Sicherung des Fachkräfteangebots in Berlin im demografischen wandel - Berlin, im Januar 2011 - IHK Berlin
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Sicherung des Fachkräfteangebots in Berlin im demografischen wandel Berlin, im Januar 2011
iNHalt Editorial 5 Die wichtigsten Empfehlungen der IHK Berlin an Unternehmen und Politik 6 Kapitel 1: Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage – Status Quo und Prognosen 9 1.1 Entwicklung des Fachkräfteangebots – Erwerbspersonenpotenzial in Europa, Deutschland und im Ballungsraum Berlin 9 1.2 Entwicklung der Fachkräftenachfrage – der Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Berlin 13 1.3 Der Berliner Arbeitsmarkt – Struktur der Arbeitslosigkeit und Fachkräftesituation der Unternehmen 18 1.4 Demografische Entwicklung – Herausforderungen für Unternehmen und Politik 20 Kapiel 2: Handlungsfelder zur Fachkräftesicherung – Handlungsbedarf für Unternehmen und Politik 22 2.1 Datengrundlage: vertiefen und dynamisieren 22 2.2 Frühkindliche und schulische Bildung: rechtzeitig investieren 23 2.3 Duale Ausbildung: Nachwuchs für die Berliner Wirtschaft sichern 26 2.4 Hochschule: mehr Absolventen für Berlin gewinnen 28 2.5 Weiterbildung und Qualifizierung: Fachkräfte an Unternehmen binden 30 2.6 Rahmenbedingungen: attraktiv gestalten 32 2.7 Akquisition: Fachkräfte aktiv und gezielt ansprechen 34 2.8 Informationen: gezielt vernetzen und bereitstellen 36 |3
Editorial Krise war gestern, Fachkräftesicherung ist heute Kaum sind die wirtschaftlich turbulenten Zeiten halbwegs überwunden, wird nicht mehr darü- ber diskutiert, wie Entlassungen vermieden werden können, sondern wie man qualifizierte Mit- arbeiter findet und an sein Unternehmen bindet. Durch den demografischen Wandel - der sich im steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung und der sinkenden Geburtenrate manifes- tiert - entwickelt sich dabei die Fachkräftesicherung mehr und mehr zu einer Herausforderung für Unternehmen. Bei der Behandlung des viel zitierten „Fachkräftemangels“ geht es jedoch um mehr als bloße Arbeitskräftesicherung: es gilt, die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft, der Unternehmen und damit unseren Wohlstand zu sichern. Dabei ist gerade vor dem Hintergrund der immer noch viel zu hohen Arbeitslosenquote in Berlin klar: Ohne wesentliche Anstrengun- gen im Bildungssektor geht es nicht! Die wichtigste Botschaft vorweg: Es ist noch nicht zu spät! Politik, Gesellschaft und Wirt- schaft können noch gegensteuern, wenn sie schnell und konsequent handeln. Die vielschichti- ge Herausforderung „Fachkräftesicherung“ gehört dabei ganz oben auf die (bildungs-)politische und betriebliche Agenda. Um geeignete und funktionierende Lösungsvor- schläge zu finden, legt die IHK Berlin deshalb mit dieser Broschüre eine Analyse der Lage des Fachkräfteangebots und der Nachfrage vor. Gleichzeitig liefert die Untersuchung die Basis für konkrete Handlungsempfehlungen in allen Bereichen der Bildung, Zuwanderung, Mitarbeiter- gewinnung und -bindung sowie der Integration älterer Arbeitnehmer. Nicht zuletzt soll diese Broschüre aber auch zeigen, in welchen Bereichen die IHK Berlin bereits aktiv Unterstützung bei der Fachkräftesicherung leistet und darüber hinaus weitere Maßnahmen entwickelt werden können. Für Berlin gilt: Der wirtschaftliche Erfolg der Hauptstadt hängt von der intensiven Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft ab. Nur mit klugen Köpfen kann es gelingen, Berlin fit für die Zukunft zu machen und die neuen Chancen, die sich etwa in der Gesundheitswirtschaft oder in der „Green Economy“ bieten, zu nutzen. Ich freue mich, wenn wir mit dem vorliegenden Papier die Entscheidungsfindung in den Betrieben und in der Politik unterstützen können, und die Herausforderung Fachkräftesicherung nicht länger als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance verstehen. Dr. Eric Schweitzer Präsident der IHK Berlin |5
Die wichtigsten Empfehlungen Empfehlungen der IHK Berlin an Unternehmen und Politik Die wichtigsten Empfehlungen 8. Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterbreiten: Setzen Sie sich für eine weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein mit flexiblen Arbeitszei- der IHK Berlin an Unternehmen ten und -orten, Informations- und Betreuungsangeboten sowie ggf. finanzieller Unterstüt- zung! und Politik 9. Fachkräfteportale zur Unternehmensdarstellung nutzen: Präsentieren Sie Ihr Unterneh- men schon heute an prominenter Stelle für gesuchte Fachkräfte! Die demografische Ent- Bei der Suche nach Auszubildenden sind die rückläufigen Schulabgängerzahlen für die Un- wicklung verändert den Arbeitsmarkt hin zu einem Bewerbermarkt, in dem die verbliebenen ternehmen bereits heute deutlich spürbar. Mittelfristig wird auch die Zahl der Hochschulab- Arbeitskräfte von den Unternehmen umworben werden müssen. solventen sinken. Insgesamt nimmt die Zahl der Erwerbspersonen ab, das Durchschnittsalter der Belegschaften steigt an. Die demografische Entwicklung wird zu einem Risiko für Wett- bewerbsfähigkeit und Wohlstand, wenn es nicht gelingt, die vorhandenen Potenziale besser Vorschläge der IHK Berlin an die Politik auszunutzen. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung von Wirtschaft und Politik, um die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Die IHK Berlin hat hierfür einen Katalog an Emp- 1. Nachhaltig investieren statt reparieren: Durch eine insgesamt noch stärkere Ausrichtung fehlungen für Unternehmen und Vorschlägen für die Politik formuliert. aller bildungspolitischen Maßnahmen auf Prävention die Basiskompetenzen der Kinder sowie Schülerinnen und Schüler stärken, den Anteil der Risikoschüler senken sowie Unter- Empfehlungen der IHK Berlin an die Unternehmen schiede in der Vorbildung ein Stück weit ausgleichen. 1. Naturwissenschaften bereits in der Kita fördern: Unterstützen Sie als Förderer oder Spon- 2. MINT-Fachkräftenachwuchs sichern: Finanzielle Anreize für Sekundarschulen und sor das Projekt „Haus der kleinen Forscher“, durch welches bereits Drei- bis Sechsjährige für Gymnasien gewähren, die in ihren Wahlpflicht- oder Pool-Stunden einen Schwerpunkt auf Naturwissenschaften und Technik begeistert werden. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik (MINT) legen. 2. Partnerschaften mit Schulen eingehen: Stellen Sie frühzeitig den Kontakt zu Ihren künfti- 3. Reform des Übergangssystems Schule/Beruf: Maßnahmen im Berliner Übergangssystem gen Fachkräften in der Region her! Im Rahmen des Projektes „Partnerschaft Schule-Betrieb“ transparent machen, konsequent evaluieren und reduzieren. Mit Blick auf Fachkräftesiche- stellt die IHK Berlin den Kontakt zwischen Ihrem Unternehmen und Schulen her. Langfris- rung einen Schwerpunkt auf betriebliche Maßnahmen sowie Anschlussfähigkeit setzen – tige Partnerschaften zwischen Schule und Wirtschaft tragen auch zur Verbesserung der keine Warteschleifen mehr! Ausbildungsreife bei. 4. Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Studium erhöhen: Absolventen Dualer 3. Kontakt mit Hochschulen herstellen: Pflegen Sie den langfristigen Kontakt zu Hochschu- Berufsausbildungen den Weg in die Hochschulen bahnen. Gemeinsam mit der Wirtschaft len, sowohl zu den Career-Service-Centern und Alumni-Organisationen als auch zu Lehr- die Möglichkeit einer akademischen Bildung für beruflich Qualifizierte besser kommunizie- stühlen geeigneter Fachrichtungen! Bringen Sie sich in praxisorientierte Lehrangebote ein! ren (Informationskampagne). 4. Studienabbrecher gezielt ansprechen: Sprechen Sie Studienabbrecher insbesondere in 5. Studienabbrecherquote absenken: Transparenz über Anforderungen der Studiengänge MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gezielt auf eine erhöhen. Studienanfänger in den MINT-Disziplinen intensiver betreuen. Zielgruppenadäqua- Duale Berufsausbildung an! tere und effektivere Möglichkeiten zur Studienfinanzierung schaffen sowie Teilzeit- und Fernstudiengänge anbieten. 5. Jugendliche mit Migrationshintergrund ansprechen: Erschließen Sie die Vielfalt und Potenziale, welche sich z.B. durch Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz für Ihre 6. Studienabbrecher für eine Duale Ausbildung gewinnen: Die Beratung von Studienabbre- Betriebe und Märkte bieten! chern im Hinblick auf die Möglichkeit einer Dualen Ausbildung in das Beratungsangebot der Career-Service-Center der Hochschulen aufnehmen. Ansprechpartner für Studienabbrecher 6. Potenziale älterer Arbeitnehmer erschließen: Sichern Sie durch Weiterbildung die Kompe- durch die Arbeitsagenturen benennen. tenz und Aktualität des Wissens Ihrer älter werdenden Belegschaft! 7. Berliner „Fachkräfteagentur“ einrichten: In Ergänzung zum auf Unternehmen ausgerich- 7. Einstiegsqualifizierung nutzen: Ermöglichen Sie Jugendlichen, die noch nicht voll für teten Standortmarketing der Berlin Partner GmbH über eine „Fachkräfteagentur“ gezielt eine klassische Ausbildung geeignet sind, den Einstieg in die Duale Berufsausbildung. Die hiesige und auswärtige Fachkräfte für die Hauptstadt anwerben. Einstiegsqualifizierung ist eine weitere Option, Talente zu entdecken und im Rahmen einer praktischen Einführung an die Unternehmensgepflogenheiten heranzuführen. 6| |7
Empfehlungen der IHK Berlin an Unternehmen und Politik Kapitel 1 8. Gezielt ausländische Fachkräfte akquirieren: Auf Bundesebene für ein für Fachkräfte attraktives Ausländerrecht einsetzen! Migration bedarfsorientiert und flexibel durch ein Analyse von Fachkräfteangebot qualifikationsorientiertes Auswahlverfahren (Punktesystem) steuern, mit dem benötigte Fachkräfte auch aus Nicht-EU-Ländern inklusive ihrer Familienangehörigen Zugang zum und -nachfrage – deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Status Quo und Prognosen 9. Vorrangprüfung reformieren: Vorrangprüfung für Zuwanderer durch eine Vorschlagspflicht eines geeigneten deutschen Alternativbewerbers durch die Bundesagentur für Arbeit erset- 1.1 Entwicklung des Fachkräfteangebots – Erwerbspersonenpotenzial in zen. Automatische Erteilung einer Arbeitserlaubnis für ausländische Fachkräfte, wenn kein Europa, Deutschland und im Ballungsraum Berlin geeigneter Bewerber gefunden werden kann. Berlin wird heute von den negativen Auswirkungen der demografischen Entwicklung noch weitgehend verschont. Auch dank stetiger Zuzüge wächst die Bevölkerung der Hauptstadt seit 2005 entgegen der Entwicklung auf Bundesebene. Dennoch wird sich die Hauptstadt dem sie umgebenden Trend nicht auf Dauer widersetzen können. Während Berlin die größten Herausforderungen noch bevorstehen... Der aktuellen Prognose der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zufolge wird das Bevölke- rungswachstum noch bis zum Jahr 2023 anhalten, bis Berlin in der Spitze 3,48 Mio. Einwohner verzeichnet. Erst im Anschluss daran wird ein leichter Rückgang der Einwohnerzahlen auf 3,47 Mio. im Jahr 2030 prognostiziert, womit der Stand vom 1. Quartal 2009 noch immer um 46.000 Personen übertroffen würde. Trotz dieser vergleichsweise günstigen Prognose wird das Durch- schnittsalter in der Hauptstadt bis 2030 um 2,8 Jahre steigen, die Zahl der über 80-Jährigen sich nahezu verdoppeln und die erwerbsfähige Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren um 5,1 Prozent gegenüber 2007 abnehmen. Im Anschluss wird mit einer noch deutlicheren Zuspitzung gerechnet. Bis 2060 berechnet das Statistische Bundesamt einen Rückgang der Berliner Bevölkerung auf 2,9 Mio. Menschen. Damit einhergehend wird sich das Verhältnis von Erwerbsfähigen zur übrigen Bevölkerung von fast 2:1 auf den Bundesdurchschnitt (ca. 1:1) verschlechtern (siehe Grafik 1). 2060 kommt auf jeden Erwerbsfähigen ein Kind oder ein Rentner Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung (20 bis unter 65-Jährige) an der Gesamtbevölkerung* Grafik 1: 2060 kommt auf jeden Erwerbsfähigen ein Kind oder ein Rentner Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung (20 bis unter 65-Jährige) an der Gesamtbevölkerung* 70 % 65 % 60 % 55 % 50 % 45 % Quelle: Statistisches Bundesamt, 40 % Februar 2010, eigene Berechnung 2010 2020 2030 2040 2050 2060 Deutschland Berlin Brandenburg Hamburg Thüringen Bremen *Variante 1-W1 der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Der erste Wert der Zeitreihe "Deutschland" bezieht sich auf 2008. Quelle: Statistisches Bundesamt, Februar 2010, eigene Berechnung 8| |9
KaPitEl 1 aNalySE VoN FacHKräFtEaNgEBot UNd -NacHFragE ...spitzt sich die Lage in Brandenburg bereits jetzt zu "Demografische Grafik Zeitenwende" 2: „Demografische hat Ausbildungsmarkt Zeitenwende“ erreichterreicht hat Ausbildungsmarkt Entwicklung der Schulabgängerzahlen in Berlin Entwicklung der Schulabgängerzahlen in Berlin Die Einwohnerzahl Brandenburgs wird nach der Prognose der Senatsverwaltung für Stadt- 45.000 Prognose entwicklung bis 2030 um 12 Prozent auf ca. 2,2 Mio. Einwohner sinken. Getragen vom Bal- 40.000 lungsraum Berlin kann das in Brandenburg liegende Berliner Umland jedoch mittelfristig auf 12.072 11.695 11.910 11.892 12.300 12.787 einen moderaten Zuwachs bei der Bevölkerung hoffen. Bis 2020 steigt die Zahl der Einwohner 35.000 18.600 13.100 13.500 im Berliner Umland um 5,2 Prozent gegenüber 2006, was bis 2030 nur leicht korrigiert wird. 11.500 13.400 13.400 13.600 30.000 12.600 11.900 11.900 11.900 Im Gegensatz dazu muss die Brandenburger Peripherie bis 2030 einen dramatischen Aderlass 11.100 12.400 10.900 11.100 um 25 Prozent zum Jahr 2006 hinnehmen. Im Ergebnis wird die Zahl der im Umland Berlins 25.000 lebenden Brandenburger bis 2030 von 40 auf 48 Prozent ansteigen, obwohl das Umland flä- 20.000 chenmäßig nur 15 Prozent von Brandenburg ausmacht. Die Berlin-Brandenburger Entwicklung 23.489 23.436 22.805 22.741 22.400 21.964 16.200 16.700 17.100 17.000 17.000 17.000 20.500 19.400 17.300 16.400 15.600 15.200 15.900 19.600 17.100 entspricht damit dem bundesweiten Trend wachsender Ballungsräume und Metropolregionen 15.000 sowie schrumpfender Peripherien. 