Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...

Die Seite wird erstellt Hortensia Schenk
 
WEITER LESEN
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
JUNI 2018 | NR. 166 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE

                                                    SCHWERPUNK T

                                                    Sportmedizin
                                                    Der lange Weg nach Tokio

16   ERNÄHRUNG
     Mehr Leistung durch
     Hightech im Bauch
                                22      BEGEGNUNG
                                        Mit René Hübner
                                        beim Armdrücken
                                                                   26   BESUCHER ZENTRUM
                                                                        Besser verstehen
                                                                        dank Spendenhilfe
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
K I N D
H E I T
SOMMER-FESTIVAL
17. August –
16. September 2018

Info: lucernefestival.ch

Ausgewählte Konzerte
24. August                                         5. September
LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA | Chor des              Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam |
Bayerischen Rundfunks | Riccardo Chailly           Daniele Gatti | Anett Fritsch
Werke von Debussy und Ravel                        Werke von Wagner, Berg und Bruckner
1. September                                       10. September
Orchester der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY |           London Symphony Orchestra und Chorus |
Matthias Pintscher | Pierre-Laurent Aimard |       Sir Simon Rattle | Magdalena Kožená und weitere Solisten
Tamara Stefanovich                                 Werke von Ravel
Werke von Kurtág, Eötvös, Bella und Zimmermann
                                                   12. September
3. September                                       Boston Symphony Orchestra |
Münchner Philharmoniker | Valery Gergiev           Andris Nelsons | Baiba Skride
Werke von Ljadow, Strawinsky und Rimsky-Korsakow   Werke von Bernstein und Schostakowitsch

Hauptsponsoren
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
M AG A ZIN DER GÖNNER-V EREINIG UNG DER SCH W EIZER PA R A PLEG IK ER-S T IF T UNG

                                                                                           6                                  22
Liebe Gönnerinnen und Gönner                                     Schwerpunkt
Vor Kurzem konnten die ersten Patienten ihre Zimmer im             6   S P O R T M E D I Z I N Fit für die Paralympics in Tokio:
neugebauten Nordtrakt der Spezialklinik in Nottwil beziehen.           In Nottwil wurde das Nationale Leistungszentrum für
Damit wurde ein wichtiger Meilenstein des fünfjährigen Bau-            Rollstuhlsport eröffnet.
programms auf dem Campus Nottwil termingerecht erreicht.          12   S T R AT E G I E Von Erkenntnissen aus dem
Dieses grösste Bauprogramm seit dem Neubau 1990 ist nur                Spitzensport profitieren Patienten in der Rehabilitation.
dank Ihrer Grosszügigkeit und Treue möglich geworden.                  Und umgekehrt.
     Neben den baulichen Veränderungen setzt der Stiftungs-       16   E R N Ä H R U N G Mit Hightech im Bauch zur individuell
rat auch organisatorische und personelle Veränderungen um.             optimierten Ernährung. Coole Gadgets helfen.
Ein Ausdruck davon ist das letzten Oktober verabschiedete         18   F O R S C H U N G Mehr Leistung mithilfe von legalen
neue Organisationsreglement der Stiftung, das die Verklei-             Substanzen? Claudio Perret kennt die Wege.
nerung, Verjüngung und stärkere Professionalisierung des          19   R AT G E B E R Wer seine Gesundheit fördern will,
Stiftungsrats angeht. Gleichzeitig soll die Transparenz in der         braucht nicht viel: die wichtigsten Expertentipps.
ganzen Gruppe sichergestellt werden: Neu übernimmt der
                                                                  20   S E I T E N B L I C K Tüfteln für die Marke Eigenbau:
Stiftungsrat gruppenweit zusätzliche Verantwortung in der              Peter Gilomen und Heinz Frei erzählen von den Pionier-
Festlegung und Anpassung der Saläre.                                   zeiten im Rollstuhlsport.
     Der gesellschaftliche Wandel erfordert auch Anpassun-
gen in den Strukturen und im Leistungsangebot der Gruppe,
um die optimale Versorgung der Querschnittgelähmten in der       Kompetenz
Schweiz sicherzustellen. Dabei definieren wir unser Angebot
primär aus der Sicht der Betroffenen. So prüfen wir demnächst     22   B E G E G N U N G Er wollte ein Kind retten und ist selber
im Rahmen eines Pilotprojekts das Modell einer dezentra-               verunglückt. Für René Hübner sind Schicksalsschläge
                                                                       Herausforderungen – für Wille und Muskeln.
len Leistungserbringung vor Ort: Betroffene sollen in ihrer
Umgebung Bezugspersonen haben, die ihre Anliegen kennen           26   W I S S E N Wie lebt es sich mit einem gelähmten Körper?
und die Dienstleistungen der Schweizer Paraplegiker-Gruppe             Das neue Besucherzentrum der Schweizer Paraplegiker-
                                                                       Stiftung schliesst Wissenslücken.
gezielt abrufen können.
     Anstehenden Veränderungen offen gegenüberstehen              28   M I T G L I E D E R V E R S A M M L U N G Der Vorstand
und sie wagen – diese Haltung verknüpfen wir mit unseren               der Gönner-Vereinigung blickt auf ein erfolg­reiches Jahr
                                                                       zurück.
unverrückbaren Wurzeln, die in den Erfahrungen einer über
40-jährigen Erfolgsgeschichte gründen.                            32   PA R T N E R S C H A F T Beim Besuch ausgewählter
                                                                       Sinfoniekonzerte am Lucerne Festival fliesst ein Teil des
                                                                       Ticketpreises an die Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
Herzlichen Dank für Ihre grosse Unterstützung!

                                                                   4   CAMPUS NOT T WIL
                                                                  33   DANKE
Dr. iur. Joseph Hofstetter                                        34   AUSBLICK
Direktor Schweizer Paraplegiker-Stiftung

                                                                                                                   Paraplegie, Juni 2018 3
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
CAMPUS NOT T WIL

                                        Reputationsstarke
                                        Stiftung

                                        Der GfK Business Reflector
                                        ermittelt jährlich die reputa­

40
                                        tionsstärksten Unternehmen
                                        der Schweiz. 2018 wurden
                                        erstmals die fünfzehn bekann­
       Jahre                            testen Non-Profit-Organisa­        Neubau ist in Betrieb
                                        tionen einbezogen. Die             Nach rund zweijähriger Bauzeit ist der Klinik-Nordtrakt Anfang
Gönner-                                 Schwei­zer Paraplegiker-Stiftung   Februar planmässig dem Betrieb übergeben worden. Der
                                        erreichte den dritten Platz        Anbau vergrössert das Schweizer Paraplegiker-Zentrum um
Vereinigung                             hinter der Rettungsflugwacht       15 000 Quadratmeter. Die Räume bieten Aussicht auf die Natur
                                        und dem Roten Kreuz.               am Sempachersee, viel Tageslicht und Rückzugsmöglichkeiten,
Am 19. Oktober 1978                                                        um das Wohlbefinden und den Genesungsprozess zu unter­
                                             gfk.com
hat in Basel die Grün-                                                     stützen. Mit dem Bezug der neuen Patientenzimmer haben
                                                                           gleichzeitig die Erneuerungsarbeiten im 28-jährigen Bettentrakt
dungsversammlung der                    Kompetenteste                      Süd begonnen.
Gönner-Vereinigung der                  Organisation
Schweizer Paraplegiker-                 Die Marktforschung von Swiss­
                                        fundraising hat ergeben, dass      Lesung mit Anne Weber

                                                                                                                                           Thorsten Greve
Stiftung stattgefunden.                 die Schweizer Paraplegiker-        Die in Paris lebende deutsche
                                        Stiftung bezüglich Innovation      Schriftstellerin und Übersetzerin
                                        und Wirkungskraft unter den        Anne Weber liest aus ihrem
                                        Schweizer Hilfsorganisationen      Roman «Kirio». Wer ist das? Ein
                                        am meisten überzeugt. Im           seltsamer Vogel, ein Verrückter,
                            2018        Bereich Menschen mit Behin­        ein Heiliger? Die öffentliche
                   weis
  Mitgliederaus
                           80.999.999   derung wird sie als kompe-         Lesung findet am Mittwoch,
              nn
  Max Musterma
                                        tenteste Organisation bewertet.    19. September 2018 um 19.30 Uhr          Anmeldung: nicht erfor­
                                                                           in der Bibliothek im Guido A.            derlich, Kosten: Kollekte,
                                             swissfundraising.org
                                                                           Zäch Institut statt.                     Auskunft: T 041 939 57 78

  Grösste Messe für Rollstuhlfahrer
  An der Rollivision präsentieren siebzig Ausstel-
  ler Neuheiten, die Menschen mit Handicap zu
  mehr Mobilität, Aktivität und Unabhängigkeit
  verhelfen. Orthotec, ein Unternehmen der
  Schweizer Paraplegiker-Stiftung und Organisa-
  tor der Rollivision, demonstriert seine neueste
  Entwicklung: Ein Schwenklift, der Elektroroll-
  stuhl samt Fahrer sicher ins Fahrzeuginnere                                              «Wir laufen für alle,
  hinter das Lenkrad bringt. Verschiedene Kurz-
  vorträge, ein Erste-Hilfe-Einsatz bei einem
                                                                                           die nicht laufen können»
  Velounfall sowie der Parcourslauf mit Exoske­                                            Über 100 000 Personen in 66 Ländern sind am
  letten und motorisierten Rollstühlen bieten                                              Wings for Life World Run im Mai 2018 mit­
  Wissen und Unterhaltung an der schweizweit                                               gelaufen. 4900 waren es in Zug, mit dabei ein
  grössten Messe für Rollstuhlfahrer.                                                      Team der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Die
                                                                                           Startgelder haben weltweit rund drei Millionen
         Tagesprogramm auf rollivision.ch                                                  Euro eingebracht, die zu hundert Prozent in
         Samstag, 23. Juni 2018, 10 – 17 Uhr                                               Forschungsprojekte zur Heilung von Querschnitt-­
         im Schweizer Paraplegiker-Zentrum
                                                                                           lähmung fliessen.

