AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung

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AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
AUFBRÜCHE
DAS BILDUNGSMAGAZIN

 Thema dieser Ausgabe:

 MACHEN
 Rapper Alassane Jensen im Interview     Jung und selbstständig
 „Rausgehen und einfach ausprobieren!“   Firmengründer unter 25
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
STIFTUNGEN
                                                                 Hamburger Stiftungen engagieren
                                                                 sich für unsere Stadt rund um
                                                                 Bildung, Kultur, Umwelt, Wohnen und

                  BEWEGEN
                                                                 viele weitere Themen.

                                                                 Das Stiftungsbüro unterstützt sie

              DIE STADT
                                                                 dabei: mit Beratung, Begleitung       INHALT
                                                                 und Vernetzungsangeboten für alle
                                                                 Hamburger Stiftungen.

                                                                 Sprechen Sie uns an!
                                                                                                       SELBST & STÄNDIG
                                                                                                       Junge Gründer erzählen........................................ 4

                                                                                                       CARTOON Neulich bei Chez Prokrastiné ............. 9
                                                                                                                                                                                          EDITORIAL
                                                                                                       „DRANBLEIBEN, NICHT ENTMUTIGEN LASSEN!“                                                                               Stiftungsarbeit sei etwas
                                                                                                       Die Gründerberaterin Carmen Radeck                                                                                    für Idealisten und Men­
                                                                                                       im Interview ........................................................... 10                                           schen, die die Welt besser
                                                                                                                                                                                                                             machen wollen. Das sagt
                                                                                                       KEIN ERGEBNIS IST AUCH EIN ERGEBNIS
                                                                                                                                                                                                                             man so über die Branche.
                                                                                                       Wissenschaft kann aus Fehlschlägen
                                                                                                       lernen ...................................................................... 12                                      Aber damit eine Stiftung
                                                                                                                                                                                                                             für das Gemeinwohl tätig
                                                                                                       NICHT JEDER MUSS STUDIEREN                                                                                            werden und die Welt ein
                                                                                                       Ausbildung als gute Alternative ......................... 14                                                          bisschen besser machen
                                                                                                                                                                                                                             kann, braucht sie Geld.
                                                                                                       KEIN SPIELZEUG                                                                                                        Geld, das arbeitet. Und so
                                                                                                       Hamburgs neues Schülerforschungszentrum... 17                                                                         sind einige Stiftungen –
                                                                                                       „MAN MUSS RAUSGEHEN UND
                                                                                                                                                                                                                             aber insbesondere unser
                                                                                                       ES EINFACH AUSPROBIEREN“                                                                                              Haus – von Grund auf sehr
                                                                                                       Rapper Alassane Jensen im Interview .............. 18                                                                 stark unternehmerisch ge­
                                                                                                                                                                                                                             prägt. Das Management des
                                                                                                       LOKALE HELDEN                                                                                                         Vermögens fußt auf einer
                                                                                                       Menschen, die sich in ihrer                                                        klaren Investmentstrategie und erfordert auch aktives unter­
                                                                                                       Nachbarschaft engagieren .................................. 21                     nehmerisches Handeln. Denn das gemeinnützige Tun wird
                                                                                                                                                                                          erst ermöglicht durch den wirtschaftlichen Erfolg.
                                                                                                       DER SUPRA-HELD
                                                                                                                                                                                                 Leistungsbereitschaft, Unabhängigkeit, Wettbewerb,
                                                                                                       Physiker Andrew Millis forscht in der Theorie . 24
                                                                                                                                                                                          Qualität und Effizienz sind die Werte, an denen sich unsere
                                                                                                       SCHÜLER BRAUCHEN ÖKONOMISCHE                                                       Stiftung insgesamt orientiert. Das heißt auch: Die gemein­
                                                                                                       KOMPETENZEN                                                                        nützige Projektarbeit muss genauso ziel- und erfolgsorien­
                                                                                                       Soll Wirtschaft ein Schulfach werden? .............. 26                            tiert sein, wenn sie etwas bewirken will.
                                                                                                                                                                                                 Ich bin davon überzeugt: Wer etwas „machen“, ver­ändern
                                                                                                       ALS AZUBI INS AUSLAND                                                              oder Neues schaffen will, braucht Unternehmergeist. Wie
                                                                                                       Ein großer Sprung, der viel bringt ..................... 28                        vielseitig der sein kann, wollen wir in diesem Heft zeigen.
                                                                                                       WISSEN MACHT KLICK
                                                                                                                                                                                          Dr. Christian Olearius
                                                                                                       Jugendliche lernen, wie Smartphones
                                                                                                       und Co. funktionieren ......................................... 30                 Vorsitzender des Kuratoriums der Joachim Herz Stiftung

                                                                                                       STÄNDIG IM GANGE, DAMIT ALLES LÄUFT
                  Mehr erfahren unter:                                                                 Bericht aus der Haustechnik .............................. 31

                  www.stiftungsbuero-hamburg.de                                                        DAS GLOBALE KLASSENZIMMER
                                                                                                       Schüler erarbeiten Fragen an die G20 .............. 32

                                                                                                       NACHGEFRAGT
                                                                                                                                                                                          Dieses Magazin liegt der ZEIT sowie ZEIT Campus bei. Wenn Sie
                                                                                                                                                                                          „Aufbrüche“ weiter­lesen möchten, können Sie sich per E-Mail
                                                                                                                                                                                          unter abo@joachim-herz-stiftung.de in unseren Verteiler eintragen.
                                                                                                                                                                                          Aktuelle und vergangene Ausgaben finden Sie auch als PDF
                                                                                                       Was verbinden die Gremien der Joachim Herz                                         in der Mediathek auf www.joachim-herz-stiftung.de.
                                                                                                       Stiftung mit dem Thema „Machen“?................. 34
                                         Stiftungsbüro Hamburg
                                                                                                       IMPRESSUM........................................................... 35                  /joachimherzstiftung
                                         Tel. 040 / 87 88 969-83
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                                         info@stiftungsbuero-hamburg.de
          2   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                                                                   EDITORIAL/INHALT   3
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
Nicht lange zögern – einfach machen! Vier junge Menschen erzählen,
                                                                  wie sie sich für eine Unternehmer-Karriere entschieden haben.
                                                                  Aufgezeichnet von SARAH NALAZEK

                                                                  „Die Praxis lehrt
                                                                  viel schneller“
                                                                  Weingut Hamm, Familienbetrieb                                  Aber wenn etwas nicht sinnvoll ist, muss man auch mal
                                                                                                                                 radikale Entscheidungen treffen. Ich habe Weinbetriebs­
                                                                  in vierter Generation                                          wirtschaft studiert und einiges aus Büchern gelernt, aber
                                                                                                                                 die Praxis lehrt viel schneller. Wenn man die Traube vom
                                                                                                                                 Weinberg schneidet, ist der neue Jahrgang gesetzt. Diese
                                                                  Aurelia Hamm, 25, Oestrich-Winkel:                             Entscheidung muss in Sekunden getroffen werden.
                                                                  „Vor zwei Jahren bin ich ins Weingut meiner Eltern im                 Es ist toll, sein eigener Herr zu sein. Man hat so viele
                                                                  Rheingau eingestiegen, das ich mittlerweile leite. Ich bin     Gestaltungsmöglichkeiten und sieht direkte Resultate – ohne
                                                                  die vierte Generation und möchte die Familientradition         Verantwortung geht das nicht! Meine Mutter hat früher
                                                                  weiterführen, irgendwann zusammen mit meinem Bruder.           immer gesagt: Wenn du das nicht gut findest, mach’s doch
                                                                        Als neuer Chef sollte man nicht mit allem brechen,       besser! Das hat in mir die Lust entfacht, Dinge weiterzuent­
                                                                  sondern wertschätzen, was bisher geleistet wurde – Tradi­      wickeln. So mache ich das auch mit dem Unternehmen.
                                                                  tion verpflichtet auch! Mein Vater war einer der ersten, die          Um uns gut zu positionieren, bin ich viel unterwegs,
                            Mit 23 ist Aurelia Hamm ins Weingut   im Rheingau ökologischen Wein angebaut haben, und auch         gehe auf Messen und Veranstaltungen. Am schönsten war,
                            ihrer Eltern ein­gestiegen. Heute,    mir ist dieser Aspekt wichtig. Obwohl ich den Betrieb von      den ersten eigenen Wein abzufüllen – der letzte Schritt
                            zwei Jahre später, leitet sie das     Geburt an kenne, musste ich auch alte Strukturen hinter­       ­eines langen Prozesses. Wenn dann die Leute sagen: ,Oh, da
                            Familienunternehmen im Rheingau.      fragen. Oft heißt es: Wir machen das schon immer so.            hast du was Feines produziert‘ – das ist unschlagbar!“

4   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                          5
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
„Die beste Schule
des Lebens“
„Vion“ – Universalfernbedienung mit
Receiver und Filmsuchmaschine

