12/18 SOZIALVERBAND VDK DEUTSCHLAND EV

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Fachzeitschrift für Sozialpolitiker und Schwerbehindertenvertreter
  Sozialrecht + Praxis

                                                                                          Schwerbehinderung
                                                                                          Versorgungsmedizin-Verordnung

                                                                                          Sozialversicherung
                                                                                          Rechengrößen für das Jahr 2019

                                                                                          Bundessozialgericht
                                                                                          Bildung und Teilhabe bei Hartz IV

                                                                                          Sozialpolitik
                                                                                          Beratende Rolle von Verbänden

                                                                                                                  12/18
                                                                                                                        28. Jahrgang
                                                                                                                    GP 12025 DP AG

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Inhalt

       Sozialpolitik                                Pflegeheimwechsel: Ablauf der
       Änderung der Versorgungsmedizin-­            ­Kündigungsfrist nicht bindend         792
       Verordnung                                    Die Rolle der Verbände in der
       Von Dorothee Czennia                  751    ­Sozialpolitikberatung
       Berufskrankheiten: Früherkennung               Von Sören Deister794
       von Mesotheliomen möglich             768     Makuladegeneration: EuGH billigt
       Facharzt-Termin: Kürzere Wartezeiten           Off-Label-Use von Avastin            799
       für Kassenpatienten                   769     Home-Office: Sturz auf der Haustreppe
       Neue Rechengrößen der Sozialversicherung       kann Arbeitsunfall sein              800
       für das Jahr 2019                              Mietkaution: Hartz-IV-Empfänger
       Von Dieter Leopold771                         müssen Betrag abstottern             802
       Neue App: „DB Barrierefrei“ soll
       Bahnfahren einfacher machen           773
                                                    LITERATUR
                                                    Kommentar: Rehabilitation und
       Barrierefreiheit: Einigung auf
                                                    Teilhabe im SGB IX                           803
       European Accessibility Act            775
                                                    Ratgeber: Nachteilsausgleiche und
       DVfR-Kongress: Arbeit ist und
                                                    ­Fördermittel                                803
       bleibt Schlüssel zur Teilhabe         776
                                                     Grundwissen: Leistungen zur Sicherung
       Behindertenbeauftragter: Jürgen Dusel
                                                     des Lebensunterhalts                        804
       fordert Wahlrecht für alle            777
       Bilanz Sozialwahlen: Beteiligung              Gesundheitsreport 2018: Arbeitsunfähig
       erstmals geringfügig gestiegen        777    ­wegen Rückenerkrankungen                   805
                                                      Arbeitshilfe: Datenschutz in der
       RECHT                                          ­Betriebsratsarbeit                        805
       Vor dem Bundessozialgericht:
       Grund­sicherung für Arbeitsuchende,
                                                    SERVICE
       Bildung und Teilhabe, Lernförderung          Basisseminar: Grundwissen für
       Mitgeteilt von Jörg Ungerer780              ­Schwerbehindertenvertretungen             806
       Steuerersparnis: Bei Übernahme der            BAG-Symposium: Wege zur Teilhabe
       ­Kassenbeiträge des Kindes           788     in Pflegeheimen                           806
        Entschädigung wegen überlanger               Praxisseminar: Grundlagen beruflicher
        ­Verfahrensdauer                             ­Teilhabe                                 807
         Von Dirk Dahm789                            Sozialrechtstagung: Einzelfallgerechtigkeit
         Fiktive Genehmigung: Kassen                  vs. Gemeinwohlinteresse                  807
         müssen weiterhin rasch entscheiden 791      TriTeam-Projekt: Mentoring für blinde
         Hartz IV: Sozialgeld für Erwerbs­            und sehbehinderte Studierende            808
         minderungsrentner792                        Jahresregister 2018                      810

                                                                                Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       Änderung der                             in der Gesellschaft. Des Weiteren wer-
                                                de durch die Möglichkeit der Befris-
       Versorgungsmedizin-                      tung das Verwaltungsverfahren ver-
       Verordnung                               einfacht.
                                                Teil A, künftig „Gemeinsame Grund-
       Stellungnahme des Sozialverbands         sätze“ – gilt für alle ärztlichen Begut-
       VdK zum Referentenentwurf                achtungen im Schwerbehinderten-
                                                recht und im Sozialen Entschädi-
       Von Dorothee Czennia                     gungsrecht – soll künftig folgende
                                                Struktur erhalten:
       Mit dem Referentenentwurf (Ref.-E.)        Grundlagen (dazu 1.)
                                                £ 
       sollen die in der Anlage zu § 2 der
       Versorgungsmedizin-Verordnung              Heilungsbewährung (dazu 2.)
                                                £ 

       (VersMedV) festgelegten „Versor-           Gesamt-GdB-Bildung (dazu 3.)
                                                £ 
       gungsmedizinischen Grundsätze“ auf
       der Grundlage des aktuellen Stands         Hilflosigkeit (wie bisher)
                                                £ 

       der medizinischen Wissenschaft und         Besonderheiten der Beurteilung der
                                                £ 

       unter Berücksichtigung der Grundsät-       Hilflosigkeit bei Kindern und Ju-
       ze der evidenzbasierten Medizin fort-      gendlichen (wie bisher)
       entwickelt werden. Im Rahmen der           Verfahren (dazu 4.)
                                                £ 
       Gesamtüberarbeitung der Versor-
       gungsmedizinischen Grundsätze soll         Wesentliche Änderung der Verhält-
                                                £ 

       das bio-psychosoziale Modell von Ge-       nisse im Sozialen Entschädigungs-
       sundheit und Krankheit in die ge-          recht (dazu 5.)
       meinsamen Begutachtungsgrundsätze       Künftig soll grundsätzlich diejenige
       implementiert werden, das der Inter-    Funktionseinschränkung bei der Er-
       nationalen Klassifikation der Funkti-   mittlung der Teilhabebeeinträchti-
       onsfähigkeit, Behinderung und Ge-       gung berücksichtigt werden, die sich
       sundheit (ICF, Deutsches Institut für   unter Einsatz aller Hilfsmittel und all-
       Medizinische Dokumentation und          gemeiner Gebrauchsgegenstände des
       Information 2005) zugrunde liegt.       täglichen Lebens ergibt.
       Nach dem Allgemeinen Teil der Be-       Das bisherige Konstrukt der Heilungs-
       gründung soll der Entwurf die Begut-    bewährung als pauschale Bewertung
       achtung von Behinderungen verbes-       für begrenzte Zeit wird beibehalten.
       sern, unbeabsichtigte Nebenwirkun-      Allerdings unterliegen nach dem
       gen seien nicht ersichtlich. Die        ­Ref.-E. die Auswirkungen derjenigen
       Anpassung der Begutachtungsgrund-        Funktionsstörungen, die mit Beginn
       sätze verbessere die Bewilligung von     des Zeitraums der Heilungsbewäh-
       Nachteilsausgleichen und damit die       rung eindeutig festgestellt sind und
       gleichberechtigte Teilhabe von Men-      über den für die Heilungsbewährung
       schen mit Behinderungen am Leben         festgesetzten Zeitraum hinaus dauer-
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
       752

