Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat - Verfasser: Dr. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon

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Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat - Verfasser: Dr. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon
STELLUNGNAHME DER GIORDANO-BRUNO-STIFTUNG UND DES HANS-ALBERT-INSTITUTS

Schwangerschaftsabbruch
im liberalen Rechtsstaat
Zur Verfassungsbeschwerde gegen § 219a StGB (2 BvR 390/21)

Verfasser: Dr. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon

März 2022
Zitiervorschlag:
Michael Schmidt-Salomon: Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat.
Stellungnahme der Giordano-Bruno-Stiftung und des Hans-Albert-Instituts
zur Verfassungsbeschwerde gegen § 219a StGB (2 BvR 390/21). Oberwesel, März 2022.

Die vorliegende Publikation gibt den vollständigen Wortlaut der 36-seitigen Stellungnahme wieder,
die im März 2022 zur Verfassungsbeschwerde der Ärztin Kristina Hänel beim Bundesverfassungsgericht
eingereicht wurde. Um als Broschüre besser lesbar zu sein, wurde das Layout an die Veröffentlichungen
des Hans-Albert-Instituts angepasst.

Foto Titelseite: Sabrina Gröschke / Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung (Flickr),
Farbanpassung: Roland Dahm
Layout: Roland Dahm (www.er-de.com)
Herausgeber: Giordano-Bruno-Stiftung / Hans-Albert-Institut,
Haus Weitblick, Auf Fasel 16, 55430 Oberwesel
März 2022

                                                    2
I N H A LT

Einleitung                                                                    4

T E I L 1:

Die Hintergründe der Kriminalisierung
1.1         § 219a im Kontext der deutschen Gesetzgebung
            zum Schwangerschaftsabbruch                                       5
1.2         Schwangerschaftsabbruch und Menschenwürde                         6
1.3         Religiöse Beseelungskonzepte und
            das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität            8
1.4         Plädoyer für eine rationale, evidenzbasierte
            und weltanschaulich neutrale Gesetzgebung                         11
1.5         Ethische Scheinargumente                                          12
1.6         Die Würde der Frau                                                15
1.7         Die Rechtsunlogik der deutschen Gesetzgebung                      18

T E I L 2:

Die Folgen der Kriminalisierung
2.1         Bevormundung und Demütigung:
            Die schwierige Lage ungewollt schwangerer Frauen in Deutschland   20
2.2         Beihilfe zum Rechtsbruch?
            Der ungerechtfertigte Druck auf Ärztinnen und Ärzte               22
2.3         Vom Holocaust zum „Babycaust“:
            Ideologische Hetze gegen den Schwangerschaftsabbruch              23
2.4         Die immer schlechter werdende Versorgungslage                     26

FA Z I T:

Die Entwicklung einer verfassungskonformen Lösung                             29

                                          3
Einleitung

Im Rahmen dieser ethisch und wissenschaftlich                         Die Giordano-Bruno-Stiftung hat schon vor ge-
argumentierenden Stellungnahme wollen wir                             raumer Zeit eine „grundlegende Revision der
die lebenspraktischen Konsequenzen sowie die                          deutschen Gesetze zum Schwangerschaftsab-
rechtsphilosophischen und rechtspolitischen                           bruch“ gefordert.2 Die von der Bundesregierung
Hintergründe von § 219a StGB stärker beleuch-                         beschlossene Streichung von § 219a StGB, auf
ten, als dies in einer rein juristischen Betrach-                     dessen Basis die Ärztin Kristina Hänel rechts-
tungsweise möglich und üblich ist. Dies erlaubt                       kräftig verurteilt wurde, kann dabei nur ein ers-
uns einen höheren Freiheitsgrad der Argumenta-                        ter Schritt sein. Denn § 219a StGB steht in enger
tion und eine kritische Prüfung der verfassungs-                      Verbindung zu den §§ 218-219 StGB, die allesamt
rechtlichen Prämissen von § 219a StGB sowie des                       gegen zentrale Bestimmungen des deutschen
gesetzlichen Rahmens, in den der Paragraf ein-                        Grundgesetzes verstoßen (insbesondere gegen
gebettet ist (§§ 218ff. StGB).1                                       Art. 1 Abs. 1 in Verb. mit Art. 2 und Art. 3 GG).
Zum Aufbau dieser Stellungnahme: Wir werden                           In der Vergangenheit hat das Bundesverfas-
im ersten Teil aufzeigen, dass die deutsche Ge-                       sungsgericht die in §§ 218-219a StGB zum Aus-
setzgebung zum Schwangerschaftsabbruch (in-                           druck kommende Missachtung der Selbstbe-
klusive § 219a StGB) mit den Vorgaben der Ver-                        stimmungsrechte der Frau gestützt, zuletzt
fassung nicht in Einklang gebracht werden kann.                       maßgeblich mit seinem Grundsatzurteil vom
Im zweiten Teil erläutern wir die gravierenden                        28.05.1993. 3 Wir hoffen sehr, dass diese kritik-
lebenspraktischen Folgen, die hieraus für unge-                       würdige Entscheidung nun korrigiert wird. Je-
wollt schwangere Frauen sowie ihre Ärztinnen                          denfalls sollte es nicht – wie bei der 1957 durch
und Ärzte entstehen. Im abschließenden Fazit                          das Bundesverfassungsgericht legitimierten Ho-
fordern wir die Entwicklung einer verfassungs-                        mosexuellenverfolgung in Deutschland4 – ein
konformen Lösung, die notwendig ist, um die                           halbes Jahrhundert dauern, bis Unrecht als Un-
dargestellten Missstände zu beheben.                                  recht erkannt wird! 150 Jahre lang hat die Frau-
                                                                      enbewegung mit guten Argumenten gegen die
                                                                      Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs
                                                                      gekämpft. Diese Argumente sollten auch in Karls­
                                                                      ruhe Gehör finden.

                                                                      2   „Es ist an der Zeit, die Gesetzgebung zum Schwangerschafts-
                                                                          abbruch zu revidieren!“ (­­ gbs-Pressemitteilung vom 21.02.2018,
1   Hierin unterscheidet sich die zugrundeliegende Stellungnah-           www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/gesetze-schwan-
    me u.a. von dem Rechtsgutachten von Frauke Brosius-Gerns-             gerschaftsabbruch-revidieren).
    dorf, das mit der Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel
                                                                      3   BVerfGE 88, 203
    eingereicht und vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw)
    in Auftrag gegeben wurde.                                         4   BVerfGE 6, 389 (Urteil vom 10. Mai 1957)

