Sozial verantwortlich Zukunft gestalten - Katholische Soziallehre - Katholische ...
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02 | 2019 sozial verantwortlich Zukunft gestalten SCHWERPUNKT PRAXIS_NAH PUNKT_GENAU Katholische Fridays For Die ruhigen Zeiten Soziallehre Future sind vorbei 1
ksoe blog Weitere Dossiers Alternatives Wirtschaften Auf unserer Website finden Sie drei Führung & Partizipation ausgewählte Dossiers zum Problelesen. Soziale Gerechtigkeit 2/2017 Demokratie stärken ca. 40 Beiträge pro Jahr 2/2018 Solidarische Ökonomien verbinden Sie möchten immer aktuell 1/2019 digital + geschlechtergerecht informiert sein über das Erscheinen des neuesten blog-Beitrags? ksoe blog abonnieren unter pdf-Download unter https://blog.ksoe.at https://www.ksoe.at Impressum und Offenlegung nach § 25 MedienG Medieninhaberin und Herausgeberin: Katholische Sozialakademie Österreichs Schottenring 35/DG, A-1010 Wien, vertreten durch Dr.in Magdalena M. Holztrattner MA, Direktorin Herstellerin: Medienfabrik Graz GmbH, Dreihackengasse 20, 8020 Graz Herstellungsort: 8020 Graz Verlagsort: 1010 Wien Blattlinie: Nachrichten und Stellungnahmen der Katholischen Sozialakademie Österreichs zu Fragen des gesellschaftlichen Lebens entsprechend dem in ihrem Statut definierten Auftrag und den Kriterien der Sozialdokumente des kirchlichen Lehramtes. Es werden keine Beteiligungen an Medienunter- nehmen oder Mediendiensten gehalten. Heftredaktion: Daniela Ebeert, Magdalena Holztrattner, Bernhard Bildnachweis: Leubolt, Gabriele Lindner, Markus Schlagnitweit Titelbild: Robert Kneschke, shutterstock Grafische Produktion: Konstanze Pichler S.3, 4, 10, 11: © J. Godany S.9, 17: Fridays for Future Wien Alle: Schottenring 35/DG, 1010 Wien S.13, 15: Mauro Mora, unsplash Tel. +43-1-310 51 59, redaktion@ksoe.at S.19, 24: Grafik © Anna Egger / F: © J. Godany Grafikdesign: Christoph Almasy, www.almasy.at S.21: Randy Colas, unsplash Papier: chlorfrei gebleichtes Biotop 3; Nachdruck S.23: https://www.undp.org mit Quellenangabe (ksoe) gestattet. S.26: © derknopfdruecker.com 2
ZUM DOSSIER INHALT sozial verantwortlich 4 gestaltungs_räume ZukunftsgestalterInnen 18 Gutes Leben für alle - auch für Zukunft gestalten Demokratie lernen Sichtbar werden morgen 6 Katholische 20 Die Expertise der Soziallehre - vielen zukunftstauglich Demokratisierung Die ksoe hat heuer unter diesem Motto ihren 60. Geburtstag gefei- ert. Es gab dazu viele inspirierende 10 60 Jahre ksoe 22 Zur sozialen Alexander Van der Bellen Dimension von Beiträge und Grußworte. Marianne Gronemeyer Nachhaltigkeit Auch wenn man grundsätzlich diskutieren kann, ob Zukunft über- haupt gestaltbar ist, so ist doch 12 Transformationen 24 freies_gut zu einer solidari- Sozíallehre-Videos klar: den Grundstein für unsere schen Lebensweise Theologie der Befreiung Zukunft legen wir jetzt. Christlich geht anders Wir wünschen eine spannende Lektüre! 16 praxis_nah 26 punkt_genau Jesuiten für Europa Die ruhigen Zeiten Fridays For Future sind vorbei - ethische Standpunkte EDITORIAL Welche Zukunft erträumen wir? Für Orientierungslinien, die aufrütteln und wen wird das gute Leben in dieser ermuntern, orientieren und zum Nach- Zukunft möglich sein? Wenn wir unsere denken anregen wollen. Realitäten heute in den Blick nehmen – Erwähnenswert ist dabei der neue welche Zukunft dürfen wir dann erwar- Lehrgang der ksoe, der für Zukunfts- ten? Welche Ansatzpunkte haben wir gestalterInnen Räume eröffnet, um ihr hier und heute schon, um eine Zukunft gesellschaftliches Handeln sozial ver- zu ermöglichen, die als Ergebnis sozial antwortlich und damit zukunftstauglich verantwortlichen Gestaltens das gute auszurichten. Leben aller ermöglicht? Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage Magdalena Holztrattner Nachhaltigkeit wird so verstanden nach einer nachhaltigen Gestaltung un- Leiterin der ksoe als Gerechtigkeit über Generationen seres Lebens- und Produktionsstils, der hinaus, die rechtliche Rahmenbedin- unsere Mitwelt, unsere „Mutter Erde“ gungen und individuelles Handeln und dadurch die Zukunft der Mensch- erfordert. Denn heute geht es um die heit direkt betrifft. Junge Menschen, Zukunft aller Menschen. die sich z.B. bei Fridays For Future Das hier vorliegende Dossier bietet engagieren, sind dafür - auch in diesem grundsätzliche Reflexionen, konkrete Dossier - Sprachrohr und Triebkraft der Handlungsorte und sozialethische Veränderung. 3
gestaltungs_räume SOZIALE VERANTWORTUNG Lehrgang für ZukunftsgestalterInnen wie die „Sustainable Development Goals“ der UNO, Dokumente von Papst Franziskus oder auch von VordenkerInnen einer sozial-ökologischen Transfor- mation haben dabei Leuchtturmcharakter. Sie bieten Ansatzpunkte für kritische Positionierung und für konkrete Gestaltungsansätze. Dabei geht es immer um beides: persönliches Verhalten einerseits, und gesellschaftliche Verhältnisse andererseits. Ermutigung durch lebbare Alternativen Die Analysen gegenwärtiger Krisen sind weitgehend bekannt: Klimakrise, Demokratiekrise, wachsende Armut und soziale Ungerechtigkeit weltweit. Wer Zukunft gestalten will, muss in der Lage sein, über das Bestehende hinaus zu denken. Beim Lehrgang ist es die Begegnung mit alternativen Theorien und ge- lebten Praxen solidarischer Ökonomie und demokra- Bernhard Leubolt und Gabriele Lindner tischer Partizipation, die neue Einsichten verschaffen. Eine besondere Rolle spielen dabei die Module in Was kann ich tun, damit unsere Gesellschaft gerech- Brüssel und Barcelona, aber auch die Diskurscafés ter wird? Wie kann ich dazu beitragen, dass unsere des Lehrgangs, in denen Geschichten der Hoffnung Welt auch für zukünftige Generationen lebenswert erzählt werden. Sie motivieren und stacheln an, auch ist? Das sind die zentralen Fragen, die Frauen und selbst ins Handeln zu kommen. Männer zur Teilnahme am Lehrgang Soziale Verant- wortung motivieren. Sie kommen mit unterschiedli- Innovation Lab für chen Erfahrungen und Hintergründen von nationaler zukunftsorientierte Projekte Herkunft, Beruf und Weltanschauung. In einem intensiven Lernprozess erfahren sie Inspiration und Von Beginn an geht es darum, dass die TeilnehmerIn- Ermutigung. nen zukunftsorientierte Projekte der Veränderung entwickeln. Als Innovation Lab bietet der Lehrgang Sozial-Ethik als Orientierung bewährte Methoden, damit Neues entstehen und nachhaltig wirksam werden kann. Vielfältige Kom- ZukunftsgestalterInnen orientieren sich bei ihrem petenzen können dabei eingeübt werden wie Dialog Handeln am „inneren Kompass“ ihrer Werte und und Partizipation, Kooperation und Konfliktfähigkeit, Überzeugungen. Im persönlichen Lebensalltag Vermittlung und Überzeugungsfähigkeit. Im Rahmen dominieren häufig unreflektierte Gewohnheiten und einer Abschlussveranstaltung werden die Projekte Sachzwänge. Der Lehrgang bietet Raum und Zeit, präsentiert und damit einer breiten Öffentlichkeit zu- inne zu halten und sich der Frage zu stellen, was ein gänglich gemacht. Zukunft ist das Produkt gemein- gutes Leben für alle Menschen heute, morgen und samer Anstrengungen. Es geht darum, Zukunft sozial übermorgen ausmacht. Gesellschaftliche Visionen verantwortlich zu gestalten. 4
