Syngentas Gift geschäfte in Brasilien - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 17 April 2019

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Syngentas Gift geschäfte in Brasilien - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 17 April 2019
PUBLIC EYE MAGAZIN
      Nr 17 April 2019

   Syngentas
­Gift­geschäfte
  in Brasilien
Syngentas Gift geschäfte in Brasilien - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 17 April 2019
EDITORIAL                                                                                                             PUBLIC EYE MAGAZIN        Nr. 17    April 2019

                                                         Syngentas Vorstellung
                                                         einer besseren Welt
                                                        «Die Zukunft nachhaltiger Landwirt-                     analysiert und festgestellt, dass Millio-
                                                        schaft.» So heisst ein Video auf dem                    nen Brasilianerinnen und Brasilianer
                                                        Youtube-Kanal von Syngenta. CEO Erik                    einem Cocktail an Pestiziden ausge-
                                                        Fyrwald beschreibt darin mit blumigen                   setzt sind, dessen gesundheitlichen
                                                        Worten ein Produktionsmodell, das                       Langzeitfolgen noch nicht einmal
                                                        nicht nur die Welt ernährt, sondern auch                absehbar sind.
                                                        Sorge trägt zur Natur und zu den Men-
                                                        schen. Er verspricht: «Wir werden weiter-               Und wir haben uns in den brasilianischen
              Laurent Gaberell                          hin dazu beitragen, die Welt zu einem                   Bundesstaat Mato Grosso aufgemacht,
                                                        besseren Ort zu machen. Für unsere                      ins Herz der pestizidintensiven Land-
                                                        Kinder, unsere Enkelkinder und unzäh-                   wirtschaft. Wir haben mit Eltern von
                                                        lige zukünftige Generationen.»                          erkrankten Kindern gesprochen, mit
                                                                                                                Lehrerinnen, Landarbeitern und Gesund-
                                                        Das sind schöne Worte. Und nichts als                   heitsexpertinnen. Viele von ihnen wag-
                                                        schöne Worte, wie wir in dieser Sonder-                 ten es kaum, offen zu reden. Andere
                                                        ausgabe unseres Magazins aufzeigen.                     haben beschlossen, sich aufzulehnen.
                                                        Während mehrerer Monate hat Public                      Aufzulehnen gegen die Auswüchse
                                                        Eye zum undurchsichtigen Geschäft mit                   eines Geschäftsmodells, dessen verhee-
                                                        hochgefährlichen Pestiziden recher-                     renden Folgen für Gesundheit und
                                                        chiert. Wir haben exklusive Daten aus                   Umwelt sich immer deutlicher zeigen –
                                                        einer Industriedatenbank mit der Liste                  trotz aller Bemühungen der Industrie,
                                                        der 310 Pestizide abgeglichen, die das                  die Verhältnisse schönzureden und sich
                                                        «Pesticide Action Network» als «hoch-                   vor Regulierungen zu drücken.
                                                        gefährlich» einstuft. Die Recherche
                   Carla Hoinkes                        zeigt: Kein Konzern macht mehr Geld                     Erik Fyrwald spricht im Werbevideo
                                                        mit diesen giftigen Produkten als Syn-                  auch von «Verpflichtungen», die Syn-
                                                        genta. Die Lieblingsmärkte des Multis:                  genta eingehen wolle, damit «die richti-
   Dank Ihnen!                                          jene in Entwicklungs- und Schwellenlän-                 gen Dinge» geschehen. Der Verzicht auf
                                                        dern mit Regulierungen, die lascher sind                den Verkauf der giftigsten Pestizide
   Die Reportagen und Analysen in unserem
   Magazin und die Recher­chen, auf denen               als die in der Schweiz oder der EU.                     wäre ein erster, wichtiger Schritt. Bewegt
   diese beruhen, sind nur dank der Un-
                                                                                                                sich der Multi aus Basel nicht freiwillig,
   terstützung unserer Mitglieder möglich.

