzem Aufenthalt in den USA kehrte gen Dialog mit den Vertretern des OEI. sie 1965 zurück und heiratete ihn im da- Der Historiker Werner Philipp begann rauffolgenden Jahr. 1966 studierte sie Anfang der 1960er Jahre selbstreflexiv Theologie und russische Geschichte den Bruch mit der Ostforschung öffent- am Osteuropa-Institut FU-Berlin. Nach lich zu fordern und neue Wege der Ost- dem Attentat und dem Tod Rudi europa-Forschung aufzumachen. Der Dutschkes verließ sie Deutschland. Seit Soziologie-Professor Hans-Joachim 2010 lebt sie wieder in Berlin und ver- Lieber, von 1965 an auch Rektor der fasste Bücher über Rudi Dutschke und der Zeit der Studentenproteste. 13
Gretchen Dutschke-Klotz: „Naja, also ich denke wir hatten damals Hoffnung. Wir hatten wirklich Hoffnung das das gelin- gen würde. Ich denke schon als die Sow- jetunion den Prager Frühling kaputt ge- macht hat, war viel Hoffnung zerstört ge- wesen. […] Die damalige Bewegung wuchs damals immer mehr und mehr und auf der ganzen Welt. Damit verbunden war die große Hoffnung, dass sich Ver- änderungen durchführen könnten. Und dass man den Kapitalismus vielleicht zu einem Ende bringen könnte und eine an- dere Gesellschaft schaffen könnte, eine die nicht wie die Sowjetunion und nicht wie im Westen war. Heute? (lacht) Also mein Eindruck ist nicht gut. Aber vielleicht ist das Falsch. Aber was man sieht. Also © Private Bildaufnahme/ Gretchen Dutschke- ich denke die Situation ist drastisch. Weil Klotz, 2021 ich glaube die Umweltfrage ist sehr drin- gend. Aber die Menschen sind nicht be- Das Interview mit Gretchen reit das zu tun, was notwendig ist. Sie se- hen das nur als ein Angriff gegen sich Dutschke-Klotz und nicht als eine Hoffnung auf etwas Gretchen Dutschke-Klotz, eine Symbol- Besseres. Ich kann nicht mehr mein Auto figur der Studentenrevolte von 1968, er- fahren – also bin ich dagegen. Die jun- zählte uns bei unserem Vorbereitungs- gen Leute müssen was machen. Ich treffen am 16. Juni 2021 und bei der hoffe sie werden sagen: „Ich muss doch was machen!“. Wenn ich an meine Enkel- Durchführung unseres Interviews am kinder denke – die werden leiden! 08. Juli 2021 ihre Geschichte. Dabei sprach sie sowohl von ihrer Ankunft in Archivarbeit – Wie politisch war das Berlin 1964, als auch ihre Beziehung zu OEI? Rudi Dutschke und ihr gemeinsames Die Ausrichtung des Osteuropa-Insti- politisches Engagement. tuts zum Ende der 60er-Jahre lässt sich Im Verlauf erwähnte sie ihre Verbin- ohne bekannte Niederschriften bzw. O- dung zu Osteuropa und beschrieb ihr Töne damaliger Professor:innen, die Engagement jenseits der Türen des sich mit diesem Thema auseinander- OEI-Campus, insbesondere während setzen, nur schwer nachvollziehen. Aus der Zeit des Prager-Frühlings und der dem zugänglichen Archivmaterial soll Wahl von Alexander Dubček in der daher eine Annäherung versucht wer- Tschechoslowakei, dem sie und Rudi den. beiwohnten. Im Gespräch beschreibt Genutzt wird neben dem Archivmaterial sie die Stimmung als hoffnungsvollen aus dem Osteuropa-Institut eine Auflis- Momentum auf den Prager Straßen. tung der wissenschaftlichen Arbeiten, Die Proteste nahm sie „mehr wie ein entnommen aus den Mitteilungsblättern großes Tanzen – als eine Demonstra- des „Koordinationsausschuß für Osteu- tion“ wahr. Darüber hinaus sprach sie ropaforschung“. Die Analyse umfasst mit uns über die Bedeutung der damali- die Veröffentlichungen und For- gen Studentenbewegung und ihre Hoff- schungsvorhaben vom 01.01.1967 bis nung auf eine solidarischere Welt. zum 01.05.1971. Die Mitteilungsblätter können als Versuch verstanden wer- Auszug aus dem Gespräch den, sich innerhalb der Osteuropafor- schung über den jeweiligen aktuellen Projektgruppe: „Wie schauen Sie auf die Herausforderungen der heutigen Zeit?“ Stand der Institutionen gegenseitig zu 14