10.000 Quelle: Kultusministerkonferenz, Im internationalen Vergleich steht Deutschland schlecht da 5.000 Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 3.000 3.400 2.900 2.900 2.900 2.900 2.900 2.800 2.800 2.800 2.800 2.800 2.800 4.303 3.576 4.218 4.100 3.100 3.100 4.198 4.211 0 IHK Berlin 2012* 2000 2004 2009 2003 2006 2008 2002 2005 2007 2020 2001 2010 2019 Insgesamt zeigt sich der demografische Wandel als ein internationales Problem, das abgesehen 2018 2016 2013 2014 2015 2017 2011 von wenigen Ausnahmen wie den USA, Mexiko und der Türkei vor allem Industriestaaten be- ohne Schulabschluss mit Hochschulreife ohne Hochschulreife trifft. 2006 lag die durchschnittliche Fertilitätsrate im OECD-Durchschnitt mit ca. 1,6 Kindern *doppelter Abiturjahrgang pro Frau deutlich unterhalb des für eine konstante Bevölkerungszahl nötigen Niveaus von 2,1. Deutschland lag mit ca. 1,3 sogar noch darunter. Ein Grund dafür ist das seit 1970 um vier Quelle: Kultusministerkonferenz, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, IHK Berlin auf 28,1 Jahre gestiegene Durchschnittsalter, in dem Frauen ihr erstes Kind zur Welt bringen. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig ein Hindernis für höhere Geburtenraten sein muss, zeigen In der Konsequenz können viele Berliner Betriebe Ausbildungsplätze schon heute nicht beset- Frankreich und Irland, wo trotz noch späterer Erstgeburten im Durchschnitt zwei bzw. 1,9 zen. Dies rückt bereits bekannte Probleme noch stärker in den Fokus: Kinder geboren werden. Ausbildungsreife: Laut IHK-Ausbildungsumfrage (2010) ist das Top-Ausbildungshemmnis nach Viele europäische Staaten trotzen der demografischen Entwicklung auch über eine hohe wie vor mit 71 Prozent die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger. Fast jedes vierte Erwerbstätigenquote. Der Anteil der 15- bis 64-Jährigen, die in Deutschland tatsächlich einer Unternehmen (24 Prozent) konnte nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen (2007: Beschäftigung nachgehen, liegt z. T. deutlich unter dem in den skandinavischen Ländern, in der 17 Prozent), da z.B. keine geeigneten Bewerbungen vorlagen (62 Prozent). Schweiz oder dem Vereinigten Königreich. All diese Länder haben gemeinsam, dass sie im Ver- gleich zu Deutschland höhere Erwerbsquoten von Frauen, Älteren und Migranten aufweisen. Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage: Qualifikation und Berufswunsch des Bewer- Auch die Erwerbsbeteiligung von gering Qualifizierten ist deutlich besser. bers bzw. angebotener Ausbildungsplatz und Nachfrage decken sich nicht immer. Die Folge ist, dass viele Unternehmen Ausbildungsplätze nicht besetzen können, während zur gleichen Zeit „Demografische Zeitenwende“ hat den Ausbildungsmarkt für Jüngere erreicht Jugendliche entweder noch keinen Ausbildungsplatz haben oder sich bereits in einer schuli- schen „Warteschleife“ befinden. Schulabgänger, Absolventen einer Dualen Ausbildung oder eines Hochschulstudiums sowie die Absolventen einer Aufstiegsfortbildung sind unsere Fachkräfte von morgen. Ein Rückgang der Weiterbildungsbeteiligung: Beschäftigte mit Berufs- oder Hochschulabschluss haben eine Bevölkerung in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen hat deutliche Auswirkungen auf die mittlere bis hohe, Beschäftigte ohne Berufsabschluss hingegen eine unterdurchschnittliche Anzahl der den Berliner Unternehmen zur Verfügung stehenden Fachkräfte. Anders als bei der Weiterbildungsquote. Die Weiterbildungsquote von Erwerbspersonen mit Migrationshinter- Gesamtbevölkerung hat die „demografische Zeitenwende“ den Ausbildungsmarkt für Jüngere grund ist nur halb so hoch wie diejenige derer ohne Migrationshintergrund. bereits erreicht. Die Schulabgängerzahlen in Berlin sind in den vergangenen sieben Jahren kontinuierlich gesunken (siehe Grafik 2). In den letzten 20 Jahren ging der Anteil der unter Ein sinkendes Angebot an Fachkräften erhöht die Bedeutung von Lebenslangem Lernen und 19-Jährigen in Berlin bereits um 20 Prozent zurück. Derzeit sind rund 15 Prozent der Berliner verlangt daher eine signifikante Steigerung der Weiterbildungsbeteiligung im ureigenen Inter- Bürger jünger als 19 Jahre. Der Abwärtstrend wird sich zwar verlangsamen, jedoch bis 2030 esse von Unternehmen und Beschäftigten. fortsetzen. Auch die Gruppe der Jugendlichen im Ausbildungsalter von 18 bis 25 Jahren ist betroffen: Bis 2030 werden fast 15 Prozent weniger junge Erwachsene für eine Ausbildung zur Verfügung stehen als heute. 10 | | 11
Kapitel 1 Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund besonders hoch Deutschland fällt bei Zuwanderung zurück Auffällig ist ein klarer Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung und Herkunft. Obwohl die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer im EU-Vergleich relativ hoch ist (EU: Während 25,3 Prozent aller Berliner mit Migrationshintergrund noch minderjährig sind, liegt 6,7 Prozent, Deutschland: 8,8 Prozent, Berlin: 13,5 Prozent), wird Zuwanderung offenbar nicht der Anteil bei ihren Nachbarn ohne ausländische Wurzeln nur bei 10,6 Prozent. Auch bundes- mehr hinreichend genutzt, um das Fachkräfteangebot für die Zukunft zu sichern. Von 1999 weit bestätigt sich dieser Unterschied. Migranten sind folglich im Durchschnitt deutlich jünger bis 2008 ging die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland um fast 15 Prozent zurück, was im als ihre Mitbürger mit deutschen Vorfahren, weswegen ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung OECD-Vergleich seinesgleichen sucht. Im selben Zeitraum haben andere europäische Staaten in Zukunft weiter zunehmen dürfte. Bereits heute besitzt mit 42,9 Prozent fast die Hälfte aller ihre Attraktivität für Migranten spürbar gesteigert: Österreich +30,7 Prozent, Frankreich: unter 18-jährigen Berliner Jugendlichen einen Migrationshintergrund (siehe Grafik 3). +64,3 Prozent, Schweden: +137 Prozent. Auch Länder mit bereits hohen absoluten Zuwande- rungszahlen wie Großbritannien oder Spanien konnten nochmals deutliche Zuwächse verbu- Diese Entwicklung beinhaltet einerseits die Chance, die Überalterung der Bevölkerung ohne chen. Damit hat Deutschland seine Spitzenposition im europäischen Wettbewerb um Fachkräf- Migrationshintergrund teilweise zu kompensieren. Andererseits stellt ein hoher Anteil von te eingebüßt. Im Umkehrschluss zeigt das immense Wachstum der Nachbarstaaten aber auch, Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch besondere Anforderungen an das Bildungssys- welches ungenutzte Potenzial in einer gesteuerten Zuwanderung zur Begegnung des demogra- tem. Bei den 18- bis 25-Jährigen hat mehr als jeder Zehnte keinen Schulabschluss, während fischen Wandels liegt. dies bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund nur bei 2,7 Prozent der Fall ist. Auch bei den erfolgreichen Schulabgängern ergeben sich deutliche Unterschiede. Junge Migranten verlassen die Schule deutlich häufiger nach dem Hauptschulabschluss und erlangen seltener die Hoch- 1.2 Entwicklung der Fachkräftenachfrage – der Wirtschafts- und Wissen- schulreife als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Erfreulich ist dagegen, dass schaftsstandort Berlin Mädchen schon seit Jahren unabhängig von ihrer Herkunft etwa gleich häufig die Hochschul- reife erreichen. Die Fachkräftenachfrage der Wirtschaft wird sowohl vom gesamtwirtschaftlichen Wachstum- strend als auch vom stetigen Strukturwandel beeinflusst. Bei der Ermittlung des künftigen Fachkräftebedarfs sind daher auch Nachfrageverschiebungen zwischen Branchen und den dort benötigten Qualifikationen zu beachten. Gerade in Berlin ließ sich ein derartiger Strukturwan- del in den vergangenen Jahren feststellen, und auch in Zukunft ist mit einer Veränderung der Migrationshintergrund bei mit Grafik 3: Viele Jugendliche Jugendlichen weit verbreitet Migrationshintergrund Wirtschaftsstruktur zu rechnen. Anteil Jugendlicher unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund in ihrer Altersgruppe Anteil Jugendlicher unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund in ihrer Altersgruppe 50% Die Wiedervereinigung verändert den Fachkräftebedarf grundlegend In den vergangenen 20 Jahren unterlag die Wirtschaftsstruktur Berlins einem tiefgreifenden 40% 42,9 Wandel. Allein im Verarbeitenden Gewerbe fielen im Zeitraum von 1991 bis 2009 insgesamt 59 37,5 37,0 Prozent der Industriearbeitsplätze weg. Der Anteil der Industriebeschäftigten an allen Erwerbs- tätigen sank von 18,8 Prozent in 1991 auf nur noch 7,8 Prozent in 2009. Damit einher ging eine 30% 30,2 relative Ausweitung des Dienstleistungssektors (siehe Grafik 4). Jedoch kam es nicht nur zu 28,3 25,5 einer quantitativen Schrumpfung des industriellen Sektors, sondern gleichzeitig auch zu einer 20% qualitativen Modernisierung: Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in moderne Quelle: Konferenz der für Vertriebsstrukturen machten sich bezahlt und neue Märkte konnten erschlossen werden. So hat Integration zuständigen Ministerin- sich beispielsweise die Exportquote des Berliner Verarbeitenden Gewerbes – also der Anteil des 10% nen und Minister / Senatorinnen und Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz der Industriebetriebe – von 1991 bis 2009 von 11 auf 44 Senatoren (IntMk), Februar 2010, Prozent glatt vervierfacht. Diese neu gewonnene internationale Konkurrenzfähigkeit war nur eigene Berechnung 0 durch hochqualifizierte Fachkräfte möglich, die auch in Zukunft verstärkt nachfragt sein werden. Berlin Hessen Nordrhein- Bayern Niedersachsen Deutschland Westfalen Quelle: Konferenz der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister / Senatorinnen und Senatoren (IntMk), Februar 2010, eigene Berechnung 12 | | 13
Kapitel 1 Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage Dienstleistungen gewinnengewinnen Grafik 4: Dienstleistungen an Bedeutung an Bedeutung Bruttowertschöpfung in Berlin nach Wirtschaftsbereichen in Prozent Bruttowertschöpfung in Berlin nach Wirtschaftsbereichen in Prozent Baugewerbe Anteil Bruttowertschöpfung 2009: 3,8%, 1991: 6,4% Beschäftigungsanteil 2009: 4,5%, 1991: 7,7% 14 % 21 % 28 % Sowohl bundesweit als auch in Berlin sank die Bauproduktion bis 2007 stetig. Seit 32 % 4% 2007 ist insbesondere in Berlin die Tendenz aufwärts gerichtet. Die Zahl der Erwerbs- tätigen im Baugewerbe steigt in Berlin seit Ende 2006 ununterbrochen an. 6% 1991 2009 15% Finanz- und Unternehmensdienstleistungen Anteil Bruttowertschöpfung 2009: 35,1%, 1991: 27,4% Beschäftigungsanteil 2009: 23,4%, 1991: 12,6% 18 % Quelle: Arbeitskreis „Volkswirtschaft- Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt ist in Berlin die Wertschöpfung im Bereich Fi- 27% liche Gesamtrechnung der Länder“, nanzierung und Unternehmensdienstleistungen stärker gewachsen. Bei der Beschäf- 35 % März 2010 tigung bewegte sich der Aufwärtstrend bis Anfang 2008 in Berlin zunächst mit dem günstiger. Produzierendes Gewerbe Handel, Gastgewerbe, Öffentliche und private Verkehr Dienstleister Handel, Gastgewerbe und Verkehr Baugewerbe Unternehmensdienstleister Anteil Bruttowertschöpfung 2009: 14,8 %, 1991: 17,5% Quelle: Arbeitskreis "Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder", März 2010 Beschäftigungsanteil 2009: 23,1%, 1991: 26,8% Nicht zuletzt wegen des Zustroms auswärtiger Besucher verzeichnete das Gastgewer- be in den letzten Jahren einen regelrechten Boom. Obwohl das Gastgewerbe in Berlin mit knapp drei Prozent Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung eine relativ kleine Wertschöpfung und Beschäftigte in den Wirtschaftsbereichen Branche ist, kann davon ausgegangen werden, dass der zunehmende Tourismus auch verändern sich an andere Wirtschaftszweige – insbesondere den Verkehrssektor – Wachstumsimpulse weitergibt. Die Zahl der Erwerbstätigen nahm seit Mitte 2009 trotz der Krise nur Der oben grob skizzierte Strukturwandel zeigt sich in seinen Auswirkungen auf die Ent- geringfügig ab. wicklung der einzelnen Wirtschaftsbereiche in den letzten Jahren. Öffentliche und private Dienstleister Verarbeitendes Gewerbe Anteil Bruttowertschöpfung 2009: 32,3 %, 1991: 27,6% Anteil Bruttowertschöpfung 2009: 11,3%, 1991: 18,6% Beschäftigungsanteil 2009: 40,3%, 1991: 31,8% Produzierendes Gewerbe insgesamt (inkl. Bau) 2009: 17,7%, 1991: 27% Beschäftigungsanteil Verarbeitendes Gewerbe 2009: 7,8%, 1991: 18,8% Deutlich gewachsen ist in Berlin der Sektor der Öffentlichen und privaten Dienstleis- tungen. Eine Ausweitung erfolgte insbesondere in den Bereichen Gesundheits- und Mit leichter Verzögerung hatte das Verarbeitende Gewerbe Berlins erst ab 2006 an der Sozialwesen sowie Erziehung und Unterricht. letzten konjunkturellen Aufschwungphase teil. In den beiden folgenden Jahren wurden über dem Bundesdurchschnitt liegende Wachstumsraten erzielt. Von der Krise ab Mitte 2008 wurde das Verarbeitende Gewerbe Berlins wesentlich weniger getroffen als die Beschäftigungszuwachs von Dienstleistungen getragen deutsche Industrie insgesamt. Die Zahl der Erwerbstätigen in der Berliner Industrie ist nach einem zwischenzeitlichen Anstieg zuletzt wieder unter das Niveau zu Beginn des In den letzten Jahren lässt sich ein kräftiges Wachstum bei der Zahl der Arbeitsplätze letzten Aufschwungs gesunken. Aktuell lässt der bundesweit spürbare starke Auftrags- verzeichnen. Wie erwartet ist zu beobachten, dass die Beschäftigung hoch Qualifizierter eingang aus dem In- und Ausland allerdings wieder auf einen Beschäftigungsaufbau stärker zugenommen hat als die gering Qualifizierter. Bis heute findet der Beschäftigungs- auch in der Berliner Industrie hoffen. aufbau – quantitativ betrachtet – fast ausschließlich im Dienstleistungsbereich statt: Starke Anstiege gab es bei der Zahl der Arbeitnehmer in Sozial- und Gesundheitsberufen, in 14 | | 15