       haft verbleiben (dauerhaft verbleiben-   und rheumatische Krankheiten ent­
       de Funktionsstörungen), nicht mehr       hielt, wird stark gekürzt und künftig
       der pauschalen Bewertung. Der Grad       nur noch Angaben zu entzünd-­
       der Behinderung (GdB) hierfür soll       lich-rheumatischen Krankheiten wie
       nach den Regeln der Gesamt-GdB-          zum Beispiel Bechterew, Kollageno-
       Bildung in die Gesamtbewertung ein-      sen, Vaskulitiden, nichtentzündliche
       fließen. Die danach neu gefassten Be-    Krank­heiten der Weichteile, Fibro-
       wertungen in Teil B sind mit einem       myalgie (Nr. 18.2.1 bis 18.4), Mus-
       entsprechenden Hinweis versehen.         kelkrankheiten (Nr. 18.6) sowie voll-
       Es ist vorgesehen, bei bestimmten        ständige Nervenausfälle der oberen
       Feststellungen die Verwaltungsakte zu    und unteren Gliedmaßen (Nr. 18.13
       befristen. Dies soll unter anderem den   und 18.14) enthalten.
       Verwaltungsaufwand reduzieren und        Aus Teil B Nr. 18 herausgelöst und
       Kosten sparen. Nach Protesten im Zu-     unter der neu angefügten Nr. 19
       sammenhang mit einem Arbeitsent-         „Muskuloskeletale Funktionen“ sollen
       wurf in 2016/17 ist nun im Ref.-E.       künftig die überarbeiteten Grundsätze
       eine Übergangsklausel zum Bestands-      für entzündliche und degenerative Er-
       schutz geplant. Die Folgen der Befris-   krankungen des Bewegungsapparates
       tungsmöglichkeit für die Betroffenen     (Knochen, Muskeln, Muskelhüllen,
       sollen darüber hinaus mit einer Hin-     Sehnen, Sehnenscheiden, Schleim-
       weispflicht der Behörde und einer        beutel, Bänder) aufgeführt werden.
       Schutzklausel abgefedert werden.
       Die bisherige Teil A, Nr. 6 „Blindheit    Bewertung des VdK
       und hochgradige Sehbehinderung“,
                                                Die Zielsetzung des Entwurfs, die Be-
       wird in Teil B Nr. 4 zu den nun ins­
                                                gutachtungskriterien unter Beachtung
       gesamt überarbeiteten fachspezifi-
                                                des bio-psychosozialen Modells des
       schen Begutachtungsgrundsätzen für
                                                modernen Behinderungsbegriffs der
       „Sehfunktionen und verwandte Funk-
                                                WHO-Klassifikation der Funktions-
       tionen“ verschoben.
                                                fähigkeit Behinderung und Gesund-
       In Teil B Nr. 4 sind Änderungen bei      heit (ICF) zu verbessern, ist grundsätz-
       den fachspezifischen Begutachtungs-      lich zu begrüßen.
       grundsätzen für „Sehfunktionen und
       verwandte Funktionen“ vorgesehen.        Der Sozialverband VdK hält es nicht
                                                für vertretbar, dass es voraussichtlich
       In Teil B Nr. 16 sind Änderungen bei     künftig zu niedrigeren GdB-Feststel-
       „Funktionen des hämatologischen          lungen durch die Versorgungsämter
       und des Immunsystems“ vorgesehen.        mit den entsprechenden Nachteilen
       Teil B Nr. 18, der bisher zusammen-      bei der Zuerkennung von Nachteils-
       gefasst die fachspezifischen Begut-      ausgleichen kommen wird. Das hängt
       achtungsgrundsätze für sämtliche         zum einen damit zusammen, dass die
       Haltungs- und Bewegungsorgane            gemeinsamen Grundsätze in Teil A
                                                                        Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       verändert werden, die dann für alle        und Situationen genutzt oder sind
       weiteren zu überarbeitenden Gesund-        nutzbar und manche sind eben nicht
       heitsstörungen in Teil B relevant sind     immer durchgehend einsetzbar. So
       oder noch werden. Zum anderen wer-         kann ein Hörgerät für einen bestimm-
       den bei den jetzt überarbeiteten fach-     ten Einsatzbereich optimal angepasst
       spezifischen Begutachtungsgrundsät-        sein und dennoch im Alltag in ande-
       zen in Teil B Nr. 4, Nr. 16 und Nr. 19     ren Situationen nur bedingt genutzt
       für die verschiedenen Gesundheitsstö-      werden. Es gibt Personen, die sich
       rungen beziehungsweise Bereiche zum        Hilfsmittel, zum Beispiel aus finanzi-
       Teil niedrigere GdB angesetzt als der-     ellen Gründen, gar nicht anschaffen.
       zeit. Dies gilt zum Beispiel für die       Wie dem bei der Bemessung des GdB
       GdB-Bewertung bei den unteren Ext-         Rechnung zu tragen wäre, bleibt unge-
       remitäten. Begründet wird das zum          klärt. Die hierzu notwendige Sachver-
       Teil mit dem medizinischen Fort-           haltsaufklärung kann von der Versor-
       schritt, verbesserten Behandlungs-         gungsverwaltung in einem Massenver-
       möglichkeiten auch chronischer Er-         fahren nicht geleistet werden. Die
       krankungen und den Möglichkeiten           Neuregelung berücksichtigt nicht,
       moderner Hilfsmittelversorgung so-         dass der Einsatz von Hilfsmitteln oft
       wie dem Abbau von Mobilitätsbarrie-        gar keinen vollen Ausgleich von Teil-
       ren im öffentlichen Raum. Das alles        habebeeinträchtigungen gewährleisten
       seien Faktoren, die sich positiv auf die   kann.
       Teilhabe auswirkten und veränderte         Der VdK begrüßt, dass formal am
       (häufig geringere) GdB-Werte recht-        Konstrukt der Heilungsbewährung
       fertigten.                                 festgehalten wird, kritisiert aber, dass
       Aus Sicht des VdK und mit der Erfah-       künftig in den gemeinsamen Grund-
       rung aus den bundesweiten VdK-             sätzen keine Vorgaben zu Mindest-
       Rechtsberatungsstellen ist dieses Er-      GdB-Höhe und Mindestdauer der
       gebnis nicht nachvollziehbar und ent-      Heilungsbewährung mehr vorgegeben
       spricht nicht der Lebensrealität von       sind. Dies soll individuell bei den
       Menschen mit Behinderung. Eine             einzelnen Gesundheitsstörungen in
                                                  ­
       Feststellung lassen die Betroffenen in     Teil B festgelegt werden. Zu befürch-
       der Regel nicht um ihrer selbst willen     ten ist eine fortlaufende Aushöhlung
       treffen, sondern weil sie zur Teilhabe     der Schutzfunktion der Heilungsbe-
       am Leben in der Gesellschaft auf die       währung im Rahmen der weiteren
       entsprechenden Nachteilsausgleiche         Über­ arbeitung der fachspezifischen
       angewiesen sind.                           Begutachtungsgrundsätze in Teil B.
       Nicht sachgerecht umsetzbar ist die        Die Möglichkeit, bei bestimmten Fest-
       künftige Beurteilung unter dem Ge-         stellungen die Feststellungsbescheide
       sichtspunkt Hilfsmitteleinsatz. Viele      zu befristen, wird strikt abgelehnt.
       Hilfsmittel werden unterschiedlich         Durch die Befristung werden die Be-
       und in bestimmten Zusammenhängen           troffenen verfahrensrechtlich im Ver-
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
       754