                                                                  4
TEIL 1

                         Die Hintergründe der Kriminalisierung

1.1 § 219a im Kontext der                                                meinung als eine illegitime, „rechtswidrige“
    deutschen Gesetzgebung zum                                           Handlung ausweist, gründet bekanntlich auf der
    Schwangerschaftsabbruch                                              Unterstellung, dass dieser notwendigerweise mit
                                                                         einer Verletzung der Rechte „Dritter“, hier: des
Die Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel und
                                                                         „Lebensrechts“ des „ungeborenen Kindes“, ein-
Ali B. Norouzi haben in der Verfassungsbeschwer-
                                                                         hergehe. Die Konstruktion eines solchen „Interes-
de von Kristina Hänel präzise herausgearbeitet,
                                                                         senkonflikts“ zwischen Mutter und „Kind“ kommt
weshalb § 219a StGB seit jeher verfassungswidrig
                                                                         expressis verbis in § 219 StGB zum Ausdruck, der
war – und zwar selbst unter der Voraussetzung
                                                                         die „Schwangerschaftskonfliktberatung“ regelt.
der Gültigkeit der herrschenden Rechtsmeinung
                                                                         Die Beratung soll nämlich darauf zielen, der un-
zum Schwangerschaftsabbruch! Erweitert man
                                                                         gewollt schwangeren Frau7 bewusst zu machen,
die Perspektive, indem man die herrschende
Meinung kritisch hinterfragt und § 219a in den                               dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwan-
Gesamtkontext der deutschen Gesetze zum                                      gerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf
                                                                             Leben hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung
Schwangerschaftsabbruch einordnet, zeigt sich
                                                                             ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahme­
die Verfassungswidrigkeit des Paragrafen in noch                             situationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau
größerer Schärfe. Denn das „Unwerturteil“, das                               durch das Austragen des Kindes eine Belastung er-
Staat und Justiz über den Schwangerschaftsab-                                wächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass
bruch gefällt haben, steht, wie wir darlegen wer-                            sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt.8
den, in einem eklatanten Widerspruch zu den
Vorgaben des deutschen Grundgesetzes.                                    Aus der Perspektive des liberalen Rechtsstaats
                                                                         enthält § 219 StGB vier problematische Aspekte:
Dabei liegt auf der Hand, dass § 219a nur unter                          Erstens maßt sich der Staat an, die „zumutbare
der Voraussetzung dieses „Unwerturteils“ über-                           Opfergrenze“ für betroffene Frauen festlegen zu
haupt erst einen „Anschein von Legitimität“ ent-                         dürfen. Zweitens nimmt er als vermeintlicher An-
falten konnte. Dass man Ärztinnen und Ärzten                             walt des „ungeborenen Lebens“ keinerlei Diffe-
untersagte, Informationen über ihre Leistungen                           renzierungen zwischen empfindungsunfähigen
im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs zu                               Embryonen und potenziell leidensfähigen Föten
verbreiten, konnte allenfalls dadurch plausibel
                                                                         vor, sondern spricht unzulässig generalisierend
gemacht werden, dass man hoffte, durch diesen
Eingriff in die Berufs- und Meinungsfreiheit die
Häufigkeit einer vermeintlich „rechtswidrigen“
                                                                         7     Wir sprechen in dieser Stellungnahme von „ungewollt
Handlung reduzieren zu können (was empirisch                                   schwangeren Frauen“ – nicht von „ungewollt schwangeren
allerdings niemals bestätigt werden konnte).5                                  Menschen“ (wie dies einige Gruppen für sexuelle Selbstbe-
                                                                               stimmung fordern), da es sich hierbei um eine Frage des bio-
Das „Unwerturteil“, das jeden „beratenen Schwan-                               logischen Geschlechts handelt. Damit soll keineswegs in Abre-
                                                                               de gestellt werden, dass die Frage des kulturellen Geschlechts
gerschaftsabbruch“6 nach herrschender Rechts-
                                                                               („Gender“) wichtig ist. Selbstverständlich haben biologische
                                                                               Frauen das Recht, sich als Männer zu verstehen, und biolo-
                                                                               gische Männer das Recht, als Frauen anerkannt zu werden.
                                                                               Darüber hinaus steht es jedem Menschen frei, sich als non-bi-
5   Feststellen lässt sich hingegen, dass restriktive Gesetze zum              när (weder als Mann noch als Frau) zu definieren. Dies alles
    Schwangerschaftsabbruch nicht mit einer geringeren Häu-                    hat mit Blick auf die §§ 218 ff. StGB jedoch keinerlei Relevanz.
    figkeit von Abtreibungen korrelieren, vgl. Jonathan Bearak /               Denn der Gesetzgeber diskriminiert durch diese Paragrafen
    Anna Popinchalk et al.: Unintended pregnancy and abortion                  ausschließlich biologische Frauen, selbst wenn diese sich als
    by income, region, and the legal status of abortion: estimates             Männer verstehen, jedoch keine biologischen Männer, die sich
    from a comprehensive model for 1990–2019. In: The Lancet,                  als Frauen verstehen. Es wäre der Klarheit der Argumentation
    Volume 8, Issue 9/2020 (doi: 10.1016/S2214-109X(20)30315-6).               dieser Stellungnahme abträglich, diese Differenz nicht her-
                                                                               vorzuheben. Denn im Hinblick auf die §§ 218 ff. StGB markiert
6   Gemeint sind hiermit Schwangerschaftsabbrüche nach der
                                                                               das biologische Geschlecht den Unterschied, der Unterschiede
    Beratungsregel (§ 218a Abs. 1 StGB). Sogenannte indizierte
                                                                               macht.
    Schwangerschaftsabbrüche (nach § 218a Abs. 2 und 3 StGB)
    gelten nicht als rechtswidrig.                                       8     § 219 StGB Abs. 1 Satz 3

                                                                     5
von einem „Kind“. Drittens behauptet er, dass                             Mit diesen Kernargumenten gab das BVerfG den
dieses „Kind“ angeblich „in jedem Stadium der                             Weg vor, dem der Gesetzgeber zu folgen hatte.
Schwangerschaft“, also ab der Einnistung der be-                          Doch stehen diese Positionen tatsächlich auf
fruchteten Eizelle, „ein eigenes Recht auf Leben                          dem Boden des Grundgesetzes und war es so-
hat“. Dieses vermeintliche Recht wird dann vier-                          mit in der Folgezeit verfassungsrechtlich legitim,
tens auch noch gegen das Selbstbestimmungs-                               ungewollt schwangere Frauen zu Pflichtberatun-
recht der Frau ins Feld geführt.                                          gen zu verurteilen (§ 219 StGB) und Ärztinnen
                                                                          und Ärzten wie Kristina Hänel ein weitreichen­des
In diesen Bestimmungen des § 219 StGB spiegelt
                                                                          Kommunikationsverbot aufzuerlegen (§ 219a
sich unverkennbar die Position wider, die das
                                                                          StGB)?
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
28.05.1993 bekräftigt hatte. Das Gericht begrün-
dete seine damalige Entscheidung mit folgenden
Kernargumenten:
                                                                          1.2 Schwangerschaftsabbruch
    1. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, mensch-                        und Menschenwürde
    liches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Die-
    se Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG;                 Das BVerfG hatte behauptet, es könne sich bei der
    ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden                     Formulierung „Menschenwürde kommt schon
    durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwür-                   dem ungeborenen menschlichen Leben zu“ auf
    de kommt schon dem ungeborenen menschlichen
                                                                          Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes stützen („Die
    Leben zu. Die Rechtsordnung muss die rechtlichen
    Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines ei-                  Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
    genen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten.                     ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatli-
    Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme                  chen Gewalt“). In Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG
    seitens der Mutter begründet.                                         („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
                                                                          Unversehrtheit“) sollte sich daraus ein „eigenes
    2. Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist be-
                                                                          Lebensrecht des Ungeborenen“ ergeben.
    zogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf mensch­
    liches Leben allgemein.                                               Plausibel wäre diese Argumentation allerdings
                                                                          nur, wenn das Grundgesetz Embryonen als ver-
    3. Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen
                                                                          fassungsrechtlich geschützte Personen auswei-
    auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist
    nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwan-                   sen würde. Dies ist aber nicht der Fall, da Art. 1
    gerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr                     Abs. 1 GG gleich im nächsten Absatz über die
    damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das                 „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“
    Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des                       (AEMR) begründet wird,10 die von den Verein-
    Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche                       ten Nationen 1948, ein Jahr vor dem deutschen
    Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrenn-
                                                                          Grundgesetz, verabschiedet worden war. In der
    bar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich
    gebotenen Schutzes.                                                   „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“
                                                                          heißt es jedoch unmissverständlich: „Alle Men-
    4. Der Schwangerschaftsabbruch muss für die gan-                      schen sind frei und gleich an Würde und Rechten
    ze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Un-                    geboren.“11 Mit gutem Grund steht dort nicht,
    recht angesehen und demgemäß rechtlich verboten
                                                                          alle Menschen seien frei und gleich an Würde
    sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44]). Das Lebens-
    recht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für
                                                                          und Rechten gezeugt oder empfangen.
    eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebun-
    denen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst
    der Mutter, überantwortet werden.9

                                                                          10 „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen
                                                                             und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
9     Entscheidungsgründe 1-4 zum Urteil vom 28.05.1993 (BVerfGE
                                                                             menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtig-
      88, 203). Redaktionelle Anmerkung: Die in dieser Stellungnah-
                                                                             keit in der Welt.“ (Art. 1 Abs. 2 GG)
      me aufgeführten Zitate wurden behutsam an die heute gel-
      tende Rechtschreibung angepasst.                                    11 Art. 1 Satz 1 AEMR