4 Paraplegie, Juni 2018
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
CAMPUS NOT T WIL

                                                  71 614
                                           Gönnermitglieder
                                                                                                         Dreimal Gold,
                                                                                                         Vorgabe erfüllt

                                                                                                         Mindestens drei Medaillen
                                                                                                         lautete die Vorgabe für das
                                              besitzen eine lebenslange Mitgliedschaft                   13-köpfige Schweizer Team
                                                               der Gönner-Vereinigung.                   an den Winter-Paralympics
                                           Das sind 5692 Personen mehr als im Vorjahr.                   in PyeongChang. Geholt
                                                                                                         hat sie alle Théo Gmür (22)
Denkanstösse für                                                                                         mit Siegen in der Abfahrt, im
Inklusion                                                                                                Super G und Riesenslalom.
Die Adecco Group organisiert                                                                             Schmerzvolle Niederlagen
den Global Sports & Inclusion                                                                            hatten die Rollstuhlathleten
Day in der Sport Arena Nott­                                                                             zu verkraften: Der zwei­
wil. Der Personaldienstleister                                                                           fache Paralympics-Sieger
bringt an diesem in 41 Ländern                                                                           Christoph Kunz (36) stürzte
durchgeführten Sportanlass                                                                               im Super G mit bester
Menschen zusammen, um mit                                                                                Zwischenzeit und zog sich
inspirierenden Aktivitäten und                                                                           eine dreifache Fraktur am
Gesprächen Denkanstösse                                                                                  Mittelfussknochen zu.
zu geben und Inklusion zu för­                                                                           Das Rollstuhl-Curling-Team
dern. Nicolas Hausammann,                                                                                erreichte Rang sechs.
Basketball Nationaltrainer bei     Digital verbessert unterwegs

                                                                                                                                          KEYSTONE / Alexandra Wey
der Schweizer Paraplegiker-        Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat ihren Webauftritt inhalt­
Vereinigung, leitet einen der      lich überarbeitet und technisch optimiert. Eine übersichtliche
Workshops: «Sport lehrt uns        Navigation bietet Besuchern auf allen Endgeräten einen raschen
Respekt, Toleranz und gemein­      Zugang zu den gewünschten Informationen. Ebenfalls moderni­
sam ein Ziel zu erreichen. Es      siert hat sich die von der Schweizer Paraplegiker-Forschung
sind dieselben Werte, die uns      betreute «Community». Auf dieser Plattform tauschen sich Men­
Querschnittgelähmten die           schen mit Querschnittlähmung, ihre Angehörigen und Freunde
Integration in die Arbeitswelt     zum Leben mit Querschnittlähmung aus, um gegenseitig von
erleichtern.»                      Erfahrungen und Wissen zu lernen. Die Community hat bis heute
                                   1200 Beiträge veröffentlicht, die von zehnmal so vielen Besuchern
     Adecco Global Sports &        gelesen wurden. Beide Plattformen stellen umfassendes Wissen
     Inclusion Day 15. Juni 2018
     Kostenloser Stellenanzeiger   zum Thema Querschnittlähmung zur Verfügung.
     für Arbeitgeber:                   paraplegie.ch und community.paraplegie.ch
     spv.ch / stellenboerse

                                                    Internationales Wissenschaftstreffen in Nottwil
                                                    Die Vernetzung unter Querschnittspezialisten ist von grosser Bedeutung, um
                                                    Weiterbildung und Forschung zu koordinieren und aktuelle Behandlungsmöglich­
                                                    keiten den querschnittgelähmten Menschen weltweit zugänglich zu machen.
                                                    Vom 28. bis 31. August 2018 finden zwei wichtige Veranstaltungen gleichzeitig in
                                                    Nottwil statt: der Tetrahand-Weltkongress und der Jahreskongress der Internatio­
                                                    nalen Gesellschaft für Funktionelle Elektrostimulation. Das Schweizer Paraplegiker-
                                                    Zentrum (SPZ) ist eine der wenigen Kliniken Europas, die mit anspruchsvollen
                                                    Operationen die Handfunktion hochgelähmter Menschen verbessern. Zudem hat
                                                    das SPZ Anfang 2018 das International FES Centre eröffnet, um in Zusammen­
                                                    arbeit mit internationalen Forschern und Hochschulen die FES-Methodik weiter­
                                                    zuent­wickeln. Die Funktionelle Elektrostimulation (FES) wirkt mit elektrischen
                                                    Impulsen anstelle von Nervenreizen auf Muskeln ein und kann helfen, verlorene
                                                    Körperfunktionen wiederherzustellen.

                                                                                     tetrahand2018.com und ifess2018.com

                                                                                                                       Paraplegie, Juni 2018 5
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
Sportmedizin
Nottwil 2018 – Tokio 2020
Das internationale Leistungsniveau im Rollstuhlsport ist stark gestiegen: Einzelne Nationen
investieren gezielt in Medaillen. Damit die Schweiz den Anschluss nicht verpasst, wurde Anfang Jahr
in Nottwil das Nationale Leistungszentrum für Rollstuhlsport eröffnet.
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
SPORT

Begrüssung: Chefarzt Phil Jungen (links) und Roger Getzmann                                Station 1: Sports Nutrition. Handbiker Alain Tuor
empfangen die Athleten zu den Testing Days in Nottwil.                                     bei Sportwissenschaftlerin Joëlle Flück.

                                                                                                              8
Das Rennen fahren müssen sie alleine. Damit            über die Kaderathleten bis zum Nationaltrainer.
aber unsere besten Rollstuhlsportler am Wett-          Sie absolvieren die ersten Testing Days am neuen
kampftag X ihre Höchstleistung erbringen kön-          Leistungszentrum.
nen, braucht es ein ganzes Team im Hintergrund.             Das Datensammeln geschieht in Form eines                   Stationen
«Ohne die fokussierte Zusammenarbeit verschie-         Parcours von einem Experten der Sportmedizin           umfassen die Testing Days.
dener Fachspezialisten gewinnt man heute keine         zum nächsten. Jeder Test dauert eine Stunde.
                                                                                                              Plus ein spezifisches Training
Olympiamedaillen mehr», sagt Phil Jungen vom           Am Ende werden die fachspezifisch aufbereite-
Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Als frisch       ten Daten in der grossen Expertenrunde diskutiert      mit dem Nationaltrainer.
ernannter Chefarzt der Sportmedizin Nottwil            und gemeinsam für jeden Sportler Entwicklungs-
erlebte er 2016 an den Paralympics in Rio de Ja-       schwerpunkte festgelegt. Es sind Empfehlun-
neiro die Ernüchterung der Schweizer Delega-           gen zum Optimierungspotenzial, die in einem
tion. Während andere Nationen massiv in die            Gespräch zwischen Trainer, Athlet und Roger
Entwicklung ihrer Athleten investiert hatten,          Getzmann weiter konkretisiert werden. Getzmann
setzte der erfolgsverwöhnte Schweizer Rollstuhl-       unterstützt sie bei der Umsetzung der Optimie-
sport weiterhin auf altbewährte Rezepte. Doch          rungen. Er leitet das NLR operativ und koordiniert
damit hatte man den Anschluss an die Welt-             die Experten der Sportmedizin Nottwil und die
spitze verloren.                                       Partner von Rollstuhlsport Schweiz.
     Die Lehren aus Rio waren rasch gezogen:
Anstatt dass jeder Trainer und Fachexperte den         Das grosse Ziel
Sportlern isolierte Inputs gibt, soll die Entwick-     Der Spiezer Handbiker Alain Tuor (35) hat sich
lung der Athleten künftig zusammen, koordiniert        intensiv auf diese zwei Tage in Nottwil vorbe-
und umfassend angegangen werden. Zur Umset-            reitet. Er möchte 2020 an den Paralympics in
zung dieser Idee wurde Anfang 2018 das Natio­          Tokio teilnehmen, seine Fragen füllen ein ganzes
nale Leistungszentrum für Rollstuhlsport (NLR)         Notizbuch.
eröffnet, ein gemeinsames Projekt von Sportme-
dizin Nottwil und Rollstuhlsport Schweiz.
                                                       «Ich bin nach jedem Training glücklich.»
Daten als Grundlage                                       Alain Tuor, Handbiker
«Wir wollen euch helfen», begrüsst Chefarzt Phil
Jungen die versammelte Elite der Schweizer Hand-       «Dass ich überhaupt Leistungssport betreiben
biker, «dazu brauchen wir eure Daten.» Alle sind       kann, ist für mich ein grosses Privileg», sagt Tuor.
nach Nottwil gekommen. Vom Nachwuchstalent             Neben seinem Training bewältigt der Tetraple-