       gleich zum geltenden Recht in unzu-      gerung der Verrechtlichung der ehe-
       mutbarer Weise benachteiligt.            maligen „Anhaltspunkte“ für die Be-
       Die vorgesehene Übergangsregelung        gutachtung.
       mit einem nur etwa dreijährigen Be-      Folge der Verbindlichkeit ist, dass im
       standsschutz greift zu kurz. Der VdK     Feststellungsverfahren keine Abwei-
       fordert hier, dass ähnlich wie bei der   chung nach unten erfolgen kann. Dies
       Überarbeitung der Anhaltspunkte          sollte in der Begründung klar­gestellt
       1996 und bei Einführung des neuen        werden.
       Pflegebedürftigkeitsbegriffs sicherge-   Bewertungsspannen bestehen immer
       stellt wird, dass die Versorgungsver-    dann, wenn ein Mindest-GdB oder
       waltung aus Anlass der Änderung der      ein GdB in einer Spanne etwa von
       VersMedV keine Überprüfung von           60 bis 80 vorgeben ist. Des Weiteren
       bestandskräftigen Bescheiden vor-        muss trotz eines fest vorgegebenen
       nimmt und festgestellte GdB herab-       GdB-Werts eine Abweichung nach
       setzt und Merkzeichen entzieht.          oben möglich sein, wenn etwa das
       1. Grundlagen (A 1-neu)                  bestmögliche Behandlungsergebnis
                                                nicht erreicht ist und deshalb eine
       Im Abschnitt „Grundlagen“ wird Be-       ­höhere Teilhabebeeinträchtigung vor-
       zug genommen auf das bio-psycho­          liegt. Dies folgt wohl aus 1.3.4 und
       soziale Modell von Gesundheit und         1.3.5, sollte aber klargestellt werden.
       Krankheit, das der Internationalen        In diesen Fällen ist unklar, inwieweit
       Klassifikation der Funktionsfähigkeit,    und innerhalb welcher Spanne der
       Behinderung und Gesundheit (ICF,          GdB zu erhöhen ist.
       Deutsches Institut für Medizinische
       Dokumentation und Information            1.2. Faktoren der Teilhabe­
       2005) zugrunde liegt.                          beeinträchtigung
                                                      (A 1.2.1 bis 1.2.3)
       1.1. Verbindliche Werte (A 1.1.3)
                                                Alle Faktoren, die die Teilhabe
       Die in Teil B als Maß für die Beein-     beeinträchtigen, sollen bei der Er-
                                                ­
       trächtigung der Teilhabe am Leben in     mittlung der Teilhabebeeinträchti-
       der Gesellschaft genannten Werte         gung in Teil B berücksichtigt sein
       werden nun als „verbindlich“ festge-     (A 1.2.1-neu). Bezogen auf Gesund-
       schrieben (A 1.1.3). Vorhandene Be-      heitsstörungen sind diese Faktoren
       wertungsspannen sollen es ermögli-       die Körperfunk­ tionen, die Körper-
       chen, den Besonderheiten des Einzel-     strukturen und die Aktivitäten. Dazu
       falles Rechnung zu tragen.               zählen insbesondere folgende mit
         Bewertung des VdK                      einer Gesundheitsstörung zusam-
                                                ­
                                                menhängende Faktoren: Art und
       Die verbindliche Festschreibung der      Aus­prägung der Störung, auch
       angegebenen Werte in Teil B ist aus      ­Therapieaufwand und krankheitsbe-
       Sicht des VdK sachgerecht und ist Fol-    dingt gebotene Beschränkungen.
                                                                        Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       Im Hinblick auf die Aktivitäten           engung auf die genannten Bereiche
       (A 1.2.2-neu) sollen bei der GdB-Fest-    und Aktivitäten überhaupt zulässig ist.
       setzung sämtliche Lebensbereiche          Es stellt sich die Frage, ob hier zum
       nach ICF berücksichtigt werden.           Beispiel Menschen außerhalb des
                                                 schulischen und beruflichen Lebens
       Darüber hinaus soll neben der Anzahl
                                                 wie Rentner benachteiligt werden. Es
       der betroffenen Lebensbereiche und
                                                 fehlen auch Beurteilungskriterien. Der
       Aktivitäten auch die Schwere der Be-
                                                 VdK bezweifelt deshalb, dass die Ver-
       einträchtigung der Aktivitäten berück-
                                                 wendung der ICF in der hier vorge-
       sichtigt und mit einer Skalierung von
                                                 nommenen Konzentration auf be-
       „mit Anstrengung durchführbar“ über
                                                 stimmte Bereiche und Aktionen zu
       „leicht beeinträchtigt“, „stark beein-
                                                 sach­
                                                     gerechten Ergebnissen bei der
       trächtigt“ „gerade noch möglich“ bis
                                                 GdB-Feststellung führen kann.
       zu „nicht mehr möglich“ versehen
       werden (A 1.2.3).                         Der VdK bezweifelt darüber hinaus
                                                 auch, dass die allgemeine ärztliche Er-
         Bewertung des VdK                       fahrung ausreicht, solche Bewertun-
       Der VdK hält es für konsequent, dass      gen vorzunehmen. Die herkömm­
       – im Gegensatz zum vorherigen Ar-         lichen Berichte und Befunde der be-
       beitsentwurf – im jetzt vorliegenden      handelnden Ärzte enthalten keine
       Verordnungsentwurf alle ICF-Lebens-       Aussagen zur ICF-Bewertung. Wie
       bereiche vollständig aufgeführt sind      können diese Informationen beschafft
       und sämtliche Lebensbereiche bei der      werden? Wäre hier nicht eine Einzel-
       GdB-Festsetzung Berücksichtigung          begutachtung wie bei der Pflegebegut-
       finden sollen.                            achtung notwendig? Es stellt sich dann
                                                 die weitere Frage nach der Qualifikati-
       Die Umsetzung für die Begutachtung        on der Gutachter im ICF. Der VdK
       erscheint aber äußerst fraglich, wenn     bezweifelt deshalb auch, dass in einem
       man zum Beispiel die GdB-Vorgaben         Massenverfahren wie der GdB-Fest-
       für die Bewertung von Störungen der       setzung nach dem Schwerbehinder-
       Funktionseinheit Wirbelsäule (19.5)       tenrecht diese Begutachtungsvorgaben
       betrachtet. So ist bei Funktionsstörun-   nach ICF umsetzbar sind.
       gen der Halswirbelsäule ein GdB von
       20 vorgesehen, wenn Aktivitäten nicht     1.3. Altersstufen (A 1.2.5)
       aus allen, sondern speziell den Berei-
       chen Mobilität sowie häusliches, schu-    A 1.2.5-neu sieht vor, in Teil B den
       lisches oder berufliches Leben leicht     GdB für einen begrenzten Zeitraum
       beeinträchtigt sind. Als Aktivitäten      festzulegen, falls sich die Teilhabe­
       werden genannt Überkopfarbeit, Bild-      beeinträchtigung regelhaft mit dem
       schirmtätigkeit oder Haushaltsaufga-      Erreichen bestimmter „Altersstufen“
       ben. Hier stellt sich die Frage, ob die   oder definierter Stadien der Gesund-
       Konzentration beziehungsweise Ver-        heitsstörung ändert.
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
       756

         Bewertung des VdK                        Eine Schlechterstellung von Men-
                                                  schen mit altersbedingten Beeinträch-
       Die Begrenzung von Feststellungszeit-      tigungen hält der VdK daher für nicht
       räumen anhand von „Altersstufen“           sachgerecht und im Übrigen nicht mit
       lehnt der VdK ab. Die Regelung geht        der UN-Behindertenrechtskonven­
       davon aus, dass sich mit Erreichen von     tion (UN-BRK) vereinbar.
       bestimmten Altersstufen die Teilhabe-
       beeinträchtigung verringert und ent-       Die Formulierung „Altersstufen“ ist
       sprechend mit einem geringeren GdB         problematisch. Hier droht die Gefahr,
       zu bewerten ist.                           dass zum Beispiel Personengruppen,
                                                  die mit 67 Jahren die Regelaltersgren-
       Schon nach der bisherigen Version der      ze erreicht haben, eine automatische
       VersMedV setzt ein GdB eine Regel-         Herabstufung des GdB erfahren könn-
       widrigkeit gegenüber dem für das Le-       ten mit der Begründung, in bestimm-
       bensalter typischen Zustand voraus,        ten Lebensbereichen (z. B. Lernen/
       die in der Begutachtungspraxis nach        Wissensvermittlung) seien sie als
       Einschätzung des VdK so gut wie kei-       Rentnerinnen und Rentner nicht
       ne Anwendung fand. Hintergrund ist,        mehr oder deutlich geringer teil­
       dass Altern ein individueller Prozess      habebeeinträchtigt. Dies wäre aus
       ist, der sich je nach Konstitution, be-    Sicht des VdK nicht vereinbar mit der
       ruflicher Belastung, familiären und        UN-BRK.
       Alltagsanforderungen, Lebenswandel,
       sportlicher Betätigung und Ernährung       1.4. Bestmögliches Behandlungs-
       sehr unterschiedlich gestaltet. Deshalb          ergebnis (A 1.2.7)
       erscheint es noch schwieriger, hierfür     Nach A 1.2.7-neu sollen die in Teil B
       pauschal feste Altersstufen festzulegen.   angegebenen GdB-Werte die Teilhabe­
       So finden sich auch weder im allge-        beeinträchtigung bei „bestmöglichem
       meinen Teil der Begründung noch im         Behandlungsergebnis“ wiedergeben.
       Teil B wissenschaftlich belegte Bei-       Unter „bestmöglich“ wird das unter
       spiele für Funktionseinschränkungen,       Anwendung der Kriterien der evidenz-
       die sich aufgrund eines alterstypischen    basierten Medizin regelhaft erreichba-
       Zustands verringern.                       re Behandlungsergebnis verstanden.
       Insbesondere aus den Erfahrungen in        Dieses schließt insbesondere das Er-
       der Kriegsopferversorgung ist belegt,      gebnis medikamentöser, operativer
       dass im Alter aufgrund eingeschränk-       und rehabilitativer Therapiemaßnah-
       ter Beweglichkeit, abnehmender Mus-        men sowie die Versorgung mit Hilfs-
       kulatur und Multimorbidität die Fä-        mitteln ein.
       higkeit nachlässt, Funktionseinschrän-      Bewertung des VdK
       kungen zu kompensieren. Daraus
       folgt, dass sich aufgrund des Alte-        Die Zugrundelegung eines „bestmög-
       rungsprozesses auch größere Teilhabe-      lichen Behandlungsergebnisses“ ist aus
       einschränkungen ergeben können.            Sicht des VdK abzulehnen. Darunter
                                                                         Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       wird einerseits das Ergebnis medika-      Wenn demgegenüber im Feststellungs-
       mentöser, operativer und rehabilitati-    verfahren aus praktischen Gründen ein
       ver Therapiemaßnahmen und gleich-         bestmögliches Behandlungs­ergebnis
       zeitig nicht trennscharf die Versor-      einfach unterstellt wird, sind in vielen
       gung mit Hilfsmitteln verstanden.         Fällen Fehlentscheidungen zulasten
       Immerhin wird in der Begründung           der Betroffenen zu befürchten. Diese
       des Verordnungsentwurfs klargestellt,     können dann nur aufwändig in Klage-
       dass „bestmöglich“ nicht ein theore-      verfahren korrigiert werden. Die Folge
       tisch bestmögliches Ergebnis bedeutet     wäre eine Beweislast­erschwerung bezie-
       und zum Beispiel außergewöhnlich          hungsweise Beweislastumkehr zulasten
       gute Ergebnisse, wie sie im Einzelfall    der Betroffenen, die nicht mit dem
       zum Beispiel bei prothetisch versorg-     Amtsermittlungsgrundsatz zu verein-
       ten Leistungssportlern erzielt werden,    baren ist. Dies lehnt der VdK ab.
       nicht gemeint sind.
                                                 1.5. Berücksichtigung von
                                                       ­Hilfsmitteln und Gebrauchs-
       Auch im Feststellungsverfahren nach              gegenständen (A 1.2.8)
       dem Schwerbehindertenrecht gilt der       Nach A 1.2.8-neu geben die in Teil B
       Amtsermittlungsgrundsatz. Dies be-        angegebenen GdB die Teilhabebeein-
       deutet, dass die Versorgungsverwal-       trächtigung wieder, die sich unter Be-
       tung ein bestmögliches Behandlungs-       rücksichtigung des Einsatzes von
       ergebnis nicht einfach unterstellen       Hilfsmitteln und von allgemeinen Ge-
       kann, sondern verpflichtet ist, von       brauchsgegenständen des täglichen
       Amts wegen zu ermitteln, ob es tat-       Lebens ergibt.
       sächlich gegeben ist oder im Einzelfall
       Abweichungen vorliegen. Es ist voll-       Bewertung des VdK
       kommen unklar, wie die Versorgungs-
       verwaltung an Informationen hierzu        Die Festsetzung der Teilhabebeein-
       kommen soll. Dies gilt umso mehr, als     trächtigung unter Berücksichtigung
       im Verordnungsentwurf davon ausge-        von Hilfsmitteln und Gebrauchs­
       gangen wird, dass es im Verwaltungs-      gegenständen des täglichen Lebens
       verfahren nicht zu Mehrkosten             lehnt der VdK ab. Die geplante Neu-
       kommt. In der Praxis erfolgen die Ent-    regelung berücksichtigt nicht, dass der
       scheidungen nach Aktenlage; eine Be-      Einsatz von Hilfsmitteln oft keinen
       gutachtung erfolgt nur etwa in einem      vollen Ausgleich von Teilhabebeein-
       Prozent der Fälle. In den bestehenden     trächtigungen gewährleisten kann.
       Formblättern werden keine Behand-         Dies ist je nach Lebenssituationen dif-
       lungsergebnisse erfasst. Die Ärzte sind   ferenzierend zu beurteilen.
       diesbezüglich nicht geschult und be-      Bei der Hilfsmittelversorgung han-
       handelnde Ärzte werden ungern ein         delt es sich um ein sich ständig än-
       schlechtes Behandlungsergebnis attes-     derndes Angebot. Fraglich ist zum
       tieren.                                   Beispiel, ob die Festsetzung eines
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
       758