ARBEITSGRUPPE „Demokratie braucht Bildung“ Für ein lebenslanges Lernen von Demokratie Laut einer aktuellen Umfrage von INTEGRAL1 halten • Katholische Frauenbewegung Österreichs 90% der ÖsterreicherInnen die Demokratie für die • ksoe - Katholische Sozialakademie Österreichs beste Staatsform im Land. Gleichzeitig sind 40% mit • Transform.at der aktuellen Umsetzung von Demokratie in Öster- • Verein Frauenhetz – Feministische Bildung, Kultur reich unzufrieden und sehen sie in Gefahr. Sozial- und und Politik / Wien BildungswissenschaftlerInnen wie Elke Gruber und • WIDE – Entwicklungspolitisches Netzwerk für Oskar Negt betonen, dass Demokratie gelernt und Frauenrechte und feministische Perspektiven immer wieder neu aufgefrischt werden muss. Aus der AG entstehen gemeinsame Veranstaltungen Die 2009 gegründete AG „Demokratie braucht und Stellungnahmen, um zur Stärkung von Demokra- Bildung“ engagiert sich für eine aktive Erwachsenen- tie beizutragen. Inhaltlich ging es u.a. um Medienviel- bildung zur Förderung der Demokratie in Österreich. falt und –qualität, EU-Wahlen, notwendige demokra- Sie besteht aus einem heterogenen Netzwerk von tische Erneuerungen anlässlich des 100. Jahrestages Initiativen und Einrichtungen der politischen, emanzi- der Republik Österreich. patorischen Erwachsenenbildung: • arge region kultur - Arbeitsgemeinschaft für 1 Vier von zehn Befragten sehen die Demokratie in Gefahr. regionale Kultur und Bildung INTEGRAL-Studie zum Tag der Demokratie (15.9.). Online • Joan Robinson – Verein zur Förderung frauenge- verfügbar unter: https://www.integral.co.at/downloads/Pres- rechter Verteilung ökonomischen Wissens setext/2019/09/Pressetext_Tag_der_Demokratie_-_Sep.pdf PLATTFORM „Sichtbar Werden“. Initiative von Menschen mit Armutserfahrung Die Plattform „Sichtbar Werden“ ist ein Teil der öster- • respektvoller Umgang auf Ämtern und Behörden reichischen Armutskonferenz. Sie ist ein Zusammen- • Mitwirken bei politischen Entscheidungen schluss von Menschen und Initiativen mit Armuts-, • gesellschaftliche Akzeptanz und Teilhabe Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen. • lückenloses, barrierefreies Gesundheitssystem • Aufzeigen des Zusammenhangs von Armut und Die beteiligten AktivistInnen vertreten als Delegierte Krankheit die Interessen zahlreicher Initiativen und Vereine für • einfacher Zugang zu Bildung, Kunst, Kultur und Armutsbetroffene. Sie sind aufgrund ihrer täglichen existenzsichernden Informationen Erfahrungen mit Armut ExpertInnen und setzen sich • freie Berufswahl für Anerkennung und Wertschätzung der Gesell- • Verteilungsgerechtigkeit schaft ein. Die Plattform entwickelt Veränderungs- strategien gegen die Spaltung der Gesellschaft und Die Plattform arbeitet mit der Überzeugung, dass die zur Stärkung sozialer Rechte. Außerdem zeigt sie auf, Verwirklichung sozialer Menschenrechte die Grund- wie wertvoll ein soziales Netz für alle Menschen in lage für ein demokratisches, würdevolles, gutes und Österreich ist – besonders, weil fast jede/r Vierte in selbstbestimmtes Zusammenleben aller ist. Konkre- Österreich von Armut betroffen ist. te Aktivitäten umfassen Arbeitsgruppen in Bundes- ministerien, internationale Vernetzung im European In enger Zusammenarbeit mit der Armutskonferenz Anti Poverty Network in Brüssel, öffentliche Akti- setzt sich die Plattform „Sichtbar Werden“ ein für: onen wie z.B. das „Parlament der Ausgegrenzten“, • existenzsichernde Einkommen und Leistungen Austausch mit politischen EntscheidungsträgerIn- • Kindergrundsicherung und Absicherung im Alter nen, Medienarbeit und vieles mehr. • leistbares Wohnen www.armutskonferenz.at 5
SCHWERPUNKT Katholische Soziallehre - zukunftstauglich Sozial verantwortliche Zukunftsgestaltung ist heute ohne eine auch ökologisch nachhaltige Poli- tik nicht mehr zu denken. In den Augen vieler Menschen hat es viel zu lange gedauert, bis dieser Zusammenhang auch von der kirchlichen Sozialverkündigung aufgegriffen wurde. Tatsächlich gilt in der öffentlichen Wahrnehmung erst die Enzyklika „Laudato si‘“ des gegenwärtigen Bischofs von Rom Franziskus als erstes päpstliches Lehrschreiben, das sich dezidiert der ökologischen Verant- wortung widmet. 6
Viele von dieser Frage bewegte ChristInnen von jedweden Diskriminierungsmerkmalen. halten deshalb dafür, den klassischen Prinzi- Häufig bleibt dabei jedoch der Blick auf die pienkanon der Katholische Soziallehre (KSL), Gesamtheit aller aktuell lebenden Menschen ausgehend von „Laudato si‘“, einfach um ein (und in konkreten Fällen sogar nur innerhalb Prinzip „Nachhaltigkeit“ zu erweitern. einer sozialen Einheit) beschränkt. Müssten unter Einbeziehung des Prinzips Nachhaltigkeit Prinzip „Nachhaltigkeit“? hier aber nicht auch die legitimen Lebens- und Entwicklungsinteressen künftiger, noch gar Nun ist gegen eine solche Erweiterung per se nicht lebender Generationen mit im Blick sein noch nichts einzuwenden. Es fragt sich aller- und in politischen Prozessen sogar Anspruch dings, ob eine solche, bloß additive Verlänge- auf entsprechende Anwaltschaft und politisch rung ihres Prinzipienkanons schon alles ist, was gleichberechtigte Vertretung haben? Wie so die Kirche der zeitgemäßen Weiterentwicklung eine „Beteiligung“ künftiger Generationen am ihrer Sozialverkündigung schuldet. Bleiben die politischen Interessenausgleich ohne pater- anderen Prinzipien – ihre Formulierung, ihr nalistische Bevormundung konkret umgesetzt Verständnis und ihre Anwendung – von dieser werden und gelingen kann, muss hier offen Erweiterung etwa unberührt? bleiben. Am ehesten kommen dafür regelmäßig wiederkehrende demokratische Vorgänge zur Zunächst trifft die Annahme, die kirchliche Sozi- Festlegung verbindlicher Entwicklungsziele alverkündigung hätte das Prinzip Nachhaltigkeit in Betracht (analog zu den UN-Sustainable erst jetzt für sich „entdeckt“, so gar nicht zu. Development Goals), denen gegenüber alle Führende Vertreter der KSL entwickelten etwa politischen Entscheidungen und Maßnahmen schon vor Jahrzehnten eine bis heute wegwei- der Gegenwart unbedingt rechenschaftspflich- sende Definition des Gemeinwohlprinzips, die tig sind. sich keineswegs nur auf die Gegenwart bezieht, sondern auch auf die legitimen Lebensinteres- ... Gemeinwohl sen künftiger Generationen. Das Gemeinwohl ist demnach „das größte Glück aller einzel- Diese Priorisierung einer „Zukunftstauglichkeit“ nen in Gegenwart u. Zukunft mit vorrangiger lässt sich aus einer Analogie zum Gemeinwohl- Beachtung vitaler Lebensbedürfnisse für alle.