informieren. Sie enthalten Veröffentli- Bereiche im Verhältnis zueinander wa- chungen der Institutionen selbst, Habili- ren, ist aus dem Archivmaterial nur tationsschriften, Dissertationen sowie schwer nachvollziehbar. Einzig der Be- begonnene Forschungsvorhaben. Fer- reich der Slawistik mit seinen drei Lehr- ner wird über Veranstaltungen der Insti- stühlen lässt sich als wichtigster Teil tutionen und etwaige Personalverände- identifizieren. rungen informiert. Aufgeführt werden in Mit aktuellen Geschehnissen z. B. dem den Mitteilungsblättern Universitäten Prager Frühling, dem Volksaufstand in und andere wissenschaftliche Institutio- Ungarn oder anderen Entwicklungen im nen, die sich in ihrer Forschung mit Ost- Ostblock bzw. in der Beziehung des europa bzw. Südosteuropa auseinan- Ostblocks zur BRD, befassen sich die dersetzen. Der Koordinationsaus- Veröffentlichungen und Vorhaben kaum schuss entscheidet dabei selbstständig, bis gar nicht. Lediglich im Bereich der ob die jeweilige Forschungseinrichtung Soziologie können die Titel einzelner die Kriterien erfüllt, wie aus der Begrü- Vorhaben mit dem Zeitgeschehen in ßung des osteuropäischen Forschungs- Verbindung gebracht werden. Der bereich der Universität Köln, der sich Großteil der Veröffentlichungen am OEI anscheinend erfolgreich beworben zum Ende der 1960er-Jahre befasst hatte, hervorgeht. sich mit ‚unpolitischeren‘ Themen wie „Gewässernamen in Russland“, der Beim Blick auf die Veröffentlichungen „Schlacht um Kasan 1487“ oder mit und Forschungsvorhaben des Osteu- dem „Verwaltungsrecht der DDR“. ropa-Instituts der Freien Universität Alles in allem kann angenommen wer- wird deutlich, dass der Schwerpunkt auf den, dass aktuelle Geschehnisse sei- der Abteilung der Slawistik sowie auf tens Forschung und Lehre eine unter- dem der Wirtschaft in Osteuropa liegt. geordnete Rolle spielten, dies wird vor Von 65 Veröffentlichungen im beschrie- allem im Vergleich zu anderen Instituti- benen Zeitraum sind 15 dem Bereich onen der Osteuropaforschung in der der Slawistik sowie 12 dem Bereich der BRD deutlich. Dies könnte darauf hin- Wirtschaft zuzuordnen. Dies entspricht deuten, dass die Zeit der 68er auf For- einem Gesamtanteil von ca. 42 Pro- schung und Lehre im Vergleich zu den zent. Bei den Forschungsvorhaben wird Studierenden kaum eine Auswirkung allerdings deutlich, dass ihr Anteil abzu- hatte. nehmen scheint. Hier decken die bei- den Bereiche nur gut ein Viertel ab. Ei- Die Ergebnisse unserer Arbeit und der nen deutlich wachsenden Anteil haben Podcast wird auf folgender Seite einzu- die Bereiche Recht sowie der in dieser sehen sein: https://1968amosteuro- Arbeit zusammengefasste Bereich von painstitut.wordpress.com/ Vorhaben mit soziologischen, ge- schichtlichen oder politischen Aspekten Literatur (ebenfalls rund ein Viertel). Die Fallzahl von nur 21 dokumentierten For- Bohnsack, Ralf (2014). Rekonstruktive Sozial- schungsvorhaben lässt jedoch nur be- forschung. Einführung in Methodologie und dingt Rückschlüsse zu. Praxis qualitativer Forschung. Opladen Die offiziellen Bereiche, nach denen Lönnendonker, Siegward; Fichter, Tilman P.; sich das OEI zu dieser Zeit differen- Staadt, Jochen (1983): Gewalt und Gegenge- zierte, waren „Slawistik“, „Wirtschaft“, walt. Unter Mitarbeit von Universitätsbiblio- „Osteuropäisches Recht“, „Bildung in thek der FU Berlin. Osteuropa“, „Medizingeschichte in Ost- Seitenbecher, Manuel (2013): Mahler, Maschke europa“, „Geschichte in Osteuropa“ und & Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewe- „Soziologie“. Wie groß die einzelnen gung? Teilw. zugl.: Potsdam, Univ., Diss., 15