       GdB dann neu erfolgen müsste, wenn        Ärzte müssten die Qualität der Hilfs-
       sich der Hilfsmittelmarkt verbessert,     mittelversorgung verstärkt in ihre gut-
       sodass ein „veraltetes“ Hilfsmittel ei-   achterlichen Stellungnahmen aufneh-
       nen höheren GdB ergeben müsste.           men. Hierdurch würde ein erhöhter
       Vorstellbar ist ebenso, dass derjenige,   Aufwand generiert, der ohne finanziel-
       der sich eine überdurchschnittlich        len Rahmen zu weiteren Erschwernis-
       gute Hilfsmittelversorgung (Pro­          sen für die Antragsteller führt. Auch
       these, Hörgerät) leisten kann, einen      niedergelassene Hausärzte werden
       niedrigeren GdB erhalten würde.           nicht bereit sein, für die derzeit gezahl-
       Welche Hilfsmittelstandards inso-         te Vergütung (ca. 20 Euro) einen um-
       weit für das „bestmögliche Behand-        fangreichen Prüfkatalog abzufragen.
       lungsergebnis“, zu dem nach der           Darüber hinaus besteht die Gefahr,
       Neuregelung unter anderem die Ver-        dass Ärzte sich nur gegen Privatliqui-
       sorgung mit Hilfsmitteln zählen soll,     dation bereit erklären, sich ausführ­
       entscheidend sein sollen, bleibt          licher mit dem Fall zu beschäftigen.
       schwer bestimmbar.
                                                 Im Hinblick auf die neu eingeführten
       Im Antragsverfahren entsteht ein ho-
                                                 „allgemeinen Gebrauchsgegenstände“
       her Ermittlungsbedarf, ob im Einzel-
                                                 – in Abgrenzung zu Hilfsmitteln –
       fall ein mangelhaftes oder ein „best-
                                                 fehlen Definitionen oder Leistungsan-
       mögliches“ Behandlungsergebnis in-
                                                 sprüche des Betroffenen. Hier wird ein
       klusive Hilfsmittelversorgung gegeben
                                                 neuer und unbestimmter Rechtsbe-
       ist. Künftig wären von der Versor-
                                                 griff eingeführt. Betroffene haben kei-
       gungsverwaltung demnach neben der
                                                 ne Möglichkeit, entsprechende Leis-
       individuellen Krankheitsausprägung
                                                 tungsansprüche auf „allgemeine Ge-
       auch die durchgeführte beziehungs-
                                                 brauchsgegenstände des alltäglichen
       weise durchzuführende Therapie so-
                                                 Lebens“ geltend zu machen, mit de-
       wie der Einsatz vorhandener und/oder
                                                 nen Funktionsbeeinträchtigungen ih-
       tatsächlich eingesetzter Hilfsmittel zu
                                                 rer Gesundheitsstörung abzumildern
       prüfen.
                                                 wären. Perspektivisch könnten auch
       Es ist unklar, wie die Versorgungsver-    Smartphones oder Personal Computer
       waltung den Stand der Hilfsmittelver-     (PC) als „allgemeine Gebrauchsgegen-
       sorgung kennen und den konkreten          stände des alltäglichen Lebens“ gelten
       Einzelfall dazu bewerten soll. Hierfür    und, da in vielen oder den meisten
       sind Fachkenntnisse zum aktuellen         Haushalten vorhanden, unter Teil­
       Stand der Hilfsmittelversorgung sowie     habegesichtspunkten einfach voraus-
       im Einzelfall ein großer Ermittlungs-     gesetzt werden.
       aufwand erforderlich. Ob und wie die
       Versorgungsverwaltung dies – ange-        Vor diesem Hintergrund fordert der
       sichts millionenfacher Feststellungs-     VdK, dass die Bemessung eines GdB
       verfahren nach § 69 SGB IX – über-        nicht vom Einsatz von Hilfsmitteln
       haupt leisten kann, ist fraglich.         und erst recht nicht von „allgemeinen
                                                                          Sozialrecht+Praxis 12/18