“1 begriff der Katholischen Soziallehre begründen: – Bleibt angesichts solcher Formulierungen Dem zufolge werden die individuellen Interes- die Frage, wie der Eindruck einer „Zukunftsver- sen einer Person klar dem Gemeinwohlinteres- gessenheit“ seitens der KSL entstehen konnte. se untergeordnet (ohne deshalb deren unbe- Hier mag ein gewisses Versäumnis eingeräumt dingte Personenwürde zugunsten des Kollektivs werden, insofern die Sorge um das „größte zu beschneiden!). Beschränkt wird die Legitimi- Glück aller Einzelnen in der ( jeweiligen) Gegen- tät dieser Einzelinteressen überdies durch die wart“ die Aufmerksamkeit möglicherweise zu „vorrangige Beachtung vitaler Grundbedürfnis- sehr auf sich gezogen haben mochte, als dass se für alle“. Diese Unterordnung von Einzelinte- die Ansprüche einer nachhaltigen Zukunft für ressen ist aber eigentlich deren Einordnung in alle in gleicher Weise berücksichtigt worden das Gemeinwohl als das größtmögliche Glück wären. Hier scheint es zu Recht Nachholbedarf aller Einzelnen, weil davon ausgegangen wird, zu geben. Notwendig erscheint mir deshalb eine dass das Glück einer einzelnen Person letztlich Neubuchstabierung der klassischen Sozialleh- im so verstandenen Gemeinwohl aufgehoben re-Prinzipien unter Einbeziehung der Erfor- ist; das individuelle Glücksstreben kann also – dernisse ökologischer Nachhaltigkeit. Einige zumindest in einer längerfristigen Betrachtung Anregungen dazu will dieser Artikel geben. und im Rahmen seiner Legitimität – gar nicht mit dem Gemeinwohl in Konflikt geraten. Wenn Personalität ... also das Glücksstreben einer sozial kleineren Einheit faktisch im größtmöglichen Glück der Das Personalitätsprinzip als Mitte der kirchli- sozial jeweils größeren Einheit aufgehoben und chen Sozialverkündigung beansprucht univer- verwirklicht ist, dann folgt daraus, dass auch sale Gültigkeit für alle Menschen, unabhängig das größtmögliche Glück aller Einzelnen in 7
der Gegenwart im größtmöglichen Glück aller ... Solidarität Einzelnen in Gegenwart und Zukunft (als der noch größeren Gesamtheit) aufgehoben und Die wohl größte Herausforderung und zugleich verwirklicht ist. Daraus lässt sich logisch eine Bedingung für die Durchsetzung einer zu- klare Priorisierung von Nachhaltigkeitserforder- kunftstauglichen Politik bildet die Darstellung nissen gegenüber kurzfristigeren politischen der solidarischen Verbundenheit gegenwärtiger Zielen ableiten. und zukünftiger Generationen. Solidarität ist für die KSL ja nicht in erster Linie ein moralischer Subsidiarität ... Gesinnungsappell, sondern „Seinsprinzip“. Es Diese Argumentation könnte nun freilich als gibt keine funktionierende humane Gesellschaft Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip der ohne Solidarität. Sie ist die notwendige Konse- KSL aufgefasst werden: Dieses priorisiert ja quenz und Ausdruck der gegenseitigen Ver- die Selbstregelungskompetenz und Eigenver- bundenheit der einzelnen Menschen und ihrer antwortung kleinerer sozialer Einheiten und sozialen Gruppen im gesellschaftlichen Zusam- verteidigt sie gegen die Einmischung größe- menleben. Solidarität ist im Sinne der Katho- rer sozialer Instanzen; diese haben sich auf lischen Soziallehre zumal immer universal zu rein subsidiäre Leistungen zur Ermöglichung verstehen, wenngleich man von konzentrischen und Förderung von Eigenverantwortung zu Kreisen der Solidarität sprechen kann: So liegt beschränken. Dieser Widerspruch ergibt sich Solidarität etwa innerhalb der eigenen Familie aber nicht notwendigerweise: Die vorange- naturgemäß näher als die Solidarität mit Unbe- hende Argumentation schreibt lediglich eine kannten oder gar mit noch gar nicht Geborenen. Vorrangigkeit von Nachhaltigkeitsinteressen Dennoch darf sich Solidarität niemals nur auf gegenüber kurzfristigen Interessen fest. Sie eine bestimmte Gruppe beschränken, weil sie unterstellt aber keineswegs, dass kleinen sonst ihre spezifische Qualität verliert und zum sozialen Einheiten im Vergleich zu größeren in Gruppenegoismus verkommt. Nur eine auch mit jedem Fall auch ein kurzfristigerer bzw. egois- zukünftigen Generationen solidarische Gesell- schaft ist demnach auch eine zukunftstaugliche Gesellschaft. Dabei stellt sich aber eine gleich Es gibt keine funktionierende doppelte Herausforderung: Wie ist diese Gene- rationen übergreifende, überzeitliche Solidarität als Seinsprinzip verständlich, greifbar, fassbar humane Gesellschaft ohne zu machen? Und wie ist diese Solidarität auch institutionell zu organisieren und zu verankern? Solidarität Eine befriedigende Antwort auf diese Fragen kann an dieser Stelle ehrlicherweise nicht gege- ben werden – zumal es bereits in der aktuellen tischerer Interessenshorizont eignet. Freilich Weltgesellschaft Herkules-Aufgabe genug zu ist eine gewisse Gefährdung in diese Richtung sein scheint, internationale Solidarität in der gegeben, weil kleinen Gruppen möglicherweise Gegenwart als Seinsbedingung hinreichend Einsicht und Wissen über die langfristigen und darzustellen und wirksam zu organisieren bzw. entfernten Folgen ihres Handelns fehlen. An zu installieren. diesem Punkt wäre dann aber von einer Über- forderung dieser kleinen Einheiten zu reden Vorrangige Option für und damit die Legitimation für ein subsidiäres die künftigen Generationen Eingreifen größerer sozialer Instanzen gegeben. Dieses hat dann freilich nicht im Sinne einer Bleibt noch ein spezifischer Hinweis für das totalitären Regulierung und Bevormundung zu christliche Publikum dieses Artikels: Die erfolgen, sondern im Sinne des Absteckens von klassischen Prinzipien der KSL (Personalität / Handlungsrahmen, der Aufklärung und Bildung Gemeinwohl / Subsidiarität / Solidarität) erhe- sowie der Initiierung von Kommunikationspro- ben ja den Anspruch auf Gültig- und Nachvoll- zessen zwischen einzelnen Interessensgrup- ziehbarkeit für „alle Menschen guten Willens“ pen. Dass die (demokratische) Festlegung von auf Basis des bloßen Vernunftgebrauchs. Die verbindlichen Entwicklungszielen nur auf der Sozialverkündigung Papst Johannes Pauls II. Ebene großer sozialer Einheiten (EU, UNO, …) hat diesen klassischen Prinzipienkanon noch geschehen kann, liegt aufgrund der Komplexität erweitert um ein Prinzip, dessen universaler der Materie auf der Hand. Die Festlegung und Geltungsanspruch auf reiner Vernunftbasis Umsetzung konkreter Schritte zur Erreichung zwar umstritten ist; zumindest für ChristInnen dieser Ziele hat aber gestuft auf kleineren Ebe- sollte es aber zur unverzichtbaren „DNA“ ihres nen zu erfolgen. sozialen und politischen Handelns gehören: 8