                                                                      6
Die vom BVerfG vertretene Konstruktion eines                            Die hohe Bedeutung, die der preußische Staat
„Lebensrechts des Ungeborenen“ (und zwar über                           dem Vollzug der „ehelichen Pflichten“ einräumte,
den gesamten Zeitraum der Schwangerschaft!)                             erklärt auch, was mit dem vom BVerfG zitierten
hätte sich auf UN-Ebene niemals durchsetzen                             § 10 I 1 ALR tatsächlich gemeint war: Im Wider-
können, da sie (siehe 1.3) auf spezifischen christ-                     spruch zu den Äußerungen des BVerfG ging es
lichen Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert                            hier nämlich keineswegs um den individuellen
gründet – also im Widerspruch zu anderen reli-                          Schutz des „einzelnen ungeborenen Lebens“
giösen wie nicht-religiösen Vorstellungen steht,                        (solche individuellen Rechte blieben dem „unge-
die weltweit vertreten werden. Zudem hätte                              bornen Kinde“ nach § 12 I 1 ALR für den Fall „vor-
die vom BVerfG vorgenommene Ausdehnung                                  behalten“, dass es „lebendig zur Welt kommt“),
der Menschenrechte auf Embryonen auch den                               sondern um eine Maßnahme zur Sicherung künf-
zweiten Satz von Art. 1 AEMR konterkariert, in                          tiger Untertanen, die für die Aufrechterhaltung
dem klargestellt wird, dass die Trägerinnen und                         des preußischen Heers vonnöten waren.
Träger der Menschenrechte „mit Vernunft und
                                                                        Das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs in
Gewissen begabt“ sind und „einander im Geiste
                                                                        Preußen war also keineswegs von der Idee der
der Brüderlichkeit begegnen“ sollen – was man
                                                                        Menschenrechte geprägt, sondern von bevölke-
bewusstseins- und empfindungsunfähigen Em-
                                                                        rungspolitischen Motiven: Der Staat sah sich als
bryonen nur schwerlich abverlangen kann.12
                                                                        berechtigt an, das „ungeborene Leben“ zu schüt-
Da sich das BVerfG nicht auf die „Allgemeine Er-                        zen, um sich „in ihm einen zukünftigen Bürger
klärung der Menschenrechte“ (und somit auch                             zu erhalten“, wie es Dirk von Behren in einer le-
nicht logisch stringent auf Art. 1 GG) beziehen                         senswerten Abhandlung für die „Bundeszentrale
konnte, griff es in der näheren Begründung für                          für politische Bildung“ formuliert hat.15 Die Vor-
die unterstellte „Menschenwürde“ des „unge-                             stellung hingegen, dass es sich bereits bei einer
borenen Lebens“ auf eine andere Rechtsquelle                            „befruchteten Eizelle“ um eine „Person“ (oder wie
zurück, nämlich auf § 10 I 1 ALR: „Die allgemei-                        man damals sagte: einen „beseelten Menschen“)
nen Rechte der Menschheit gebühren auch den                             handeln könnte, hatte im 18. Jahrhundert nur
noch ungeborenen Kindern, schon von der Zeit                            wenige Fürsprecher, weshalb beispielsweise der
ihrer Empfängnis.“13 Beim „ALR“ handelt es sich                         bayerische Kriminalkodex (Codex Iuris B   ­ avarici
jedoch um einen höchst antiquierten Rechtstext,                         Criminalis) von 1751 Abbrüche in der ersten
nämlich um das „Allgemeine Landrecht für die                            Schwangerschaftshälfte nicht mit Strafen beleg-
Preußischen Staaten“ aus dem Jahr 1794! Mit Be-                         te.16
rufung auf das ALR hätte das Bundesverfassungs-
                                                                        Dies hatte nicht zuletzt auch theologische Grün-
gericht auch die Todesstrafe bei Majestätsbelei-
                                                                        de. Denn die (katholische) Kirche war über Jahr-
digung (§ 197 XX 2 ALR) legitimieren können oder
                                                                        hunderte hinweg der aristotelischen Lehre der
die Vormachtstellung des Mannes als „Haupt der
                                                                        „sukzessiven Beseelung“ gefolgt. Demnach soll-
ehelichen Gesellschaft“ (§ 184 IV 2 ALR) bzw. die
                                                                        ten männliche Feten ab dem 40. Schwanger-
Verpflichtung der Eheleute zu regelmäßigem
                                                                        schaftstag „beseelt“ sein, weibliche Feten sogar
Geschlechts­verkehr (§ 178 IV 2 ALR).14
                                                                        erst ab dem 80. Tag der Schwangerschaft, was
                                                                        Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt ermöglichte.
                                                                        Dies änderte sich erst im Jahr 1869 – mit nach-
12 Vgl. hierzu auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
                                                                        haltigen Folgen für die deutsche Gesetzgebung
   Menschenrechte vom 8.7.2004 (Case VO v. FRANCE / Applicati-          zum Schwangerschaftsabbruch, deren Grund­
   on no. 53924/00), das zu dem Ergebnis kam, dass das in der Eu-
                                                                        lagen zwei Jahre später, 1871, mit der Aufnahme
   ropäischen Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schut-
   ze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) verankerte Recht
   auf Leben nur für Personen gilt, nicht aber für Embryonen.
13 BVerfGE 88, 203 [151]
                                                                        15 Dirk von Behren: Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Straf-
14 Letzteres galt auch noch in der Bundesrepublik Deutschland
                                                                           gesetzbuch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 20/2019,
   bis in die späten 1960er Jahre hinein. So wurde die Verpflich-
                                                                           S. 12. Ausführlicher: Dirk von Behren: Die Geschichte des § 218
   tung zur „ehelichen Lebensgemeinschaft“ (§ 1353 Abs. S. 1 Hs.
                                                                           StGB. Gießen 2020.
   1 BGB) im Sinne einer Rechtspflicht zum Geschlechtsverkehr
   gedeutet (vgl. BGH, NJW 1967, 1078).                                 16 Vgl. ebenda.