Finn Plotz, 22, Glückstadt:
„Als ich in die 12. Klasse kam, haben meine Eltern sich ei­
nen neuen Fernseher mit Surround-System gekauft – und
acht Fernbedienungen. Weil ständig irgendwas eingestellt
werden musste, war ich im Dauereinsatz. Da kam mir die
Idee für eine Kombination aus Universalfernbedienung,
Receiver und Filmsuchmaschine. Mit Stift und Papier habe
ich in meinem Zimmer Skizzen gemalt und gegoogelt. Erst
ganz banale Dinge: Wie funktioniert ein Fernseher? Wie
kann man Fernbedienungen kombinieren? Dann habe ich
selbst Produkte nachgebaut. Ich habe so lang geschraubt       „Mit meiner                                                                Patrik Phan (20) hat sich vor vier Jahren mit der
                                                                                                                                         Werbeagentur Designtoasty selbstständig

                                                              Leidenschaft Geld
und gebastelt, bis ich ein Gerät mit bunten Drähten und                                                                                  gemacht. Zusätzlich studiert er Medieninformatik
blinkenden Lichtern vor mir hatte und ein Bild auf dem                                                                                   an der Technischen Universität Dresden.
Fernseher. Da wusste ich: Das ist wirklich machbar.
      Bei einem staatlichen Innovationszentrum habe ich
gelernt, wie ein Startup funktioniert – von der Finan­
                                                              verdienen“
zierung bis zum Teamaufbau. Ein halbes Jahr lang bin ich
von Pitch zu Pitch gefahren und habe ein Netzwerk auf­        Designtoasty, Werbeagentur
gebaut, Ende 2014 habe ich Investoren gefunden. Als dann
die erste Charge vom Fließband lief und ich nach so vielen    für Webdesign
schlaflosen Nächten das Produkt in Händen hielt, hat sich
das angefühlt wie Vater-Werden.
      Anfangs neigte ich dazu, alles selbst zu machen, aber   Patrik Phan, 20, Dresden:
ich bin weder der beste Ingenieur noch der beste Designer.    „Schon in der Grundschule habe ich angefangen, Blogs und      Gefühlt habe ich vier verschiedene Berufe: Ich bin Unter­
Meine Rolle ist es, den Experten zu ermöglichen, ihre         Websites im Internet zu erstellen. Zuerst mit Homepage­       nehmer, studiere Medieninformatik, leite als Tutor einen
Arbeit zu machen, und ihnen zu vertrauen. Als Gründer         Baukästen und kostenlosen Diensten – das Programmieren        Programmierkurs und bin Werkstudent bei einer Werbe­
braucht man vor allem Passion, alles andere ergibt sich       habe ich durch Ausprobieren gelernt. Die Seiten waren aus     agentur. Da spielt Zeitmanagement eine große Rolle.
daraus. Zweifeln gehört dazu, das ist ein Dauer­zustand –     heutiger Sicht ganz verrückt und bunt, das Wissen über              2015 habe ich eine eigene App rausgebracht: einen di­
man folgt ja niemandem, sondern gibt den Weg selbst vor.      Typografie und Gestaltung kam erst später dazu.               gitalen Schülerkalender. Jetzt suche ich Investoren, um das
Unser Weg geht hin zu schwarzen Zahlen – aber es gab               Irgendwann habe ich gemerkt, dass man damit auch         Projekt auszubauen und als Startup auszugliedern. Klar über-
Momente, in denen ich dachte, dass ich erledigt bin. Da       Geld verdienen kann, und mich mit dem Thema Existenz­         legt man auch mal, wie es wäre, sich wie ein normaler Stu­
hilft nur: Augen zu und weitermachen! Vion ist für mich       gründung auseinandergesetzt. Weil ich damals erst 14 war,     dent einfach mal zurückzulehnen – aber am Ende des Tages
die beste Schule des Lebens.“                                 musste ich beim Amtsgericht einen Antrag stellen – nach       blickt man stolz zurück und merkt, dass es ein tolles Privileg
                                                              zwei Jahren lag dann die Genehmigung zur Unterneh­            ist, mit seiner Leidenschaft eigenes Geld zu verdienen und
                                                              mensgründung im Briefkasten. Da habe ich realisiert, dass     an Projekten mitzuwirken, die Anklang finden.“
                                                              ich nicht nur Freunde und Familie von meinen Zielen und
                                                              Ideen überzeugt habe, sondern auch die Behörden.
Finn Plotz (22) vor seinem Büro in der Hamburger                   Seitdem entwerfe ich in meiner Werbeagentur Design­
Speicherstadt. Seine Universalfernbedienung                   toasty Websites, Flyer und Visitenkarten. Ich bin quasi mit
„Vion“ wird inzwischen von einem großen                       dem Unternehmen aufgewachsen – so habe ich gelernt,
deutschen Elektronikhändler vertrieben.                       selbstständig zu sein, und bin selbstbewusster geworden.

                                                                                                                                                                             WIRTSCHAFT      7
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
„Coole Sachen
                                                                   tionbestand, habe ich sie an den Geschäftsführer des Ver­
                                                                   eins ,Gemeinsam Leben Lernen‘ geschickt. Der hat gesagt:
                                                                   ,Das ist eine großartige Idee – ich gebe dir zehn Minuten,
    müssen verbreitet                                              um sie bei der nächsten Fachtagung zu präsentieren.‘
                                                                         Das war ein wichtiger Schritt, durch den ich viele

    werden“                                                        Rückmeldungen bekommen habe. Als Gründer muss man
                                                                   auf zwei Ebenen reflektieren. Zum einen geht es um die
                                                                   Zielgruppe: Ist die Sache, die ich mache, wirklich sinnvoll?
                                                                   Zum anderen geht’s um die persönliche Ebene: Taugt mir
    „Wohn:Sinn“, Plattform für                                     die Art, wie ich arbeite, oder brauche ich eher feste Struk­
    inklusive Wohngemeinschaften                                   turen? Sich jeden Tag zu motivieren und an dem Projekt zu
                                                                   arbeiten ist eine Herausforderung, gerade weil es noch
                                                                   kein Geld abwirft.
                                                                         Aber ich habe den Vorteil, dass ich selbst in einer
    Tobias Polsfuß, 24, München:                                   inklusiven WG wohne und jeden Tag merke, wie sich die
    „Wenn ich auf Unipartys erzählt habe, dass ich in einer WG     Arbeit lohnt. Für die Zukunft stelle ich mir ein Bündnis für
    mit behinderten Menschen lebe, haben fast alle gesagt:         inklusives Wohnen vor, mit einem Förderprogramm, das
    ,Das klingt ja cool – davon habe ich noch nie gehört!‘ Also    vier oder fünf Projekte im Jahr begleitet. Irgendwann soll
    dachte ich mir: Coole Sachen müssen verbreitet werden. So      es überall inklusive WGs geben, die ganz unterschiedlich
    entstand vor drei Jahren die Idee zu „Wohn:Sinn“, einer        aussehen können.“
    Plattform für inklusive Wohngemeinschaften.
          Seit einem Jahr ist die Website online, die ich im Mo­
    ment ehrenamtlich neben meinem Masterstudium betreibe.
    Um das Projekt bekannt zu machen, halte ich freiberuflich                              Youtuber treffen junge Gründer:
    Vorträge, aber noch steckt „Wohn:Sinn“ in den Kinder­                                  in der neuen Video-Serie
    schuhen – es geht viel um strategische Arbeit: Förderan­                               „selbst & ständig – Gründen bis 25“.
    träge schreiben, Leute ansprechen, Businessplan erstellen.                             Jetzt reinklicken bei Facebook unter
    Als die Idee nur aus einer 15-seitigen PowerPoint-Präsenta­                            facebook.com/selbstundstaendigDE

       Tobias Polsfuß (24; 3. v. l.)
       wohnt in einer inklusiven WG.
       Mit der Online-Plattform
       „Wohn:Sinn“ bringt er Menschen
       für das Konzept des inklusiven
       Wohnens zusammen.

8   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                         9
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
„DRANBLEIBEN, NICHT                                                         Wenn Sie nur einen Tipp für junge
                                                                            Gründer hätten – welcher wäre das?
                                                                            Seine Zielgruppe genau zu kennen
                                                                            und zu versuchen, seine Lieblings­
                                                                                                                       Ist es nicht schwer, eine ganze
                                                                                                                       ­Region unter einen Hut zu bringen?
                                                                                                                        Der Drang nach Austausch war da – ich
                                                                                                                        bin auf offene Ohren gestoßen. Es ist
                                                                                                                                                                       einem Kunden zu zeigen, wie eine Zu­
                                                                                                                                                                       sammenarbeit aussehen könnte, veran­
                                                                                                                                                                       staltet ein Big-Data-Startup aus dem
                                                                                                                                                                       Ruhrgebiet beispielsweise Hackathons.