8 Paraplegie, Juni 2018
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
SPORT

                                                       Station 3: Sportpsychologie. Der Athlet im Austausch
                                                       mit Expertin Romana Feldmann.

giker ein Arbeitspensum von fünfzig Prozent als        wünscht auf die Belastungssignale aus dem Ge­­
technischer Kaufmann. Das geht in die Zeit. Für        hirn. Zudem kann der Körper unterhalb der Läh-
seine Rolle als Familienvater und für seine Freun-     mungshöhe nicht mehr schwitzen. So kommt es
de plane er deshalb «Qualitätszeit» ein – seit sei-    bei Tuor immer wieder zu Überhitzungen: «Ich
nem Snowboardunfall 2000 in Adelboden muss             spüre nur, dass die Ohren heisser werden. In Süd-
er sein Leben gut organisieren.                        afrika wurde ich durch die Hitze abrupt langsa-
     Dank dem Sport gehe es ihm gesundheit-            mer, da bringt ein Eimer Wasser über den Kopf
lich besser, erklärt Alain Tuor. Er sei ausgegliche­   nichts mehr.»
ner, lerne tolle Leute kennen und komme an                  Expertin Flück informiert ihn über neuartige
spannende Orte auf der ganzen Welt. Statt als          Sensoren in Pillenform, die die Kerntemperatur
Betroffener mit seinem Schicksal zu hadern, sollte     des Körpers von innen her messen, und bespricht
man dankbar sein, was man mit einer Behinde-           Varianten zum Kühlen vor und während eines
rung alles bewerkstelligen kann. «Ich bin wirk-        Rennens. Am Ende der Testing Days zählt die            «Welcher Schweizer
lich glücklich mit meinem Leben», sagt er. «Man        Thermoregulierung zu den drei wichtigsten The-
muss einfach das Maximum aus dem herausho-             men, an denen Alain Tuor aus Sicht des ganzen
                                                                                                              würde sein Kind
len, was man hat.» Als Sportler ist Tuor ehrgeizig.    Teams arbeiten soll.                                   schon zu einer Sport-
Er möchte weiterkommen und hat hohe Erwar-                  Doch zunächst stehen für den Handbiker
tungen an die Testing Days.                            weitere Stationen auf dem Experten-Parcours
                                                                                                              karriere pushen?»
                                                       an: das Powerlab zur Analyse und Verbesserung          Daniel Hirs, Nationaltrainer Handbike
Parcours der Experten                                  der Kräftigungsarbeit, die Sportpsychologie, eine
Seine erste Station heisst Sports Nutrition. Sport-    Umfeldanalyse, die sportärztliche Untersuchung
wissenschaftlerin Joëlle Flück gibt ihm Ratschläge     und der grosse Performance-Test.
für sein Energie- und Kalorien-Management. Wel-
che Nahrungsmittel und Ergänzungsstoffe müs-           «Die Gesellschaft muss mitziehen ...»
sen wann, in welcher Kombination und Menge             Nationaltrainer Daniel Hirs begleitet die Athle­
eingenommen werden? Wie kann die Regenera-             ten und koordiniert den Austausch mit ihren
tionszeit verkürzt werden? Was und wie viel darf       persönlichen Trainern. Frühere Trainergenerati-
er im Rennen trinken? Was soll er am Abend vor         onen haben ihr Wissen noch im eigenen Gärt-
dem Wettkampf essen?                                   chen gehortet, in Nottwil steht die Zusammen-
     Viele Gedanken macht sich Alain Tuor zur          arbeit im Vordergrund. «Heute machen wir eine
Temperaturregulierung. Bei einem T­ etraplegiker       erste Standortbestimmung, damit jeder Athlet
reagieren Herz und Kreislauf nicht mehr wie ge­­       an sich weiterarbeiten kann», sagt Hirs. «Bei den

                                                                                                                               Paraplegie, Juni 2018 9
Sportmedizin Der lange Weg nach Tokio - Schweizer ...
SPORT

Station 6: Performance-Test. Sportwissenschaftler Claudio Perret (rechts)                                     Auswertungssitzung: Die Experten legen für
misst Tuors Leistungsdaten für die Standortbestimmung.                                                        rungspunkten vor. Gemeinsam werden aus allen

nächsten Testing Days zeigt dann der Datenver-          Kollegialer Austausch
lauf, welches die Weichen sind, die gestellt wer-       Ein Sportler spürt, wenn das Team im Hintergrund
den müssen.» Er strebt ein möglichst effizientes        ebenso ehrgeizig ist. Chefarzt Phil Jungen und
Training an, das ist die wichtigste Voraussetzung       NLR-Leiter Roger Getzmann haben bewusst auch
für Verbesserungen.                                     die Handbike-Legenden Heinz Frei und Sandra
     Daniel Hirs kennt die Teamarbeit von ­Trainern     Graf zu den Testing Days aufgeboten. Frei erklärt
und Experten aus seiner Zeit im Profiradsport.          dem Nachwuchs, welchen Einsatz es für inter-
Dass man ausserhalb der privatwirtschaftlich            nationale Erfolge braucht: «Die erste Trainings-
organisierten Sportszene erst seit Kurzem solche        stunde jeden Morgen ist für mich Therapie –
Ansätze nutzt, erklärt er mit dem öffentlichen          erst dann beginnt das Training.» Andere würden
Stellenwert des Sports in der Schweiz: «Alle sind       schon bei zehn Stunden pro Woche die Nase
zwar Federer-Fans. Aber wer würde sein Kind             rümpfen, damit komme man nicht weit.
schon zu einer solchen Karriere pushen? Hier-                Nach dem Experten-Parcours hat Handbiker
zulande macht man eine Ausbildung und geht              Alain Tuor einen sehr guten Eindruck vom neuen
arbeiten: So verdient man sein Geld!» Der Stolz         Leistungszentrum in Nottwil. Die Testing Days
unserer Sportnation beruhe auf ein paar Ausnah-         haben ihm wertvolle Anhaltspunkte zur Leis-
metalenten, die ihren Profistatus in Familienun-        tungssteigerung gegeben und auch der kollegi-
ternehmen ausüben. So fehlt nicht nur die breite        ale Austausch unter den Athleten sei ein wich-
Basis, sondern auch das breite Verständnis.             tiger Ansporn: «Dass unsere Stars heute dabei
     Einige Para-Athleten stehen vor dem Pro-           sind, ist Gold wert. Sie überblicken einen Erfah-
blem, dass ihre Chefs keinen Sinn für notwendige        rungszeitraum von Jahrzehnten, und wir können
Absenzen während der Vorbereitung grosser               sie alles fragen.»
Wettkämpfe zeigen. Zuerst die Arbeit, dann der               Für Tuor geht es jetzt an die Umsetzung der
Sport – diese Haltung findet man manchmal               vereinbarten Ziele. Als erstes wird er seinen Trai-
sogar in Firmen, die sich als Sponsoren engagie-        ningsplan optimieren. Mit Sportwissenschaftlerin
ren. Im Rahmen der Umfeldanalyse kommen sol-            Flück und Nationaltrainer Hirs sind Testläufe mit
che Probleme auf den Tisch. «Wenn wir irgend            der Thermopille im Velodrome Suisse in Grenchen
etwas verändern oder optimieren können, dann            geplant. Und von Sandra Graf bekommt er Anga-
probieren wir es aus», betont Daniel Hirs. «Die         ben zu einer Funkschaltung für den Gangwechsel.
Professionalisierung darf aber nicht beim Athle-        «Wir sind wie eine Familie», sagt er zum Abschied.
ten aufhören. Die Gesellschaft muss mitziehen,          «Zusammen wollen wir weiterkommen.»
wenn sie Erfolge im Sport anstrebt.»                         (kste/we/febe)

10 Paraplegie, Juni 2018
Forschung
                                                                     Sport und Gesundheit
                                                                     Über das Ausmass der körperlichen Aktivität bei Menschen mit Querschnitt­
                                                                     lähmung ist wenig bekannt. Eine SwiSCI-Studie liefert erste Einblicke.