                                                                    7
der §§ 218-220 ins Strafgesetzbuch geschaffen                             wesen sein könnte. Zu Ehren der „Heiligen Jung-
wurden.                                                                   frau Maria“ erhob Pius IX. deshalb 15 Jahre später
                                                                          (1869) die „Simultanbeseelung“ zur kirchenrecht-
Sucht man also nach der eigentlichen Quelle für
                                                                          lich verbindlichen „Glaubens-Wahrheit“.
die Begründung eines „Lebensrechts des Unge-
borenen“ für die gesamte Dauer der Schwanger-                             Diese kircheninterne Angelegenheit aus dem 19.
schaft, so findet man sie weder beim „Allgemei-                           Jahrhundert müsste uns heute juristisch nicht
nen Landrecht für die Preußischen Staaten“ (ALR)                          mehr interessieren, hätte das Bundesverfassungs-
noch bei Art. 1 Abs. 1 GG noch bei der „Allge-                            gericht ein Jahrhundert später nicht gleich zwei-
meinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR),                              mal, nämlich 1975 und 1993, auf das päpstliche
sondern bei einem entschiedenen Verächter der                             Dogma der „Simultanbeseelung“ zurückgegrif-
Menschenrechtsidee, der auch den Vorgaben des                             fen, um die im Deutschen Bundestag beschlos-
deutschen Grundgesetzes vehement widerspro-                               sene „Fristenlösung“ als „verfassungswidrig“ ab-
chen hätte, nämlich bei Papst Pius IX.17                                  zuweisen. Denn: Allein auf dem Konzept einer
                                                                          „Simultanbeseelung“ lässt sich einigermaßen
                                                                          konsistent begründen, weshalb dem Embryo
                                                                          schon mit dem ersten Tag der Schwangerschaft
1.3 Religiöse Beseelungskonzepte                                          ein individuelles Lebensrecht zukommen soll,
    und das Verfassungsgebot der                                          das gegen das Selbstbestimmungsrecht der un-
    weltanschaulichen Neutralität                                         gewollt schwangeren Frau in Stellung gebracht
                                                                          werden kann.19 20
Es lohnt sich, die Gründe zu betrachten, die Pius
IX. dazu veranlassten, das Konzept der „Sukzes-                           Selbstverständlich wird der Begriff der „Simultan-
sivbeseelung“ aufzugeben und stattdessen die                              beseelung“ in den BVerfG-Urteilen nicht verwen-
„Simultanbeseelung“ (das sogenannte „Eingie-                              det. Klare Bezüge zu religiösen Konzepten findet
ßen des Geistes im Moment der Befruchtung“)                               man in den Urteilen kaum oder wenn doch, sind
zu einem unhinterfragbaren Glaubensdogma zu                               sie indirekter Art: Im Urteil von 1975 (dem zwei
erheben: 1854 hatte der Papst nämlich das Dog-                            der beteiligten Richter*innen deutlich wider-
ma der „Unbefleckten Empfängnis Mariens“ ver-                             sprachen, siehe die Ausführungen in Abschnitt
kündet, woraufhin er unter dem Gedanken litt,                             1.6) erfolgt immerhin noch ein Verweis auf das
dass die „erbsündenfrei“ empfangene „Gottes-                              sogenannte „Sittengesetz“, das die Selbstbestim-
mutter“18 in den ersten 80 Tagen ihrer pränatalen
Existenz „vernunft- und seelenlose Materie“ ge-
                                                                          19 Es gibt zwar vereinzelt säkular anmutende Versuche, ein sol-
                                                                             ches „Lebensrecht von Anfang an“ ohne die Voraus­setzung
                                                                             eines religiösen Beseelungsdogmas zu begründen, aber diese
17 Pius IX., dessen Pontifikat von 1846 bis 1878 dauerte (das                sind logisch so inkonsistent, dass sie keiner „kritischen Prü-
   längste in der Geschichte der katholischen Kirche), hat in sei-           fung“ standhalten können. Ein gutes Beispiel hierfür ist der
   nem „Syllabus errorum“ von 1864 nahezu alle Errungenschaf-                Ansatz von Donald Marquis, dessen 1989 veröffentlichter Ar-
   ten der Aufklärung (u.a. Religionsfreiheit, Trennung von Staat            tikel „Why Abortion is Immoral“ (erschienen in: The Journal of
   und Kirche, freie wissenschaftliche Forschung) als „Irrtümer              Philosophy. Band 86, Nr. 4) zwar oft zitiert wurde, der sich aber
   der Moderne“ verdammt. Selbst bei katholischen Kirchen-                   hoffnungslos im „Dschungel des Potenzialitäts-Arguments“
   gelehrten ist dieser erzreaktionäre Papst, der sich selbst und            verliert (zum Potenzialitäts-Argument siehe die Ausführungen
   seinen Nachfolgern „Unfehlbarkeit“ in Fragen des Lehramts                 in Abschnitt 1.5).
   bescheinigte, hochumstritten. Bemerkenswert ist, dass seine
                                                                          20 Logisch konsistent ist nicht einmal das auf einem unbegründ-
   psychische Gesundheit selbst von hochrangigen Kirchenver-
                                                                             baren Dogma aufbauende Konzept der „Simultanbeseelung“,
   tretern infrage gestellt wurde – nicht zuletzt auch im Rahmen
                                                                             das notwendigerweise in Kollision mit den biologischen Tat-
   seiner „Seligsprechung“ durch Papst Johannes Paul II., vgl.
                                                                             sachen gerät: Denn etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen
   hierzu u.a. Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfin-
                                                                             geht (meist unbemerkt) wieder ab, rund 15 Prozent der fest-
   dung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. München, 2020.
                                                                             gestellten Schwangerschaften enden mit einem sogenann-
18 In diesem Zusammenhang muss man auf ein Missverständnis                   ten „Spontanabort“, einer Austreibung des „ungeborenen
    hinweisen, dem viele unterliegen: Beim Dogma der „Unbe-                  Lebens“ ohne erkennbare Ursachen. Damit stehen christli-
   fleckten Empfängnis“ geht es darum, dass schon Maria ohne                 che Lebensschützer vor einem ernsthaften Problem: Wie soll
   den Makel der Erbsünde empfangen wurde, nicht darum,                      man an einen „Gott“ glauben, der jeder befruchteten Eizelle
   dass sie selbst „den Heiland“ erbsündenfrei empfangen hat.                zunächst eine „ewige Seele“ einhaucht, um sie gleich darauf
   Letzteres hatte die Katholische Kirche bereits lange Zeit zuvor           bei der Hälfte von ihnen wieder „auszuhauchen“? Immerhin
   durch das Dogma der „Jungfrauengeburt“ sichergestellt, vgl.               müsste man einem solchen „Gott“ nicht nur ein erstaunliches
   ­Ecclesia Catholica: Katechismus der katholischen Kirche, Mün-            Maß an Unentschlossenheit zuschreiben, er wäre auch der
   chen 1993, S. 156ff.                                                      „größte Abtreibungsarzt aller Zeiten“.

                                                                      8
mungsrechte der Frau angeblich in ihre Schran-                          1869 widersprach,26 jedoch wurde das Problem,
ken weise,21 zudem heißt es, dass „der Mensch in                        dass das Gericht in seinen Grundauffassungen
der Schöpfungsordnung [Heraushebung durch                               einer spezifisch kirchlichen Argumentationslinie
den Verfasser] einen eigenen selbständigen Wert                         gefolgt war, nicht näher beleuchtet. Dabei hatte
besitzt“.22 Das Urteil von 1993 enthielt dagegen                        das BVerfG schon 10 Jahre zuvor das Verfassungs-
keine offenkundigen religiösen Bezüge mehr, in-                         gebot der „weltanschaulichen Neutralität des
haltlich folgte es aber den Leitlinien des Urteils                      Staates“27 herausgearbeitet und als notwendige
von 1975, das, wie die internen Akten des BVerfG                        Voraussetzung dafür ausgewiesen, dass der Staat
belegen, unter massivem Druck rechts-konser-                            eine „Heimstatt aller Bürger [und Bürgerinnen,
vativer, christlicher Kreise zustande gekommen                          Ergänzung des Verfassers]“ sein könne.28
war.23
                                                                        Dass keinem der Beteiligten auffiel, dass die Ur-
Das weitgehende Fehlen eines christlich-theo-                           teile von 1975 und 1993 gegen das 1965 heraus-
logischen Vokabulars kann allerdings nicht ver-                         gearbeitete Verfassungsgebot der weltanschau-
decken, dass die Verfassungsrichterinnen und                            lichen Neutralität verstießen, lässt sich wohl nur
Verfassungsrichter in ihren Urteilen ganz auf der                       mit dem „blinden Fleck des deutschen Rechts­
Argumentationslinie lagen, die Papst Pius IX. 1869                      systems“ erklären.29 Als „Kinder ihrer Zeit“ konn-
vorgegeben hatte: Sie ersetzten lediglich den                           ten die maßgeblichen Verantwortlichen nicht
religiösen Begriff der „Seele“ durch den säkula-                        erkennen, wie stark ihr eigenes Denken von tradi-
ren Begriff der „Menschenwürde“ und die durch                           tionellen religiösen Vorstellungen bestimmt war.
„göttliche Schöpfung“ angeblich vorgegebene                             Deshalb hatten sie auch nicht im Blick, dass es
„Heiligkeit des menschlichen Lebens“ durch das                          alternative weltanschauliche Perspektiven gibt,
Konzept eines kontinuierlichen „Lebensrechts                            die mit den Lehren (dem vermeintlichen „Sitten-
des Ungeborenen“.24 Der einzige strukturelle                            gesetz“) der christlichen Amtskirchen nicht über-
Unterschied in der Argumentation bestand dar-                           einstimmen.
in, dass Pius IX. das „unantastbare“ menschliche
                                                                        Vor dem Hintergrund der gestiegenen weltan-
Leben mit der befruchteten Eizelle beginnen ließ,
                                                                        schaulichen Pluralität unserer Gesellschaft zeigt
das BVerfG hingegen erst mit der Einnistung der
                                                                        sich heute natürlich sehr viel deutlicher als noch
Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut (Nidati-
                                                                        1975 bzw. 1993, wie einseitig die BVerfG-Urteile
on).25
                                                                        von christlichen Vorstellungen geprägt waren.
Wiltraut Rupp-v. Brünneck hatte in ihrem Son-                           Verfassungsrechtlich ist diese Form der religiösen
dervotum zum BVerfG-Urteil zwar darauf hinge-
wiesen, dass die Auffassung der Senatsmehrheit
selbst kirchlichen Auffassungen aus der Zeit vor
                                                                        26 „Für den deutschen Rechtsraum verdient Hervorhebung, dass
                                                                           das Kirchenrecht, gestützt auf die Beseelungslehre, bis zum
                                                                           Ende des 19. Jahrhunderts die Abtreibung in die Zeitspanne
                                                                           bis zum 80. Tag nach der Empfängnis als straflos angesehen
                                                                           hat…“ (BVerfGE 39, 1 [229])
21 BVerfGE 39, 1 [150]
                                                                        27 Das BVerfG sprach (und spricht noch immer) von „religiös-
22 BVerfGE 39, 1 [203]
                                                                           welt­anschaulicher Neutralität“, eleganter wäre es jedoch, nur
23 Vgl. Thomas Darnstädt: Verschlusssache Karlsruhe. Die inter-            von „weltanschaulicher Neutralität“ zu sprechen, da der Be-
   nen Akten des Bundesverfassungsgerichts. München 2018,                  griff „Weltanschauung“ religiöse wie nicht-religiöse Weltdeu-
   S. 329ff.                                                               tungssysteme umfasst, welche nach Maßgabe der Verfassung
                                                                           gleichberechtigt zu behandeln sind, vgl. hierzu Jacqueline
24 Insofern könnte man mit Verweis auf Jürgen Habermas (vgl.
                                                                           Neumann / Michael Schmidt-Salomon: Was ist Weltanschau-
   Jürgen Habermas: Glauben u. Wissen. Friedenspreisrede 2001.
                                                                           ungsrecht? In: Jacqueline Neumann / Gerhard Czermak /
   In: Jürgen Habermas: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays. Frank-
                                                                           ­Reinhard Merkel / Holm Putzke (Hg.): Aktuelle Entwicklungen
   furt/M. 2003) behaupten, das BVerfG habe die religiöse Sicht-
                                                                            im Weltanschauungsrecht, Baden-Baden 2019.
   weise fachgerecht in eine säkulare Begrifflichkeit „übersetzt“
   und somit nicht gegen das unten näher erläuterte „Verfas-            28 BVerfGE 19, 206
   sungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates“
                                                                        29 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Der blinde Fleck des deut-
   verstoßen. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass die
                                                                           schen Rechtssystems. Über die Missachtung des Gebots
   Begründung des BVerfG alternative religiöse wie nicht-religi-
                                                                           der weltanschaulichen Neutralität. In: Aufklärung und Kritik
   öse Anschauungen in unzulässiger Weise ausblendete (siehe
                                                                           4/2018 (online abrufbar über die Website des Instituts für
   hierzu die nachfolgenden Ausführungen).
                                                                           Welt­anschauungsrecht: https://weltanschauungsrecht.de/sites/
25 Vgl. hierzu auch Franz Josef Wetz: Baustelle Körper. Bioethik           default/files/download/auk_sonderdruck_der_blinde_fleck_
   der Selbstachtung. Stuttgart 2009, S. 109ff.                            des_deutschen_rechtssystems.pdf).