ENTMUTIGEN LASSEN!“
                                                                            kunden zu erreichen. Ein Gründer            wichtig, dass die Initiative von der Basis     Das sind Veranstaltungen, auf denen
                                                                            nimmt anfangs jeden Auftrag an und          kommt. Wer in der Szene verankert ist,         gemeinsam nützliche Softwarelösun­
                                                                            hat dann oft Kunden, mit denen eine         engagiert sich langfristig. So hat sich        gen entwickelt werden. Ein potenzieller
                                                                            Zusammenarbeit schwierig ist. Des­          der Prozess verselbstständigt. Die Leute       Kunde formuliert ein Problem, das er in
                                                                            halb sollte man sich zunächst genau         lernen sich kennen, gehen auch in die          seinem Unternehmen hat, und das
                                                                            überlegen: Mit welchen Kunden               Nachbarstädte. Schließlich wurden wir          Startup erarbeitet gemeinsam mit zwei
                                                                            möchte ich arbeiten? Und mit wel­           von „offizieller“ Seite und großen Un­         anderen eine Lösung. Eine kreative
                             Interview ELKE SCHULZE
                                                                            chen nicht? Die Zielgruppe engt sich        ternehmen wahrgenommen. Auch die               Herangehensweise, wie ich finde.
                                                                            ein – aber das ist wichtig.                 Unis gehören zum Netzwerk. Das hat
                                                                                                                        sich so richtig aber alles erst in den letz­   Wie ist es dabei um die Solidarität
                                Wenn irgendwo im Ruhrgebiet eine            Sie gelten als „Gründer-Queen“              ten zwei bis drei Jahren entwickelt.           bestellt? Entsteht keine Konkurrenz?
                                                                            des Ruhrgebiets. Schmeichelt Ihnen                                                         Ein faires und solidarisches Klima ent­
                                Veranstaltung für Startups                  dieser Titel?                              Woher kam die Schubkraft?                       steht, wenn man offen und ehrlich
                                statt­findet, ist C
                                                  ­ armen Radeck            Ich habe tatsächlich ein bisschen          Partner wie zum Beispiel der Initiativ­         miteinander umgeht und wenn man
                                                                            meine Berufung gefunden. Obwohl es         kreis Ruhr, in dem die 70 größten Un­           vor allem bereit ist, seine Erfahrungen
                             nicht weit. Der Texterin, Journalistin         ­anfangs gar nicht mein Ansinnen war,      ternehmen der Region vernetzt sind,             und Learnings miteinander zu teilen.
                                                                             die Gründerszene hier mitzugestal­
                             und Bloggerin ist es gelungen, dort             ten. Ich wollte über Startups berich­                                                     Ihr Blog ist sehr erfolgreich. Wie
                             eine Gründerszene aufzubauen.                   ten und fragte mich, wieso es hier so
                                                                             wenige gibt.
                                                                                                                         „Der Drang                                    setzt man Social Media richtig ein?
                                                                                                                                                                       Im Blog kann ich meine Fähigkeiten
                             Dabei hat sie viel Zeit und Herzblut
                                                                            Haben Sie es herausgefunden?
                                                                                                                         nach Austausch                                zeigen und mich bekannt machen. Es
                                                                                                                                                                       muss aber nicht immer ein Blog sein.
                             ­investiert. Inzwischen wird                   Es liegt vor allem daran, dass die ein­      war da“                                       Wer lieber frei spricht, dreht ein Video
                                                                            zelnen Städte hauptsächlich für sich                                                       oder nimmt einen Podcast auf. Wichtig
                              auf zahlreichen Veranstaltungen               arbeiten, ohne den Blick über den                                                          ist es, authentisch zu sein, nicht per­
                              ­genetzwerkt und zusammen­                    ­Tellerrand zu heben und das Ruhrge­       ermöglichen die Umsetzung größerer              fekt. Mein Rezept lautet: immer die Pro­
                                                                             biet als Region zu sehen. Da fehlte der   Projekte wie beispielsweise die Veran­          bleme der Zielgruppe vor Augen haben.
                               gearbeitet. Denn Erfahrungen                  Austausch. Außerdem kam wenig Ini­        staltung des „Ruhr Summits“ als erster          Sie müssen sich in meinen Inhalten wi­
                                                                             tiative von Gründern – also der Basis     großer Startup-Konferenz im Ruhrge­             derspiegeln.
                               müssen geteilt werden. Ein                    selbst. Deshalb habe ich zusammen         biet. Und zwar vor allem mit finanziel­               Ich muss mir aber überlegen: Auf
                                                                             mit anderen Gründern angefangen,          ler Unterstützung und dem Netzwerk              welchen Kanälen sind meine potenziel­
                               ­Gespräch über das A und O einer              Events zu organisieren, die ruhrge­       hinter der Initiative.                          len Kunden unterwegs? Wo kann ich sie
                                funktionierenden Gründungskultur.            bietweit stattfinden. Zum Beispiel die                                                    erreichen? Das gilt auch für Pressemit­
                                                                             „Fuckup Nights“, ein Format, in dem       Welche Bedeutung hat ein Netzwerk               teilungen. Es gibt nicht die eine Mittei­
                                                                             Unternehmer von ihren Fehlschlägen        für Gründer?                                    lung für alle Medien. Ich muss mich
                                                                             berichten. Christian Lindner von der      Es ist superwichtig, denn Gründern              fragen: Wie setze ich Kommunikation
                                                                             FDP war auch schon da. Das kam un­        fehlt meistens unternehmerische                 gezielt ein? Häufig wird ein Blog ange­
                                                                             glaublich gut an und brachte hier in      Kenntnis. Sich über ein Netzwerk                fangen und dann nicht fortgeführt.
                                                                             der Region einiges ins Rollen. Man        ­austauschen zu können ist Gold wert.           Manche setzen eine Facebook-Seite auf,
                                                                             hat gemerkt, dass eine Aufbruchstim­       ­Leute zu finden, die von ihren Erfah­         setzen ein paar Posts ab – und das war’s
                               CARMEN RADECK                                 mung herrscht – dass es viele Men­          rungen berichten, hilft, Fehler zu ver­       dann. Aber Kontinuität und Aktualität
                                                                             schen gibt, die ihr eigenes Ding ma­        meiden, die andere bereits gemacht            sind wichtig!
                               Carmen Radeck hat als freie Journalistin      chen wollen.                                haben. Auch lassen sich auf diesem
                               zunächst für die „Westfälische Rundschau“                                                 Wege erste Kunden generieren – das            Noch ein Tipp zum Schluss?
                               gearbeitet. Als die Redaktion geschlossen    Was ist dann passiert?                       ist wichtig fürs Vorankommen.                 Dranbleiben, sich nicht entmutigen las-
                               wurde, musste sie sich neu orientieren.      Die stärkere Eigeninitiative der                                                           sen. Weitermachen heißt, aus Fehlern
                               Das nötige Fachwissen bekam sie weder
                                                                            Grün­
                                                                            ­    der, sich zu vernetzen, eigene        Wie helfen Startups einander?                   lernen zu können. Anfangs klappt vie-
                               in der Ausbildung zur Musikalienhändlerin
                               noch im Germanistik- und Philosophie­        Networking-Events zu veranstalten,         Beispielsweise im Vertrieb. Neue Tech­          les nicht. Das bedeutet aber nicht, blind
                               studium vermittelt. Schnell startete sie     Erfahrungen und Know-how aus­              nologien sind oft erst mal erklärungs­          loszulegen. Jeder sollte sich schon
                               eigene Projekte – ihr Blog ruhrgruender.de   zutauschen – all das hat das Zusam­        bedürftig. Das macht es Startups                fragen, was er künftig besser machen
                               legte den Grundstein für ihren Einsatz in    menwachsen einer ruhrgebietweiten          schwer, potenzielle Kunden davon zu             kann. Und dafür eignet sich der Aus­
                               der Gründerszene im Ruhrgebiet.              Gründerszene vorangetrieben.               überzeugen, ihr Produkt zu kaufen. Um           tausch über ein Netzwerk am besten.

10   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                         WIRTSCHAFT      11
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
KEIN ERGEBNIS
                                                                                                                                                                                                    Reaktion: „Sofortige Ablehnung.“ Es passte nicht in die da­
                                                                                                                                                                                                    malige „Mode“, wie Hampton es nennt. Mehrheitlich war
                                                                                                                                                                                                    man der Meinung, der Wirkstoff helfe.
                                                                                                                                                                                                          Hampton und seine Kollegen gaben auf – mit dem
                                                                                                                                                                                                    Resultat, dass das Medikament weiterhin verschrieben
                                                                                                                                                                                                    ­

     IST AUCH
                                                                                                                                                                                                    wurde. Erst als sich 1993 der Begriff „Publication Bias“ stär­
                                                                                                                                                                                                    ker zu verbreiten begann, sei er sich seiner moralischen
                                                                                                                                                                                                    Verantwortung bewusst geworden. Und plötzlich waren
                                                                                                                                                                                                    auch die Journals offener. Die Studie erschien mit 13 Jah­
                                                                                                                                                                                                    ren Verspätung, was möglicherweise viele unnötige Todes­

     EIN ERGEBNIS
                                                                                                                                                                                                    fälle verursacht hat.