Die Rede ist von der „vorrangigen Option für hätten sich alle politischen Entscheidungen und die Armen“, wonach in allen Entscheidungen Maßnahmen der Gegenwart ausnahmslos einer und Maßnahmen das Wohl und die Teilhabe Zukunftstauglichkeitsprüfung zu unterziehen. von durch Armut und Benachteiligung betrof- Die Lasten des gegenwärtigen Lebens-, Politik- fenen Menschen zu priorisieren sind. In der und Wirtschaftsstils dürfen nicht länger jenen Verfolgung dieses Prinzips stellt sich immer aufgebürdet werden, welche in der Gegenwart wieder erneut die Frage, wer in einer konkreten noch gar keine Teilhabe- und Mitbestimmungs- sozialen (Konflikt-)Situation die jeweils Armen, möglichkeiten haben! Schwachen, Stimmlosen und Benachteiligten 1 V. Zsifkovits, Gemeinwohl, in: Katholisches Sozial- sind. Im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte lexikon (hg. v. A. Klose/W. Mantl/V. Zsifkovits), Inns- halte ich dafür, dass dies allen anderen voran bruck-Graz (Tyrolia/Styria) 21980, 855. jene sind, die noch gar nicht geboren und in [Hervorhebung M.S.] zweiter Linie jene sind, die – obzwar schon geboren – in den politischen Prozessen der Gegenwart (noch) keine Möglichkeit der Mit- wirkung haben, also Kinder und Jugendliche. Auf dieser Grundlage ließe sich in der Nachhal- tigkeitsdebatte die „vorrangige Option für die Armen“ als „vorrangige Option für die Noch-Un- geborenen und die Jugend“ formulieren. Auch auf Grundlage einer solchen Option erscheint die Entwicklung von demokratischen Verfah- ren als ein vordringliches Anliegen, die auf die regelmäßig zu überprüfende verbindliche Festlegung von langfristigen, „enkeltauglichen“ Politikzielen hinauslaufen; diesen gegenüber Markus Schlagnitweit, Theologe, Sozial- & Wirtschaftsethiker Kooperationspartner der ksoe, Tätigkeiten in der politisch-sozialen Erwachsenbildung sowie in der Hochschul- und AkademikerInnen-Seelsorge; Mitarbeit in div. Ethik-Beiräten, in Vorständen kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie in Institutionen der wissenschaftlichen Begabten- und der Kunstförderung 9
60 JAHRE KSOE - ALEXANDER VAN DER BELLEN Grussworte Bundespräsident Van der Bellen zum 60 Jahre ksoe-Jubiläum Mit der Katholischen Sozialakademie Österreichs verbindet mich eine lange gemeinsame Geschichte. Mitte der 1970er Jahre wurde ich erstmals als Berater zum Thema Wirtschaft im damaligen ksoe-3-Monatskurs angefragt. „Zukunft gestalten“ war schon damals das Motto. Die ksoe hat seither mitge- holfen, eine aktive Zivilgesellschaft heranzubilden, die sich für unterschied- lichste Belange einsetzt, z.B. für die Gleichstellung von Frauen, für Ökologie, für Menschenrechte, für Arme, Marginalisierte, arm gemachte Menschen. Für mich als kirchlichen Außenseiter war auch interessant, dass die ksoe dazu beigetragen hat, die Neutralität der Kirche gegenüber den politischen Parteien zu befördern. Heute kooperiert die ksoe mit allen Parteiakademien in verschie- denen Formen. Dass es katholische Institutionen gibt, die parteipolitisch nicht eindeutig zuordenbar und „einfach anders“ sind, ist auch für mich persönlich wichtig. Die ksoe war immer eine gesellschaftspolitische Kraft – wegweisend, wenn es um das gute Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft geht. Demokra- tie ist wichtig, aber nicht alles. Denn die Herrschaft der Mehrheit kann leicht degenerieren zu einer Tyrannei der Mehrheit, wenn sie individuelle Grund- und Freiheitsrechte oder die Rechte von Minderheiten nicht ausreichend respektiert und schützt. 60 Jahre ksoe, das sind auch 60 Jahre Eintreten für Solidarität. Solidarität meint hier aber nicht nur individuelle Empathie, persönliche Hilfsbereitschaft, sondern „organisierte Solidarität“ im Rahmen eines gut entwickelten Sozi- alstaates, der für alle da ist und nicht nur für die, die schon lange eingezahlt haben oder einzahlen konnten. In Zusammenhang mit der Klimakrise wird viel über „Intergenerational Fairness“ gesprochen. Es sind die jungen Leute, die die Kosten unseres Nichts- oder Zuwenigtuns gegen die Klimakrise zu tragen haben. Die Bewegung „Fridays For Future“ und ihre Botschaften werden wahrgenommen – quer durch die Natio- nen, die Altersschichten, die politischen Bekenntnisse. Wenn wir die Zukunft solidarisch, gerecht, demokratisch gestalten wollen, müssen wir über neue Lebensweisen nachdenken, über neue Produktions- und Konsumgewohnheiten. Wir müssen die Zukunft „enkeltauglich“ machen. Und da sind wir alle verantwortlich, Druck zu machen. Ich gratuliere noch einmal zu 60 Jahren ksoe, ich persönlich habe sehr, sehr viel profitiert von der Arbeit. Und ich wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten 60 Jahre! Die Vorträge von Alexander Van der Bellen und Marianne Gronemeyer sind ungekürzt als Videobeiträge zu sehen unter: https://www.ksoe.at/60jahre 10
60 JAHRE KSOE - MARIANNE GRONEMEYER Die Zukunft gibt es nicht. Aber was sollen wir dann gestalten? Dass es die Zukunft nicht geben solle, mag Ihnen, die Sie sich vorgenommen haben, sie demokratisch, solidarisch und gerecht zu gestalten, als eine abwegi- ge, geradezu verrückte oder unverantwortliche oder katastrophile Behauptung erscheinen. Augustinus sprach vor 1.600 Jahren von dreierlei Arten der Zeit: Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Künftigen. Die Vorstellung, dass wir Herrschaft über die Zeit in ihrer dreierlei Art gewinnen könnten, dass wir die Zeit also haben, gestalten, sparen, verschwenden, vertrei- ben oder sogar totschlagen könnten, ist vielleicht die Triebkraft der Moderne. Und zugleich das Dogma, das uns in das Verhängnis gestürzt hat, in dem wir heute festsitzen. Diese Vorstellung hat uns dazu verführt, unser Heil in der Flucht nach vorn, zukunftswärts, zu suchen. Das nennen wir den Fortschritt. Die Zukunft wird buchstäblich hereingezerrt in unsere Gegenwart. „Morgen“ soll schon heute sein. Und gleichzeitig, drücken wir uns vor der Gegenwart und vertagen wir das, was heute ansteht, auf die Zukunft, bürden es den Nachkom- men auf. Wer ist aber das „Wir“, das die Zukunft gestalten will? Das ist in erster Linie eine Generationenfrage. Und noch nie zuvor in der Geschichte hat sich die amtierende Generation so unbedenklich und ohne alle Rücksicht an dem, was der nachfolgenden zusteht, bereichert wie heute. Wir haben die Spielräume der kommenden Generation für die ihr eigene Weltgestaltung fast vollständig aufgebraucht. Wollen wir die Zukunft besser