                                                                    9
Parteilichkeit hochproblematisch: Denn wenn                               Halten wir fest: Die auf die BVerfG-Urteile von
das BVerfG das Gebot der weltanschaulichen                                1975 und 1993 zurückgehenden §§ 218 ff. StGB
Neutralität missachtet, begeht es automatisch                             verstoßen gegen die Vorgaben von Art. 3 Abs. 3
einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot                            GG, da sie Juden, Muslime und Konfessionsfreie
von Art. 3 Abs. 3 GG („Niemand darf wegen seines                          diskriminieren. 36 Dieser Aspekt der weltanschau-
Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse,                            lichen Benachteiligung darf bei dem nun anste-
seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, sei-                          henden Verfahren nicht unberücksichtigt blei-
nes Glaubens, seiner religiösen oder politischen                          ben. Dies gilt insbesondere bei der Beurteilung
Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt                                 von Stellungnahmen, die offen oder verdeckt
werden“).                                                                 das religiöse Konzept der „Simultanbeseelung“
                                                                          bemühen, um die „Würde des menschlichen Le-
Indem der deutsche Gesetzgeber – nach den Ur-
                                                                          bens von Anfang an“ zu begründen. Damit soll
teilssprüchen aus Karlsruhe – das Glaubensdog-
                                                                          nicht in Abrede gestellt werden, dass Bürgerin-
ma der „Simultanbeseelung“ (wenn auch in leicht
                                                                          nen und Bürger das Recht haben, derartigen
abgeschwächter Form)30 zur allgemein gültigen
                                                                          Glaubensüberzeugungen zu folgen. Illegitim
Norm erhob (nämlich in den §§ 218 ff. StGB), ver-
                                                                          (verfassungswidrig) wäre es jedoch, solche „Be-
stieß auch er gegen das Diskriminierungsverbot
                                                                          seelungskonzepte“ Andersdenkenden (etwa
des Grundgesetzes: Der Staat privilegierte Men-
                                                                          Konfessionsfreien) oder Andersgläubigen (etwa
schen, die mit den Vorgaben der Amtskirche
                                                                          Juden und Muslimen) aufzuzwingen. 37
übereinstimmen, und diskriminierte all jene, die
diese Überzeugungen nicht teilen. Dies betrifft                           Auf die Fiktion eines vermeintlichen „Sittenge-
nicht nur die vielen Bürgerinnen und Bürger, die                          setzes“ (das sich einst aus der weltanschaulichen
religiöse Beseelungskonzepte per se ablehnen31                            Homogenität einer zu 90 Prozent christlichen
(inzwischen die Mehrheit in Deutschland32), son-                          Gesellschaft speiste), kann sich der moderne
dern beispielsweise auch gläubige Juden, für                              Rechtsstaat heute jedenfalls nicht mehr beru-
die das menschliche Leben erst mit der Geburt                             fen. 38 Stattdessen sollte er die empirischen Fak-
beginnt,33 oder Muslime, für die der Fötus erst                           ten berücksichtigen, die bei der ethischen und
ab dem 120. Tag der Schwangerschaft „beseelt“                             juristischen Beurteilung des Schwangerschafts-
ist. 34 Die Behauptung des BVerfG, der zeitlich                           abbruchs von Bedeutung sind.
unbegrenzte Schutz empfindungsunfähiger Em-
bryonen gelte „unabhängig von bestimmten reli-
giösen oder philosophischen Überzeugungen“,35
ist daher falsch.
                                                                          36 Es gibt natürlich Juden, Muslime und Konfessionsfreie, die
                                                                             die Simultanbeseelung akzeptieren, wie es auch Katholiken
                                                                             gibt, die sie ablehnen. Das ändert aber nichts an der prinzipi-
                                                                             ellen Gültigkeit des Arguments. Deutlich wird dies, wenn wir
                                                                             die Gesetze in Deutschland mit den Bestimmungen in Israel
                                                                             vergleichen, wo aufgrund der gänzlich anderen religiösen
30 Wie gesagt: Bei Pius IX. galt schon die befruchtete Eizelle als           Vorgaben des Judentums Abtreibungen (auch ohne medizi-
   „beseelter“ und damit „vollständiger Mensch“, das Bundes-                 nische Indikation) bis in die letzten Schwangerschaftswochen
   verfassungsgericht weist erst der eingenisteten Blastozyste               erlaubt sind. Weil dem Embryo aus jüdischer Sicht kein Le-
   „Menschenwürde“ zu, siehe hierzu die Ausführungen in Punkt                bensrecht zugeschrieben wird, gilt Israel heute auch als eines
   1.4.                                                                      der wichtigsten Zentren für die Forschung mit embryonalen
31 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Bioethik im Evolutionären                   Stammzellen weltweit.
   Humanismus. Bundeszentrale für Politische Bildung (2018),              37 Hierzu stellte die Bioethik-Kommission des Landes Rhein-
   https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/271627/bio-                      land-Pfalz bereits 2005 fest: „Um den gesellschaftlichen Zu-
   ethik-im-evolutionaeren-humanismus/                                        sammenhalt zu wahren, darf sich die Rechtsordnung nicht
32 Vgl. die Daten der Forschungsgruppe Weltanschauungen in                    die restriktivste moralisch-religiöse Position zu eigen machen.
   Deutschland (fowid): www.fowid.de                                          Vielmehr steht der Gesetzgeber in der Pflicht, einen gesamt-
                                                                              gesellschaftlich tragbaren Handlungsrahmen zu schaffen.“
33 Vgl. Sarah Werren: Bioethik und Judentum. Bundeszentrale für
                                                                              (Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz: Fortpflanzungsme-
   Politische Bildung (2014), https://www.bpb.de/themen/umwelt/
                                                                              dizin und Embryonenschutz. Medizinische, ethische und
   bioethik/197720/bioethik-und-judentum/
                                                                              rechtliche Gesichtspunkte zum Revisionsbedarf von Em-
34 Vgl. Thomas Eich: Bioethik und Islam. Bundeszentrale für Po-               bryonenschutz- und Stammzellgesetz. Mainz 2005, S. 47,
   litische Bildung (2013), https://www.bpb.de/themen/umwelt/                ­https://jm.rlp.de/fileadmin/mjv/Themen/Bio-Ethik/2005-12-12_
   bioethik/33736/bioethik-und-islam/                                         Fortpflanzungs­medizin_und_Embryonenschutz.pdf)
35 BVerfGE 88, 203 (152)                                                  38 Vgl. hierzu auch die Ausführungen im abschließenden Fazit.