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       Gebrauchsgegenständen“        abhängig    Behinderung empfohlenen gesunden
       gemacht wird.                             Lebensweise hinausgeht.“ Das BSG
                                                 hat also in dem Fall „über Gebühr
       1.6. Gesunde Lebensführung               Sport/gesunde Lebensführung“ aus-
             (A 1.2.10)                          drücklich für berücksichtigungsfähig
       Der Entwurf regelt in A 1.2.10-neu,       gehalten.
       dass eine gesunde Lebensführung,          Der VdK fordert deshalb, dass in den
       auch wenn sie aufwändig realisiert        besonderen Fällen, in denen eine ge-
       wird, nicht zu einer Teilhabebeein-       sunde Lebensführung nur mit beson-
       trächtigung führt.                        ders hohem Zeitaufwand realisiert
         Bewertung des VdK                       werden kann, eine Teilhabeeinschrän-
                                                 kung vorliegt.
       Es ist nachvollziehbar, dass hier kein
       „Einfallstor geöffnet“ werden soll, mit   1.7. Störungen des psychischen
       dem künftig etwa „tägliche Spazier-             Befindens/psychische
       gänge“ oder eine allgemeine „gesunde            ­Komorbidität (A 1.2.11)
       Ernährung“ als teilhabemindernd gel-      In A 1.2.11-neu werden Störungen
       tend gemacht werden sollen.               des psychischen Befindens und einzel-
       Dennoch darf die Verordnung nach          ne psychische Symptome als Begleit­
       Ansicht des VdK keine Fallkonstellati-    erscheinung einer Gesundheitsstörung
       onen mit extrem aufwändiger Lebens-       einerseits und davon abzugrenzende
       führung von vornherein ausschließen.      psychische Komorbiditäten anderer-
       Die Nichtberücksichtigung einer auf-      seits definiert. Als Begleiterscheinung
       wändig realisierten gesunden Lebens-      werden sie im GdB zur Gesundheits-
       führung steht im Widerspruch zur          störung berücksichtigt. Psychische
       Rechtsprechung des Bundessozialge-        Komorbiditäten werden, wenn sie
       richts (BSG) zur Einstufung von Dia-      nach Kapitel V der ICD-10-GM diag-
       betes (Urteil vom 2. Dezember 2010,       nostiziert sind, gesondert bewertet
       B 9 SB 3/09). Nach dieser Entschei-       und fließen dann in den Gesamt-GdB
       dung besteht eine Ausnahme dann,          ein.
       wenn sich die medizinisch notwendige       Bewertung des VdK
       sportliche Betätigung als nachhaltiger
       Einschnitt in die Gestaltung des Ta-      Die getrennte Betrachtung von Stö-
       gesablaufs und damit in die Lebens-       rungen des psychischen Befindens und
       führung darstellt. Dies könne bei-        einzelne psychische Symptome als Be-
       spielsweise dann der Fall sein, wenn      gleiterscheinung einer Gesundheits-
       die erforderliche Aktivität „aus medi-    störung einerseits und davon abzu-
       zinischen Gründen nach Ort, Zeit          grenzenden psychischen Komorbidi-
       oder Art und Weise festgelegt ist oder    täten ist aus Sicht des VdK
       ihrem Umfang nach erheblich über          grundsätzlich sachgerecht und trenn-
       das Maß einer auch Menschen ohne          schärfer als die bisherige Regelung.
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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       In der Praxis stellt die Regelung die    spricht nicht einer sachgerechten
       Betroffenen allerdings vor Probleme.     Beurteilung und würde der Einstu-
       Es besteht bei vielen Betroffenen die    fung des Schmerzgeschehens nicht ge-
       Hemmschwelle, bei sich selbst eine       recht werden. Der VdK fordert, dass
       behandlungsbedürftige      psychische    in diesen Fällen sichergestellt wird,
       Gesundheitsstörung zu erkennen und       dass die Begutachtung durch ausge-
       zu akzeptieren. Aufgrund der massi-      wiesene Schmerztherapeuten erfolgt.
       ven strukturellen Unterversorgung im     Die Formulierungen im Entwurf wer-
       fachärztlichen und psychotherapeuti-     den darüber hinaus in der Begutach-
       schen Bereich haben viele die Schwie-    tung häufig strittiger Krankheitsbilder
       rigkeit, eine Diagnose nach IDC-10-      wie komplexen regionalen Schmerz-
       GM attestiert zu bekommen.               syndromen (CRPS, synomym auch
                                                „Morbus Sudeck“ u. a.) nicht gerecht.
       1.8. Schmerzen (A 1.2.12)                Im gutachtlichen Kontext wird in den
       Bei der gutachterlichen Bewertung        meisten Rechtsgebieten für den Nach-
       von Schmerz wird in A 1.2.12-neu un-     weis einer Schädigung und der da-
       terschieden zwischen                     durch bedingten Funktionsstörungen
         Schmerz als Begleiterscheinung ei-
       £                                       der „Vollbeweis“ gefordert. Danach ist
         ner Gewebeschädigung,                  ein CRPS nur zu diagnostizieren,
                                                wenn zeitnah zum Schädigungsereig-
         Schmerz durch eine Gewebeschädi-
       £ 
                                                nis klinische Befunde dokumentiert
         gung bedingt mit Verstärkung durch     sind.
         eine psychische Komorbidität und
         Schmerz als Leitsymptom einer psy-
       £ 
                                                Das Ausmaß der Beschwerden steht
         chischen Störung.                      aber häufig in einem Missverhältnis
                                                zum Schweregrad der ursprünglichen
       Im ersten Fall wird die Teilhabebeein-   Schädigung. Die Lokalisation des
       trächtigung bei der Gewebeschädi-        Schmerzsyndroms kann sich weit über
       gung, im letzten Fall bei der psychi-    die betroffene Körperstelle ausweiten
       schen Störung berücksichtigt. Im         und andere Körperstellen betreffen.
       zweiten Fall werden die GdB-Werte
       getrennt ermittelt und fließen dann in   1.9. Beeinträchtigung des
       den Gesamt-GdB ein.                            ­äußeren Erscheinungsbildes
                                                       (A 1.2.13)
         Bewertung des VdK
                                                A 1.2.13-neu behandelt die Beein-
       Bei den geplanten Vorgaben für die       trächtigungen des äußeren Erschei-
       gutachterliche   Bewertung       von     nungsbildes und unterscheidet zwi-
       Schmerz ist die Formulierung             schen solchen Gesundheitsstörungen,
       „Schmerzen, die über das für die Ge-     die regelhaft mit einer Funktionsein-
       sundheitsstörung typische Maß hin-       schränkung verbunden sind, und sol-
       ausgehen“ unbestimmt. Eine Begut-        chen Beeinträchtigungen des äußeren
       achtung rein nach Aktenlage ent-         Erscheinungsbildes ohne Funktions-
                                                                       Sozialrecht+Praxis 12/18