machen? Das Besser-Machen ist immer nur eine Variante dessen, was sowieso im Gange ist. Es ginge aber darum, es nicht besser, sondern ganz anders zu machen. Und das finge wohl damit an, dass wir aufhörten, die Zukunft gestalten zu wollen. Die einzig mögliche Haltung ihr gegenüber wäre die, uns überraschen zu lassen, uns in der Kunst des Unter- lassens zu üben, was ungefähr dasselbe ist, wie hoffen zu lernen. Wenn wir die Zukunft planen und unseren Absichten gefügig machen wollen, dann schränken wir den Horizont des Möglichen ungemein ein. Politik ist längst nicht mehr an der Frage des guten Lebens aller orientiert. Wir verpulvern gerade die Zukunft derer, die nach uns kommen. Denn so müs- sen wir sie nicht darum beneiden, dass sie qua Geburtsdatum Anteil an einer Zeitspanne haben, die „wir“ nicht mehr erleben werden. Kein Wunder, dass die junge Schwedin Greta Thunberg den Repräsentanten der amtierenden Generation in Davos die Panik an den Hals gewünscht hat. Eine todverleugnende Gesellschaft, in der das bloße Leben zum Fetisch gewor- den ist, ist gnadenlos in ihrem Selbstbehauptungsdrang. Und sie ist zwingend auf das fortgesetzte Wachstum angewiesen, das zugleich ruinös ist für den Fortbestand unserer Lebenswelt. Was wäre aber, wenn wir uns die Versuchung, die Zukunft der Welt nach un- seren Plänen zu gestalten, aus dem Kopf schlügen und uns stattdessen in der liebevollen Hinwendung zur Welt übten? Was wäre, wenn wir den beständigen Optimierungszwang einbremsen und die Zukunft als das gut-leiden-lernen, was sie ist: das Ungeplante, Ungemachte, Überraschende, das wir entspannt auf uns zukommen lassen? Fest-Vortrag anlässlich „60 Jahre ksoe“, 29.3.2019, Kardinal König Haus, Wien 11
Transformationen hin zu einer solidarischen Lebensweise Wir leben in einer paradoxen Situation. Auf anderer Güter und Dienstleistungen leisten der einen Seite wissen wir ziemlich gut, dass können. Das führt dazu, dass Menschen mit sich in der Welt einiges ändern müsste. Unsi- weniger Geld umso mehr ausgeschlossen cherheit, soziale Spaltung und eine unzurei- werden. chende Existenzsicherung für viele Menschen hierzulande. Offene Gewalt, Kriege und Unbehagen an der Verelendung in vielen Ländern des globalen imperialen Lebensweise Südens, ökologische Zerstörung heute und weitere in der Zukunft. Eine scheinbar kaum In dieser Situation stellt sich verstärkt die aufhaltbare politische Rechtsentwicklung Frage nach einer lebenswerten Zukunft. Die macht wütend – und führt bei manchen gar SchülerInnen im Klimastreik von Fridays For zu Resignation. Wie auch die kaum bewäl- Future beleben seit einigen Monaten die tigbar scheinende Jahrhundertaufgabe einer Diskussion um Zukunft. Ihnen und anderen sozial-ökologischen Transformation hin zu Menschen wurde und wird deutlich, dass es Gesellschaften, in denen gutes Leben für alle sehr grundlegender Alternativen bedarf, um möglich ist. drängende Zukunftsfragen anzugehen: Ne- ben den genannten Dimensionen der ökolo- Auf der anderen Seite soll es dann doch gischen Krise sind das etwa der Umgang mit irgendwie so bleiben, wie es ist. Es lebt sich Einwanderung und angemessene Integrati- für viele hierzulande nicht schlecht unter onspolitik statt Ausgrenzung und die Vermei- Bedingungen der „imperialen Lebensweise“. dung kommender Krisen durch den weiterhin Wir greifen in unserem Alltag recht selbst- dominanten Finanzmarktkapitalismus. verständlich auf Produkte zurück, die unter naturzerstörenden und ausbeuterischen Be- Das Unbehagen an der imperialen Lebens- dingungen anderswo hergestellt wurden. Das weise wird deutlicher. Es stellt sich die Frage: geschieht meist unbewusst, bzw. so genau Wie können wir in der nächsten Zeit die wollen es viele gar nicht wissen. Es ist aber politischen und gesellschaftlichen Bedingun- nicht nur das individuelle Handeln, das diese gen erzeugen, um die imperiale Lebensweise un-nachhaltige und alles andere als solida- einzudämmen und eine solidarische Produk- rische Lebensweise am Laufen hält. Es sind tions- und Lebensweise stärken? auch machtvolle Produktionsstrukturen, die in der kapitalistischen Konkurrenz Handys, Leitend ist dabei das Prinzip, dass Menschen Autos und Nahrungsmittel produzieren, Pro- und Gesellschaften möglichst nicht auf fite und Wachstum generieren. Die imperiale Kosten anderer und der Natur leben. Eine Lebensweise steht für den zunehmenden Debatte um solidarische Zukunft schließt Zugriff des Kapitalismus auf die Lebens- Ausgrenzung aus. Doch dieses Prinzip muss verhältnisse, ist mit globaler wie nationaler konkretisiert werden. Aus meiner Sicht ist Ausbeutung und Ungleichheit verbunden, es eine entscheidende Aufgabe – und so verschärft Ressourcenkonflikte und zerstört verstehe ich auch die Themenstellung dieses die Umwelt. ksoe-Dossiers – attraktive Zukunft wieder vorstellbar und lebbar zu machen. Die imperiale Lebensweise, wie sie in Europa gelebt wird, ist eine statusorientierte Lebens- Politische Gestaltung weise, die auch auf sozialer Ungleichheit ba- siert und diese verlängert. Die Mittelschich- Das Zerbrechen der türkis-blauen Koalition ten grenzen sich gegen die unteren Schichten im Mai 2019 könnte einen Wendepunkt dar- bewusst ab, indem sie zeigen, dass sie sich stellen. Angesichts der politischen Rechts- aufgrund ihres hohen Einkommens etwa ein entwicklung der letzten Jahre aktiviert sich größeres Auto, viele Reisen und mehr Konsum die Zivilgesellschaft noch stärker in Bereichen 12
wie Armutsbekämpfung, Integration, Anti- Zukunftsfragen Rassismus, solidarische Ökonomie oder Umweltpolitik. Insbesondere steht die Debatten und Erfahrungen in solidarische sozial-ökologische Transformation von Zukunft müssen aber auch aus der Gesellschaft Wirtschaft und Gesellschaft an, inklusive kommen und dort verankert werden. Wie stelle des Rückbaus der Automobilindustrie; gute ich mir solidarische Zukünfte vor? Arbeit für alle statt Prekarisierung vieler; die Ein paar Gedanken und Ansatzpunkte. umsichtige politische Gestaltung der Digita- lisierung anstatt dass sie von Konzernen vo- Der Zusammenhang zwischen der vorherr- rangetrieben wird. Politische Bündnisse sind schenden Lebensweise in Österreich – die sich notwendig, die nicht auf die weitere Spaltung konkret durchaus unterschiedlich ausprägt Europas setzen, sondern auf eine politisch – und den sozial-ökologischen Katastrophen und wirtschaftlich attraktive Europäische andernorts, aber auch der immer unsinniger Union. werdenden Fixierung auf Wachstum und Status wird in solch einer Zukunft nicht länger verleug- Die politischen Parteien müssten Zukunfts- net. Die Monsterautos SUVs werden für immer fragen ernst nehmen und sie über die