                                                                                                                   Männer
                                                                                                                    Frauen

                                                                      Charakteristika der Befragten
                                                                                                              17 – 30 Jahre
                                                                                                              31 – 50 Jahre
                                                                                                              51 – 70 Jahre
                                                                                                                 71 + Jahre

                                                                                                                 Paraplegie
                                                                                                                Tetraplegie

                                                                                                             Ohne Rollstuhl
                                                                                                       Manueller Rollstuhl
                                                                                                      Elektrischer Rollstuhl

                                                                                                                               0        10      20       30      40      50         60         70
                                                                                                                                               Anteil Personen (in Prozent)

jeden Athleten eine Einschätzung zu den wichtigsten Optimie-                                                                       Wer erreicht die WHO-Empfehlungen – 2,5 Stunden Ausdauer-
Daten individuelle Empfehlungen abgeleitet.                                                                                                      belastung plus zwei Muskeltrainings pro Woche?

                                                                     Sport ist für alle Menschen wichtig.                                            Forschung hat 2016 im Rahmen der
                                                                     Sein positiver Einfluss auf unsere Ge-                                          SwiSCI-Studie erstmals wissenschaft-
                 Austausch unter Kollegen: Nachwuchsathlet
                                                                     sundheit ist bekannt: Sport stärkt das                                          liche Daten zu diesen Fragen ausge-
            Alain Tuor diskutiert mit Handbike-Legende Heinz Frei.   Immunsystem, kräftigt Knochen und                                               wertet. Die Ergebnisse sind erstaunlich.
                                                                     Gelenke und hilft bei psychischen                                                    48,9 Prozent der Betroffenen in
                                                                     Belastungen. Bei regelmässigem Sport                                            der Schweiz geben an, sich gemäss den
                                                                     sinkt der Blutdruck, der Körper lagert                                          WHO-Empfehlungen zu verhalten –
                                                                     weniger Fett ein, das Herz-Kreislauf­                                           prozentual sind das mehr Menschen
                                                                     System ist belastbarer, Infektionen sind                                        als in der Gesamtbevölkerung (41 Pro-
                                                                     seltener. Ebenso gut erforscht sind                                             zent). Bei den Betroffenen gibt es
                                                                     die Probleme, die durch Bewegungs-                                              jedoch markante Unterschiede bezüg-
                                                                     mangel entstehen: Die Weltgesund­                                               lich Geschlecht, Alter, Schwere der Ver-
                                                                     heitsorganisation (WHO) zählt kör-                                              letzung und Art der Fortbewegung.
                                                                     perliche Inaktivität weltweit zu den                                            So sind es häufig Frauen, ältere Men-
                                                                     grössten Risikofaktoren für die öffent-                                         schen, Tetraplegiker und Nutzer von
                                                                     liche Gesundheit.                                                               Elektrorollstühlen, die sich zu wenig
                                                                          Wer seine Gesundheit mit Sport                                             bewegen.
                                                                     fördern will, sollte einige Grundregeln                                              Für ihre Gesundheit müssen Quer-
                                                                     beachten. Die WHO empfiehlt als wö-                                             schnittgelähmte ebenso wenig ein Fit-
                                                                     chentliches Minimum 2,5 Stunden Aus­-                                           nessstudio aufsuchen wie Fussgänger.
                                                                     dauerbelastung bei moderater Inten­                                             Der Alltag bietet ihnen genügend
                                                                     sität, dazu zweimal ein Programm zur                                            Gele­genheiten, um ins Schwitzen zu
                                                                     Muskelkräftigung. Bei diesen Aktivitä-                                          kommen oder die Atmung zu beschleu-
                                                                     ten sollte man ins Schwitzen kommen,                                            nigen. Wer unterwegs den etwas län-
                                                                     um positive Effekte zu erzielen.                                                geren Weg wählt, tut seiner Gesund-
                                                                          Menschen mit Querschnittläh-                                               heit bereits einen Gefallen. Auch ein
                                                                     mung fällt es schwerer, sich ausrei-                                            Handbike eignet sich als vielseitiges
                                                                     chend zu bewegen. Es ist aber auch                                              Gerät für mehr Bewegung – sei es zum
                                                                     für sie sinnvoll , sich an den WHO-Emp-                                         Einkaufen oder für einen Ausflug mit
                                                                     fehlungen zu orientieren. Erreichen sie                                         der Familie.
                                                                     diese Werte? Gibt es allenfalls Risiko-
                                                                                                                                                          swisci.ch, who.int
                                                                     gruppen? Die Schweizer Paraplegiker-

                                                                                                                                                                              Paraplegie, Juni 2018 11
SPORT

Strategie
«Meine Ambition ist Athletennähe»
Das Nationale Leistungszentrum für Rollstuhlsport (NLR) hilft den Topathleten
im Wettkampf um die letzten Zentimeter. Doch für Chefarzt Phil Jungen geht es um mehr:
Von den Erkenntnissen der Sportmedizin Nottwil sollen alle Betroffenen profitieren.

Phil Jungen, wie haben Sie die Para­                 immer unser Selbstverständnis. Auch in der
lympics 2016 in Rio de Janeiro erlebt?               öffentlichen Wahrnehmung der Schweizer Para-
Die Spiele als solche waren schön und inspi-         plegiker-Gruppe kommt dem Sport ein hoher
rierend. Seitens von Swiss Paralympic und der        Stellenwert zu: Die Bevölkerung ist stolz, wenn
Schweizer Paraplegiker-Vereinigung war alles per-    unsere Athleten erfolgreich sind. Die Medien­
fekt organisiert, Schweizer Qualität eben. Aber      berichte zeigen, dass die ganze Gruppe zur Spitze
aus dem Blickwinkel der Sportmedizin wurde           gehört. Somit spiegelt sich die hohe Qualität der
deutlich, dass wir in den vier Jahren der Olympia-   Spezialklinik in Nottwil direkt in den Leistungen
Vorbereitung nur wenig zum Erfolg unserer Ath-       der Sportler wider, die wir hier betreuen.
leten beitragen konnten. Wir behandelten vor
allem medizinische Probleme und führten Leis-         Als Reaktion auf Rio wurde in Nottwil
tungsmessungen durch, an der sportlichen Ent-         das Nationale Leistungszentrum für
wicklung haben wir kaum mitgewirkt. Als ich          ­Rollstuhlsport gegründet.                            «Die Leistung der
Marcel Hug und Manuela Schär zum Start beglei-        Es bestand eine Diskrepanz: Einerseits waren die
tete, dachte ich: Um ehrlich sagen zu können, wir     Athleten in vielen Bereichen ganz auf sich selbst
                                                                                                           Sportler prägt das
haben alles getan, damit die beiden genau jetzt       und ihre Trainer gestellt. Andererseits hatte die    Image der Spezial-
ihre Höchstleistung abrufen können, hätten wir        Sportmedizin Nottwil sehr viel Fachwissen erar-
anders vorgehen müssen.                               beitet, was den Athleten aber kaum bekannt war.      klinik in Nottwil.»
                                                      So wurde zum Teil noch unzeitgemäss trainiert,       Dr. med. Phil Jungen
Die Briten hatten Ernährungswissen­                   ernährt und regeneriert. Für das neue Leistungs-     Chefarzt Sportmedizin Nottwil
schaftler und sogar zwei Psychiater mit               zentrum haben jetzt alle Fachexperten gemein-
im Team.                                              sam ein Programm entwickelt, das die Athleten
Der Unterschied war auffällig. Bei andern Natio-      und Mannschaften während des vierjährigen
nen arbeiteten ganze Expertencrews gemeinsam          Olympiazyklus begleitet und die koordinierte Ent-
auf den Erfolg hin. Wir Schweizer reisten wie seit    wicklung ihrer Leistung sicherstellt. Nur ein Teil
vielen Jahren mit Physiotherapeuten und einem         der Arbeit betrifft den Sport im engeren Sinne.
Arzt an. Ein kleines Betreuerteam schuf für die       Aufgrund der Querschnittlähmung sind auch
Athleten eine Wohlfühlatmosphäre – damit hat-
ten wir aus Sicht der Sportmedizin den Zeitgeist
verschlafen. Mit fünf Medaillen belegten wir         «Wir sagten uns: Jetzt muss etwas
Platz 41 im Medaillenspiegel. Da sagten wir uns:
Jetzt muss etwas geändert werden.                      geändert werden!»
Wie wichtig sind Medaillen für die Wahr­             Aspekte wie Verdauung, Temperaturregulierung,
nehmung des Rollstuhlsports?                         Trainingsintensität und Erholungsmethoden wich-
Wenn wir uns im Spitzensport engagieren, wol-        tig. Oder die Vereinbarkeit von Sport und Beruf,
len wir nicht einfach nur dabei sein, sondern an     der Transport zur Sportstätte und Materialinno-
der Weltspitze mitreden. Im Rollstuhlsport war       vationen. Im NLR justieren wir all diese Leistungs-
die Schweiz jahrelang führend, das prägt noch        parameter aufeinander ab.