                                                                                                                                                                                                    Auch Fehlschläge erzeugen Wissen
                                                                                                                                                                                                    Das allerdings ist umstritten: Niemand weiß, wie viele
                                                                                                                                                                                                    Menschen ursächlich deshalb gestorben sind. Und das
                                                                                                                                                                                                    zeigt eines der Hauptprobleme vieler Studien – nicht nur
     50 Prozent aller medizinischen Studien werden nicht veröffentlicht. Der                                                                                                                        aus dem medizinischen Bereich. Forscher müssen aus Kor­
     Grund: Lange glaubten Forscher, dass Experimente mit negativen Resultaten                                                                                                                      relationen auf Kausalitäten schließen, was häufig unmög­
                                                                                                                                                                                                    lich ist. Die Probanden der Herzmedikament-Studie waren
     nicht interessant seien. Dabei können andere viel aus ihnen lernen.                                                                                                                            schwer kranke Menschen. Sie konnten auch schlicht an ih­
                                                                                                                                                                                                    rer Krankheit gestorben sein. Zumal es viele Studien gab,
     Von EVA WOLFANGEL                                                                                                                                                                              die diesen Zusammenhang nicht feststellten – eventuell
                                                                                                                                                                                                    auch, weil sie den Fokus nicht darauf gerichtet hatten.
                                                                                                                                                                                                           Ähnliche Schwierigkeiten, die wissenschaftliche
                                                                                                                                                                                                    Wahrheit zu finden, gibt es in der Psychologie und der Er­
                                                                                                                                                                                                    nährungswissenschaft. Oft ist es kaum möglich, den kau­
                                                                                                                                                                                                    salen Zusammenhang zwischen zwei Beobachtungen zu
                                                                                                                                                                                                    identifizieren. Deshalb gibt es genauso viele „Kaffee ist ge­
                                                                                                                                                                                                    sund“-Studien wie solche, die das Gegenteil zu beweisen
                                                                                                                                                                                                    scheinen. Und die Psychologie durchlebt derzeit eine ihrer
                                                                                                                                                                                                    größten Krisen, weil sich immer wieder herausstellt, dass

     E
                                                                                                                                                                                                    sich einige ihrer Schlüsselstudien nicht wiederholen las­
           s war ein reiner Zufall, der Christian Pfeffer vor        nichts wert ist. Pfeffer war überzeugt genug, seine Idee den­   Interesse haben und nur das veröffentlichen, was ihnen         sen. So hatte der Psychologe Fritz Strack in den 1980er-Jah­
           15 Jahren viel Zeit sparte. Als der junge deutsche Bio­   noch weiterzuverfolgen. Er gründete das „Journal of Negati­     nutzt. „Sense About Science“ setzt sich dafür ein, dass alle   ren einen Zusammenhang zwischen Mimik und Emotion
           mediziner damals mit einem Kollegen in den USA            ve Results in BioMedicine“ – und war damit ein Pionier.         Studien publiziert werden.                                     nachgewiesen. Menschen, deren Lachmuskeln durch einen
           über sein aktuelles Experiment sprach, in dessen          „Wir haben natürlich viele kritische Fragen bekommen“,                                                                         Trick aktiviert wurden, fühlten sich offensichtlich unmit­
     Rahmen er versuchte, die Funktionen eines Proteins              schrieb Pfeffer in der ersten Ausgabe. Fragen wie „Verschafft   Transparenz kann Leben retten                                  telbar besser. Wirkten die Lachmuskeln also auf die Stim­
     genauer aufzuschlüsseln, winkte dieser ab: „Vergiss es, das     das nicht meinen Wettbewerbern einen Vorteil, wenn ich                                                                         mung? Lange galt das als gesichert – bis kürzlich diverse
     funktioniert nicht – ich habe es schon versucht.“ Pfeffer       solche Informationen publiziere?“ oder „Wie wollt ihr ver­      Das Schlagwort des „Publication Bias“ ist in der Forschungs­   Teams das Experiment nachstellten und den Effekt nicht
     war baff. Er kannte sich gut aus in seinem Forschungs­          meiden, schlechte Wissenschaft zu publizieren?“.                welt schon seit etwa 30 Jahren bekannt. Es besagt, dass die    oder nur sehr schwach bestätigen konnten.
     gebiet, er hatte selbstverständlich den Forschungsstand                Die Vorurteile saßen tief, doch Menschen wie Pfeffer     Sicht auf die Forschung dadurch verzerrt ist, welche Ergeb­           Doch auch hier hilft es, Versuche mit einem negativen Er­
     recherchiert, bevor er sein Experiment startete – doch von      ist es gelungen, eine kleine Revolution auszulösen. Seither     nisse bereits veröffentlicht wurden. Als bilde das, was ver­   gebnis zu veröffentlichen, damit andere daraus lernen können,
     dem Versuch seines Kollegen wusste er nichts. Aus einem         sind immer mehr Journale entstanden, die sich dieser Auf­       öffentlicht ist, die wissenschaftliche Wahrheit ab. Dabei      sagt Síle Lane: „Mehr Informationen über misslungene Studien
     naheliegenden Grund: Es war nicht üblich, negative For­         gabe verschreiben – und die damit vermitteln, dass auch         fehlen – in der Medizin – 50 Prozent der Erkenntnisse. Wä­     bringen auch mehr Wissen mit sich, wie man es besser machen
     schungsergebnisse zu publizieren. Ohne diese Begegnung          negative Ergebnisse für die Wissenschaft wichtig sind.          re dieser Begriff schon 1980 verbreitet gewesen, er hätte      kann.“ Bereits 2009 versuchten Paul Glasziou und Ian Chal­
     am Rande einer Konferenz hätte er einen aufwendigen Ver­               Dabei sei das Wort „negativ“ missverständlich, stellt    womöglich Leben gerettet. Damals fiel Forschern um John        mers von der australischen Bond University, den Schaden zu
     such wiederholt, der bereits einmal gescheitert war.            Pfeffers Mitherausgeber Bjorn Olsen von der Harvard Me­         Hampton, der heute an der University of Nottingham tätig       beziffern, der dadurch entsteht. Die beiden Mediziner kamen
                                                                     dical School richtig: „Schließlich ist es nicht negativ, wenn   ist, in einer Studie erstmals auf, dass ein bekannter Wirk­    auf 85 Prozent „verschwendete Forschung“, allein im Gesund­
     Keine Angst vor negativen Resultaten                            ein Experiment nicht das erwartete Ergebnis erbringt“, sagt     stoff gegen Herzstillstand nicht wirkte. Im Gegenteil: Bei     heitsbereich. In ihre Rechnung flossen die Kosten für durch­
                                                                     er. Síle Lane von der Initiative „Sense About Science“ bestä­   jenen, die damit behandelt wurden, gab es mehr Todesfälle      geführte, aber nicht veröffentlichte Studien ebenso ein wie je­
     So entstand seine Idee, ein Journal zu gründen, das aus­        tigt das. Lange Zeit sei Wissenschaftlern nicht bewusst ge­     als in der Kontrollgruppe. Doch das widersprach der dama­      ne, die durch die wiederholten gleichen Fehler entstehen. „Nur
     schließlich solche ergebnislosen Experimente publiziert.        wesen, dass auch das Scheitern der eigenen Studie der Er­       ligen Theorie, nach der dieser Wirkstoff Leben rettete, in­    ein paar Prozent des aktuellen Budgets könnten dafür genutzt
     Etablierte Professoren rieten dem jungen Forscher ab, dafür     kenntnis diene. „Das hat dazu geführt, dass 50 Prozent aller    dem er einen Herzstillstand verhinderte. „Wir versuchten,      ­werden, solche verlorene oder schlecht dokumentierte For­
     gebe es sicherlich keinen Bedarf. Zu tief war in der For­       medizinischen Studien nicht veröffentlicht werden.“ Zum         unsere Ergebnisse zu veröffentlichen“, erinnert sich Hamp­      schung aufzuspüren“, schreiben die Forscher 2016 in ihrem
     schungskultur verankert, dass kein Ergebnis eben auch           Teil auch, weil Pharmaunternehmen ein kommerzielles             ton. Doch von allen Fachjournalen erhielten sie die gleiche     Blog. Bezahlt machen würde es sich um ein Vielfaches.