2012 u.d.T.: Seitenbecher, Manuel: Mahler, Maschke & Co. Paderborn: Schöningh. 16
3. Feministische For- wenn auch nicht komplett revidiert: von erzieherischen und häuslichen Tätigkei- schung – früher und ten wurde sie im sozialistischen Alltag heute der sich neu formierenden Staaten im Osten Europas zunehmend zu einer ar- Florica Barth, Myriel Baumgart, Felix beitstätigen Kraftzelle der Arbeiter- Duckert, Laura Höner und Maria masse. Das bedeutete allerdings nicht, Strejckova dass sie von der Hausarbeit und der Kindererziehung entbunden war. Rela- Abstract tiv unberührt schien der gesamte Ost- Wie bewerten moderne Wissenschaft- block von der folgenden Wiedergeburt ler:innen aus der Feminismus- bezie- und zweiten Welle des Feminismus in hungsweise Genderforschung die histo- den 60er- beziehungsweise 80er-Jah- rischen Entwicklungen im sozialisti- ren. Nach dem Zusammenbruch des schen Osteuropa und den heutigen Sta- Sozialismus scheinen konservative tus Quo? Frauenbilder das Bild des östlichen Eu- Dieser Fragestellung sind wir in unse- ropas wieder zu dominieren. rem Projekt nachgegangen. Dieses Fakt ist aber auch: Heutzutage gibt es baut auf der Analyse von Interviews mit eine eigene Forschung über all die ge- verschiedenen Expert:innen aus sellschaftlichen und sozialen Aspekte Deutschland, Tschechien, Russland des modernen Diskurses über die Frau, und der Ukraine auf, die durch Lehr- die sogenannte Feminismusforschung, stühle in Gender Studies oder allgemei- die eng mit den Gender Studies verbun- nes Interesse mit dem Thema verbun- den ist. Die Genderforschung ist eine den sind. relativ neue Institution, das Fach Gen- Diese Broschüre beinhaltet einen der Studies an höheren Bildungsinstitu- Raum- und Zeitvergleich über den Fe- tionen wirkt einerseits etabliert, beson- minismus, seine Forschung sowie die ders in der westlichen Hemisphäre, an- Entstehung und Adaptierung der Gen- dererseits gibt es Strömungen in ost- der Studies im Osten Europas seit den und westeuropäischen Gesellschaften 1980er-Jahren sowie die Etablierung und politische Bestrebungen, dieses und Entwicklung ebendieser Gender wieder aus Universitäten, Hochschulen Studies heute am Beispiel des postsow- und anderen Aspekten des Lebens zu jetischen Russlands und, im Vergleich, verbannen. dem des heutigen Tschechiens. Es Der Werdegang des damaligen sozia- werden Erfolge, Rückschläge, Hürden listischen und modernen kapitalisti- und ein möglicher Ausblick für die Zu- schen Russlands aus Sicht der Gender- kunft der wissenschaftlichen Auseinan- forschung hing stark mit einem seiner dersetzung mit dem Thema dargelegt. radikalsten politischen Machthaber, Jo- sef Stalin, zusammen: dieser sah Feministische Gedanken und Bewe- Frauen als Arbeiterinnen und Wirtschaf- gungen gibt es in Europa seit dem 19. terinnen ebenso wie als wichtige Produ- Jahrhundert. Ziel dieser Bewegungen zentinnen des sozialistischen Nach- waren mehr Anerkennung und finanzi- wuchses. Somit galt die Frauenfrage elle Unabhängigkeit der Frau in einer als geklärt und eine wissenschaftliche stark patriarchal geprägten Gesell- Auseinandersetzung mit der ge- schaft. Mit dem Aufkommen des Sozia- schlechtsspezifischen Thematik gab es lismus wurden im 20. Jahrhundert auf offiziell nicht. Erst gegen Ende und politischer und soziologischer Ebene nach Zerfall des sozialistischen Sys- die Sichtweise auf die Frau sowie ihre tems wurden Zentren für die wissen- gesellschaftliche Rolle neu bewertet, schaftliche Auseinandersetzung mit 17