12 Paraplegie, Juni 2018
Arbeit an Finessen: Mit Sportwissen-
                        schaftler Fabian Ammann testet
                   Triathletin Jolanda Annen Details zu
                  Kraft­übertragung und Beweglichkeit.

Der Name «Nationales Leistungszentrum»
markiert einen neuen Anspruch.
Begriffe verankern Ideen in unseren Köpfen. Und
das neue Gefäss hat jetzt eine neue Wirklichkeit
geschaffen. So ist der Leitgedanke beim «Inte-
grierten Support Team», dass Athleten und Trainer
im Bedarfsfall nicht irgendwo in einem «Netz-
werk» Unterstützung suchen müssen, sondern
dass sie direkt auf unsere Fachexperten zugrei­-
fen können. Ein Anruf genügt. Der Name «Tes-
ting Days» signalisiert: Du bist jetzt Spitzenathlet!
Die Teilnehmer werden zwei Tage lang in einem
Trainingscamp geprüft – das ist ein Markstein in
ihrer Karriere. Oder der Bereich «Sports Nutri-
tion»: Da geht es um Erholung, Leistungsopti-
mierung und verkürzte Regenerationszeiten. Das
hat nichts mehr mit Ernährungspyramide und
Spaghetti zu tun.

Weshalb hat man das früher nicht gemacht?
Es herrschte ein anderer Zeitgeist. Die Expertise in
Nottwil deckte aber bereits viele Bereiche ab. So
waren alle Zutaten vorhanden und meine ersten             Kompetenz für alle Sportler
Wünsche wurden von der Realität übertroffen.
                                                          Von der Sportkompetenz in Nottwil profitieren nicht nur Rollstuhlathleten.
Wie hat sich die Sportmedizin verändert?                  Als zertifiziertes Swiss Olympic Medical Center hat die Sportmedizin Nottwil
Früher gab es dazu keine eidgenössische Ausbil-           grosse Erfahrung in der Betreuung von Spitzensportlern mit und ohne
dung. Als in den 1990er-Jahren der Breitensport           Behinderung. Eine von ihnen ist die bekannte Triathletin Jolanda Annen (26).
und die Volksläufe boomten, zeigten sich die              Auch sie trainiert professionell für Tokio 2020.
Wissenslücken: Darf ein Herzinfarkt-Patient wei-          Die Betreuung in Nottwil erlebt Annen als intensiv und sehr direkt: «Die
ter joggen und ins Hochgebirge? Wie geht man              Experten haben ein enormes Fachwissen. Wenn man das Training als solches
mit Hormontherapien um? Was ist mit Asthma                bereits voll ausgereizt hat, bringen sie uns mit vermeintlich kleinen Sachen
und Spitzensport, oder Übertraining und Unterer-          noch einen Schritt weiter.» Beim heutigen Termin klärt Jolanda Annen Fragen
holung? Sportwissenschaften, Leistungsdiagnos-            zur Ernährung und testet Details der Kraftübertragung und Beweglichkeit.
tik, Leistungsoptimierung, ärztliches Fachwissen,         «Ich kann in Nottwil noch sehr viel lernen – zu all jenem, was ich hier schon
Sportphysiotherapie – all diese Fachbereiche ent-         erfahren habe», ist die Triathletin überzeugt. Nur einen Punkt könne man
wickelten sich rasant um den Sport herum. Seit            nicht von aussen vermitteln: «Das Wichtigste im Leistungssport ist, dass man
1999 gibt es eine von der FMH anerkannte Wei-             es wirklich gerne macht!» Das muss jeder für sich selbst merken.
terbildung für Sportärzte.

                                                                                                                        Paraplegie, Juni 2018 13
SPORT

                                                                                                                     Will nicht nur dabei sein,
                                                                                                              sondern an der Spitze mit­reden:
Gibt es Zielkonflikte zwischen der medi­             Transfer in beide Richtungen statt: Erkenntnisse           Phil Jungen im Austausch mit
zinischen Sorge um den Körper und dem                aus dem Spitzensport kommen unseren Patienten                          den Fachexperten.
Wunsch nach Leistungsoptimierung?                    zugute, und patientenbezogene Erfahrungen hel-
Wenn ein Sportler Schulterbeschwerden be-            fen den Sportlern.
kommt, kann er unter Umständen nicht mehr in
den Rollstuhl transferieren und ist dadurch auch     Nützt das Angebot des Leistungs-
in seinem Alltagsleben enorm eingeschränkt. Das      zentrums auch dem Breitensport?
gilt es unbedingt zu vermeiden. Wird der Roll-       Genau das ist geplant! Unsere 104 Rollstuhl-Kader­
stuhlsport aber korrekt ausgeführt, ist er nicht     athleten bestreiten jetzt die Testphase. Im zweiten
anfällig für Überbeanspruchungen. Es werden          Schritt profitieren die Rollstuhlclubs der S­ chweizer
runde Bewegungen ausgeführt, die Kraftvertei-        Paraplegiker-Vereinigung von diesem Angebot –
lung ist symmetrisch, es gibt kaum Schläge auf
die grossen Gelenke. Ausnahmen sind einseitige
Belastungen, wie sie beim Tennis und Badminton
                                                     «Die Sportmedizin Nottwil ist
auftreten. In Nottwil messen wir zusammen mit          für jeden Rollstuhlfahrer wichtig.»
der Forschung die Schulterbelastungen, suchen
ergonomische Körperhaltungen und hinterfragen        deren etablierte Bereiche wir enger mit der Sport-
die Technik – wo soll ein Athlet mit der Hand ans    medizin Nottwil verknüpfen. Und bereits gibt es
Rad anschlagen, wo es loslassen? Wie muss das        auch Anfragen von Verbänden und Clubs aus dem
Racket geführt sein? Wenn wir sehen, dass eine       Fussgängersport, die Interesse an unserem Pro-
Sportart für einen Athleten zu belastend ist, emp-   dukt der Testing Days haben.
fehlen wir alternative Trainingsarten.
                                                     Was sind Ihre Wünsche für das Zentrum?
Lassen sich die Erkenntnisse aus dem Spit­           Ich wünsche mir, dass die Athleten das eine ganz
zensport auf andere Bereiche übertragen?             coole Sache finden. Eine Querschnittlähmung
Die Sportmedizin Nottwil ist für jeden Rollstuhl-    führt den Menschen bereits im Alltag an seine
fahrer wichtig. In der Erstrehabilitation werden     Belastungsgrenzen. Wenn er sich zusätzlich noch
die Patienten an den Sport herangeführt, damit       dem Leistungssport verschreibt, kommen viele
sie die körperliche Fitness haben, um aktiv an der   neue Fragen hinzu. Die Athleten sollen erkennen,
Gesellschaft teilhaben zu können. Mit mehr Kraft     dass wir sie tatsächlich mit all unserem Wissen
und Ausdauer ist ein Betroffener mobiler und hat     proaktiv begleiten und das nicht nur behaupten.
es im Alltag und im Beruf leichter. Daher legte      Meine medizinische Ambition sind Athletennähe
unser Gründer Guido A. Zäch so viel Wert auf         und Ehrlichkeit – im Sinne von Guido A. Zächs
den Sport. Die Sportmedizin steht ganz im Sinne      berühmtem Gedankenspiel: Wie hätten Sie es
der bestmöglichen Integration. Dabei findet ein      gerne, wenn ...? (kste/febe)

14 Paraplegie, Juni 2018
Auf zum nächsten
sportlichen Ziel

Sportmedizin Nottwil für Freizeit- und Leistungssportler:
Beratung mit Sporternährungsanalyse und Leistungstest
Sprechstunde für Prävention und sportärztliche Notfälle
sportmedizin-nottwil.ch
SPORT

Ernährung
Hightech im Bauch
Die individuell optimierte Ernährung ist ein wichtiger Faktor zur Leistungssteigerung.
In der Sportmedizin Nottwil untersucht Joëlle Flück die neuesten Trends und coolsten Gadgets.