                                                                     10
1.4 Plädoyer für eine rationale,                                         Zu den Tatsachen, die das Bundesverfassungsge-
    evidenzbasierte und weltanschaulich                                  richt 1975 und 1993 ignorierte, zählt die Erkennt-
    neutrale Gesetzgebung                                                nis, dass wir – im Unterschied zu den Verlaut-
                                                                         barungen des BVerfG – sehr wohl eine „genaue
Die Gesetzgebung im modernen Rechtsstaat                                 Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungs-
kann nur dann verfassungskonform sein, wenn                              stufen des menschlichen Lebens“ vornehmen
sie rational, evidenzbasiert und weltanschau-                            können: So sind in der Embryologie fünf Ent-
lich neutral ist. „Rational“ heißt in diesem Zu-                         wicklungsstufen klar voneinander abzugrenzen,
sammenhang, dass die jeweiligen Einzelnormen                             nämlich Zygote (die befruchtete Eizelle), Morula
widerspruchsfrei aus der Verfassung abgeleitet                           (die aus der Zygote entstehende kugelförmige
werden können, „evidenzbasiert“, dass der Ge-                            Zell-Formation), Blastozyste (das aus der Morula
setzgeber die empirischen Fakten berücksich-                             resultierende „Keimbläschen“, das sich am 5. bis 6.
tigt, die einem juristischen Sachverhalt zugrun-                         Entwicklungstag in die Gebärmutterschleimhaut
de liegen, und „weltanschaulich neutral“, dass                           einnistet, womit die eigentliche Schwangerschaft
der Staat keine religiösen oder weltanschauli-                           beginnt), Embryo (der sogenannte „Keimling“ ab
chen Positionen privilegieren oder diskriminie-                          der 3. Schwangerschaftswoche) und Fötus (von
ren darf, da dies nicht bloß gegen das Diskrimi-                         dem wir ab der 9. Woche nach der Entwicklung
nierungsverbot des Grundgesetzes verstoßen                               der inneren Organe sprechen).41
würde (Art. 3 Abs. 3 GG), sondern sogar gegen
das oberste Gebot der Verfassung, nämlich den                            Juristisch und rechtsethisch relevant sind hierbei
Schutz der individuellen Menschenwürde (Art.                             die letzten drei Entwicklungsstufen, nämlich das
1 Abs. 1 GG). Denn: Die Würde des Einzelnen ist                          Stadium der eingenisteten Blastozyste, des Em-
dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine                           bryos und des Fötus, die sich allerdings qualitativ
Würde bestimmt – nicht etwa der Staat oder eine                          stark voneinander unterscheiden, weshalb die
wie auch immer geartete Religions- oder Welt­                            unzulässig generalisierende Rede vom „ungebo-
anschauungsgemeinschaft. 39                                              renen menschlichen Leben“ in die Irre führt. Auf
                                                                         diese fehlende Differenzierung stützt sich aller-
Gegen diese Grundprinzipien der modernen                                 dings das „Unwerturteil“ über den Schwanger-
Rechtsprechung hat das Bundesverfassungs-                                schaftsabbruch. Andernfalls könnte es nämlich
gericht in seinen maßgeblichen Urteilen zum                              kaum plausibel erscheinen, dass bereits einem
Schwangerschaftsabbruch verstoßen. So behaup-                            mit interzellularer Flüssigkeit gefüllten Zell­
tete das BVerfG 1975 beispielsweise, der mit der                         bläschen (nämlich der eingenisteten Blastozyste)
Empfängnis begonnene Entwicklungsprozess sei                             „Menschenwürde“ zukommt.
„ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen
Einschnitte aufweist und eine genaue Abgren-                             Erst ab der 20. Schwangerschaftswoche beginnt
zung der verschiedenen Entwicklungsstufen des                            die neuronale Verschaltung der Großhirnrinde,
menschlichen Lebens nicht zulässt“.40 Dies war                           so dass wir es erst ab einer bestimmten Entwick-
schon 1975 empirisch falsch, stellte aber 1993, als                      lungsstufe des Fötus (nicht aber des Embryos,
das BVerfG den vorangegangenen Entscheid be-                             schon gar nicht der Blastozyste) mit einem emp-
kräftigte, eine schwerwiegende Missachtung der                           findungsfähigen Lebewesen zu tun haben, das
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dar.                         überhaupt erst als schädigungsfähig angesehen
                                                                         werden kann und dessen „Interessen“ in einer
                                                                         juristischen Güterabwägung Berücksichtigung
39 Vgl. Schmidt-Salomon, Der blinde Fleck des deutschen
                                                                         finden können. Mit einem (wie auch immer gear-
   Rechtssystems; siehe auch: Michael Schmidt-Salomon: Frei-             teten) „Schmerzerlebnis“ des Fötus ist frühestens
   todhilfe im liberalen Rechtsstaat. Stellungnahme zu den
                                                                         ab der 22. Schwangerschaftswoche zu rechnen,
   Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB (2016), online
   abrufbar unter: https://weltanschauungsrecht.de/sites/default/
   files/download/stellungnahme_217stgb.pdf, sowie den Vortrag
   des Verfassers bei der mündlichen Verhandlung des BVerfG
   im April 2019 (siehe: https://www.giordano-bruno-stiftung.
                                                                         41 Vgl. hierzu und zum Folgenden u.a. Keith Moore et al. (Hg.):
   de/217-stgb-dient-nicht-lebensschutz-sondern-lebensschuet-
                                                                            Embryologie: Entwicklungsstadien – Frühentwicklung – Orga­
   zern).
                                                                            nogenese – Klinik. Übersetzt und bearbeitet von Christoph
40 BVerfGE 39, 1 [133]                                                      Viebahn. München 2013.