12   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                                                                 NATURWISSENSCHAFTEN         13
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
Nicht jeder muss
     STUDIEREN
     Immer mehr Schüler machen Abitur, immer mehr Abiturienten
     studieren. Dabei ist das Studium nicht für jeden der richtige Weg in den
     Beruf. Eine Ausbildung kann eine sehr gute Alternative sein.
     Von ALEXANDRA WOLTERS

     M
                 it derben Arbeitsschuhen steht Leon Hald im       wollte, bewarb sich Hald Anfang der zwölften Klasse für
                 Blaumann an der Fräsmaschine. Seine Hände         eine Ausbildung bei Lewa.
                 hat er auf den Werktisch gestützt, seine Augen          Den Vertrag hatte er Weihnachten in der Tasche –
                 folgen den schnellen Bewegungen der Fräse,        noch vor seinem bestandenen Abitur. Und lange bevor
     die sich in ein dickes Stück Metall bohrt. Es brummt und      viele andere aus seiner Stufe überhaupt eine Ahnung von
     surrt, aber nicht lauter als beim Zahnarzt. Einen Lärm­       ihrer beruflichen Zukunft hatten. „Fast die Hälfte meiner
     schutz tragen die wenigsten in der Ausbildungswerkstatt       Klasse hat nach dem Abi ein Jahr lang mehr oder weniger
     des Pumpenherstellers Lewa im baden-württembergischen         nichts Konkretes gemacht. Sie sind gereist, haben viel­
                                                                   leicht ein wenig gearbeitet“, erzählt der Stuttgarter, weder
                                                                   abfällig noch neidisch. Insgesamt, so schätzt er, studiert
         „Ich hatte vom                                           jetzt der Großteil seiner Stufe. „Wenn man sein Abitur
                                                                   geschafft hat, sollte man auch studieren – so wird das von
           theoretischen Lernen                                    vielen gesehen.“ Nach Halds Erfahrung wird eine Aus­
                                                                   bildung oft als minderwertig dargestellt, oder sie führt zu
           die Nase voll“                                          Fragen und Vorurteilen wie: „Warum studierst du denn
                                                                   nicht? Ohne Studium hast du doch später kaum Karriere­
           Leon Hald, Auszubildender                               chancen und verdienst viel weniger Geld.“

                                                                   Trend zur Akademisierung
     Leonberg. „Die modernen computergesteuerten Maschi­
     nen sind längst nicht mehr so laut wie die alten Fräsen und   Nicht nur in Leon Halds Stufe haben sich die meisten für
     Drehbänke“, erklärt der groß gewachsene 19-Jährige.           ein Studium entschieden. 2015 fingen fast 60 Prozent aller
           Hald macht eine Lehre zum Industriemechaniker –         Schulabgänger in Deutschland an zu studieren, vor zehn
     und ist damit hochzufrieden. „Ende der elften Klasse habe     Jahren lag die Quote noch bei etwa 37 Prozent. Handwerk,
     ich angefangen, nachzudenken, was ich später mal machen       Handel und Industrie schlagen inzwischen Alarm, denn
     möchte“, erzählt der ehemalige G8-Gymnasiast. „Mein           diese Zahlen bedeuten auch einen Verlust an dringend be­
     Notendurchschnitt war wirklich nicht der Hit. Und ich         nötigtem Nachwuchs: Im gleichen Zeitraum ging die Zahl
     hatte, ehrlich gesagt, vom theoretischen Lernen die Nase      der neuen Auszubildenden um etwa 20 Prozent zurück.
     voll.“ Da er gern etwas Handwerkliches mit Metall machen      2016 gab es in Deutschland fast ebenso viele S­ tudien-

14   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                        THEMA XXXXXXXXXXXX   15
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
anfänger wie neue Auszubildende. Der Trend zum Studium       bildung plus Abitur) oder das Triale Studium (Lehre,
     und die demografische Entwicklung haben zur Folge, dass      Meisterbrief und Bachelorabschluss im Handwerks­
                                                                  ­
     viele Lehrstellen unbesetzt bleiben. Im vergangenen Jahr     management).
     waren es bundesweit laut Berufsbildungsbericht des Bun­           Geht es um die Verdienstmöglichkeiten, hat die Aus­
     desministeriums für Bildung und Forschung etwa 43.000.       bildung erst mal einen Vorteil gegenüber dem Stu­dium,
           „Uns geht der Nachwuchs aus“, warnt Eric Schweit­      findet Leon Hald. Der Lehrling weiß aber nicht nur sein
     zer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handels­         Gehalt zu schätzen, sondern auch die vielen praktischen
     kammertags (DIHK). Der bereits bestehende und sich           Erfahrungen, schnellen Erfolgserlebnisse und die ge­
     verschärfende Fachkräftemangel sei eine gefährliche
     ­                                                            regelten Arbeitszeiten: „Ich muss in meiner freien Zeit
     Entwicklung für die gesamte Gesellschaft. „Fehlende          nichts Großartiges lernen oder Hausarbeiten schreiben.“
     Fachkräfte bedeuten weniger Wachstum und Wohlstand.“
     Mit Beunruhigung beobachtet auch der Präsident des           Vom Studienabbrecher zum Lehrling
     Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans
     Peter Wollseifer, die Entwicklung: „Es wird für unsere       Halds Kollege Andreas Kübler kennt ebenfalls die Vorteile
     Handwerksbetriebe immer schwieriger, junge Leute für         einer Ausbildung. Der Auszubildende hatte sich nach
     eine Ausbildung zu gewinnen.“                                seinem Abitur zunächst für ein Studium der Luft- und
                                                                  Raumfahrttechnik entschieden. „Aber nach drei Semes­
     Ausbildung ist besser als ihr aktueller Ruf                  tern musste ich einsehen, dass das nichts für mich ist. Ich
                                                                  bin halt doch ein eher praktischer Typ, der weniger auf
     Warum möchten immer mehr Schüler studieren? Ein              Prüfungsstress und Theorie steht.“ Von seinem Studien­
     Grund liegt laut Wollseifer in der erfolgreichen staat­      abbruch waren Küblers Eltern nicht gerade begeistert.
     lichen Förderung von Abitur und Studium. Nach dem            Frank Schwarz, Ausbildungsleiter bei Lewa, konnte den
     schlechten Abschneiden deutscher Schüler in der PISA-­       Schritt des Ex-Studenten hingegen gut verstehen. „Nicht
     Studie 2001 hieß es in der Bildungspolitik: Wir brauchen     jeder gehört in den Hörsaal oder auf ein Gymna­sium. Die­
     mehr Abiturienten und Studierende. Nun müsse bei der         se Erkenntnis verdient auch Respekt.“
     dualen Ausbildung nachgezogen und investiert werden,               Studienabbrecher wie der 26-jährige Kübler sind bei
     fordert der ZDH-Präsident. „Berufliche und akademische       dem Ausbildungsleiter gern gesehen. „Sie bringen oft schon

                                                                                                                                 KEIN
     Bildung müssen in unserer Gesellschaft wieder den            viel theoretische Erfahrung mit.“ Mit dieser Meinung
     gleichen Stellenwert bekommen.“                              steht er nicht allein da. Bundesweit bemühen sich Aus­
          Um das zu erreichen, braucht es Aufklärungsarbeit.      bildungsbetriebe aktiv um die große Zahl der Studien­

                                                                                                                                 SPIELZEUG
     Zum Beispiel bei der Frage nach dem Geld. Es sei ein         abbrecher. Derzeit steigt fast jeder dritte Studienan­fänger
     schiefes Bild, sagt Wollseifer, dass Akademiker im Schnitt   in den ersten Semestern wieder aus. In vielen Groß­
     ein höheres Gehalt hätten. „Bachelorabsolventen und          städten bieten Industrie- und Handels- sowie Hand­
     Handwerksmeister verdienen in ihrem Berufsleben an­          werkskammern mittlerweile spezielle Anlaufstellen zur
     nähernd das Gleiche.“ Das Institut für Arbeitsmarkt- und     Vermittlung von Studienabbrechern an. In Hamburg küm-          Neues Schülerforschungs­zentrum
     Berufsforschung hat in einer Studie 2016 belegt, dass es
     beim Verdienst nicht primär um den Abschluss, sondern
                                                                  mert sich seit dem Sommer „shift“ um die Aussteiger, ein
                                                                  von Senat, Wirtschaft und Hochschulen gebildetes
                                                                                                                                 in Hamburg
     um den Beruf geht. Manche Uni-Absolventen, zum               Netzwerk, das mit vereinten Kräften Studienaus­steiger
                                                                  und -zweifler berät und bei Interesse in eine Ausbildung       Was hier noch in der Umzugskiste steckt, wird mal
                                                                  vermittelt. „Das Wichtigste ist doch, dass j­unge Men­         eine Murmelbahn. Seit September ist sie im neuen
                                                                  schen eine für sie passende berufliche Quali­      fizierung   Schüler­forschungszentrum Hamburg zu Hause. Dort
         „Ich bin halt doch ein                                  ­finden“, sagt „shift“-Projektleiterin Annegret Witt-Bart­
                                                                   hel. Angesichts der Vielzahl an Studiengängen, Ausbil­
                                                                                                                                 können Kinder und Jugendliche ab Klasse 5 selbst­
                                                                                                                                 ständig in den MINT-­Fächern forschen und experimen-
           eher praktischer Typ“                                  dungsberufen und Qualifizierungsmöglichkeiten sei es
                                                                   für viele häufig schwierig, ohne umfassende und mög­
                                                                                                                                 tieren. Zum Beispiel im Labor, in der Elektronik-Ecke,
                                                                                                                                 am ­3-D-Drucker – oder eben mit der guten alten
           Andreas Kübler, Auszubildender                         lichst individuelle Berufsberatung einen Überblick zu be­     Murmelbahn. Mehr erfahren unter: sfz-hamburg.de
                                                                   kommen und die richtige Wahl zu treffen.
                                                                        Leon Hald hat die Fräse abgeschaltet, den Computer
     ­ eispiel aus den Geisteswissenschaften, werden später
     B                                                             heruntergefahren. Was er nach seiner dreijährigen Aus­
     schlechter bezahlt als manche Facharbeiter aus der            bildung machen möchte, weiß er noch nicht genau. Ihm
     IT-Branche. Außerdem müsse in der Berufsberatung und          stehen viele Türen offen: Er könnte seinen Meister ma­
     auch vonseiten der Lehrer stärker in alle Richtungen in­      chen, berufsbegleitend studieren, Berufserfahrungen im
     formiert werden. Viele Schüler wüssten einfach zu wenig       Ausland sammeln oder sich später selbstständig machen.
     über ihre Möglichkeiten, denn neben einer dualen Aus­         „Eigentlich ist es entscheidend, etwas zu finden, das man
     bildung gibt es auch noch das Berufsabitur (duale Aus­        wirklich gern macht – und zwar ziemlich lang.“