Wer seinen Muskel trainiert, setzt Reize. «Du        Individuelle Ernährung
musst stärker sein!», sagen wir ihm, «dich auf-      Während eines Rennens kann ein Handbiker nicht
bauen.» Je nach Training entstehen andere Reize      einfach ein Sandwich essen. Er muss die nötige
und sogar Mikroverletzungen. Geben wir dem           Energie rechtzeitig über ein Getränk oder Gel
Muskel jetzt die richtige Nahrung, startet die       zuführen. Dabei hat Flück auch den Blutzucker-
Phase der Regeneration: Er kann seine Schä-          spiegel im Blick. Um ihn konstant zu halten, setzt
den beheben, sich umbauen, grösser werden.           sie kurz-, mittel- und langkettige Kohlenhydrate
Die Bausteine dafür sind Proteine. Es gibt sie als   ein. Ebenso ein Thema ist das Essverhalten im All-
                                                                                                             Grosses Bild: Sensor der Firma
künstliche Nahrungsergänzungsmittel in allen         tag und vor dem Wettkampf: «Meine Philosophie           BodyCap. Er wird in Form einer Pille
erdenklichen Formen. Oder als Fleisch, Fisch, Ei,    ist, viele alltägliche Lebensmittel zu verwenden,       geschluckt und funkt die Körper-
Hülsenfrucht und Milchprodukt. Ohne diese Pro-       die ein Sportler gerne isst und die ihm eine natür-     kerntemperatur in Echtzeit an dieses
teine ist der Nutzen des Krafttrainings geringer.    liche Unterstützung geben», sagt die Expertin.          handliche Ablesegerät.
Das gleiche Prinzip gilt im Ausdauersport: Essen     Weil kein Körper gleich funktioniert, steht bei ihr
wir vor dem Training Kohlenhydrate, leistet der      die individuelle Betreuung über allem.
Körper mehr und es können Reize auf einem                  Zum Beispiel für eine schnelle Regeneration.
höheren Niveau gesetzt werden.                       Für Spitzenathleten, die täglich zwei bis drei Mal
     Aber das ist erst der Anfang. «Bei einem        trainieren, spielt es eine Rolle, wie viel Erholungs-
Athleten muss man viel genauer und spezifischer      zeit sie bis zum nächsten harten Training haben.
planen», weiss Joëlle Flück von der Sportmedizin     Können sie pro Woche nur ein bisschen mehr
Nottwil. Die Sport- und Ernährungswissenschaft-      oder intensiver trainieren, erhalten sie über die
lerin optimiert die Leistung von Spitzenathleten,    Jahre den entscheidenden Vorsprung: Die zusätz-
die bereits alle bekannten Regeln ausgereizt         lichen Reize machen den Unterschied vom guten
haben. Flück zeigt ihnen die Stellschrauben, die     zum sehr guten Athleten.
zusätzliche Reize erlauben. Sie forscht am letzten
Prozent der Leistungssteigerung – das ist jener      Optimierte Körperzusammensetzung
Bereich, in dem im Spitzensport die Entscheidung     Bei Sportlern mit einer Querschnittlähmung kom-
über die Medaillen fällt.                            men weitere Aspekte hinzu. Sie brauchen Energie

16 Paraplegie, Juni 2018
SPORT

                                                                                                          Dr. Joëlle Flück (32) ist Sport-
                                                                                                         und Ernährungswissenschaftlerin
für die gewünschte Leistung, aber ihr Verbrauch       Ein weiteres Gadget aus Flücks Werkzeugkiste ist            und Vizepräsidentin der
ist viel geringer als bei einem Fussgänger. Das       ein Gerät, das den Wasserstoffgehalt im Atem         Swiss Sports Nutrition Society.
optimale Körpergewicht zu halten, wird so zum         misst. So testet sie Unverträglichkeiten gegen-         Ihr Forschungsschwerpunkt
täglichen Balanceakt. Ein wichtiger Indikator ist     über Fructose, Lactose und Sorbitol. Dies ist        liegt im Bereich Supplemente.
der Kalorienverbrauch im Ruhezustand. Den be­         insbesondere bei Sportlern mit Problemen im
stimmt Joëlle Flück anhand des Sauerstoffver-         Magen-Darm-Bereich sehr wichtig, um die Nähr-
brauchs und des Kohlendioxids in der Atemluft.        stoffe noch besser zusammenzustellen.
Zudem kennt sie Wege, um die Fettverbrennung
während der Belastung anzukurbeln. Weniger            Kochkurs für Sportler
Fett und mehr Muskeln bedeuten: mehr Leistung.        Bereits in naher Zukunft lassen sich die Kohlen­
      Gute Analysedaten liefert eine DXA-Messung      hydratspeicher in der Muskulatur per Infrarot
der Körperzusammensetzung. Das Gerät funkti­          beobachten: Nach dem Training sieht ein Athlet,
oniert wie ein riesiger Röntgen-Scanner, auf den      wie viel er verbraucht hat und kann genau diese
man sich legt; es zeigt an, wie sich die Fett-,       Menge wieder ersetzen. Sein Gewicht bleibt im
­Muskel- und Knochenmassen im Körper verteilen.
 Ungleichheiten können dann mit einem gezielten       «Zentral ist, dass ich die Ernährung
 Training beseitigt werden. Und für das Gewichts-
 management zeigt das Gerät, ob tatsächlich nur       für jeden Einzelnen perfekt auf das Training
 Fett abgebaut wurde und nicht zusätzlich auch
 noch Muskelmasse.
                                                      anpassen kann.» Joëlle Flück
                                                      Optimalzustand. Wenn Joëlle Flück von solchen
Regulierung der Körperkerntemperatur                  Trends erzählt, sagt sie auch: «Mich reizt, aus
Je nach Lähmungshöhe leidet ein R  ­ ollstuhlathlet   einem Athleten das Bestmögliche auf natürliche
an einer stark eingeschränkten Hitzeregulierung,      Art herauszuholen. Es geht dabei aber immer um
da sein Körper nur bedingt schwitzen kann.            seine konkrete Situation, um das, was er selbst
«Bei Athleten, die Probleme mit der Hitze haben,      mitbringt und was für ihn und seine Gesundheit
suchen wir individuelle Lösungen, damit sie auch      am besten ist.»
an heissen Tagen ihre Leistung erbringen kön-              Als Nächstes plant sie einen Kochkurs für
nen», erklärt Flück. Dabei hilft ihr seit Kurzem      Sportler. Das Wissen um die Wirkung der einzel-
ein Sensor, der in Pillenform geschluckt wird und     nen Nahrungsmittel soll Lust machen, sie kreativ
die Körperkerntemperatur misst. Die Wirkung           in den Alltag zu intergieren. Sporternährung ist
von Kühlmassnahmen lässt sich damit in Echt-          nämlich alles andere als Doping – auch wenn sie
zeit prüfen.                                          uns schneller und stärker macht. (kste/febe)

                                                                                                                       Paraplegie, Juni 2018 17
R ATG EBER

Forschung
Erkenntnisse für mehr Leistung
In Claudio Perrets Labor findet man nur erlaubte Substanzen wie Randensaft oder
Koffein. Damit möchte der international renommierte Forscher Spitzenathleten leistungsfähiger
machen. Seine Erkenntnisse beeinflussen auch die Rehabilitation der Patienten.