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       einschränkung. Dementsprechend ist        Nach der Kritik am Arbeitsentwurf
       der GdB bei der Funktionsbeeinträch-      der 6. Änderungsverordnung hatte das
       tigung bereits berücksichtigt oder wird   Bundesministerium für Arbeit und
       getrennt davon bei der Gesundheits-       Soziales diesen Kritikpunkt aufgegrif-
       störung erfasst.                          fen und dem VdK-Bundesverband ge-
                                                 genüber schriftlich folgende Formu-
         Bewertung des VdK                       lierung vorgeschlagen: „Nur der GdB
                                                 für die eigentliche Funktions- oder
       Die geplante Regelung zu Beeinträch-      Gesundheitsstörung ist für die Verga-
       tigungen des äußeren Erscheinungs-        be von Merkzeichen relevant.“ Diese
       bildes ist im Zusammenhang mit der        Formulierung sollte in den Verord-
       in 1.3.8 vorgesehenen Regelung, dass      nungsentwurf aufgenommen werden.
       nur der GdB für die eigentliche Funk-
       tionsstörung für die Vergabe von          1.10. Begutachtung bei regelhaft
       Merkzeichen relevant ist, problema-              abnehmendem Ausmaß
       tisch.                                           (A 1.3.6)
                                                 A 1.3-neu legt die Grundsätze für die
       So ist eine der Voraussetzungen für       Begutachtung fest. Nach A 1.3.6-neu
       das Merkzeichen RF ein GdB von we-        wird bei Gesundheitsstörungen, deren
       nigstens 80 und der Umstand, dass         Ausmaß im Verlauf regelhaft ab-
       jemand aufgrund seiner Behinderung        nimmt, die Teilhabebeeinträchtigung
       ständig nicht an öffentlichen Veran-      zugrunde gelegt, die der „voraussicht-
       staltungen teilnehmen kann. Dieser        lich dauerhaft verbleibenden“ Teil­
       Tatbestand ist unter anderem bei Per-     habebeeinträchtigung entspricht.
       sonen erfüllt, „die durch ihre Behinde-
       rung auf ihre Umgebung unzumutbar          Bewertung des VdK
       abstoßend oder störend wirken, wie
       zum Beispiel durch schwerste Bewe-        Nach jetziger Rechtslage ist „bei ab-
       gungsstörungen, Anfälle, aber auch        klingenden Gesundheitsstörungen“
       Geruchsbelästigung und Entstellun-        der Wert festzusetzen, der dem über
       gen“. Nach der Klarstellung in 1.3.8-     sechs Monate hinaus verbliebenen
       neu wäre es kaum noch möglich, auf-       oder voraussichtlich verbleibenden
       grund einer Gesundheitsstörung mit        Schaden entspricht. Im Ref.-E. wird
       Beeinträchtigung des äußeren Erschei-     also ein Zeitraum definiert, ab dem ei-
       nungsbildes, aber ohne weitere Funk-      ne Teilhabebeeinträchtigung bei einer
       tionsbeeinträchtigung, überhaupt auf      abklingenden Gesundheitsstörung be-
       einen GdB von 80 und damit zum            reits berücksichtigt wird. Wenn da-
       Merkzeichen RF zu kommen. Exemp-          nach eine Besserung erfolgt, kann eine
       larisch sei hier eine Neurofibromatho-    Herabsetzung des GdB nur durch eine
       se Typ 1 genannt, deren charakteristi-    Neufestsetzung erfolgen.
       sches Symptom flächendeckende war-        Das Abstellen auf eine „voraussicht-
       zenartige Tumore auf der Haut sind.       lich dauerhaft verbleibende“ Teilhabe-
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       beeinträchtigung ohne zeitliche Be-       denen dann Merkzeichen grundsätz-
       grenzung bedeutet eine deutliche Ver-     lich verwehrt blieben. Die Formu­
       schlechterung bei der Rechtsposition      lierung ist daher abzuändern in
       des behinderten Menschen. Ohne            ­„Funk­tionsstörung oder Gesundheits­
       zeitliche Definition ist es möglich, in    störung“.
       Teil B bei Gesundheitsstörungen un-
       ter Betrachtung eines mehrjährigen        1.12. Versterben des Antrag­
       Verlaufs nur noch eine äußerst geringe           stellenden (bisher A 2g)
       oder gar keine Teilhabebeeinträchti-      Nach bisheriger Regelung kann ein
       gung mehr festzulegen. Der VdK lehnt      GdB auch zuerkannt werden, wenn
       deshalb die Neuregelung ab.               ein Antragsteller oder eine Antragstel-
                                                 lerin innerhalb von sechs Monaten
       1.11. Berücksichtigung des GdB           nach Eintritt einer Gesundheitsstö-
              für die Vergabe von                rung verstirbt. In diesen Fällen wurde
              ­Merkzeichen (A 1.3.8)             der GdB angesetzt, der nach ärztlicher
       Für die Vergabe von Merkzeichen soll      Erfahrung nach Ablauf von sechs Mo-
       ausschließlich der GdB für die eigent-    naten nach Eintritt der Gesundheits-
       liche Funktionsstörung relevant sein      störung zu erwarten gewesen wäre.
       (A 1.3.8-neu).                            Diese Regelung soll nach dem Ent-
                                                 wurf komplett wegfallen.
         Bewertung des VdK
                                                  Bewertung des VdK
       Die Regelung, nach der allein der GdB
       „für die eigentliche Funktionsstörung“    Der VdK fordert die Beibehaltung
       maßgeblich für die Merkzeichen sein       dieser Regelung. Durch die posthume
       soll, ist inkonsequent, nicht ICF-kon-    GdB-Feststellung können Rechts-
       form und auch nicht mit dem Teil­         nachfolger von Nachteilsausgleichen
       habeverständnis der UN-BRK verein-        profitieren.
       bar. Während noch unter „1.2 Fakto-       2. Heilungsbewährung (A 2.1.2)
       ren der Teilhabebeeinträchtigung“
       zutreffend ausgeführt wird, welche        Die Voraussetzungen für eine Hei-
       Faktoren gemäß der ICF alle bei der       lungsbewährung werden in A 2.1.2
       Ermittlung der Teilhabebeeinträchti-      neutral und ohne Bezug auf bestimm-
       gung zu berücksichtigen sind, erfolgt     te Gesundheitsstörungen (derzeit
       hier eine Verkürzung zum Nachteil         Krebserkrankungen und Organtrans-
       der Antragstellerinnern und Antrag-       plantationen) definiert.
       steller auf ­   eine zugrundeliegende     Das Konstrukt der Heilungsbewäh-
       Funktions­  störung. Wie oben bereits     rung wird grundsätzlich beibehalten
       bei „Be­einträchtigungen des äußeren      (Ref.-E. A 2) und beinhaltet eine be-
       Erscheinungsbildes“ dargelegt wurde,      fristete pauschale Bewertung für alle
       gibt es im Übrigen auch Beeinträchti-     zeitlich begrenzten Auswirkungen im
       gungen ohne Funktionsstörung, bei         physischen, psychischen und sozialen
                                                                        Sozialrecht+Praxis 12/18