Kapitel 1 Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage der Gästebetreuung sowie bei den Lehrkräften. Sehr stark wuchs auch die Beschäftigung von Gesundheitswirtschaft Grafik entwickelt 5: Gesundheitswirtschaft sich rasant entwickelt sich rasant Werbefach- und Werbekaufleuten, Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, EDV-Fachleuten und Bruttowertschöpfung und Bruttowertschöpfung undErwerbstätige ErwerbstätigeininBerlin/Brandenburg Berlin/Brandenburg Wirtschaftsprüfern. Schwach war dagegen die Entwicklung in den Fertigungsberufen. Die wie- Bruttowertschöpfung Erwerbstätige dergewonnene Wettbewerbsfähigkeit, die hohe Innovationskraft und die weitere Vernetzung 22 410 der Berliner Industrieunternehmen in Verbindung mit Initiativen wie dem Masterplan Industrie 20 400 lassen jedoch einen Beschäftigungsaufbau auch im industriellen Sektor erwarten. 18 390 Bedeutung von FuE-Fachkräften nimmt weiter zu 16 380 14 370 Obwohl in jüngster Zeit eine Abschwächung bei den FuE-Investitionen und beim -Personal 12 360 zu verzeichnen ist, bleibt die FuE-Intensität in Berlin überdurchschnittlich hoch und erreicht 10 350 beispielsweise im Verarbeitenden Gewerbe nach wie vor einen Spitzenplatz. Berliner Unterneh- 8 340 men gelten als besonders innovativ. Auch ist zu beachten, dass eine nachhaltige Expansion des Dienstleistungssektors ohne eine wettbewerbsfähige Industrie nicht denkbar ist und dass hoch- 6 330 qualifizierte Dienstleistungsarbeitsplätze, besonders im Bereich der Unternehmensdienstleis- 4 320 tungen, häufig als Folge innovativer Entwicklungen in der Industrie entstehen. Aus den Potenzi- 2 310 Quelle: TU Darmstadt und WifOR, alen des Wirtschaftsstandortes Berlin im Hochtechnologiebereich und bei forschungsintensiven 0 300 August 2009 Produkten resultiert in erster Linie ein steigender Bedarf an hochqualifizierten Absolventen 1996 2004 2008 2011* 2015* 2020* 2025* 2030* aus den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Aber auch die Bruttowertschöpfung Erwerbstätige * Prognose Spezialisierung und Modernisierung im Dienstleistungsbereich dürfte weiter voranschreiten, in Mrd. Euro in absoluten Zahlen was auch in diesem Sektor einen weiteren Anstieg der Fachkräftenachfrage erwarten lässt. Quelle: TU Darmstadt und WifOR, August 2009 Erfolg der Clusterstrategie bestimmt den künftigen Fachkräftebedarf Nicht zuletzt profitiert der Wirtschaftsstandort Berlin entscheidend von der Kompetenzfeld- Beispiel Metall- und Elektroindustrie: Fachkräftemangel ist bereits Realität und Clusterstrategie. Gerade die Clusterstrategie, mit deren Hilfe innovative Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, der Kultur- und Kreativwirtschaft, der Verkehrswirtschaft sowie der Während die Fachkräftesicherung in einigen Branchen noch als Zukunftsthema behandelt aufkommenden Green Economy gezielt vernetzt werden, dürfte dazu führen, dass der Bedarf wird, ist sie in anderen bereits akut. In der Metall- und Elektroindustrie kommen bun- an hochqualifizierten Fachkräften in Zukunft noch weiter zunimmt. Sollten diese Bereiche – desweit rein rechnerisch auf jede in dem jeweiligen Berufsfeld offiziell gemeldete offene wie angesichts der bisher positiven Entwicklung und der gezielten Förderung durch die Politik Stelle knapp fünf arbeitslose Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure bzw. acht bis neun zu erwarten – auch in Zukunft besonders dynamisch wachsen, so ist mit einem überdurch- arbeitslose Elektroingenieure. Allerdings werden in diesen Bereichen üblicherweise nur schnittlich stark anziehenden Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften in den zugehörigen ca. 13 Prozent der offenen Stellen überhaupt den Arbeitsagenturen gemeldet, weil sich Unternehmen zu rechnen. andere Vermittlungswege aus Sicht der Unternehmen in der Praxis häufig als zielfüh- render erweisen. Folglich liegt die Zahl der am Arbeitsmarkt tatsächlich nachgefragten Beispielhaft lässt sich dies am Cluster Gesundheitswirtschaft verdeutlichen: Dieser erreichte Ingenieure ungefähr acht mal höher als in der offiziellen Statistik ausgewiesen. Berück- im Wirtschaftsraum Berlin-Brandenburg bereits 2008 eine Bruttowertschöpfung von über 14 sichtigt man dies, so ergibt sich ein Verhältnis von Arbeitslosen zu tatsächlich offenen Mrd. Euro, was in einer Studie der TU Darmstadt eigentlich erst für 2011 prognostiziert worden Stellen, das für Elektroingenieure bei 1,1 und im Maschinen- und Fahrzeugbau sogar nur war. Die überraschend starke Dynamik schlug auch auf die Beschäftigungsentwicklung durch: bei 0,6 liegt. Der Fachkräftemangel ist also nicht etwa eine hypothetische Situation, die Mit 354.000 Erwerbstätigen in der Gesundheitswirtschaft wurde 2008 bereits der Wert über- in Zukunft – je nach unterstelltem Szenario – mit mehr oder weniger großer Wahrschein- troffen, der erst für 2015 erwartet wurde (siehe Grafik 5). lichkeit eintreten könnte, sondern er ist in Teilen der Metall- und Elektroindustrie bereits heute Realität, weil es mehr offene Stellen als potenzielle Bewerber gibt. Die dadurch Zudem ist aber auch innerhalb der Cluster von einer überproportionalen Expansion der for- verschenkten Wachstumspotenziale lassen sich zwar schwer quantifizieren. Dennoch ist schungsstarken und wissensorientierten Bereiche auszugehen. Dieser Trend lässt sich bereits es besonders alarmierend, dass die Engpässe mit der Metall- und Elektroindustrie ausge- für den Zeitraum 1996 bis 2008 bei der Gesundheitswirtschaft beobachten: Im industriellen rechnet eine Branche treffen, deren Erfolg für eine nachhaltige Wachstumsperspektive Bereich wuchsen besonders die Pharmaindustrie und die Medizintechnik, im Dienstleistungsbe- der Gesamtwirtschaft von zentraler Bedeutung ist. reich beispielsweise der Großhandel mit Gesundheitsprodukten. 16 | | 17