Wenn ein Spitzensportler konsequent trai-        nisse aus der klinischen Rehabilitation, zum   und arbeitete mit Kühlwesten. Solche Stu-
niert, kann er seine Leistung vielleicht um      Beispiel, um in Verletzungspausen ihre Mus-­   dien der Sportmedizin wirken sich auch
ein Prozent pro Jahr steigern. Ohne eine sol-    keln weiter fit zu halten.                     mental aus: Sie helfen den Sportlern, sich
che Verbesserung ist selbst ein Weltmeister                                                     auf das anstehende Grossereignis zu fokus-
im Folgejahr chancenlos.                         Ernährung und Supplemente                      sieren und vermitteln ihnen den Eindruck,
      Wenn Patienten während der Rehabi-         «Wir betreiben eine angewandte und             gegenüber der Konkurrenz einen Vorsprung
litation trainieren, sind Steigerungen von       unter­stützende Forschung», erklärt Claudio    zu besitzen.
zwanzig und mehr Prozent möglich. Für            Perret. «Unsere Athleten und Patienten              Vor den Paralympics 2012 in London
die Selbstständigkeit sind das enorme            sol­len einen unmittelbaren Nutzen davon       war bekannt, dass in den Abfahrten hohe
Fortschritte: Ein Betroffener kann seine         haben.» Statt um akademische Fragen geht       Geschwindigkeiten erreicht werden. Also
Einkaufstasche wieder heben oder schafft         es ihm um konkrete Massnahmen, wie Leis-       tüftelte Perrets Team an der Aerodynamik.
den Transfer vom Rollstuhl ins Auto. Am          tungseinschränkungen aufgrund der Quer-        Während andere Nationen einfach den
Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) gilt        schnittlähmung reduziert werden können.        tropfenförmigen Zeitfahrhelm aus dem
daher die körperliche Fitness als wichtiger      Dabei werden aufwändige wissenschaftli-        Radsport übernahmen, zeigten Perrets
Faktor für mehr Lebensqualität. Durch ein        che Methoden genutzt. Mit diesem Vor-          Tests im Windkanal, dass dieser Helm die
gezieltes Training der Muskulatur und des        gehen geniesst die Sportmedizin Nottwil        Handbiker sogar bremst. Den grössten
Herz-Kreislauf-Systems sollen die Patienten      international ein hohes Ansehen.               aerodynamischen Vorteil brachte die rich-
die Spezialklinik möglichst fit verlassen.             Eines der spannendsten Forschungs-       tige Fussstellung. Nicht zuletzt dank diesem
      Die sportliche Betätigung dient aber       felder weltweit ist derzeit die Ernährung,     Wissen gewann Heinz Frei in London die
auch der Prävention von Krankheiten, die bei     insbesondere die Leistungssteigerung mit       Goldmedaille.
Menschen mit Querschnittlähmung häufi-           Supplementen. Hierbei lassen sich Daten
ger auftreten. Zum Beispiel aufgrund ihrer       von Fussgängern jedoch nicht einfach eins      Oberster Wert: Gesundheit
eingeschränkten Atmungsfunktion.                 zu eins auf Menschen mit Querschnitt­-         Sobald eine wissenschaftliche Studie pu­-
                                                 lähmung übertragen. Für sie sind neue          bli­ziert ist, wird das darin erarbeitete Wis-
Vom Sportler zum Patienten                       Studien nötig. Perret konnte zum Beispiel      sen zum Allgemeingut und der Vorsprung
Claudio Perret und sein Team in der Sport-       nachweisen, dass bei Paraplegikern Koffein     ist Geschichte. Wie geht man in Nottwil
medizin Nottwil forschen in beiden Berei-        zu einer signifikanten Leistungssteigerung     mit die­ser Tatsache um? «Wir müssen der
chen: Von ihren Erkenntnissen im Spitzen-        beim kurzen, intensiven Handkurbeln führt.     Konkurrenz halt immer einen Schritt voraus
sport profitieren die Patienten. Und von der     Aktuell experimentiert sein Team mit der       sein», erklärt Claudio Perret mit einem
Arbeit in der Rehabilitation fliessen Ideen in   Wirkung von Randensaft auf den Sauer-          Lächeln. Für den renommierten Forscher
den Sport.                                       stoffverbrauch und die Leistungsfähigkeit      darf der Erfolg aber nicht um jeden Preis
     So machen Perrets Untersuchungen            beim Handbiken.                                angestrebt werden: «Die Gesundheit eines
zur Atmungsmuskultur nicht nur Athleten                                                         Athleten steht über allem», sagt er.
schnel­ler, sie helfen auch, dass Betroffene     Technodoping                                         In Rahmen seiner Forschungstätigkeit
seltener eine Lungenentzündung entwi-            Auch im Materialbereich wird viel geforscht.   stehen die Werte Glaubwürdigkeit und Ver-
ckeln. Am SPZ profitieren heute die meis-        «Technodoping» nennen das die Fachleute.       trauen zuoberst. Es sind Werte, welche die
ten Patienten von einem Atmungstraining.         Vor den Paralympics 2008 in Peking unter-      Arbeit auf dem gesamten Campus Nottwil
Umgekehrt nutzen die Sportler neue Erkennt-      suchte man in Nottwil die Hitzeregulierung     prägen.(kste)

18 Paraplegie, Juni 2018
R ATG EBER

Trainingstipps
Die wichtigsten Empfehlungen von Claudio Perret

                                                          Die Basics
                                                          1. Ausreichend Bewegung
                                                          2. Ausgewogene Ernährung
                                                          3. Genug schlafen

                                                                                    Tipp 1
PD Dr. sc. nat. Claudio Perret (49)
                                                                                    Raus aus der Komfortzone!
ist stellvertretender Leiter der Sportmedizin Nottwil.
Als Sportwissenschaftler publiziert er regelmässig in    Die Grundempfehlung lautet: täglich 30 Minuten moderate Bewegung. Wichtig
internationalen Fachzeitschriften.                       ist, dass man Freude an der gewählten Bewegungsart hat; dann bleibt man dran.
                                                         Das Ziel ist ein Zusatzverbrauch von 1200 Kalorien pro Woche.
Verhaltensänderungen fallen uns schwer.
Doch wer seine Gesundheit fördern oder
abnehmen will, benötigt keinen grossen
Aufwand: Man muss sich nur regelmäs-
                                                                                    Tipp 2
sig bewegen und ausgewogen ernähren.                                                Langsam steigern!
Die einfachste Komplettlösung sind Vita-                 Übermotivierte gehen von null auf hundert – und überfordern ihren Körper.
parcours. Sie bieten alles, was es für ein               Besser ist: Schritt für Schritt vorgehen, zuerst die Trainingsdauer, dann die Inten-
umfassendes Training von Ausdauer, Kraft                 sität langsam steigern, Geduld haben, Ruhetage einplanen. Ein Bauch, der über
und Beweglichkeit braucht.                               10 Jahre gewachsen ist, verschwindet nicht in 3 Monaten.

 Verbreitete Irrtümer
 Zwei Meinungen halten sich hartnäckig in der
                                                                                    Tipp 3
 Fitnessszene. Doch sie sind falsch.                                                Mehr Leistung braucht mehr Training!
                                                         Um die Fitness zu verbessern, benötigt der Körper circa 3 Einheiten pro Woche:
 Mythos 1
                                                         2 Ausdauertrainings (d. h. zumindest leichtes Schwitzen) plus 1 Muskeltraining.
 Fettverbrennung nur bei geringem Puls
 Für die Fettverbrennung soll man im niede-
 ren Intensitätsbereich trainieren, wird gesagt.
 Aber zum Abnehmen ist die absolute Fett­                                           Tipp 4
 verbrennung entscheidend. Diese ist bei einer                                      Richtig essen!
 mittleren Belastungsintensität (das Sprechen
 von 1 – 2 kurzen Sätzen ist gerade noch mög-            Wer trainiert, braucht Energie, Flüssigkeit und Salz. Im Leistungssport müssen
 lich) um einiges höher.                                 Proteine und Kohlenhydrate möglichst schnell wieder zugeführt werden. Wer
                                                         abnehmen will, sollte 2 – 3 Stunden mit dem Essen zuwarten und nur Wasser
 Mythos 2                                                oder ungesüssten Tee trinken. Noch mehr profitiert die Linie, wenn man morgens
 Das Alter definiert die Pulsfrequenz                    nüchtern trainiert.
 An fast jedem Trainingsgerät steht: 220 minus
 Alter gleich Maximalpuls. Damit lässt sich der
 optimale Trainingsbereich jedoch selten zuver-
 lässig festlegen, zu unterschiedlich sind die
                                                                                    Tipp 5
 Men­schen und Sportarten. Der individuelle
                                                                                    Für Abwechslung sorgen!
 Maximalpuls und der persönliche Trainingsbe-            Wer jahrelang immer das Gleiche trainiert, macht keine Fortschritte. Abwechs-
 reich werden am besten mit einem Leistungs-             lung bezüglich Intensität und Dauer des Trainings und der Sportart hilft. Das sorgt
 test bestimmt.                                          für Motivation, Verbesserungen und beugt einseitigen Belastungen und Über-
                                                         lastungen vor.

                                                                                                                           Paraplegie, Juni 2018 19
SEITENBLICK

Mehr als Sport

                                                                                                Rollen gebaut», erzählt Frei. «Damit sind wir
                                                                                                im Gang zwischen den Passagieren zum
                                                                                                WC gerobbt.» So ausgerüstet wagten die
                                                                                                beiden die lange Reise.