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       Bereich. Dazu gehören zum Beispiel        men werden, wenn diese sachgerecht
       auch Therapiemaßnahmen und gebo-          möglich sei.
       tene Beschränkungen der Teilhabe,
       die im Einzelnen schwer nachweisbar        Bewertung des VdK
       sind, die innerhalb eines festgesetzten
       Zeitraums in ihrem Ausmaß in der          Der VdK begrüßt die Beibehaltung
       Regel abnehmen.                           der Heilungsbewährung. Die neutrale
                                                 Beschreibung der Voraussetzung für
       Getrennt davon werden die Auswir-         eine Heilungsbewährung ist ICF-kon-
       kungen derjenigen Funktionsstörun-        form und konsequent.
       gen ermittelt, die mit Beginn des Zeit-
       raums der Heilungsbewährung ein-          Allerdings enthält die geplante Neure-
       deutig festgestellt sind und über den     gelung eine inakzeptable Verschlech-
       für die Heilungsbewährung festgesetz-     terung für die Betroffenen gegenüber
       ten Zeitraum hinaus dauerhaft ver-        der jetzigen Rechtslage.
       bleiben. Der GdB für diese dauerhaft      Derzeit ist bei einer zeitlich befristeten
       verbleibenden Funktionsstörungen          Heilungsbewährung ein GdB von
       soll dann nach den Regeln der             mindestens 50 oder mehr für regelhaft
       ­Gesamt-GdB-Bildung in die Gesamt-        fünf Jahre vorgesehen. Das soll künftig
        bewertung eingehen. Die nach dieser      nicht mehr als allgemeiner Grundsatz
        Maßgabe neu gefassten Bewertungen        der Heilungsbewährung gelten. Die
        sind in Teil B mit einem entsprechen-    Heilungsbewährung wird dann in
        den Hinweis versehen.                    Teil B mit einer individuellen GdB-
       Nach Ablauf des Zeitraums der Hei-        Höhe und Dauer bei der jeweiligen
       lungsbewährung sieht der Entwurf          Gesundheitsstörung festgelegt. Formal
       vor, dass Auswirkungen der Gesund-        wird also am Konzept der Heilungs­
       heitsstörung oder der Therapie auf die    bewährung festgehalten, gleichzeitig
       Teilhabe, zum Beispiel chronische         kann es im Zuge der Überarbeitung
       Müdigkeit, Sterilität, Neuropathien,      der fachspezifischen Begutachtungs-
       Beeinträchtigung der Entwicklung so-      grundsätze in Teil B nach und nach
       wie Beeinträchtigung emotionaler, ko-     durch deutlich geringere GdB und
       gnitiver und sozialer Funktionen, bei     deutliche kürzere Zeiträume ausge-
       der Begutachtung zu beachten sind         höhlt werden. So soll beispielsweise
       und die entsprechenden Teilhabebe-        nach dem Ref.-E. eine akute Leukämie
       einträchtigungen im jeweiligen Funk-      (Teil B Nr. 16.7.3) nach dem ersten
       tionssystem einzeln zu bewerten sind.     Jahr der Diagnosestellung bei kom-
                                                 pletter klinischer Remission unabhän-
       Für in Teil B nicht aufgeführte Ge-       gig von der durchgeführten Therapie
       sundheitsstörungen, die die Voraus-       eine Heilungsbewährung von drei Jah-
       setzungen nach 2.1.2 Ref.-E. erfüllen,    ren haben. Danach wird der GdB her-
       soll dennoch eine Bewertung auch oh-      abgestuft, je nach verbliebenen Aus-
       ne Heilungsbewährung vorgenom-            wirkungen auf minimal GdB 30.
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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       Aus den VdK-Rechtsschutzstellen ist      bei nicht in Teil B aufgeführten Ge-
       bekannt, dass bei Krebserkrankungen      sundheitsstörungen auch ohne Hei-
       ein Großteil der Betroffenen um die      lungsbewährung bewertet werden
       50 Jahre alt ist und in der Regel im     kann, obwohl die Gesundheitsstörung
       Berufsleben steht. Gerade diese Perso-   die aufgelisteten Kriterien erfüllt. Ent-
       nengruppen sind in besonders starkem     weder die Kriterien sind wissenschaft-
       Maße auf den Schwerbehindertensta-       lich begründet und gelten oder sie gel-
       tus und damit auf die Nachteilsaus-      ten nicht. Hier entsteht der Eindruck,
       gleiche im Arbeits- und Berufsleben      diese Regelung dient allein der Ver-
       angewiesen (Kündigungsschutz, Ar-        waltungsvereinfachung und das Kons-
       beitsplatzanpassung, Minderleistungs-    trukt der Heilungsbewährung soll auf
       ausgleich etc.). Der VdK fordert daher   diesem Wege zu umgehen sein und
       die Beibehaltung der jetzigen Rege-      geschwächt werden. Dies widerspricht
       lung, nach der grundsätzlich für einen   der Zielsetzung der Heilungsbewäh-
       bestimmten Zeitraum ein Mindest-         rung, den Betroffenen mit einer pau-
       GdB von 50 und eine Mindestdauer         schalen Bewertung zu entlasten.
       von regelhaft fünf Jahren beibehalten    Zwar ist im Ref.-E. eine Übergangs-
       werden.                                  klausel zum Bestandsschutz geplant.
       Getrennt von der Heilungsbewährung       Auch sollen die Folgen der Befris-
       sollen die Auswirkungen derjenigen       tungsmöglichkeit für die Betroffenen
       Funktionsstörungen ermittelt werden,     mit einer Hinweispflicht der Behörde
       die mit Beginn des Zeitraums der Hei-    und einer Schutzklausel abgefedert
       lungsbewährung eindeutig festgestellt    werden. Insgesamt stellt die geplante
       sind und über den für die Heilungsbe-    Neuregelung aber eine Verschlechte-
       währung festgesetzten Zeitraum hin-      rung für die Betroffenen dar und ist
       aus dauerhaft verbleiben. Hiernach       abzulehnen. Nach Ansicht des VdK
       werden bei einer Gesundheitsstörung      sollten Betroffene sich bei erfüllten
       eine Bewertung der Teilhabebeein-        Voraussetzungen den Anspruch auf
       trächtigung mit und eine dauerhaft       eine regelhafte Heilungsbewährung
       ohne Heilungsbewährung vorgenom-         von fünf Jahren bei einem Mindest-
       men und daraus eine Gesamt-GdB           GdB mit Schwerbehindertenstatus be-
       gebildet. Ziel der Heilungsbewährung     rufen können.
       ist, den Betroffenen zu entlasten, die
       schwer einschätzbaren Gesundheits-       3. Gesamt-GdB-Bildung –
       störungen darlegen zu müssen. Die            Keine Berücksichtigung von
       getrennte Ermittlung der Auswirkun-          GdB 10 und 20 (A 3.2.2.3)
       gen ist aufwändig und fehleranfällig     Gemäß A 3.2.2.3 soll bei der Prüfung,
       und widerspricht der Zielsetzung der     ob sich das Ausmaß der Gesamtbeein-
       Heilungsbewährung.                       trächtigung der Teilhabe durch eine
       Überhaupt nicht nachvollziehbar ist      weitere Gesundheitsstörung wesent-
       für den VdK die Regelung, nach der       lich erhöht, ein GdB von 10 künftig
                                                                        Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       regelhaft zu keiner Erhöhung des         4. Verfahren (A Nr. 6)
       ­Gesamt-GdB und Einzel-GdB von 20
        nur noch in Ausnahmefällen führen       A 6.1.1 regelt die Befristung von Fest-
        können, die dann eingehend zu prüfen    stellungsbescheiden für die Heilungs-
        und zu begründen sind.                  bewährung. Mit einer Befristung kann
                                                auch eine Feststellung über die danach
                                                dauerhaft verbleibende Teilhabebeein­
         Bewertung des VdK                      trächtigung und den entsprechenden
                                                GdB verbunden werden, zum Beispiel
       Im Hinblick auf die geplante Neure-      ein Gesamt-GdB, der eine Heilungs-
       gelung zur Bildung des Gesamt-GdB        bewährung beinhaltet, und zusätzlich
       kritisiert der VdK, dass gering- und     ein Gesamt-GdB, der keine Heilungs-
       mittelgradige Gesundheitseinschrän-      bewährung mehr beinhaltet. Dies soll
       kungen, die mit einem GdB von 10         die Verwaltung entlasten und von
       oder 20 bewertet werden, bei der Bil-    vornherein klarstellen, welcher GdB
       dung des Gesamt-GdB grundsätzlich        nach Ablauf der Heilungsbewährung
       unberücksichtigt bleiben sollen. In      verbleibt.
       diesem Zusammenhang wird darauf          Des Weiteren gilt die Möglichkeit der
       hingewiesen, dass in Teil B der          Befristung für Gesundheitsstörungen,
       ­VersMedV zahlreiche Einschränkun-       bei denen regelhaft mit dem Erreichen
        gen künftig nur noch mit einem gerin-   bestimmter Altersstufen oder definier-
        geren GdB von 10 oder 20 bewertet       ter Stadien der Gesundheitsstörung die
        werden sollen und diese Funktionsein-   Teilhabebeeinträchtigungen abneh-
        schränkungen dann gar keine Berück-     men (s. auch 1.2.5-neu bzw.1.3.6-neu).
        sichtigung mehr finden würden. Der      Auch in diesen Fällen soll die Versor-
        VdK fordert deshalb die Beibehaltung    gungsverwaltung künftig die Bescheide
        der bisherigen Regel, wonach nur bei    von vornherein befristen können.
        „leichten Gesundheitsstörungen“, die
        einen GdB von 10 bedingen, regelhaft    Um zu verhindern, dass eine „Lücke“
        keine Zunahme der Teilhabebeein-        entsteht und Menschen wegen der Be-
        trächtigung anzunehmen ist oder nur     fristung vorübergehend zum Beispiel
        bei „leichten Gesundheitsstörungen“     ihren Schwerbehindertenstatus und da-
        mit GdB 20 in Ausnahmefällen die        mit Schutzrechte und Nachteilsausglei-
        Erhöhung angenommen werden              che verlieren, müssten sie gemäß 6.1.2
        kann. Mittelgradige Gesundheitsstö-     spätestens sechs Monate vor Ablauf der
        rungen dürfen nach Ansicht des VdK      Befristung eine Neufestsetzung bean-
        von diesen Ausnahmeregelungen auch      tragen. Entscheidet die Behörde in die-
        künftig nicht miterfasst werden und     sen Fällen nicht bis zum Ablauf der
        müssen mit einem GdB von 10 oder        Befristung über den Neufeststellungs-
        20 berücksichtigt werden (Beispiel:     antrag, so soll der bisherige höhere GdB
        „mittelgradiges Stottern“, das einen    bis zu einer dann entschiedenen Neu-
        GdB von 20 bewirkt).                    feststellung fortbestehen.
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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Sozialpolitik
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       6.1.3-neu enthält eine Hinweispflicht     Begründet wird die Befristung mit
       für die zuständige Behörde, damit die-    einer Verwaltungsvereinfachung. Bei
                                                 ­
       se die Betroffenen über die sechs­        einer Befristung erfolgt eine Herab­
       monatige Frist und die Rechtsfolgen       setzung des GdB allein durch Frist­
       der Befristung informiert.                ablauf und damit ohne nähere Über-
                                                 prüfung ihrer Berechtigung. Eine Ver-
         Bewertung des VdK                       waltungsvereinfachung kann somit im
                                                 Wesentlichen nur erfolgen, wenn der
       Anders als im Arbeitsentwurf 2017         Betroffene etwa aus Unkenntnis oder
       sollen die Folgen der Befristungsmög-     Furcht vor einem belastenden und auf-
       lichkeit für die Betroffenen nun mit      wändigen Verfahren auf einen Neu­
       einer Hinweispflicht der Behörde und      feststellungsantrag verzichtet. Eine sol-
       der Möglichkeit, rechtzeitig eine Fest-   che Verwaltungsvereinfachung ist aus
       stellung beantragen zu können, abge-      Sicht des VdK nicht akzeptabel. Der
       federt werden.                            VdK lehnt deshalb die neu vorgesehe-
       Dennoch handelt es sich bei den vor-      nen Befristungsmöglichkeiten strikt ab.
       gesehenen Befristungsmöglichkeiten
       um eine wesentliche Verschlechterung      Weil der Bescheid entscheidend ist,
       gegenüber der jetzigen Rechtslage.        muss nach derzeitiger Rechtslage zu-
       Nach geltendem Recht wird der Be-         nächst eine Anhörung erfolgen. Wird
       scheid unbefristet erteilt und nur der    eine Herabsetzung ausgesprochen,
       Ausweis befristet. Eine Herabsetzung      bleibt durch die aufschiebende Wir-
       des GdB sowie der Entzug von Merk-        kung des Rechtsmittels der alte Zu-
       zeichen können nur durch eine Neu-        stand aufrechterhalten.
       feststellung erfolgen. Vorher ist eine
       Anhörung erforderlich. Eine Herab-        Durch die Neuregelung wird ein Teil
       setzung des GdB wird erst mit Unan-       unbefristet festgestellt (die dauerhaft
       fechtbarkeit des herabsetzenden Be-       verbleibende Schädigung), der andere
       scheids wirksam, dies bedeutet, bei       Teil aber befristet (je nachdem, welche
       Einlegung von Rechtsmitteln erst mit      Veränderungen zu erwarten sind). Der
       Rechtskraft des klageabweisenden Ur-      Ausweis, mit dem Nachteilsausgleiche
       teils. Wenn sich der GdB auf weniger      geltend gemacht werden können, wird
       als 50 verringert, gilt ein besonderer    aber im Regelfall befristet ausgestellt.
       Schutz: Die Herabsetzung wirkt erst       Unklar ist, wie die Betroffenen, solan-
       am Ende des dritten Kalendermonats        ge aufgrund der fehlenden Entschei-
       nach Eintritt der Unanfechtbarkeit        dung über die Neufestsetzung seitens
       des die Verringerung feststellenden       der Behörde, Nachteilsausgleiche mit
       Bescheides (§ 199 SGB IX). Bei einer      einem befristeten und daher „abgelau-
       Befristung wird diese starke verfah-      fenen“      Schwerbehindertenausweis
       rensrechtliche Stellung des Betroffe-     und einem befristeten und „abgelaufe-
       nen ausgehebelt.                          nen“ Bescheid geltend machen sollen.
                                                                         Sozialrecht+Praxis 12/18