Genderforschung gegründet, so wie Bild von Pixabay Moskau, Charkiv und Ivanovo; weiter- nicht gleich einen Vorteil für die Frauen- hin begann zum Beispiel die Universität bewegung: Die Wissenschaft bemän- von Kasan bereits 1991, Gender Stu- gelte eine rapide Abnahme erwerbstäti- dies als Studiengang anzubieten, an- ger Frauen in den 1990er-Jahren, auch dere Städte Russlands folgten dem Bei- wenn diese nun mehr zwischen Familie spiel. Wissenschaftler:innen und Dozie- und Beruf wählen konnten. Der Weg zu- rende griffen das Thema mit Enthusias- rück in die Mutterrolle schien vielen mus auf, auch der Staat unterstützte Frauen angesichts der gesellschaftli- zeitweise die damit verbundenen insti- chen Lage als die bessere Variante. Zu- tutionellen Gründungen und andere Bil- dem wurde der Feminismus von viele dungsangebote. tschechischen Frauen als “exotischer Tschechien war zu Zeiten der Sowjet- Import aus dem Westen” gesehen, die union ein mit der heutigen Slowakei ver- postsowjetisch-russische politische bundener, dem sozialistischen Block Konservative sieht in der Gleichstel- zugehöriger Satellitenstaat. Es gab lungsfrage einen “westlichen Wahn- durchaus Überschneidungen in einigen sinn” (Lissjutkina, Larisa). Punkten des alltäglichen Lebens: es Die Osterweiterung der EU seit 2004, gab eine politisch-offizielle Gleichstel- ein eigentlich politisch-soziales Ereig- lung der Frau in Arbeit und Bezahlung, nis, wird bis heute kontrovers in der For- ohne aber die „zweite Schicht“ der Frau, schung diskutiert. Einerseits wurden Haushalt und Kinderbetreuung, anders Frauen und Wissenschaftler:innen mit zu bewerten. Dieser Staat hatte aber neuen EU-Vorgaben konfrontiert, ande- trotz der Bindung an die Union eine ei- rerseits ging die Sorge im Westen um, gene Dynamik in Gesellschaft und Wirt- die Erweiterung gen Osten bringe einen schaft, es gab etwa eine 30-Prozent- Rückschritt in der Gemeinschaft. Ange- Frauenquote in der tschechoslowaki- sichts der jüngsten Geschehnisse in schen Politikebene, von der Expert:in- Ungarn und Polen auf politischer Ebene nen aber heute sagen, dass man ist die Öffentlichkeit besorgt, dass be- Frauen dennoch nie in höheren Positio- reits erreichte Meilensteine in der nen gesehen habe. Aber eben auch in Gleichberechtigung wieder auf dem der Sicht auf die Stellung der Frau in Spiel stehen. beiden Feldern und in der Forschung Alle für dieses Projekt interviewten und dadurch eine andere Entwicklung Russland-Expert:innen sprechen von vollzogen. Nach dem Ende der UdSSR einer restriktiveren Gangart der Politik suchte Tschechien die Nähe zum Wes- gegen die bereits erwähnten Pro- ten Europas und wurde somit anders gramme an Universitäten, Sommer- mit der westlichen schulen etc. in den letzten Jahren. Viele Feminismus- be- Projekte und wissenschaftliche Ausei- ziehungsweise nandersetzungen würden ins (meist eu- Genderfor- ropäische) Ausland verlegt. Auch die schung kon- Gesellschaft sei oft noch sehr kritisch frontiert als das und ablehnend gegenüber der For- neu entstan- schung. dene Russland Die tschechischen Expertinnen berich- nach dessen Un- ten ebenfalls von Argwohn und Ableh- abhängigkeit 1991. nung vieler gegenüber dem Thema und Diese Demokratisierung der Forschung, wenn auch in Tsche- und Anlehnung an den chien eher Gender und Gender Studies Westen bedeuteten aber kritisch gesehen werden. Dafür erfährt aber der Feminismus, wenn auch erst 18