                                                                                                Wintertauglich
                                                                                                Für das Training im Winter bastelten die
                                                                                                Freunde einen Langlaufschlitten. Gilomen
                                                                                                montierte Skis unter einen norwegischen
                                                                                                Hundeschlitten und formte gepolsterte
                                                                                                Sitzschalen aus Kunststoff gegen die Kälte.
                                                                                                Frei fuhr damit Meisterschaften und durch
                                                                                                autofreie Skiorte.
                                                                                                     An den Paralympics in Innsbruck 1988
                                                                                                unterstützt sie der Flugzeughersteller Pila-
                                                                                                tus mit einer ultraleichten Carbon-Schale.
«Zuerst war ich schneller, dann bald du»,       lisierten Zulieferer, Handarbeit machte den     In diesen Jahren wird das Material immer
erinnert sich Peter Gilomen (70). Der Pionier   Unterschied. «Alltagssituationen haben uns
im Rollstuhlsport schwelgt mit Heinz Frei       dazu gebracht, erfinderisch zu sein und die
(60) in alten Zeiten. Wart ihr Konkurrenten?    Probleme selbst zu lösen», sagt Frei.
«Wir waren Freunde!», sagt Frei. «Zum ers-            Die Renndistanzen wurden länger.
ten Rennen, das ich 1981 gewonnen habe,         Ende der 1960er-Jahre hielten die Offiziel-
gehört die Tragik, dass Peter eine Kurve ver-   len nur 60 Meter für medizinisch verant-
passte und sich eine Platzwunde zuzog.»         wortbar, 1976 waren es schon 1500 Meter.
Damals fuhr man ohne Helm. In den rasan-        Gilomen und Frei nutzten bald einmal Start-
ten Abfahrten flatterten die kleinen Vorder-    gelegenheiten bei Strassenrennen für Fuss-
räder abenteuerlich, und die Gartenhand-        läufer. «Manchmal haben die Konkurren-
schuhe, die zum Bremsen benutzt wurden,         ten uns sogar den Berg hochgeschoben»,
waren rasch durchgewetzt.                       erzählt Gilomen. «Als es dann runterging,
     Rollstuhlfahrer waren noch kein ge-        sagten wir: ‹Danke und tschüss …!›»
wohntes Bild in der Gesellschaft. Der Sport           1983 wird im japanischen Oita der erste
half ihnen, sich zu integrieren. Umso mehr      Marathon für Rollstuhlfahrer angekündigt.
hielt die Szene wie eine Familie zusam-         Frei und Gilomen melden sich sofort an. Der
men. Wenn einer lange führte, liess man         Flug dauerte mehr als einen Tag. Wie geht
ihn schon mal gewinnen. Nach dem Ren-           das für Menschen mit einer Querschnittläh-
nen feierten alle gemeinsam und tausch-         mung? «Peter hat uns ein ‹Schemeli› auf vier    wichtiger: Wer noch im Gefährt des Vorjah-
ten sich über alltagspraktische Fragen aus                                                      res startet, ist chancenlos. Heute beteiligen
– vom Kleiderwechsel im Sitzen bis zum                                                          sich bereits Formel-1-Firmen an der presti-
Umgang mit Versicherungen. «Die erfahre-                                                        geträchtigen Jagd um Sekundenbruchteile
nen Rollstuhlfahrer gaben uns Lebenshilfe»,                                                     im Rollstuhlsport.
erklärt Heinz Frei. «Heute ist jeder ganz auf                                                        Den Langlaufschlitten der Pioniere nut-
sein Resultat fokussiert.»                                                                      zen heute auch Athleten ohne Querschnitt-
                                                                                                lähmung, etwa bei Verletzungen. Vor Sotschi
Zeit der Tüftler                                                                                hielt Dario Cologna damit seinen Oberkör-
Pionier Gilomen hatte seine Autogarage zur                                                      per fit – und wurde prompt Olympiasieger.
Werkstatt umfunktioniert. Darin tüftelte der                                                    «Nicht nur wir Rollstuhlfahrer haben von all
ehemalige Bauschlosser mit Frei an schnel-                                                      den Erfindungen profitiert», fasst Heinz Frei
leren Rennstühlen. Sie sägten und bogen                                                         die Jahre zusammen, «sondern auch unser
Rohre, sie löteten und liessen nähen, hin-                                                      Gegenüber.» Integration funktioniert eben
terfragten alle Details. Es gab keine spezia-                                                   in beide Richtungen. (kste)

20 Paraplegie, Juni 2018
Erleben Sie echte Gastgeberqualitäten und entdecken Sie das frisch
umgebaute Hotel Sempachersee mit seinen hervorragenden Seminar-,
                 Hotel- und Gastronomieangeboten.

Kulinarisch verwöhnen wir Sie in unserem À-la-carte-Restaurant Sempia
        oder im unkomplizierten Free-Flow-Restaurant Vivace.

           Sommer-Angebot
  Übernachtung im Doppelzimmer inkl. Frühstücksbuffet,
     Apéro und 3-Gänge-Überraschungs-Abendmenü
           im Restaurant Sempia: CHF 151.00
            im Restaurant Vivace: CHF 136.00

              Zusätzliche Übernachtung CHF 90.00
             Aufpreis für Einzelbenutzung CHF 34.00
              Preise pro Person/Nacht inkl. Kurtaxe,
                      Resort Fee und MwSt.

         Dieses Angebot ist nach Verfügbarkeit buchbar
          im Zeitraum vom 1. Juli bis 20. August 2018.

         Erleben Sie Gastfreundschaft aus Leidenschaft.
                      Wir freuen uns auf Sie!

                   SEMINARE EVENTS GENUSS

        Hotel Sempachersee     Kantonsstrasse 46   6207 Nottwil
             T 041 939 23 23   www.hotelsempachersee.ch
BEGEGNUNG

Integration
Mit Muskelkraft zu neuen Zielen
Er wollte ein Kind retten und ist dabei selber verunglückt. Die Lebens-
geschichte von René Hübner prägen diverse Rückschläge. Doch der Thurgauer hat
jedes Mal einen Ausweg gefunden. Mit Wille und Muskelkraft.

Unglaublich. Diese Hand ist wie aus Beton. Wer          hat. Zwölf Jahre lang spielte er American Foot-
René Hübners Arm auf den Tisch drücken will,            ball, mit den St. Gallen Raiders hat er nationale
muss trainieren, bei einem Nichtsportler wankt          und internationale Titel gewonnen.
er keinen Millimeter. Ganz anders im Wettkampf               Ein Badeunfall im Mai 2005 beendete seine
der starken Männer. Da zittern die Hände beim           Karriere abrupt. René Hübner wollte auf Fuerte-
Krafteinsatz. Da wird Energie rausgebrüllt. Die         ventura einem neunjährigen Buben helfen, der
Kontrahenten verhaken sich im Tisch, ringen um          im Pool in Schwierigkeiten geraten war und zu
kleinste Winkel im Handgelenk, reagieren blitz-         ertrinken drohte. Er eilte zu Hilfe und rutschte in
schnell. «Armwrestling ist Adrenalin pur», sagt         seinen Slippers aus. Beim Sturz in den Pool brach
René Hübner. «Da gibt man 120 Prozent!» In              sein siebter Halswirbel. Zum Glück reagierten die
einen Kampf legt er alles hinein, was sein ­Körper      anderen Badegäste sofort.
hergibt.                                                     Der Junge aus dem Pool lebt heute in Ham-
      Der Lohn für seine Kraftakte steht in Form        burg. Manchmal besucht ihn René Hübner. Sie
von Pokalen im Wohnzimmer des 42-jährigen               seien wie zwei alte Kollegen, die eine gemein-
                                                                                                               Mit diesem Gerät trainiert
Thurgauers. Daneben gibt Hübners Fotoalbum              same Geschichte verbindet.                                René Hübner die Kraft
erste Einblicke in eine Sportart, die so gar nichts                                                           zusammen mit der Drehung
mit der schummrigen Welt der Hafenkneipen               51 Operationen                                                 des Handgelenks.
gemein hat, mit der Laien das Armwrestling oft          Die erste Operation zur Stützung der Wirbel-
verbinden. Das Album zeigt vielmehr hochkon-            säule wird auf den Kanarischen Inseln vorgenom-
zentrierte Athleten am Kampftisch, Nationen-            men, in Las Palmas. Dabei geraten auch Kehl-
teams bei Wettkämpfen und Schnappschüsse                kopf und Stimmbänder in Mitleidenschaft. «Ich
einer buntgemischten Szene, in der man sicht-           war gelähmt und konnte zudem nicht mehr spre-
lich Spass zusammen hat.                                chen», schildert Hübner seine schwierige Lage
      «Wir sind wie eine Familie», erzählt der letzt-   nach dem Unfall.
jährige Schweizermeister. «Man hilft sich gegen-             Zur Rehabilitation wird er ans Schweizer
seitig. Und zu internationalen Anlässen b ­ egleiten    Paraplegiker-Zentrum in Nottwil überführt, wo
mich jeweils einige Clubmitglieder und feuern           weitere Eingriffe nötig werden. Bis heute musste
mich an.» Dreissig Mitglieder zählt die L.A.C.          der Tetraplegiker insgesamt 51 Operationen über
Löwen Arm Crew, der grösste Armwrestler-­               sich ergehen lassen. Doch der begeisterte Sportler
Club der Ostschweiz, darunter sechs Frauen. Die         lässt sich nicht entmutigen. «Ich bin eine Kämp-
jüngste im Team ist siebzehn Jahre alt, der älteste     fernatur», sagt er, «aufgeben gibt es nicht.» Nach
54. Athleten mit Sehbehinderung zählen ebenso           jedem Rückschlag suche er einen Weg, auf dem
zur Crew wie solche mit Teillähmungen, René             er wieder nach vorne schauen könne.
Hübner ist der erste Rollstuhlfahrer. Integration            Im Rollstuhlclub St. Gallen findet er eine
ist in dieser Szene kein Fremdwort.                     neue sportliche Herausforderung: das Basketball.
                                                        Mit Unterstützung der Schweizer Paraplegiker-­
Der Bub im Wasser                                       Stiftung erwirbt er einen Spezialrollstuhl und
Sport war schon immer ein prägender Faktor im           engagiert sich im Team. Der regelmässige Sport
Leben des ehemaligen Metzgers, der auch als             fördert seine körperliche Fitness und hilft ihm
Forstwart und in der Landwirtschaft gearbeitet          bei der Bewältigung des Alltags. Er erleichtert

                                                                                                                      Paraplegie, Juni 2018 23
Sie können auch lesen