Kapitel 1 Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage 1.3 Der Berliner Arbeitsmarkt – Struktur der Arbeitslosigkeit bei den gesuchten Qualifikationen lassen sich Verschiebungen der Nachfrage beobachten. und Fachkräftesituation der Unternehmen Waren in den vergangenen Jahren nahezu ausschließlich Akademiker gefragt, suchen die Unternehmen nun vermehrt auch Absolventen einer Dualen Ausbildung. Fast jedes dritte Un- Werden Fachkräfteangebot und -nachfrage gemeinsam auf dem Berliner Arbeitsmarkt betrach- ternehmen meldet hier inzwischen ungedeckten Bedarf. tet, ergibt sich zunächst ein bemerkenswertes Bild: Die Unternehmen beklagen zunehmend Schwierigkeiten bei der Suche nach qualifiziertem Personal, während Berlin gleichzeitig die Mittelstand vor besonderen Herausforderungen höchste Arbeitslosenquote im Bundesländervergleich aufweist. Offenbar besteht auf dem Ar- beitsmarkt eine Diskrepanz zwischen angebotenen und nachgefragten Qualifikationen. Auch hinsichtlich der Unternehmensgröße gibt es in Berlin wie auch bundesweit erkenn- bare Unterschiede bei der Fachkräfteakquisition. Kleine Unternehmen mit weniger als zehn Im Dezember 2010 waren ca. 219.000 Berliner arbeitslos gemeldet, was einer Quote von 12,8 Mitarbeitern zeigen sich nahezu unbeeindruckt – nur sieben Prozent beklagen Schwierigkeiten Prozent entspricht. Hinzu kamen fast 35.000 Personen in Arbeitsgelegenheiten, die nicht in bei der Besetzung offener Stellen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass kleine Unternehmen der Arbeitslosenstatistik aufgeführt werden. In Berlin sind vor allem Ausländer, von denen seltener Fachkräfte suchen als große. Bei mittelgroßen und großen Unternehmen finden im jeder fünfte ohne Beschäftigung ist, überdurchschnittlich häufig betroffen. Weiterhin auffällig Durchschnitt dagegen 29 Prozent kein passendes Personal. Während letztere jedoch in den ist die weit verbreitete Langzeitarbeitslosigkeit. Annähernd ein Drittel aller Arbeitslosen sucht Augen der Beschäftigten häufig als attraktive Arbeitgeber gelten und damit einen natürlichen seit über einem Jahr einen Job. Dabei sinkt mit jedem weiteren Monat die Tuchfühlung zum Fachkräftezulauf haben, sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eher auf eine aufwän- Arbeitsmarkt. Einmal erworbene Qualifikationen veralten oder werden nicht weiter trainiert dige Suche nach passenden Bewerbern angewiesen. Berlin steht mit seiner mittelständisch mit dem Ergebnis, dass die Wirtschaft vor einer Einstellung erst umfangreiche Schulungsmaß- geprägten Wirtschaftsstruktur daher auch im Vergleich zu anderen Regionen vor besonders nahmen ergreifen muss. großen Herausforderungen bei der Fachkräftesicherung. Angespannte Lage auf dem Fachkräftemarkt Prognosen verdeutlichen Handlungsbedarf Das Ausmaß der Herausforderung, qualifizierte Fachkräfte zu finden, wird an Umfrageda- Vorliegende Prognosen über den zukünftigen Fachkräftemarkt zeichnen ein dramatisches Bild. ten der IHK Berlin deutlich (siehe Grafik 6). Trotz Wirtschaftskrise, Rezession und Kurzarbeit Ohne gegensteuernde Maßnahmen werden im Jahr 2015 bereits 273.000 Arbeitsplätze in beklagten im Herbst 2009 noch immer 26 Prozent der Berliner Unternehmen Schwierigkeiten Berlin-Brandenburg nicht besetzt werden können, weil qualifizierte Bewerber fehlen. Bis 2030 bei der Besetzung offener Stellen. Dabei zieht sich der Fachkräftemangel durch viele Branchen. steigt dieser Wert sogar auf 460.000 Arbeitsplätze. Bei derzeit rund 2,7 Mio. Erwerbstätigen in Sowohl bei Dienstleistungen als auch in der Industrie ist Personal knapp. Sogar die Bauwirt- beiden Bundesländern wäre das fast jede fünfte Stelle. Ohne ein entschlossenes Gegensteuern schaft berichtet von Engpässen. Einzig im Handel wird eine entspannte Lage erkennbar. Auch und einen umfassenden Ansatz zur Fachkräftesicherung droht der Berliner Wirtschaft folglich ein flächendeckendes Nachwuchsproblem. Fachkräftebedarf auf breiter Grafik 6: Fachkräftebedarf Front auf breiter Front Neben den genannten demografischen Entwicklungen in der Region verschärft bei bestimm- Können Sie in Ihrem Unternehmen derzeit offene Stellen nicht besetzen?* Können Sie in Ihrem Unternehmen derzeit offene Stellen nicht besetzen?* ten Qualifikationen auch der bundes- und europaweite Wettbewerb um die besten Köpfe die 40 Situation. Gerade die viel zitierten MINT-Fachkräfte werden in allen Regionen händeringend gesucht. Zwar ist der Bedarf in Berlin derzeit noch schwächer ausgeprägt als bsp. in Süd- 35 deutschland, Studien zufolge wird er bedingt durch den Strukturwandel zu einer forschungs- 33,8 und wissensintensiven Wirtschaft in Verbindung mit einer wiedererstarkenden Industrie 30 29,5 jedoch auch in Berlin mittelfristig stark zunehmen. Gerade bei Ingenieuren kommt es dann zur 28,2 25 26,5 Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage. Während bei Bauingenieuren und Architekten 25,9 ein Überangebot herrscht, werden qualifizierte Mitarbeiter z. B. in der Biotechnologie, der 20 Energietechnik und der Verkehrssystemtechnik fehlen. 15 Andere Branchen mittelbar betroffen 10 10,6 Nicht zu unterschätzen sind dabei die Auswirkungen auf andere Branchen. Selbst wenn dort 5 ausreichend Fachkräftenachwuchs zur Verfügung stehen sollte, werden bsp. unternehmensna- Quelle: IHK Berlin, Oktober 2009 0 he Dienstleister Auftragsrückgänge von Unternehmen zu verkraften haben, die ihrerseits we- Baugewerbe Dienstleistungs- Gastgewerbe Handel Industrie Gesamt gen fehlender Mitarbeiter weniger Umsatz generieren können. Fachkräftesicherung ist daher gewerbe *Anzahl der zustimmenden Antworten in Prozent ein Thema für die ganze Wirtschaft und nicht nur für die direkt betroffenen Branchen. Quelle: IHK Berlin, Oktober 2009 18 | | 19
Kapitel 1 Analyse von Fachkräfteangebot und -nachfrage 1.4 Demografische Entwicklung – Herausforderungen für Unternehmen verschärft den Handlungsbedarf, die Qualität der frühkindlichen und schulischen Bildungs- und Politik angebote zu verbessern. Eine rückläufige Zahl von Schulabgängern und mittelfristig auch Hochschulabsolventen bei ff Herausforderung Berufsschule: gleichzeitig wachsendem Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund bildet den Rahmen für Auch die Berufsschulen müssen in Hinblick auf Personal- und Sachausstattung in der Lage das zukünftige Fachkräfteangebot in Berlin. Das prognostizierte wirtschaftliche Wachstum und sein, als verlässlicher Partner der Dualen Ausbildung agieren zu können. Nur wenn sie in der vor allem der Strukturwandel der Berliner Wirtschaft werden dazu führen, dass die Nachfrage Lage sind, die Qualität der Ausbildung aufrecht zu erhalten, können aus Auszubildenden nach hochqualifizierten Fachkräften überproportional ansteigt. Ein europaweit abnehmendes tatsächlich auch Fachkräfte werden. Angebot macht den Wettbewerb um hochqualifizierte Fachkräfte international. ff Herausforderung akademischer Nachwuchs: Entwicklung stellt Unternehmen vor vielschichtige Herausforderungen Rückläufige Geburtenzahlen treffen auf eine wachsende Nachfrage nach hoch Qualifizier- ten. Einerseits bedarf es einer gezielten Steigerung der Hochschulabsolventen. Andererseits Diese Situation stellt alle Unternehmen, insbesondere jedoch die überwiegend mittelständisch ist die Exzellenz in der Hochschulausbildung bei gleichzeitig verstärkter Praxisorientierung strukturierte Berliner Wirtschaft vor anspruchsvolle Aufgaben: sicherzustellen. ff Herausforderung Mitarbeiterakquise: ff Herausforderung Erwerbspersonenpotenzial ausschöpfen: Für kleine und mittlere Unternehmen ohne großen Bekanntheitsgrad ist die Personalsuche Die rückläufige Anzahl der Erwerbspersonen verstärkt die Notwendigkeit, das vorhandene bereits heute aufwändiger als für große Unternehmen. Rückläufige Schulabgänger- und Erwerbspersonenpotenzial besser auszuschöpfen. Das Handlungsfeld reicht von der Wie- Absolventenzahlen verschärfen