Orien- mehr Menschen zum Symbol von umweltpoliti- tierung an Wahlkämpfen und Koalitions-Kal- scher Ignoranz und albernem Statusdenken der kulationen stellen. Das ist nicht trivial, denn Eliten oder jener, die gern dazugehören wollten. eine Partei, die ins Parlament oder sogar Eltern organisieren sich gegen Feinstaubbe- regieren möchte, orientiert sich rational am lastung und Lärm, soziale Bewegungen de- „Willen“ der WählerInnen. Doch das ist kurz- monstrieren für autobefreite Städte, und Kinder sichtig, zumal es diesen eindeutigen Willen so erobern sich den jahrzehntelang zugeparkten gar nicht gibt. Zwar sollten wir davon ausge- öffentlichen Raum zurück. hen, dass viele Menschen in Österreich ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse verteidigen Die Lügen der Manager und deren sprich- wollen. Doch das legitime Interesse an einer wörtliche Besoffenheit an den hohen Profiten, gut bezahlten und sinnerfüllten Erwerbsar- die Engstirnigkeit der Anteilseigner erzeugen beit muss nicht per se in ökologisch un-nach- Unmut. Immer mehr wird im Lichte von Diesel- haltigen Branchen realisiert werden. Und skandal und den Tricksereien von Autoindustrie es ist die ethische Verpflichtung politischer und Staat deutlich, dass es hier gründlicher Ver- Akteure, auch das Unbehagen der Menschen änderungen bedarf – die nicht auf dem Rücken an den aktuellen Foren von Ungerechtigkeit, der Beschäftigten ausgetragen werden dürfen. Ausbeutung und Umweltzerstörung zu sehen Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der und politische Angebote zu machen. Fahrradinfrastruktur wird aus der Gesellschaft 13
heraus verlangt. Viele kommunale Regierungen Die wachstumsfixierte und konservative machen mit und damit werden die Städte nicht Gegenseite und ihre medialen Unter- nur lebenswerter, sondern die Menschen mo- stützer kontern natürlich. Diese Debatte biler und gesünder. Auch die Mobilität auf dem um ein „gutes Leben für alle“ würde, so Land wird zunehmend öffentlich und gemein- ihr Argument, ohnehin nur mit Verboten schaftlich mit hoher Qualität organisiert. hantieren. Ja mehr noch: Eine besserwis- serische „Öko-Elite“ will der Gesellschaft Der autofreie Sonntag, zunächst wüst von den vorschreiben, wie sie zu leben habe, damit Gegnern beschimpft, wird in den Innenstädten Klimawandel und andere Umweltprobleme von Berlin, Hamburg, München, Wien und an- eingedämmt werden. Das, so der scharfe derswo zu wahren selbstorganisierten Volks- Tenor, sollten sich die Leute nicht gefallen festen. Schwere Zeiten für die Diesel-Befür- lassen. Klima- und Umweltthemen können worter. Aber auch die Fassade des angeblichen nur angegangen werden, wenn Wachstum umweltfreundlichen Elektroautos bröckelt. und Wettbewerbsfähigkeit (notfalls zu Las- ten anderer Länder) gesichert seien. Welches gute Leben? Doch diese Argumente wirken irgendwie Es wird produktiv gestritten, unter welchen schal. Viele Menschen erleben eine enorme gesellschaftlichen Bedingungen eigentlich ein Arbeitsverdichtung, gleichzeitig erleben gutes und auskömmliches Leben für alle mög- Menschen Prekarisierung und gesellschaft- lich ist, das nicht zu Lasten der Natur und den lichen Spaltung. Sie sehen die zuneh- Menschen im globalen Süden geht, aber auch mende Vermögenskonzentration, wobei nicht die gemeinen Zumutungen hierzulande für den Ärmeren gesagt wird: „Ihr müsst den die Schwächeren aufrecht erhält. Gürtel enger schnallen.“ Weiters konnten wir in den letzten Jahren feststellen, dass Klar, „gutes Leben“ heißt für die meisten heute: in Krisensituationen die Politik autoritärer Ein Eigenheim zu haben, Zugang zu den Pro- wird: Ein Großteil der Eliten versucht sich dukten, die über den Weltmarkt bereit gestellt schadlos zu halten, notfalls ohne Rücksicht werden; Dinge, die man möglichst schnell auf Verluste und zulasten von Teilhabe. Regeln statt Verbote! Was ist ein „gutes Statt dem viel zu pauschalen Vorwurf der Verbote wird deutlich, dass es vielmehr um angemessene Regeln für gutes gesell- Leben“ für alle? schaftliches Miteinander geht. Es domi- nieren nicht mehr die Regeln, wie etwa die gesetzlich ermöglichte Ausweitung des Arbeitstages, von denen die Mächtigen und Privilegierten profitieren. erneuern kann, weil sie so günstig sind. „F+F“ – Fleisch und Fliegen als Sinnbild für materiellen Solche Regeln betreffen die Erwerbsarbeit, Wohlstand. Dazu auch der selbstverständliche von der Menschen weniger abhängig sein Zugriff auf günstige Pflegekräfte aus dem be- sollten. Irgendwann ist es vielleicht für alle nachbarten osteuropäischen Ausland. okay, 20 oder 25 Stunden pro Woche zu ar- beiten, nicht nur für jene in oft erzwungener Doch nach und nach brechen Selbstverständ- Teilzeit. Die bisherige Hierarchie zwischen lichkeiten auf. Die „Ende Gelände!“-Bewegung anerkannter Erwerbsarbeit und weitgehend erreicht eine breite gesellschaftliche Debatte von Frauen geleisteter Reproduktionsarbeit um den raschen Kohleausstieg. „Zurück zum könnte verändert werden, wenn alle mehr Sonntagsbraten“, wenn überhaupt noch Fleisch, Zeit für andere, für gesellschaftspolitisches wird zum Motto verantwortlicher Ernährung. Engagement und für sich selbst hätten. Die Aktionen von „Ende Geländewagen“ führen MigrantInnen, die etwa in der Pflege tätig zu breiten Diskussionen und politischen Akti- sind, werden ordentlich bezahlt. Und die vitäten, um das auto- und flugzeugzentrierte Menschen bräuchten weniger Geld. Die Verkehrssystem umzubauen. Österreich wird Leute müssen nicht ihre 400 Euro mehr im noch stärker zum Vorreiter des öffentlichen Monat verdienen fürs Auto, weil sie kein Verkehrs, die ÖBB zum wichtigen Akteur einer Auto mehr brauchen. Sie können sich in den nachhaltigen europäischen Verkehrspolitik. Städten und am Land gut bewegen, aber 14