                                                                    11
wahrscheinlich sogar erst ab der 28. Schwanger-                             dere: die Selbstbestimmungsrechte ungewollt
schaftswoche, wenn die Verbindung zwischen                                  schwangerer Frauen und ihrer Ärztinnen und
Thalamus und Kortex hergestellt wird, die für die                           Ärzte, einzuschränken.
bewusste Wahrnehmung von Schmerz erforder-
lich ist.42
Hieraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar
mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschau-                              1.5 Ethische Scheinargumente
lich neutralen Gründen verfügen, dass Spätab-                               Leider hat das Bundesverfassungsgericht diese
treibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind,                             klaren Zusammenhänge 1975 bzw. 1993 durch
um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derar-                              drei logisch inkonsistente Argumente verdeckt,
tige Gründe liegen jedoch nicht vor, wenn der                               die sich mit Blick auf weithin anerkannte Prinzi-
Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen                                pien der ethischen Güterabwägung44 leicht ent-
Embryonen und Blastozysten „ein eigenes Recht                               kräften lassen. Das erste Argument bezieht sich
auf Leben“ einräumt und dieses vermeint­liche                               darauf, dass bereits die ersten eingenisteten Zell-
„Recht“ gegen die Selbstbestimmungsrechte der                               formationen (also die Blastozyste) das „Poten­
Frauen ausspielt.43                                                         zial“ in sich tragen, zu einem vollwertigen Men-
Der zugrundeliegende empirische, ethische und                               schen heranzureifen. In dem BVerfG-Urteil von
rechtsphilosophische Sachverhalt ist eindeutig                              1975 heißt es dazu:
zu erfassen. Gegenteilige Auffassungen beruhen                               Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Men-
– wenn auch oft verdeckt – auf religiös-weltan-                              schenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Trä-
schaulichen Vorannahmen (etwa auf dem Kon-                                   ger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu
zept der „Simultanbeseelung“), die zwar denk-                                wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen
möglich sind, aber weder als rational noch als                               Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen,
                                                                             um die Menschenwürde zu begründen.45
evidenzbasiert noch als weltanschaulich neutral
bezeichnet werden können – weshalb sie unter                                Hier allerdings irrt sich das Gericht, denn aus blo-
keinen Umständen herangezogen werden dür-                                   ßen Potenzialitäten lassen sich keinerlei Rechts-
fen, um bürgerliche Freiheiten, hier insbeson-                              folgen ableiten, was man sich an einem einfachen
                                                                            Beispiel verdeutlichen kann: So ist jeder Mensch,
                                                                            der einen Lottoschein ausfüllt, ein „potenzieller
42 Vgl. hierzu u.a. Hartmut Kreß: Schwangerschaftsabbrüche
                                                                            Millionär“, und jeder, der eine Waffe trägt, ein
   im heutigen Kontext von Reproduktionsmedizin und Präim-                  „potenzieller Mörder“. Dennoch würde sicher-
   plantationsdiagnostik. In: Ulrike Busch / Daphne Hahn (Hg.):             lich niemand der Behauptung zustimmen, dass
   Abtreibung. Diskurse und Tendenzen. Bielefeld 2015. Zur Fra-
   ge des Schmerzempfindens differieren die zeitlichen Ansätze              solche „Potenzialitäten“ bereits ausreichten, um
   zwar etwas, in der wissenschaftlichen Gemeinschaft besteht je-           dem einen den Lotto-Jackpot auszuzahlen und
   doch schon lange ein breiter Konsens, dass vor der 22. Schwan-
   gerschaftswoche noch von keinem qualitativen Schmerz­                    den anderen lebenslang hinter Gitter zu bringen.
   erlebnis des Fötus gesprochen werden kann, siehe hierzu u.a.:            Zwar liegen in diesen Fällen die Bedingungen der
   ­Manfred Zimmermann: Zur Frage der Schmerzempfindlich-
    keit des Feten. In: Der Schmerz 5/1991; Andreas Schwarzer /             Verwirklichung des Potenzials in Umständen au-
    Michael Zenz: Fetaler Schmerz – ein systematischer multidis-            ßerhalb des jeweiligen Besitzers des Potenzials.
    ziplinärer Überblick. In: Der Schmerz 20/2006; sowie (auf inter-
    nationaler Ebene besonders wichtig): Susan J. Lee et al.: Fetal
                                                                            Aber das ist beim Embryo nicht anders. Auch des-
    Pain. A Systematic Multidisciplinary Review of the Evidence.            sen Potenzial verwirklicht sich erst durch das er-
    In: JAMA 2005 (doi:10.1001/jama.294.8.947).
                                                                            folgreiche Austragen der Schwangerschaft durch
43 Vgl. hierzu auch Wetz, Baustelle Körper, 2009, S. 119f. Die-
                                                                            die Mutter.46
   ses Argument findet sich in ähnlicher Form schon in der
   von ­ Jacqueline Neumann und Michael Schmidt-Salomon
   verfassten „ifw-Stellungnahme zum Referentenentwurf des
   Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz
   (BMJV) für ein Gesetz zur Verbesserung der Information                   44 Vgl. hierzu u.a. Dieter Birnbacher: Analytische Einführung in
   über einen Schwangerschaftsabbruch vom 28. Januar 2019“                     die Ethik. Berlin 2013.
   (online veröffentlicht auf der Website des Bundesministeri-
                                                                            45 BVerfGE 39, 1 [147]
   ums der Justiz und für Verbraucherschutz: https://www.bmj.de/
   SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2019/                   46 Das „Potenzialitäts-Argument“ ist für viele Menschen irri-
   Downloads/01022019_Stellngnahme_Institut-Weltanschauung_                    tierend und wohl mitursächlich für das „ungute Gefühl“, das
   Schwangerschaft.pdf?__blob=publicationFile&v=2)                             einige Bürgerinnen und Bürger – möglicherweise auch die

                                                                       12
Das zweite Scheinargument, das eng mit dem                                  nen be­sonderen Grundrechtsschutz, denn auch
ersten verknüpft ist, bezieht sich auf die geneti-                          Mäuse, Rinder oder Schweine sind in der Regel
sche „Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit“ des                             (abgesehen von geklonten Exemplaren aus
                                                                            ­
„ungeborenen Lebens“ und seine Zugehörigkeit                                dem Labor) genetisch einzigartig, ohne dass das
zur menschlichen Spezies. In dem BVerfG-Urteil                              ­BVerfG ihnen deshalb eine besondere Form von
von 1993 liest sich dies folgendermaßen:                                     „Würde“ zubilligen würde.
 Jedenfalls […] handelt es sich bei dem Ungeborenen                          Herausragende Bedeutung hatte für das Gericht,
 um individuelles, in seiner genetischen Identität und                       wie es scheint, die genetische Zugehörigkeit
 damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbar-                           des „ungeborenen Lebens“ zur Spezies Mensch.
 keit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben,
                                                                             Aller­dings ist dieses „speziesistische Argument“
 das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens
 sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch
                                                                             strukturell äquivalent zur Argumentation des
 entwickelt. Wie immer die verschiedenen Phasen des                          Rassismus, der ebenfalls aus der bloßen Zugehö-
 vorgeburtlichen Lebensprozesses unter biologischen,                         rigkeit zu einer Gruppe Privilegien oder Benach-
 philosophischen, auch theologischen Gesichtspunk-                           teiligungen ableitet.49 Ein ethisch hochwertiges
 ten gedeutet werden mögen und in der Geschichte                            Begründungsmuster ist dies zweifellos nicht!
 beurteilt worden sind, es handelt sich jedenfalls um                       Sehr viel angemessener wäre es gewesen, der
 unabdingbare Stufen der Entwicklung eines individu-
                                                                            „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“
 ellen Menschseins. Wo menschliches Leben existiert,
 kommt ihm Menschenwürde zu.47
                                                                            zu folgen, die dem Menschen eine besondere
                                                                            ­„Würde“ zuweist, weil er „mit Vernunft und Ge-
Bei diesen Ausführungen verwirrt zunächst, dass                              wissen begabt“ ist, woraus sich notwendiger-
das BVerfG offenbar die Existenz eineiiger Zwil-                             weise spezifische „Interessen“ ergeben, welche
linge nicht bedacht hat, die sich nicht durch eine                           nicht-personale Lebewesen ohne Ich-Bewusst-
einmalige, unverwechselbare genetische Iden-                                 sein und ohne Fähigkeit zur Antizipation der Zu-
tität auszeichnen,48 deshalb aber nicht weniger                              kunft gar nicht ausbilden können.
schutzwürdig sind. Ohnehin taugt das Argu-                                  Leider hat das BVerfG den unaufhebbaren Zusam-
ment der Unverwechselbarkeit schwerlich für ei-                             menhang von Ethik und Interesse50 nicht in den
                                                                            Mittelpunkt der Beurteilung gerückt. Eine solche
                                                                            Argumentation hätte allerdings auch das gene-
    Verfassungsrichter*innen – beim Gedanken an den Schwan-
                                                                            relle „Unwerturteil“ über den Schwangerschafts-
    gerschaftsabbruch haben. Denn viele Menschen schließen
    aus der Perspektive ihres erwachsenen Ichs darauf, dass sie als         abbruch ad absurdum geführt. Warum? Weil die
    Embryo ein potenzielles Interesse am eigenen Überleben ge-              Konstruktion eines „Lebensrechts“ die Fähigkeit,
    habt hätten. Doch dieser Schluss beruht auf einem Denkfeh-
    ler, den man sich leicht verdeutlichen kann: Hätte meine Mutter         ein „Überlebensinteresse“ oder überhaupt Inter-
    „mich“ als Embryo abgetrieben, wäre dies für „mich“ kein Prob-          essen zu haben, voraussetzen würde.51 Hierüber
    lem gewesen, da ein „Ich“, das Probleme hätte haben können, gar
    nicht erst entstanden wäre (vgl. hierzu auch Dieter Birnbacher:
                                                                            aber verfügen selbst weit entwickelte mensch-
    Gibt es rationale Argumente für ein Abtreibungsverbot? In:              liche Föten nicht, geschweige denn: empfin-
    Revue Internationale de Philosophie, Vol. 49, No. 193/3/1995).          dungsunfähige menschliche Embryonen oder
    Noch irritierender ist der umgekehrte Fall, der aber wohl nur
    wenige Menschen umtreibt: Hier geht es darum, dass aus ei-              Blastozysten, die keinerlei „Interessen“ aufwei-
    nem genetisch geschädigten Embryo ein Individuum hervor-                sen, welche ethisch oder juristisch in irgendeiner
    gegangen ist, welches seine eigene Nichtexistenz einem Le-
    ben mit extremen Schmerzen und Behinderungen vorziehen                  Weise berücksichtigt werden könnten.
    würde. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit bereits einige
    solcher „Wrongful-life“-Prozesse, bei denen die Betroffenen
    Schadensersatz dafür einklagten, mit ihren schweren Behin-
    derungen und Krankheiten überhaupt das Licht der Welt er-               49 Vgl. hierzu Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart 1994,
    blickt zu haben. Wie man solche Klagen ethisch und juristisch              S. 82ff.; siehe auch: Reinhard Merkel: Forschungsobjekt Em-
    beurteilen sollte, ist allerdings eine äußerst komplexe Frage,             bryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der
    deren Beantwortung den Rahmen dieser Stellungnahme                         Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen.
    sprengen würde.                                                            ­München 2002, S. 131ff.
47 BVerfGE 88, 203 [151]                                                    50 Ethische Güterabwägungen können nur dann stattfinden,
                                                                               wenn konfligierende Interessen im Spiel sind, vgl. hierzu u.a.
48 Zwar weisen etwa 15 Prozent der eineiigen Zwillinge ge-
                                                                               Dieter Birnbacher: Bioethik zwischen Natur und Interesse.
   ring voneinander abweichende Mutationen auf (vgl. Hakon
                                                                               Frankfurt/M. 2006 sowie Norbert Hoerster: Ethik und Interes-
   ­Jonsson et al.: Differences between germline genomes of
                                                                               se. Stuttgart 2003.
    monozygotic twins. In: Nature Genetics 53, Januar/2021,
    ­
    ­https://doi.org/10.1038/s41588-020-00755-1), dies ändert jedoch        51 Vgl. Norbert Hoerster: Ethik des Embryonenschutzes. Stutt-
     nichts an der prinzipiellen Gültigkeit des Gegenarguments.                gart 2002.