das Problem. Die zunehmende Internationalisierung des dereingliederung Arbeitsloser bis zur Steigerung der Beschäftigungsquote von Frauen und Fachkräftemarktes stellt eine zusätzliche Hürde dar. Älteren. ff Herausforderung Mitarbeiterbindung: ff Herausforderung Nettozuwanderung für Deutschland: Das Ziel einer geringen Fluktuation gewinnt noch stärker an Bedeutung für die Personalpo- Gegenwärtig ist die Abwanderung von Fachkräften aus Deutschland größer als die Zuwan- litik. Eine langfristige Zusammenarbeit ist angesichts wachsender Fachkräfteknappheit eine derung. Die Attraktivität des Standorts für Fachkräfte muss in einem Ausmaß gesteigert anspruchsvolle unternehmerische Aufgabe. werden, das die Abwanderung stoppt und die Voraussetzung für eine gezielte Zuwanderung schafft. ff Herausforderung Mitarbeiterentwicklung: Eine älter werdende Belegschaft und längere Lebensarbeitszeiten richten den unternehme- ff Herausforderung Karriere in Berlin: rischen Fokus auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit - sowohl auf die Kompetenzen und die Fachkräfte und angehende Fachkräfte aus anderen Bundesländern und aus dem Ausland Aktualität des Wissens als auch auf die körperliche Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. müssen auf Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in Berlin aufmerksam gemacht werden. ff Herausforderung Unternehmensnachfolge: Bereits heute scheitern 25 Prozent der potenziellen „Übernehmer“ an unzureichender fachli- cher Qualifikation. Angesichts sich verschlechternder Rahmenbedingungen wird die Lösung dieser Aufgabe in Zukunft schwieriger werden, was den Fortbestand vieler Unternehmen gefährden kann. Auch für die Politik entsteht umfangreicher Handlungsbedarf Bereits heute droht die demografische Entwicklung das wirtschaftliche Wachstum zu be- einträchtigen. Auf Landes- und Bundesebene bestehen für die Politik vielfältige dringende Handlungserfordernisse: ff Herausforderung Ausbildungs- und Hochschulreife: Heute verlassen zu viele Jugendliche die Schule ohne ausbildungsreif bzw. ohne den Anfor- derungen eines Hochschulstudiums gewachsen zu sein. Der zunehmende Fachkräftemangel 20 | | 21
Kapitel 2 Handlungsfelder zur Fachkräftesicherung Handlungsfelder zur Fachkräfte- zu präsentieren. Um der langfristigen Umsetzungsdauer von Maßnahmen zur Fachkräftesiche- rung Rechnung zu tragen, sollte der sich daraus ergebende Fachkräftebedarf zudem weniger sicherung – Handlungsbedarf für von konjunkturellen Schwankungen als vielmehr von langfristigen Planungen der Unternehmen beeinflusst werden. Auch sind politische Rahmenbedingungen wie z.B. der Masterplan Indust- Unternehmen und Politik rie oder die Kompetenzfeld- und Clusterstrategie zu berücksichtigen, von denen ein nachhalti- ger Einfluss auf die Fachkräftenachfrage zu erwarten ist. 2.1 Datengrundlage: vertiefen und dynamisieren ff Die IHK Berlin wird weiterhin mit regelmäßigen Mitgliederbefragungen den Fachkräftebe- darf der Berliner Wirtschaft eruieren und somit eine Basis für die notwendige Datengrundlage Bei genauerer Betrachtung liegen die Gründe für die in Kapitel 1 geschilderte Fachkräfteknapp- schaffen. heit sowohl in einem durch den demografischen Wandel verringerten Arbeitskräftepotenzial als auch im stetig fortschreitenden Strukturwandel der Berliner Wirtschaft, durch den sich die nachgefragten Qualifikationen ändern. Konsequenterweise müssen Handlungsempfehlungen Empfehlung für Unternehmen: zur Fachkräftesicherung daher an beiden Stellen ansetzen. Dafür bedarf es einer umfassenden ff Unterstützen Sie die IHK und andere Institutionen bei Umfragen zum Thema Fachkräfte- Datengrundlage. sicherung! Damit leisten Sie einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Prognosen, von denen Ihre eigenen Personalplanungen profitieren können. Es fehlt ein systematischer Ansatz Die bisherigen Prognosen bieten keine ausreichend fundierten Schätzungen, da sie sich in der Handlungsfelder für die Politik Regel auf einzelne Branchen bzw. Branchenkompetenzfelder beschränken. Dadurch werden insbesondere die in Kapitel 1.3 genannten Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige aus- ff Unter Beteiligung aller relevanten Akteure (Amt für Statistik, Arbeitsagenturen und geblendet. Noch häufiger wird vereinfachend angenommen, dass sich die Bedeutung der Bran- JobCenter, Kammern, Verbände, etc.) einen Informationspool erstellen, mit dessen Hilfe die chen untereinander nicht ändert, mithin die Wertschöpfungsanteile in der Zukunft konstant Prognosegüte verbessert wird. bleiben. Damit wird nicht nur ignoriert, dass sich bestimmte Branchen dynamischer entwickeln als andere, es bleibt auch unberücksichtigt, wenn sich Wachstumsvoraussetzungen für die ff Ergebnisse regelmäßig gegenüber politischen Entscheidungsträgern, Bildungseinrichtungen, künftige Branchenentwicklung wie z. B. durch die Berliner Industrieinitiative verbessern. Der Unternehmen und Fachkräften bzw. dem Fachkräftenachwuchs selbst kommunizieren. daraus resultierende verschärfte Wettbewerb um die dort nachgefragten Qualifikationen wird damit systematisch unterschätzt. Darüber hinaus vernachlässigen Prognosen im Regel- fall regionale, insbesondere grenzübergreifende Gegebenheiten. Da innerhalb der EU jedoch 2.2 Frühkindliche und schulische Bildung: rechtzeitig investieren weitgehend Arbeitnehmerfreizügigkeit herrscht, sind Unternehmen in grenznahen Regionen für Fachkräfte ebenso interessant, wie umgekehrt. Und nicht zuletzt erfolgen Fachkräftestudien Der Erfolg des Wirtschaftsstandortes Berlin hängt ganz entscheidend von der Qualifikation zumeist nur einmalig, regelmäßige Fortschreibungen finden selten statt. seiner Mitarbeiter ab. Im Rahmen einer beschäftigungspolitischen Gesamtstrategie zur Fach- kräftesicherung kommt der Bildungspolitik eine herausragende Bedeutung zu. Bei sinkendem Entscheidungen über Maßnahmen zur Fachkräftesicherung, die langfristig angelegt und Fachkräfteangebot wird Bildung entlang der gesamten Bildungskette, beginnend im frühkind- kurzfristig schwer reversibel sind, sollten jedoch die bestmögliche Entscheidungsgrundlage lichen Bereich, zu einem entscheidenden Standortfaktor für Unternehmen im Wettbewerb um erhalten. Während das künftige Fachkräfteangebot durch die Fortschreibung der Bevölke- die besten Köpfe. rungsentwicklung dazu relativ einfach schätzbar ist, sind fundierte Aussagen zur gesamten Fachkräftenachfrage auf Unternehmensangaben ebenso wie auf Schätzungen zur wirtschaftli- Heute: Reparatur statt Investition chen Entwicklung angewiesen. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung liegen die Folgekosten unzureichender Bildung im Handlungsfelder für die Wirtschaft frühkindlichen Bereich sowie der allgemeinbildenden Schule für unsere Gesellschaft bei 2.808 Milliarden Euro. Auf Berlin und Brandenburg entfällt hiervon aufgrund des hohen Anteils an Aktivitäten der IHK Berlin: Risikoschülern in der Hauptstadt der nicht unerhebliche Betrag in Höhe von 168 Mrd. Euro – ff Die IHK Berlin wird sich bei der Herausforderung, eine realitätsnahe Datengrundlage zu mehr als das gesamte heutige kumulierte BIP der beiden Länder. erarbeiten, durch eine eigene Initiative einbringen und beachtet dabei folgende Prämissen: Es muss ein breiter Ansatz verfolgt werden, der zumindest die gemessen an Wertschöpfung und Als Risikoschüler bezeichnen PISA-Studien diejenigen, die nicht über die notwendigen Basis- Beschäftigungspotenzial bedeutendsten Berliner Branchen einbezieht, statt Einzelfallanalysen kompetenzen verfügen, die für eine aktive Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft unentbehr- 22 | | 23