16   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                17
AUFBRÜCHE - MACHEN - DAS BILDUNGSMAGAZIN - Joachim Herz Stiftung
„Alassane“, „AJ“, „Redchild“ … – das     schaftsgymnasium gegangen, von da

„MAN MUSS
                                          Internet spuckt viele Namen aus,         auf das nächste Wirtschaftsgymna­
                                          wenn man Sie googelt. Wie möchten        sium. Man kann wohl sagen, dass ich
                                          Sie angesprochen werden?                 keine wirkliche Affinität zum deut­

RAUSGEHEN UND
                                          Alassane Jensen ist mein Name. So        schen Schulsystem hatte.
                                          kann mich auch jeder nennen. Der
                                          Name kommt aus Benin und wurde           Was war der Haken?

ES EINFACH
                                          aus dem Arabischen ins Französische      Individualität spielt keine Rolle. Es
                                          übernommen. „AJ“ ist nur für Leute,      werden Maßstäbe angelegt, die für die
                                          die sich das nicht merken können.        reale Welt draußen keine Relevanz

AUSPROBIEREN“
                                                                                   haben. Eine Vier in Deutsch sagt nichts
                                          Und „Redchild“?                          darüber aus, ob ich mit dieser Sprache
                                          Irgendwann habe ich angefangen,          umgehen kann oder nicht. Die Note
                                          Beats zu bauen. In meinem Programm       zeigt nur: Wie fleißig bist du im Umfeld
                                          gibt es einen Color Code. Wenn ich die   Schule? Ich hatte immer eine Vier oder
Früher hatte Alassane Jensen eine         einzelnen Elemente benenne, dann         eine Fünf im Zeugnis – und gebe heute
                                          steht Rot für den Beat, und mit dem      Workshops an Schulen im Bereich
Vier in Deutsch. Heute beschäftigt sich   Beat spiele ich am meisten rum. Des­     Krea­tives Schreiben. Das ist für mich
                                          wegen „Redchild“.                        schon ein kleiner Widerspruch.
der Hamburger Musiker beruflich
mit S­ prache, gibt Rap-Workshops und     Wenn Sie eher spielerisch an eine        Wie haben Sie Ihre Musikalität ent-
                                          Sache rangehen: Wie ist dann Ihre        deckt? Wohl nicht in der Schule …?
Kurse in Kreativem Schreiben.             Schulkarriere verlaufen?                 Durch Neugierde. Musik ist etwas, das
                                          Sagen wir mal: wechselhaft. Ich bin      man ganz von selbst entdecken kann.
Hip-Hop ist für ihn der ideale Weg, der   sehr, sehr viel angeeckt, weil ich       Ich reagiere auf Klänge. Ich drücke
eigenen Stimme Gehör zu verschaffen.      keinen Zugang zum Konzept Schule
                                          gefunden habe. Ich habe die siebte
                                                                                   eine Taste auf einem Klavier, bin faszi­
                                                                                   niert vom Sound, ich drücke mehrere
                                          Klasse wiederholt, bin dann weiter bis   Tasten, merke, es passiert etwas ande­
Interview SABINE COLE                     in die Neunte gekommen, war dann         res. Ich sehe eine Trommel, ich haue
                                          angeblich nicht gut genug für die        drauf, und es klingt so … Ich haue mehr
                                          zehnte Klasse auf dem Gymnasium          am Rand, und es klingt anders. Ich
                                          und bin auf eine Realschule gewech­      ­fange an, rhythmisch zu spielen, und
                                          selt. Dann folgte ein Schuljahr in den    plötzlich hat es etwas Repetitives, und
                                          USA, danach bin ich auf ein Wirt­         es „catcht“ mich. Ich bin dann fokus­
                                                                                    siert auf diese eine Sache. Das gab’s in
                                                                                    meinem Leben ansonsten nicht so
                                             ALASSANE JENSEN                        häufig: dass ich mich richtig auf eine
                                                                                    Sache konzentriert habe.
                                            aka „Redchild“, gilt als einer der
                                            besten Freestyle-Rapper in Hamburg.    Und wie kamen Sie zum Hip-Hop?
                                            Seit 2009 unterrichtet er an der       Als ich sieben war, hat mir mein Nach­
                                            „HipHop Academy“ in Billstedt und      bar eine Kassette geschenkt. Darauf war
                                            gibt Workshops an Schulen in Europa    ein Rap-Track, der mich richtig faszi­
                                            und den USA, um Jugendlichen           niert hat: „1, 2, 3, Rhymes Galore (From
                                            die Ausdrucksmöglichkeiten des         New York to Germany)“ von DJ TO­
                                            Hip-Hop zu vermitteln. Alassane        MEKK featuring Afrob, MC Rene, Flava
                                            ist Sounddesigner, Producer und
                                                                                   Flav, Jazzy Jeff. Später habe ich mich
                                            Musiker. Seine Debüt-EP „Sprach-
                                            gesang“ veröffentlichte er Ende Juli   intensiver mit Hip-Hop auseinanderge­
                                            2017. Das aktuelle Video „Warten       setzt – vor allem mit deutschem. Mit 14
                                            auf den Regen“ erschien zeitgleich     habe ich angefangen, Texte zu schrei­
                                            zum Digital Release auf redchild.de    ben, auf Klassenfahrt im Reisebus, zu­
                                            im „Juice“-Magazin unter juice.de.     sammen mit zwei anderen Jungs.

18                                                                                               PERSÖNLICHKEITSBILDUNG        19
LOKALE
     Auf Englisch oder auf Deutsch?            Unter anderem unterrichten Sie             lich wäre die logische Schlussfolge­
     Beides. Ich habe mir da nie ein Sprach­   heute Kinder und Jugendliche in der        rung: „Ich bin, also tue ich.“ Aber die                                                                                    Robert Hamza,
     korsett gegeben.                          „HipHop Academy“ im Hamburger              wenigsten wissen, was sie eigentlich                                                                                       Teilnehmer am
                                               Stadtteil Billstedt. Früher haben Sie      tun sollen. Die Eltern, die Gesellschaft,                                                                                  MUT-Camp und
     Wann trauten Sie sich das erste Mal                                                                                                                                                                             Schüler der
                                               dort selbst am Sommercamp                  die Schule, alle reden einem rein: Du
                                                                                                                                                                                                                     Stadtteilschule
     zum Rappen ans Mikro?                     teil­genommen. Inwiefern war das           brauchst Abitur. Du musst studieren.