sie müssen dafür nicht so viel Geld gleichzeitig viele andere Menschen auf der verdienen. Welt auch ein gutes Leben haben wollen, ob in China oder Brasilien. Die Diskurse und Unter gutem Leben für alle im Sinne von politischen Initiativen sind nicht moralisie- Wohlstand und Lebensqualität wird zuneh- rend nach dem Motto: „Hast Du immer noch mend ein sinnerfülltes Leben verstanden, einen un-nachhaltigen Lebensstil?“, sondern das materiell abgesichert ist. In Notfällen, kombinieren Eigenverantwortung, die Lust wie Krankheit und Arbeitslosigkeit, kann am Ersetzen (wie gesagt, die Gegner sagen: man auf gesellschaftliche Unterstützung „Verzicht“) mit politischen Forderungen. Das zurückgreifen. Ein transparenter und demo- Ersetzen des Autos muss eben mit gutem kratisch organisierter öffentlicher Sektor, öffentlichem Verkehr und einem Umbau der der sich nicht am Profitprinzip orientieren Automobilindustrie einhergehen, die Reduk- muss, aber mit den finanziellen Ressourcen tion von Fleischkonsum mit der Schließung sorgfältig umgeht, wird wichtiger. Insbeson- von Tierfabriken. dere die in vielen Ballungszentren drän- gende Wohnungsfrage kann nicht nur den Das Billig-T-Shirt ist kulturell nicht mehr Privaten überlassen werden, sondern bedarf „geil“ und wird über erkämpfte Umwelt- und neben starken Regeln auch öffentlichen Sozialstandards in den Produktionsländern bzw. öffentlich geförderten Wohnungsbau auch nicht mehr möglich sein. Das ist der und intelligente Lösungen, damit wertvol- transformative Dreischritt: Rahmenbedin- ler Wohn- und Arbeitsraum angemessen gungen, sich verändernde Bedürfnisse der genutzt wird. Menschen, sowie andere gesellschaftliche Diskurse und gesellschaftliche Selbstver- Gestärkt wird ein Bewusstsein, dass die ständlichkeiten. In den kommenden Jahren ökologische Krise sich zuspitzt und dass bekommt das klarere Konturen. Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, ist Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und Redakteur bei „mosaik-blog.at“. Er veröffent- lichte 2017 mit Markus Wissen das Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ (oekom-Verlag), das es im Sommer auf die Spiegel-Best- seller-Liste schaffte. Anfang 2020 erscheint sein Buch „Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks, Krise der imperialen Lebensweise und Alternativen zur autoritären Globalisierung“ im Hamburger VSA-Verlag. 15
praxis_nah SOZIALZENTRUM Jesuiten für Europa Das europäische Sozialzentrum der Jesuiten (JESC) setzt sich für „Visio- nen und Werte“ in Europa ein. Der Grundentscheidung des Jesuitenordens für Glaube und Gerechtigkeit und der vorrangigen Option für die Armen entsprechend möchte JESC die Stimme derjenigen sein, die in Europa keine Stimme haben. Nach den offiziellen Statistiken leben in der Europä- ischen Union mehr als 100 Millionen Menschen in Armut, 36 Millionen in extremer Armut. JESC steht in einem engen Kontakt mit der interfraktio- nellen Arbeitsgruppe des europäischen Parlaments zu extremer Armut und Menschenrechte. Eine weitere Dimension der Arbeit von JESC ist es, Gruppen zusammenzu- bringen und zu begleiten, die sich für die Zukunft der Europäischen Union einsetzen. Eine dieser Gruppen heisst „Passion for Europe“ - „Leiden- schaft für Europa“ (http://www.passionforeurope.com/). Ausgehend von der Rede von Papst Franziskus anläßlich der Verleihung des Karlspreises 2016 haben ihre Mitglieder einen programmatischen Text unter dem The- ma „Das europäische Gemeinwohl wiederentdecken“ verfaßt. Auf dieser Grundlage fand im November 2018 in der Chapel for Europe eine wichtige Debatte statt, an der der frühere Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy und Erzbischof Jean-Claude Hollerich SJ, der protes- tantische Pastor Christian Krieger und Marie de Saint-Chéron als führende Vertreter der Kirchen auf europäischer Ebene teilnahmen. Ein neues Programm von JESC bietet einen fünfmonatigen Kurs zur Aus- bildung zukünftiger europäischer Führungspersonen an (www.jesc-elp.eu). Bestandteile sind politische Bildung in Verbindung mit den EU-Institu- tionen, Gemeinschaftsleben, Führungstraining, geistliche Begleitung und ein sozialer Einsatz bei Bedürftigen. Die ersten AbsolventInnen stammen aus Polen, Italien, Österreich und Aserbaidschan. In Zukunft wird dieses Programm in Kooperation mit europäischen Jesuitenuniversitäten einen Mastergrad verleihen. In einer seiner Ansprachen über Europa hat Papst Franziskus aus einem frühchristlichen Brief zitiert, in dem die Aufgabe der Christen in der Welt mit der Bedeutung der Seele im menschlichen Körper verglichen wird. Das erinnert an die Jacques Delors zugeschriebene Metapher von der „Seele Europas“. Die Arbeit der Jesuiten in Brüssel ist von der Hoffnung getragen, in diesem Sinn einen Beitrag für die Erneuerung der Europäischen Union leisten zu können. Autor: Martin Maier SJ, ist deutscher Jesuit, Theologe und Publizist 16
FRIDAYS FOR FUTURE Klimanotstand „Ihr wollt ja nur Schule schwänzen!“ und eine Organisationsstruktur mit Arbeits- und „Ihr seid ja nur Kinder, euch kann man nicht Strategiekreisen, in denen sich derzeit rund ernst nehmen!“ hört man öfters, und zwar 300 Menschen beteiligen. Auch die nationale von Menschen, die die inzwischen riesige und internationale Vernetzung ist bereits im Bewegung „Fridays For Future“ als Gruppe Aufbau. von Jugendlichen, die nicht in die Schule gehen wollen, abstempeln. Diese Menschen Viele Menschen sagen auch: „Ihr geht jede sind häufig die, die Fakten rund um die Kli- Woche auf die Straße und sagt, wo es makrise abstreiten oder nicht ernst nehmen Probleme gibt, bringt aber keine konkreten wollen. Sie wollen nicht sehen, dass wir nur Lösungsvorschläge“. Lösungen vorzuschla- noch ungefähr 18 Monate haben, um unsere gen ist aber nicht der Sinn dieser Bewegung. Emissionskurve steil nach unten zu lenken Es gibt sogar ein paar konkrete Forderungen, (Stand: August 2019). Wenn wir dies nicht zum Beispiel der Klimanotstand und die schaffen, haben wir keine Chance mehr, das Ökosoziale Steuerreform. Wir sehen es aber 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht als unsere Verantwortung, als Jugend einzuhalten - und das hätte katastrophale den erwachsenen Politikerinnen und Poli- Folgen, die kein Mensch mehr kontrollieren tikern vorzukauen, was sie tun oder lassen kann. sollten. So gibt es die zentrale Forderung der Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels, die Viele Menschen sehen auch nur viele junge Lösungen, wie man dort hinkommt, hat die Menschen auf der Straße Sprüche rufen. Wissenschaft schon seit langem. Die meisten Was sie nicht wissen: wie viel Arbeit im Menschen, die bei den Streiks von Fridays Hintergrund geschieht. Vertreter und Vertre- For Future dabei sind, haben Angst um ihre terinnen der Bewegung sind seit Monaten eigene Zukunft, die Zukunft ihrer Geschwis- mit allen Österreichischen Parteien im Ge- ter, die Zukunft ihrer Kinder und die Zukunft spräch, mit dem bisher größten Erfolg, dass ihrer Enkelkinder. Und keiner von ihnen wird in der Nationalratssitzung am 3. Juli 2019 aufhören zu streiken, bis diese Zukunft für ein Vier-Parteien-Antrag für die Erklärung alle auf dieser Welt gesichert ist. des Nationalen Klimanotstands gestellt wur- de, der am 25. September abgestimmt wur- Autorin: Tabea Kletzer (15), Schülerin und de. Die Regionalgruppe Wien hat inzwischen Fridays For Future Aktivistin 17