langsam und seit kurzem, mehr und einzelner Feststellungen, Expert:innen mehr Akzeptanz bei den Menschen und für den russischen Raum beschrieben wird somit näher untersucht, ohne Re- in den Interviews etwa, wie sich unter pressionen von politischer Seite. Vielen Vladimir Putins die Situation der Bil- Frauen würde erst jetzt die Thematik dungsstätten und Forschungsmöglich- bewusst, daher werden NGOs gegrün- keiten verschlechtert habe und unge- det und Forschungsmöglichkeiten ver- wiss sei, ob es weiter bergab gehe oder stärkt in Anspruch genommen. der zukünftige politische Erbe Putins ei- Tschechien und Russland sind durch nen anderen Weg gehen werde. Auch verschiedene Entwicklungen in der Fe- auf tschechischer Seite ist ungewiss, minismus- beziehungsweise Gender- wie etwa die derzeitigen politischen forschung gegangen. Einerseits gibt es Entwicklungen in Polen und Ungarn die Ähnlichkeiten in Alltag und Arbeit, ande- hiesige Stimmung und Herangehens- rerseits gab es Unterschiede in der Um- weise an die Forschung zu Gender und setzung und im Status der wissen- damit zum Feminismus beeinflussen schaftlichen und gesellschaftlichen werden. Auseinandersetzung mit der Thematik. Tschechien hatte keinen kommunisti- Literatur schen Apparat, der die Frage einfach als geklärt abtat, Russland dafür keine 30-Prozent-Quote in der Politik, was Lissjutkina, Larisa: “ “Ein „Sorgenkind“ im Fer- nen Osten Europas: Die Russische Frauen- letztendlich keine Erleichterung bei bei- bewegung und Genderforschung zwischen den Ländern bedeutete. Hoffnung und Verzweiflung”, in: Miethe, In- Das heißt aber nicht, dass es keinen grid / Roth, Silke (Hrsg.): Europas Töchter, Diskurs zum Thema Gender und Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauen in der Wissenschaft gegeben Frauenbewegungen in Europa, S. 226 hat. Dieser ist seit den 1980ern in Sow- Petö, Andrea: “Eastern Europe: Gender Rese- jetrussland und in der damaligen arch, Knowledge Productions and Instituti- Tschechoslowakei erkennbar. Unsere ons”, in: Kortendiek,Beate / Riegraf, Birgit / Expert:innen berichten von verschiede- Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdiszip- nen und unterschiedlich intensiven linäre Geschlechterforschung, Springer-Ver- lag, Wiesbaden 2019, S. 1540 Adaptionen des Feminismus in der Ge- sellschaft sowie der Forschung und Roth, Silke: “Nationale und internationale Ein- konnten dementsprechend diverse flüsse - Ein Vergleich europäischer Frauen- Aussagen zur Situation aus Sicht der bewegungen“. In: Miethe, Ingrid/Roth, Silke Wissenschaft in beiden Ländern ma- (Hrsg.): Europas Töchter. Traditionen, Erwar- tungen und Strategien von Frauenbewegun- chen. Unter anderem war interessant, gen in Europa. Springer Verlag, Wiesbaden dass es im postsowjetischen Raum zu- 2003, S. 276 nächst nicht als Gender Studies, son- dern als Feminologie bezeichnet wurde, Röder, Ingrid: “Veränderungen in der Chan- was als ein Abgrenzungsversuch vom cengleichheit für Mann und Frau in der Tschechischen Republik und der Slowakei westlichen Diskurs gedeutet werden seit 1989”, in: Forschungsstelle osteuropa an kann. Diese Bezeichnung hat allerdings der Universität Bremen: "Neues Europa?" keinerlei Relevanz in der späten Tsche- Osteuropa 15 Jahre danach: Beiträge für die choslowakei oder dem heutigen Tsche- 12. Brühler Tagung junger Osteuropa-Exper- chien. Im tschechischen Diskurs ist das ten. Bremen 2004, S. 80 Wort Feminismus Teil der Problematik, Stein-Redent, Rita: “Verstehen wir uns?”, in: auch weil es bis heute oft als Schimpf- Ernst, Waltraud (Hg.): Internationale Frauen- wort genutzt wird. Selbstverständlich und Genderforschung in Niedersachsen: gibt es aber auch Überschneidungen Grenzregime : Geschlechterkonstellationen 19