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       5. Wesentliche Änderung der              5.2. Übergangsfrist und
           Verhältnisse (A 6.2)                        ­Bestandsschutz (A 6.4)
       Eine wesentliche Änderung der Ver-        Nach A 6.4 soll eine Übergangsrege-
       hältnisse wie in A 6.2 besteht, wenn      lung mit Bestandsschutz bis zum
       ein veränderter Gesundheitszustand        31. Dezember 2022 eingeführt wer-
       mehr als sechs Monate angehalten hat      den für die Personen, bei denen vor
       oder voraussichtlich anhalten wird        Inkrafttreten dieser 6. Änderungsver-
       und wenn die entsprechende Ände-          ordnung bereits ein Gesamt-GdB fest-
       rung des GdB mindestens 10 beträgt.       gestellt wurde, wenn dieser Gesamt-
       Diese Regelung entspricht der jetzigen    GdB durch eine Neufeststellung
       Rechtslage.                               (selbst beantragt oder von Amts wegen
       Darüber hinaus liegt eine wesentliche     durchgeführt) zu einem geringeren
       Änderung der Verhältnisse vor, wenn       Gesamt-GdB führen würde. In diesen
       der Zeitraum der Heilungsbewährung        Fällen bleibt der vorherige, höhere
       oder ein festgesetzter begrenzter Zeit-   GdB erhalten.
       raum abgelaufen ist oder Vorausset-       Die Übergangsregelung soll allerdings
       zungen für weitere Leistungen im          nicht in Fällen gelten, in denen der
       Sozialen Entschädigungsrecht für
       ­                                         Zeitraum einer Heilungsbewährung
       Nachteilsausgleiche erfüllt sind oder     oder ein festgesetzter begrenzter Zeit-
       entfallen.                                raum bereits abgelaufen ist.
         Bewertung des VdK
                                                  Bewertung des VdK
       Dies entspricht der bisherigen Rechts-
       lage. Ergänzend wurde die Möglich-        Mit der vorgesehenen Übergangsrege-
       keit eines begrenzten festgesetzten       lung und dem Bestandsschutz wird
       Zeitraums mit aufgenommen.                zumindest vermieden, dass Betroffene,
                                                 die ohne Kenntnis der geänderten
       5.1. Neubewertung (A 6.3)                 Rechtslage und veränderten fachspezi-
       Nach Ablauf der Heilungsbewährung         fischen Begutachtungsgrundlagen in
       oder nach Ablauf eines festgesetzten      Teil B eine Neufeststellung („Ver-
       begrenzten Zeitraums ist auch bei         schlimmerungsantrag“) beantragen,
       gleichbleibenden Symptomen eine           einen geringeren GdB als vorher erhal-
       Neubewertung des GdB nach A 6.3           ten.
       zulässig.                                 Da die Regelung nach dem Wortlaut
         Bewertung des VdK                       nur bei einem festgestellten Gesamt-
                                                 GdB greift, würde sie bei Feststellung
       Dies entspricht der bisherigen Rechts-    eines Einzel-GdB in einem Funktions-
       lage. Ergänzend wurde die Möglich-        bereich nicht gelten. Dies wäre nicht
       keit eines begrenzt festgesetzten Zeit-   sachgerecht. Der VdK fordert hier
       raums mit aufgenommen.                    ­eine Klarstellung.
       Sozialrecht+Praxis 12/18

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       Des Weiteren greift die Regelung mit         tik der gesetzlichen Unfallversiche-
       einem nur etwa dreijährigen Bestands-        rung auf Asbest zurück. Bislang ist die
       schutz zu kurz. Der VdK fordert hier,        Behandlung nur sehr eingeschränkt
       dass ähnlich wie bei der Überarbei-          möglich, da das Mesotheliom meist
       tung der Anhaltspunkte 1996 und bei          erst in einem späten Stadium entdeckt
       Einführung des neuen Pflegebedürf-           wird.
       tigkeitsbegriffs sichergestellt wird, dass
       die Versorgungsverwaltung aus Anlass          Biomarker für erfolgreiche
       der Änderung der VersMedV keine               ­Sekundärprävention
       Überprüfung von bestandskräftigen            Das Institut für Prävention und Ar-
       Bescheiden vornimmt und festgestell-         beitsmedizin der Deutschen Gesetzli-
       te GdB herabsetzt und Merkzeichen            chen Unfallversicherung, Institut der
       entzieht.                              ¦    Ruhr-Universität Bochum (IPA) ver-
       Stellungnahme des Sozialverbands VdK         öffentlichte nun im Open Access
       Deutschland e. V. zum Referentenent-         Journal „Scientific Reports“ die Er-
       wurf der Sechsten Verordnung zur Än-         gebnisse der kombinierten Blutana­
       derung der Versorgungsmedizin-Verord-        lyse für die Mesotheliom-spezifischen
       nung (VersMedV) vom 28. September            Biomarker Calretinin und Mesothe-
       2018.                                        lin. „Biomarker sind Substanzen, die
                                                    im Körper als Folge von bestimmten
       Berufskrankheiten                            Erkrankungen oder sogar bereits
                                                    schon im Vorfeld einer Erkrankung
       Früherkennung von                            auftreten können“, erklärt Dr. Joh-
                                                    nen, Leiter des Kompetenzzentrums
       ­Mesotheliomen möglich                       Molekulare Medizin am IPA. „Sie
       Das maligne Mesotheliom gehört zu            sind deshalb so besonders wertvoll, da
       den gefährlichsten Asbest-Erkrankun-         sie meist in leicht zugänglichen Kör-
       gen. Es ist kaum frühzeitig zu erken-        perflüssigkeiten wie Blut oder Urin
       nen, bisher unheilbar und führt meist        nachgewiesen werden können.
       nach kurzer Krankheit zum Tod. Ob-           Erstmalig wurde ein Verfahren zur
       wohl die Verwendung und das Inver-           Früherkennung von Mesotheliomen
       kehrbringen von Asbest bereits vor           validiert, bei dem die Patienten nicht
       mehr als 25 Jahren in Deutschland            durch invasive Eingriffe oder Strah-
       verboten wurden, sind die Zahlen As-         lung belastet werden. Bei nur zwei
       best verursachter Berufskrankheiten          Prozent falschpositiven Befunden
       (BK) weiter hoch. Die Ursache hierfür        können in bestimmten Hochrisiko-
       liegt in der langen Latenzzeit zwischen      gruppen nahezu 50 Prozent der Versi-
       der Exposition gegenüber Asbest und          cherten, die ein Mesotheliom entwi-
       dem Ausbruch der Krebserkrankun-             ckeln, bis zu einem Jahr vor der klini-
       gen. Mehr als die Hälfte der Todesfäl-       schen Diagnose erkannt werden“, so
       le aufgrund von BK gehen laut Statis-        Johnen weiter.
                                                                           Sozialrecht+Praxis 12/18

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