Gutes Leben für alle - auch für morgen Eine sozial-ökologische Transformation braucht neue Produktions- und Lebensweisen, „Laudato si’“ zeigt unsere Verantwortung hierbei auf. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Die Überdenken von Lebensstil Menschheit lebt auf der Erde, als ob es einen und Konsum zweiten Planeten gäbe, der uns zur Verfügung stünde. Unser bisher auf grenzenloses Wachs- Zweitens geht es nicht um eine bloße Änderung tum ausgelegtes Alltagsleben stößt jedoch des individuellen Lebensstils, sondern um das Um- an seine Grenzen, darin sind sich zahlreiche gestalten der Produktions- und Konsumbeziehun- ExpertInnen einig. Der Ruf nach einer sozial- gen. LS erwähnt hierbei, dass durch eine Änderung ökologischen Transformation im Sinne eines des Lebensstils ein heilsamer Druck (LS 206) auf zukunftsgerechten Lebens wird ebenso in der die Mächtigen zum Beispiel mittels Boykott aus- Gesellschaft immer lauter. Auch die 2015 publi- geübt werden könne: „Es ist eine Tatsache, dass zierte päpstliche Enzyklika „Laudato si’“1 betont die Unternehmen, wenn die Gewohnheiten der die Notwendigkeit einer neuen Ausrichtung und Gesellschaft ihre Rendite gefährden, sich genötigt Umstrukturierung unserer herrschenden Produk- sehen, ihre Produktionsweise zu ändern.“ (LS 206) tions- und Lebensweisen. Ein Aufbrechen der individuellen Konsummuster allein reicht jedoch nicht aus. Denn insbesondere Wie können neue Produktions- und Lebens- vermeintlich umweltbewusste KonsumentInnen weisen im Sinne einer sozial-ökologischen verfügen über einen größeren ökologischen Transformation in Verbindung mit „Laudato si’“ Fußabdruck als andere, denen weniger Einkom- verstanden werden? Dazu lassen sich anhand der men zur Verfügung steht. Ein klassisches Beispiel Enzyklika fünf Punkte herausarbeiten. hierfür wäre, dass trotz alltäglichem ökologischen (Kauf)verhalten der alljährliche Langstreckenflug Nachhaltig ist Gerechtigkeit die CO2-Bilanz der jeweiligen Person zutiefst über die Generationen hinaus negativ beeinflusst. Das impliziert, dass ein solch vermeintlich umweltbewusster Lebensstil dennoch Erstens müssen neue Produktions- und Le- äußerst ressourcenintensiv sein kann. Verände- bensweisen nachhaltig gestaltet werden, wobei rungen müssen aus diesem Grund weitreichender nachhaltig als inter- sowie intragenerationelle sein und dürfen nicht bei Konsumentscheidungen Gerechtigkeit zu verstehen ist, d.h. als Gerech- haltmachen. Daher ist es notwendig, Produkti- tigkeit, die innerhalb wie auch zwischen den onsprozesse demokratischer zu gestalten und Generationen gültig sein muss. „Ohne Solidarität die Beziehungen zwischen Produzierenden und zwischen den Generationen kann von nachhal- Konsumierenden neu zu definieren. tiger Entwicklung keine Rede mehr sein.“ (LS 159). Ebenso betont „Laudato si’“ „die dringen- Grenzen des Wachstums de moralische Notwendigkeit einer erneuerten Solidarität innerhalb einer Generation“ (LS 162). Drittens ist es unabdingbar, mit dem ökonomi- Gerechtigkeit muss gleichzeitig sozial und ökolo- schen Wachstum als Ziel zu brechen. Kapitalisti- gisch gedacht werden. Diese Zielsetzungen sind sches Wachstum darf nicht länger als Paradigma miteinander verbunden und vereinbar. Sie stehen dienen wie es beispielsweise eine „Green Eco- nicht im Widerspruch zueinander. Eine boomen- nomy“ über das Umweltprogramm der Vereinten de Wirtschaft kann zwar Arbeitsplätze schaf- Nationen propagiert. Ein vermeintlich „Grünes fen, wenn das aber zu Lasten der Umwelt geht, Wirtschaften“ über grünes Wachstum und „grü- profitieren weder zukünftige Generationen noch ne(s) ‚Reden‘“ (LS 49) fördert weltweit herrschen- die Armutsbetroffenen: Sie sind es, die in ver- de soziale und ökologischen Ungerechtigkeiten schmutzten und heißen Gegenden leben müssen anstatt diese auszuräumen. Wachstumskritik und daher am meisten unter den Auswirkungen wird in „Laudato si’“ vor allem in Verbindung mit der Klimakrise und Umweltbelastungen leiden. der Kritik am vorherrschenden technokratischen 18
Paradigma geäußert: „Wenn in einigen Fällen strebt mit einer Genügsamkeit „die unbefangen die nachhaltige Entwicklung neue Formen des und bewusst gelebt wird“ und dadurch „befrei- Wachstums mit sich bringen wird, muss man end“ immerhin in anderen Fällen angesichts des uner- (LS 223) wirken kann. sättlichen und unverantwortlichen Wachstums, das jahrzehntelang stattgefunden hat, auch Nachhaltigkeit muss daran denken, die Gangart ein wenig zu verlang- institutionell verankert sein samen, indem man einige vernünftige Grenzen setzt und sogar umkehrt, bevor es zu spät ist.“ Fünftens ist eine institutionelle Verankerung nötig, (LS 193) um wirklich langlebig und nicht nur nischenhaft wirken zu können. Es stellt sich die Frage nach Welche Werte haben wir? einer Verankerung der nachhaltigen Produktions- und Lebensweisen, nach ihrer Absicherung und Viertens ist dafür ein Umdenken notwendig, das der Integration in gesamtgesellschaftliche Ent- auf anderen Werten und Tugenden basiert. Nicht wicklungen. Hierbei ist es wichtig, diese Veranke- materielle Werte sind zu fördern, wie Werte, die rung, wie auch den Staat selbst3 als umkämpftes das Gemeinschaftliche in den Vordergrund stel- Terrain zu betrachten und zu analysieren, welche len. Dafür gibt es Konzepte wie Konvivialität, das sozialen Kräfteverhältnisse sich wie im Staat besagt, die Zeit in Gemeinschaft mit FreundInnen (nicht) durchsetzen: „Einen privilegierten Platz in oder Familie zu verbringen,. Konvivialität wird der Diskussion müssen jedoch die Einwohner vor besonders in der wachsenden „Degrowth“-Be- Ort haben, die sich fragen, was sie für sich und für wegung hervorgehoben2. Aber auch Suffizienz, ihre Kinder wollen, und die auch Ziele in Betracht Genügsamkeit, Achtsamkeit und Solidarität sind ziehen können, die das unmittelbare wirtschaftli- wichtige Tugenden. So fordert die Enzyklika che Interesse übersteigen.“ (LS 182) „eine neue universale Solidarität“ (LS 14) für die 1 Papst Franziskus (2015): Enzyklika Laudato si’. Über die Gestaltung der Zukunft unseres Planeten ein. Sorge für das gemeinsame Haus. Vatikan, Sie thematisiert, dass es eine Umkehr braucht, 24. Mai 2015 „dass man Verzicht übt, ohne eine Gegenleistung 2 Kallis, G., Demaria, F., D’Alisa, G. (2016): Degrowth, in: dies. (eds.): Degrowth: A vocabulary for a new era. zu erwarten, und großzügig handelt, auch wenn Routledge, 1-17. niemand es sieht oder anerkennt“ (LS 220). Eine 3 Poulantzas, N. (1978/2000): State, power, socialism. „Kultur der Achtsamkeit“ (LS 231) wird ange- London. Christina Plank ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur, Wien und war Schasching-Fellow der ksoe zwischen 2016/2017 und Lehrende am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. 19
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