                                                                                                                                       HELDEN
                                                                                                                                                                                                                     Süderelbe
     So richtig mit 18. Als ich aus den USA    wichtig für Sie?                           Du musst eine Ausbildung machen.
     wiederkam, habe ich aktiv bei Battles     Die Organisatoren der Academy holen        Die Menschen sind sehr individuell.
     mitgemacht. Einmal pro Woche gab es       sich verschiedene Repräsentanten aus       Wenn man sie so präkonditioniert,
     in der Schanze (Hamburger Schanzen­       der Szene ins Haus, die Kurse geben        kann es sein, dass sie einen Lebensweg
     viertel, Anm. d. Red.) im Haus 73 die     und eben auch ein Sommercamp ver­          einschlagen, der gar nicht für sie ge­
     Freestyle-Session „The Bench“. Ich war    anstalten. Dort treffen sich junge Leute   macht ist. Jeder Mensch hat etwas in
     jeden Donnerstag da. Nach meinem          zwischen 13 und 22 und erarbeiten          sich. Und er wird nur herausfinden,
     Football-Training, mit Sporttasche und    zusammen Hip-Hop-Elemente: Break­          was das ist, wenn er seine eigenen
     allen Sachen. Morgens dann ohne           dance, Beats produzieren, DJing, Rap,      Leidenschaften verfolgt, ausprobiert.
     Schlaf um 7 Uhr Zähne putzen und          New Styles, andere urbane Tanzstile,       Auch Sachen, die erst mal abwegig
     direkt in die Schule fahren. Ich hatte    und alle tauschen sich aus. In der         erscheinen.
     endlich etwas gefunden, mit dem ich       „HipHop  Academy“ bekommt man
     mir Gehör verschaffen und das, was        auch Feedback zum eigenen Leistungs­       Wie war das bei Ihnen?
     ich denke und fühle, in eine Form ver­    stand. Es kann nämlich nicht wirklich      Ich habe mit Rap angefangen, bin über
                                                                                                                                      Freda von
     packen konnte. Das Schöne am Hip-                                                    Rap zur Musikproduktion und darüber         der Decken,
     Hop ist, dass man von Anfang an alles                                                zu Veranstaltungen gekommen. Heute          Gründerin des
     hat, was man braucht. Man kann Mu­                                                   bin ich kein Rapper, sondern ich veran­
     sik mit dem Mund, mit den Händen,           „Wenn dein                              stalte Jam Sessions, hoste Breakdance-
                                                                                                                                      MUT-Camps,
                                                                                                                                      Neuwiedenthal
     mit der nächsten Wand machen. Oder                                                   und Hip-Hop-Battles. Ich fahre in der
     man schreibt Texte.                           höchstes Ziel im                       Weltgeschichte rum, in der Türkei, Dä­

     Hip-Hop oder Rap sagt ziemlich                Leben ist, Geld                        nemark, Amerika, und gebe Work­
                                                                                          shops in Kreativem Schreiben und Rap
     deutlich, was Sache ist. Ist
     Hip-Hop eine Jugendkultur, mit                zu verdienen,                          und unterrichte Kinder an Schulen. All
                                                                                          das ist passiert, weil ich mich mit Rap
     der man seine Wut ausdrücken
     kann?                                         hast du was                            beschäftigt habe. Das heißt: Mir hat ei­
                                                                                          ne Sache tausend Türen geöffnet, und
     Ich würde es nicht als Kultur der Wut
     darstellen wollen. Hip-Hop entstand
                                                   falsch gemacht“                        ich habe ausprobiert, was sich dahinter
                                                                                          befindet.
     in den USA der 60er- bis 70er-Jahre,
     in einem Umfeld, in dem es sehr viel                                                 Der Rapper Jay Z hat mal gesagt:
     Gewalt gab und als in der afroameri­      etwas entstehen, wenn man keine Leu­       „I’m not a businessman, I am
     kanischen Bevölkerung viel Unmut          te sieht, die besser sind. Für mich war    a business, man.“ Was raten Sie

                                                                                                                                                       „
     über die gesellschaftlichen Zustände      das zum Beispiel der Rap-Coach             Jugend­lichen, die als Berufs-
     herrschte. Die Gründer des Hip-Hop        „Spax“, eine unglaubliche Maschine im      wunsch ­„Rapper“ angeben, weil sie
     wollten eine Umgebung schaffen, in        Bereich Freestyle-Rap. Er stellt sich      auch so reich und berühmt werden

                                                                                                                                                                                               „
     der Kinder normal aufwachsen konn­        hin und fängt an, frei, ohne zu überle­    wollen wie Jay Z?
     ten und nicht direkt in eine Gang-Kul­    gen, Reime, Wortketten, Flows anein­       Wenn dein höchstes Ziel im Leben ist,
     tur gezogen wurden, die Gewalt und        anderzureihen. Und man steht da und        Geld zu verdienen, hast du was falsch
     Kriminalität fördert. Die Hip-Hop-        denkt sich: Okay, krass – wie kann ein     gemacht. Geld ist etwas, das dich in
     Kultur hält der Gesellschaft einen        Mensch ein solches Wortgeflecht kom­       die Nähe deiner Ziele bringt, es kann
     Spiegel vor: Wo sind die Missstände,      ponieren, ohne sich vorher hinzuset­       aber nicht das ultimative Ziel sein.                        Ich hatte Klassen mit Hauptschülern,
     was passiert eigentlich, und was trau­    zen mit einem Stift und einem Blatt        Wenn du das glaubst, fang noch mal                          die alle durch die Abschlussprüfung
     en sich viele Menschen gar nicht zu       und das detailliert aufzuschreiben?        von vorn an. Wenn du dich ausdrücken                        durchgefallen sind. Gerade die coolen,
     sagen? Hip-Hop ist fast schon eine                                                                                                               cleveren Jungs hatten kein Selbst-
                                                                                          und Menschen etwas mitgeben möch­
                                                                                                                                                      bewusstsein, Angst vorm Versagen,        Wenn ein Lehrer sagt: ‚Komm mal
     Art Energieumwandlung. Man nimmt          Und wie geht so was?                       test, wenn du dich selber verwirk­                                                                   nach vorne und präsentiere was.‘
                                                                                                                                                      Angst vor dem Leben nach der Schule.
     etwas, wie zum Beispiel ein negatives     Man muss rausgehen und es einfach          lichen, etwas schaffen, etwas kreieren                      Wir brauchten neuen Raum, um alles       Und du sagst: ‚Nein, ich trau mich
     Umfeld, und wandelt es in etwas Po­       ausprobieren. Es gibt ja dieses be­        willst, dann hast du den richtigen                          noch mal auf null zu setzen und zu       nicht – ich bin zu schüchtern.‘
     sitives um. In etwas, das einem selbst    rühmte Zitat: „Ich denke, also bin ich.“   Ansatz. Wenn du dann nicht weißt,                           vermitteln: Wir glauben an euch, wir     Das MUT-Camp unterstützt dich
     Energie gibt. Hip-Hop hilft, sich         Viele Leute ruhen sich darauf aus. Sie     wie das geht: Hey, willkommen im                            holen euch raus aus dem belasteten       dann. Damit du dich nicht schämen
     mündig zu machen.                         sind – aber was passiert dann? Eigent­     Club! Genau da fängt man an.                               Umfeld. Ihr könnt was!“                  musst und keine Angst mehr hast.“

20   JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                                                             21
Viktor Schulz,
            Sozialarbeiter,
            IN VIA Hamburg
            e. V., Neu­
            wiedenthal
                                                                       „
                                                       Nicht in jeder Familie werden Geschichten
                                                       vorgelesen. Die Kinder erleben beim Lesefest,
                                                       wie schön es ist, wenn vorgelesen wird.
                                                       Sie bekommen das Gefühl, dass es ganz viele
                                                       andere Sprachen auf der Welt gibt. Die
                                                       meisten wissen gar nicht, dass andere Sprachen
                                                       existieren außer ihrer eigenen und der
                                                       deutschen. So merken sie, dass sie in ihrem
                                                       Anderssein nicht allein sind.“

                                                                                                                              Cenk Coskun,
                                                                                                                              Grundschullehrer und

        „
                                                                                                                              ­interkultureller
                                Delphine Ayivon,                                                                               Koordinator, Rahlstedt
                                Nachbarschaftsmutter
                                in Rahlstedt

Ich habe früher keine
Hilfe bekommen.
Deswegen freue ich mich
so sehr, anderen Frauen
und Familien Hilfe geben
zu können.“

        „
Unsere Nachbarschafts-
                                                                                                                          „Du kannst die Kinder stark machen, wenn du sie nicht aufgibst“,
                                                                                                                          sagt Freda von ­der Decken, die das MUT-Camp für Jugendliche
                                                                                                                          erfunden hat, die den Hauptschulabschluss schaffen wollen. Sie
                                                                                                                                                                                                               „
                                                                                                                                                                                                      Die Angst vor den
                                                                                                                          ist einer von vielen Menschen, die sich in dem Hamburger Stadt-
mütter sprechen                                                                                                                                                                                       Lehrern ist für die Eltern
16 Sprachen, Arabisch,                                                                                                    teil-Projekt „heimspiel. Für Bildung“ der Joachim Herz Stiftung             das größte Problem.
Kurdisch, Twi, Ewe,                                                                                                                                                                                   Sie trauen sich nicht, uns
Dari, Farsi, Paschtu,
                                                                                                                          und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. engagieren. Damit Kinder und         anzusprechen, weil
Hindi und noch mehr.                                                                                                      Jugendliche mehr Chancen haben, ihren Bildungsweg erfolgreich               sie Angst haben, ihr Kind
Ich finde es toll zu sehen,                                                                                                                                                                           könnte dadurch Nach-
wie die Frauen nach                                                                                                       zu gehen. Die „Lokalen Helden“ kommen aus der Nachbarschaft, aus            teile haben. Ich versuche
einer Zeit miteinander                                                                                  Yukiko            Vereinen, Politik und Bildungseinrichtungen in den Stadtteilen              den Eltern Mut zu
umgehen: wie Schwes-                                                                                    Takagi-Possel,                                                                                machen und für die Leh-
tern – obwohl sie                                                                                       Projektleiterin   Neuwiedenthal, Rahlstedt und Billstedt. Sie sind seit dem 9. Oktober        rer­kollegen als gutes
manchmal unterschied­                                                                                   der „Nachbar-
                                                                                                                          in einer Fotoausstellung in der Joachim Herz Stiftung in ­Hamburg-          Beispiel voranzugehen.
licher nicht sein                                                                                       schaftsmütter“                                                                                Mit Offenheit und
könnten.“                                                                                               in Rahlstedt      Langenhorn zu sehen.                                                        einer anderen Haltung.“