                                                                       13
Insofern ist es verständlich, dass sich ein drittes                        besaß. Wie wir gesehen haben, entspricht diese
(Schein-)Argument des Gerichts gegen die ethi-                             Grenzziehung auch Artikel 1 der UN-Menschen-
sche und juristische Relevanz von Interessen rich-                         rechtserklärung, der wiederum die Grundlage für
tet. Dazu heißt es im BVerfG-Urteil von 1975:                              Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes bildet.
 Der (mit der Nidation] begonnene Entwicklungs­                            In dieselbe Richtung weist auch § 1 BGB, der die
 prozess ist […] nicht mit der Geburt beendet; die für                     Rechtsfähigkeit des Kindes mit der Vollendung
 die menschliche Persönlichkeit spezifischen Bewusst­                      der Geburt beginnen lässt.54
 seins­phänomene z.B. treten erst längere Zeit nach
 der Geburt auf. Deshalb kann der Schutz des Art. 2                        Wir kennen derartige Grenzziehungen aus an-
 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf den „fertigen“ Menschen                        deren Rechtsgebieten, etwa beim Erreichen der
 nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfä-                        Volljährigkeit und Strafmündigkeit. Auch hier
 higen nasciturus beschränkt werden. Das Recht auf                         können empirische und juristische Sachverhalte
 Leben wird jedem gewährleistet, der „lebt“; zwischen                      auseinanderfallen, denn nicht jeder, der das 18.
 einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens
                                                                           oder 21. Lebensjahr erreicht hat, ist deshalb im
 vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und ge-
 borenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht
                                                                           empirischen Sinne schon „erwachsen“. Dennoch
 werden.52                                                                 hat sich diese rechtliche Grenzziehung bewährt,
                                                                           ohne die das gesellschaftliche Zusammenleben
Hierzu ist zu sagen, dass der zugrundeliegende                             sehr viel schwerer zu organisieren wäre. Dies
empirische Sachverhalt zunächst richtig darge-                             trifft zweifellos auch auf die Grenzziehung zwi-
stellt ist. Tatsächlich sind Babys keine „Personen“                        schen Fötus und Neugeborenem zu. Dass jeder
im eigentlichen Sinne des Wortes, denn sie ver-                            Mensch von Geburt an Träger von Menschen-
fügen noch nicht über ein Ich-Bewusstsein, eine                            rechten ist und hierzulande unter dem besonde-
„Theory of Mind“ oder über die kognitive Fähig-                            ren Schutz des Grundgesetzes steht, interessiert
keit zur Antizipation der Zukunft bzw. zur be-                             den Neugeborenen zwar noch nicht (sofern er
wussten Handlungsplanung. Allerdings ist diese                             keine Schmerzen erleiden muss), ist aber insbe-
Argumentation mit einem Kategorienfehler ver-                              sondere für seine Eltern wichtig, da sie in ständi-
bunden, da der fundamentale Unterschied, der                               ger Furcht um ihren Nachwuchs leben müssten,
zwischen „empirischen Personen“ und „Rechts-                               wenn dieser nicht in besonderem Maße durch
personen“ besteht, nicht berücksichtigt wird.53                            die Verfassung geschützt würde.
Tatsächlich kann der Säugling nämlich sehr wohl                            Kommen wir damit zu einer weiteren Zwischen-
eine Rechtsperson sein, ohne dabei notwendiger-                            bilanz: Die ethischen Argumente, mit denen das
weise auch die Bedingungen einer empirischen                               Bundesverfassungsgericht sein „Unwerturteil“
Person erfüllen zu müssen. Zwar unterscheidet                              über den Schwangerschaftsabbruch in der Ver-
sich ein neugeborener Säugling im Hinblick auf                             gangenheit absichern wollte, halten einer „kriti-
das personale Bewusstsein nicht fundamental                                schen Prüfung“55 nicht stand. Verfassungskon-
von dem Fötus, der er kurz zuvor noch war, je-                             form hätte das BVerfG nur auf der Grundlage der
doch bildet die Geburt eine anthropologisch                                „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“
sinnvolle, „natürliche“ Grenze, um ihm Personen-                           (AEMR) argumentieren können, die dem Indivi-
rechte einzuräumen, die er pränatal noch nicht                             duum ab der Geburt „Menschenwürde“ zuweist.
                                                                           Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber zu
                                                                           wenig verbieten würde, wenn er Kindstötung
52 BVerfGE 39, 1 [133]                                                     (Infantizid) nicht als Straftat verfolgt. Allerdings
53 Der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, dass auch das
   „Kontinuitäts-Argument“, auf das sich das BVerfG an dieser
   Stelle beruft, keiner „kritischen Prüfung“ standhält. Denn die
   Argumentation „Weil menschliche Personen schützenwert
                                                                           54 Wenn das StGB eine andere Grenzziehung vornähme als das
   sind, muss auch die eingenistete befruchtete Eizelle, aus der
                                                                              BGB, führte dies zu dem rechtslogisch inkonsistenten Kon­
   sie in einem kontinuierlichen Prozess hervorgegangen ist,
                                                                              strukt eines „nicht rechtsfähigen Grundrechtsträgers“, vgl.
   schützenwert sein“ lässt sich leicht in ihr Gegenteil verkehren
                                                                              hierzu im strafrechtlichen Kontext Rolf D. Herzberg / Annika
   „Weil die noch nicht eingenistete Eizelle nach Auffassung des
                                                                              I. Herzberg: Der Beginn des Menschseins im Strafrecht: Die
   BVerfG nicht schützenswert ist, ist auch die Person, die aus ihr
                                                                              Vollendung der Geburt. In: JZ 22/2001, S. 1106ff.
   in einem kontinuierlichen Prozess hervorgeht, nicht schüt-
   zenswert“ (vgl. hierzu Birnbacher, Gibt es rationale Argumente          55 Vgl. Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen
   für ein Abtreibungsverbot? 1995, S. 361).                                  1991, S. 35ff.

                                                                      14
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