zwischen Kulturen und Räumen der Globali- sierung, LIT Verlag, Münster 2010, S. 156 20
4. Frauen in der Wissen- Wegen ihres Geschlechts werden sie oftmals benachteiligt und müssen sich schaft am Beispiel des Ost- ihren Platz in der Wissenschaft hart er- europa-Instituts kämpfen. Daher sind etwa das Gleich- stellungskonzept oder der Frauenför- Klaudia Broßzeit derplan aus dem akademischen Umfeld nicht mehr wegzudenken. An der Freien Universität wurde im Jahre 1989 ein großer Meilenstein im Frauen am OEI Bereich der Gleichstellung der Ge- Trotz der Genderungleichheiten hat es schlechter gesetzt. Nach der Kommis- am OEI Frauen gegeben, welche das sion zur Förderung von Nachwuchswis- Institut geprägt haben. Dennoch, ein senschaftlerinnen und dem Plenum der Blick auf die Fotografien der Einwei- Frauenbeauftragten folgte im darauffol- hungsfeier des OEI aus dem Jahre genden Jahr der Zentrale Frauenrat, 1961 verweist auf Frauen, die in der Re- welcher von den weiblichen Mitgliedern, gel abseits vom eigentlichen Gesche- der FU gewählt wird und die zentralen hen sitzen, höchstens vereinzelt im Frauenbeauftragten, sowie ihre Stell- Publikum ab der vierten Reihe. Ihre Na- vertreterinnen in ihrem Amt unterstüt- men herauszufinden war – ganz anders zen soll. Warum dies so wichtig ist, zei- als bei den Männern – schier unmög- gen Zahlen des Statistischen Bundes- lich. Heute wird nur mehr an die fünf amtes. Im Jahre 2019 kamen in Gründungsprofessoren und Willy Deutschland auf 36.139 männlich be- Brandt erinnert. setzte Hauptprofessuren lediglich Beinahe in Vergessenheit geraten wäre 12.408 Professorinnen. Demnach be- auch Dr. Dora Fischer. Ihre nach über trägt der Anteil der Frauen gerade ein- Jahrzehnten im Archiv gefundene Per- mal etwas über 25 %, immerhin mit stei- sonalakte erzählt von einer Frau, der gender Tendenz. Diese Verteilungen das OEI so einiges zu verdanken hat. mögen verwundern, denn bei den Ab- Bereits in den 70er Jahren wurde sie in schlussquoten sind Frauen stärker ver- der Abteilung Landeskunde als Akade- treten als ihre Mitstreiter. Erfreulich sind mische Oberrätin zur Professorin er- im Vergleich zur Besetzung der Haupt- nannt und ließ sogar ihren Eintritt in den professuren zumindest die Zahlen der Ruhestand um ein Semester verschie- Habilitationen aus dem vergangenen ben, um sich für die Verwirklichung ei- Jahr, bei denen im Vergleich zum Jahr ner Exkursion in das damalige „Sowjet- 2010 der Frauenanteil in Deutschland mittelasien“ und Pakistan mit 15 Studie- um fünf Prozentpunkte auf 35 % gestie- renden einzusetzen. Damit ist sie eine gen ist. Hier ist jedoch anzumerken, Vorreiterin der späteren Auslandsauf- dass im Jahre 2020 24,5% weniger enthalte. Männer ihre Habilitation abschlossen als noch vor zehn Jahren. Analyseergebnisse Durchgesiebt wird bereits in der Post- Mit dem Einstieg in die Wissenschaft di- doc-Phase. Viele Nachwuchswissen- rekt nach dem Studienabschluss wei- schaftlerinnen versuchen den Spagat sen alle Interviewpartnerinnen aus der zwischen Karriere und Familienplanung Berufsgruppe des wissenschaftlichen erfolgreich zu meistern. Oftmals ste- Personals eine „klassische“ Biografie cken sie an diesem Punkt allerdings zu- auf. Vielfalt im Sinne aussagekräftiger rück und müssen, falls sie sich doch für branchenfremder Berufserfahrung oder eine akademische Laufbahn entschei- einer für den wissenschaftlichen Be- den, mit deutlich schlechteren Chancen rufseinstieg untypischen Altersklasse auf eine unbefristete Stelle rechnen. gibt es nicht. Alle Befragten gaben an, 21
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