22      JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                    PERSÖNLICHKEITSBILDUNG            23
Problem gemeinsam zu lösen, zerstritten sich die theore­
                                                                                                                                                                     tischen Physiker. Auf Konferenzen fielen sie einander ins
                                                                                                                                                                     Wort. Einer sprang während des Vortrags eines Kollegen
                                                                                                                                                                     auf und rief ins Publikum: „Meine Damen und Herren, die­
                                                                                                                                                                     ser Mann ist ein Lügner!“
DER SUPRA-HELD
                                                                                                                                                                           In Wahrheit aber passte damals keine der vorgeschla­
                                                                                                                                                                     genen Theorien wirklich gut. Spricht man Andrew Millis
                                                                                                                                                                     auf diese Jahre an, muss er schmunzeln und zitiert Charles
                                                                                                           ANDREW MILLIS                                             Dickens: „It was the best of times, it was the worst of times.“
                                                                                                                                                                     Millis erinnert sich daran lieber als die beste aller Zeiten.
                                                                                                           studierte Physik an der Harvard                           Über die Jahre entwickelten sich aus dem Streit verschiede­
                                                                                                           University und promovierte                                ne Denkschulen, wie die neu entdeckten Supraleiter funk­
                                                                                                           1986 am Massachusetts Institute                           tionieren. Und Millis ist mittendrin.
                                                                                                           of Technology. Seit 2001 ist                                    Dabei geht er Wege, die viele seiner Kollegen meiden.
                                                                                                           er Professor für Physik an der                            „Ich besuche gelegentlich die Labore“, sagt er. Nur um zu
                                                                                                           Columbia University. Im
                                                                                                                                                                     reden, versteht sich. „Die Kollegen versuchen dann, mich
                                                                                                           November 2017 erhält er den
                                                                                                           Hamburger Preis für Theore­tische                         tunlichst von ihren Geräten fernzuhalten“, sagt er. Die auf
                                                                                                           Physik, den die Joachim Herz                              riesige Tische montierten Laser, Spiegel und Linsen sind
                                                                                                           Stiftung in Kooperation mit dem                           sensibel gegenüber jeder unbedachten Berührung. Und
                                                                                                           Hamburg Centre for Ultrafast                              vielleicht hat sich auch Millis’ Geschichte mit dem Transis­
                                                                                                           Imaging (CUI) vergibt.                                    tor herumgesprochen. Doch die Türen öffnet man ihm
                                                                                                                                                                     trotzdem gern – denn um bei der Entwicklung der Supra­
                                                                                                                                                                     leiter gar bis zur Raumtemperatur zu kommen, muss
                                                                                                         schen Zustand bestimmter Materialien, die bei extremer      immer noch eine Temperaturdifferenz von über 200 Grad
                                                                                                         Kühlung Strom ohne Energieverluste leiten können. Die       Celsius überwunden werden. Und dazu wäre eine allum­
                                                                                                         Wissenschaftler zeigten, dass sich die Supraleitung nicht   fassende Theorie der Supraleitung sehr hilfreich.
                                                                                                         nur, wie bisher angenommen, bei unter minus 269 Grad
                                                                                                         Celsius einstellt, sondern schon bei minus 200 Grad. Die­   Auf der Suche nach der großen Theorie
                                                                                                         ser immense Temperatursprung nach oben war wenige
                                                                                                         Monate später einen Nobelpreis wert, brachte er doch ein    Ob dieser Supraleiter tatsächlich bald gefunden wird, ist
                                                                                                         ganzes Theoriegebäude ins Wanken. Denn 1957 hatten          umstritten. „Die Theoretiker behaupten immer, dass Dinge
                                                                                                         mehrere US-Physiker eigentlich mit einer schlüssigen        in der Praxis bereits funktionieren müssten“, sagt Alexan­
                                                                                                         ­Theorie erklärt, warum sich supraleitende Eigenschaften    der Lichtenstein, theoretischer Physiker an der Universität
                                                                                                          nur bei minus 269 Grad – wenige Grade über dem absoluten   Hamburg. Bisher tun sie das aber nicht. Andrew Millis
                                                                                                          Nullpunkt – zeigen. Nun sollte den Experimenten zufolge    hat Lichtenstein zufolge allerdings das Zeug dazu, mit der
                                                                                                          alles anders sein – und niemand wusste, warum.             Theorie der Hochtemperatur-Supraleiter schon bald voran­
                                                                                                                                                                     zukommen: Gemeinsam mit mehreren Kollegen konnte
                                                                                                         Vision: Supraleitung bei Raumtemperatur                     der US-Amerikaner zumindest eine von mehreren Formen
                                                                                                                                                                     der minus 200 Grad Celsius warmen Supraleitung theo­
                                                                                                         Danach stand sofort die große Vision im Raum: ein Supra­    retisch erklären – ein erster Schritt zur großen Theorie.

                                         D
                                                                                                         leiter, der bei Raumtemperatur und damit ohne jede          Außerdem ist Millis umtriebig. Seit Jahren engagiert er
   Experimente im Labor sind nicht                 ass Physik eher nicht seine Stärke ist, erfuhr        Kühlung funktioniert – ein Menschheitstraum. Ein solcher    sich für die Simons Foundation, die Millionensummen für
                                                   Andrew Millis im College: „Wenn ich zu viel elek­     verlustfreier Leiter könnte Motoren und Generatoren spar­   Theorieforschung in Mathematik und Physik ausgibt. Der­
   seine Stärke. Dennoch ist Andrew                trische Spannung auf einen Transistor gab“, erzählt   samer und kleiner machen, beispielsweise in Zügen oder      zeit baut er ein neues Institut in New York City auf, in dem
   Millis ein preisgekrönter Physiker.             er, „fing er an zu rauchen und machte ein etwas
                                         seltsames Geräusch.“ Trotzdem ist Millis heute nicht
                                                                                                         Windturbinen, und Strom über weite Strecken ohne nen­
                                                                                                         nenswerte Verluste übertragen. Das alles könnte einmal
                                                                                                                                                                     schon bald 40 theoretische Physiker an der Lösung der­
                                                                                                                                                                     artiger Probleme arbeiten sollen – eine in diesem Feld un­
   Seine Forschung schafft die           nur Physiker, sondern beschäftigt sich ausgerechnet mit         möglich sein, wenn denn die Physiker verstehen würden,      gewöhnlich große Einrichtung.
                                         Problemen, bei denen viele Elektronen durch ein Material        was genau bei solchen Hochtemperatur-Supraleitern im              Möglicherweise ergibt die neue große Theorie, dass
   ­theoretische Grundlage für neue      sausen. Doch Schaltkreise schmoren bei ihm nicht mehr.          Kristallgitter passiert.                                    Supraleiter bei Raumtemperatur auf ewig Science-Fiction
                                         Während viele seiner Kollegen die Natur mit Mikroskopen               Andrew Millis war damals ein junger Absolvent des     bleiben. Die Arbeit von Andrew Millis würde dann zu­
    Technologien, die uns allen          und Lasern ergründen, arbeitet Millis mit seinem Kopf –         Massachusetts Institute of Technology (MIT) und beobach­    nächst keine weltverändernden Technologien ermöglichen,
    das Leben erleichtern könnten.       und mit Computermodellen.
                                                Alles begann 1987 auf einer Konferenz in New York
                                                                                                         tete aufbrandende Grabenkämpfe der erfahrenen theore­
                                                                                                         tischen Kollegen. Die machten sich nämlich gleich an die
                                                                                                                                                                     sondern nur Physiklehrbücher bereichern. Doch es sind
                                                                                                                                                                     ohnehin nicht neue Technologien oder die entschärfte
                                         ­City. Damals stellten Physiker im voll besetzten Festsaal      Arbeit, um ihr wankendes Theoriegebäude zu stützen. The­    Energiekrise, die Andrew Millis antreiben: „Ich mag ein­
   Von KARL URBAN                         des „Hilton“-Hotels ihr völlig überraschendes Forschungs­      sen zur Erklärung der Supraleitung bei höheren Tempera­     fach komplizierte Probleme“, sagt er. „Und nach ein paar
                                          ergebnis vor. Es ging um die Supraleitung, einen exoti­        turen wurden vorgeschlagen und verworfen. Aber statt das    Jahren suche ich mir für gewöhnlich ein neues.“

   24     JOACHIM HERZ STIFTUNG                                                                                                                                                                            NATURWISSENSCHAFTEN         25
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