Kapitel 2 Handlungsfelder zur Fachkräftesicherung lich sind. Sie werden später oftmals Probleme haben, einen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz zu finden und in ihrem Erwerbsleben immer wieder von Arbeitslosigkeit bedroht sein. In Deutsch- Empfehlungen für Unternehmen: land verfügt mehr als ein Fünftel der 15-jährigen Jugendlichen, in Berlin sogar mehr als jeder ff Bildung beginnt in der Kita: Unterstützen Sie als Förderer oder Sponsor das Projekt Vierte, nicht über diese notwendigen Basiskompetenzen. Aufgrund der nicht ausreichenden „Haus der kleinen Forscher“! Vorbildungs- bzw. Sprachniveaus sind viele Kinder nicht in der Lage, direkt ab dem ersten ff Stellen Sie frühzeitig den Kontakt zu Ihren künftigen Fachkräften in der Region her! Im Schultag die Lerninhalte voll aufzunehmen. Diese Defizite begleiten die Jugendlichen oft durch Rahmen des Projektes „Partnerschaft Schule-Betrieb“ stellt die IHK Berlin den Kontakt die gesamte Schulzeit und sind mit verantwortlich dafür, dass der Anteil der Schulabgänger, zwischen Ihrem Unternehmen und Schulen her. Langfristige Partnerschaften zwischen der die Schule ohne einen Hauptschulabschluss (in Berlin 8,5 Prozent) bzw. ausbildungsunreif Schule und Wirtschaft tragen auch zur Verbesserung der Ausbildungsreife bei. verlässt, zu hoch ist. ff Öffnen Sie am bundesweiten „Tag der Technik“ Ihre Werkstore, um Schülerinnen und Schüler für technische Berufe oder ein Duales Studium in MINT-Fächern zu begeistern Diesen Zustand können sich Gesellschaft, Staat und Berliner Wirtschaft nicht länger leisten. und sie frühzeitig an Ihr Unternehmen zu binden! Unternehmen werden zu „Reparaturbetrieben“. Sie müssen sich zu oft statt auf die fachprakti- ff Gewinnen Sie weibliche Nachwuchskräfte für technische Ausbildungs- und Studiengän- sche Ausbildung auf Nachhilfe und Schulung in Basiskompetenzen konzentrieren, also Aufga- ge durch die Beteiligung am bundesweiten Girls´ Day, der das Ziel hat, das Berufswahl- ben, die in den Verantwortungsbereich von Schule und Elternhaus fallen. Der Staat finanziert spektrum von Mädchen zu erweitern! ebenfalls teure Reparaturmaßnahmen, z.B. im Übergangssystem. Diese sind doppelt teuer, ff Stellen Sie Ihre Angebote in die Praktikumsbörse Praktikant24 ein! da das für sie vorgesehene Bildungsbudget nicht für frühzeitige Investitionen mit höherer ff Nutzen Sie künftig den IHK-Kompetenzcheck, um die Nachwuchskräfte zu identifizieren, Bildungsrendite zur Verfügung steht. die sich durch starke Basiskompetenzen, vielleicht aber nur durchschnittliche Schulnoten Berlin weist im Bundesländervergleich überdurchschnittlich hohe Bildungsinvestitionen auf, auszeichnen! Sie haben den Vorteil, als Ergänzung zum Schulzeugnis von der IHK Berlin ist aber dennoch Spitzenreiter bei den Folgekosten für Programme zur Nachqualifizierung für eine Einschätzung der persönlichen Kompetenzen der Jugendlichen zu erhalten. den beruflichen Einstieg. Hieraus wird deutlich, dass neben der Höhe der Bildungsausgaben insbesondere die Verteilung der Bildungsausgaben entlang der Bildungskette für die Wirksam- keit von Bildungsinvestitionen eine wichtige Rolle spielt. Handlungsfelder für die Politik Eine entscheidende Bedeutung bei der Aufgabe, die Basiskompetenzen zu stärken, kommt der ff Durch eine insgesamt noch stärkere Ausrichtung aller bildungspolitischen Maßnahmen auf Kooperation zwischen Schule und Wirtschaft zu. Mit ihrer Verankerung im Berliner Schulge- Prävention die Basiskompetenzen der Kinder sowie Schülerinnen und Schüler stärken, den setz im Rahmen des Dualen Lernens, das schulisches Lernen mit dem Lernen an Praxisorten Anteil der Risikoschüler senken sowie unterschiedliche Vorbildungsniveaus ein Stück weit verbindet, hat die Berufsorientierung Berliner Schülerinnen und Schüler eine neue Qualität ausgleichen. erhalten. Frühkindliche Bildung: Handlungsfelder für die Wirtschaft ff Für Sprachförderung in den Kitas höhere Wochenstundenzahlen vorsehen; Sprachstands- feststellungen bereits für Dreijährige einführen und den Erfolg durch Einschulungstests Aktivitäten der IHK Berlin: überprüfen; Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern verstärken sowie bei festge- ff Gemeinsam mit der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ sowie dem Berliner Senat für stelltem Sprachförderbedarf Speziallehrer einsetzen. Bildung, Wissenschaft und Forschung unterstützt die IHK Berlin die flächendeckende För- ff Allgemeine Vorschulpflicht spätestens ein Jahr vor Einschulung einführen, um unterschiedli- derung Drei- bis Sechsjähriger in der naturwissenschaftlichen und technischen Frühbildung. che Vorbildungsniveaus anzugleichen. Es ist geplant, diese auch nach dem Übergang in die Grundschule fortzuführen, um bereits ff Qualifikationsniveau des pädagogischen Fachpersonals ausbauen, insbesondere auch durch frühzeitig in der Bildungskette einen Beitrag zur Nachwuchssicherung in den MINT-Fächern akademische Ausbildung. zu leisten: Die IHK Berlin bietet als lokaler Netzwerkpartner der Stiftung allen Berliner ff Naturwissenschaftliches Experimentieren als Bestandteil der frühkindlichen Bildung in der Erzieherinnen und Erziehern Weiterbildungen im naturwissenschaftlichen Experimentieren Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern verankern. sowie der Entwicklung der Sprach- und Sozialkompetenzen der Kinder an. ff Die IHK Berlin wird einen Kompetenzcheck für allgemeinbildende Schulen anbieten. Dieser Schulische Bildung: internetgestützte Test hilft Jugendlichen dabei, ihre Stärken besser einzuschätzen und sich ff Individuelle Sprachförderung in jeder Grundschule etablieren. für einen geeigneten Ausbildungsberuf zu entscheiden. Sie erhalten eine IHK-Bescheini- ff Verpflichtende Nachhilfe in der unterrichtsfreien Zeit für die Schülerinnen und Schüler gung, die sie ihrer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz beilegen können. einführen, die sitzen zu bleiben drohen. ff Lehrerausbildung und -weiterbildung verbessern, um den neuen Herausforderungen aus differenziertem Klassenunterricht sowie der Kooperation mit außerschulischen Partnern zu begegnen. 24 | | 25
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