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                                                        Um herauszufinden, welche Folgen der                    wird ihm eine Annahme der Konzernver-
   Dank! Und doppelten Dank, falls Sie je-              massive Einsatz dieser Substanzen hat,                  antwortungsinitiative einen sanften
   mandem eine Mitgliedschaft verschenken.
                                                        haben wir unseren Fokus auf Brasilien                   Tritt in die richtige Richtung verpassen.
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                                                        meisten Pestizide ausgebracht werden.
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PUBLIC EYE – MAGAZIN        Nr. 17 April 2019

PRODUKTIONSLEITUNG                              TITELBILD Lunaé Parracho              KONTAKT                                  ISSN 2504-1266
Raphaël de Riedmatten                           –                                     Public Eye, Dienerstrasse 12,            –
–                                               DRUCK Vogt-Schild Druck AG            Postfach, 8021 Zürich                    POSTKONTO 80-8885-4
REDAKTION Timo Kollbrunner                      Cyclus Print & Leipa, FSC             –                                        –
–                                               –                                     Tel. +41 (0) 44 2 777 999                Das Public Eye Magazin
LAYOUT opak.cc                                  AUFLAGE D: 25 000 Ex. / F: 9200 Ex.   kontakt@publiceye.ch                     erscheint sechs Mal pro Jahr.
Syngentas Gift geschäfte in Brasilien - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 17 April 2019
Ein gängiges Sujet in Sinop, Mato Grosso, Brasilien: Pestizidfahrzeug auf Lastwagen.

Reportage                                                                  Fallstudie
Leben zwischen Monokulturen                                                Atrazin: hier verboten, dort vermarktet
Im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso werden                          In der Schweiz ist Atrazin verboten. In Brasilien
auf riesigen Soja- und Maisfeldern Unmengen an                             macht Syngenta nach wie vor Millionen mit dem
hochgiftigen Pestiziden versprüht. Mit welchen                             gesundheitsschädigenden Herbizid. Millionen.
Folgen für die Menschen? Eine Reise auf der Suche                          Es findet sich in kritischen Konzentrationen im
nach Antworten.      S. 4                                                  Trinkwasser.     S. 28

In Zahlen                                                                  Gesundheitsfolgen
Der globale Pestizid­­m arkt                                               Vier Fälle aus Brasilien
Welche Firma macht wie viel Geld mit hochge-                               Die wissenschaftliche Evidenz zum Zusammenhang
fährlichen Pestiziden? Und wo? Welche Produkte                             zwischen Pestiziden und Krebs, Missbildungen oder
sind Bestseller? Und was macht sie «hochgefähr-                            hormonellen Störungen wächst. Vier Beispiele aus
lich»? Antworten in Zahlen, basierend auf exklu-                           vier verschiedenen Regionen Brasiliens.  S. 32
siven Daten.    S. 16
                                                                           Unsere Forderungen            S. 34
Hintergrund
Syngentas giftiges Milliardengeschäft                                      Unsere Petition        auf der Antwortkarte
2017 hat Syngenta gemäss unseren Schätzungen fast                          Danke, wenn auch Sie unsere P
                                                                                                       ­ etition unterschreiben!
vier Milliarden US-Dollar Umsatz mit hochgefährli-
chen Pestiziden erzielt. In Brasilien sind Millionen
Menschen einem gesundheitlich höchst bedenkli-
chen Pestizidcocktail ausgesetzt.     S. 20

                                                                                                                                  ?

Das Bild oben stammt wie alle Bilder der Reportage aus Mato Grosso vom brasilianischen Reuters-Fotografen Lunaé Parracho.
Die Recherchereise von Timo Kollbrunner und Carla Hoinkes von Public Eye in Mato Grosso wurde in Kooperation mit der brasi-
lianischen Organisation Repórter Brasil durchgeführt. Für die Vorrecherche bedanken wir uns herzlich bei deren Reporterin Luana
Rocha. Ihre Geschichte findet sich auf Portugiesisch unter: reporterbrasil.org.br

Diese Spezialnummer unseres Magazins basiert auf dem von Landwirtschaftsexperte Laurent Gaberell und -expertin Carla Hoinkes
verfassten Bericht Highly hazardous profits. How Syngenta makes billions by selling toxic pesticides. Den Bericht finden
Sie online unter www.publiceye.ch/pestizide
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4                                                                              PUBLIC EYE MAGAZIN    Nr. 17   April 2019

                    Im Reich der
                    Agrobarone

An wohl keinem Ort der Welt werden mehr giftige Pestizide versprüht als im
brasilianischen Staat Mato Grosso. Was bedeutet das für die Menschen, die
dort leben? Eine Reise zwischen unendlichen Soja-, Mais- und Baumwollfel-
dern, auf den giftigen Spuren eines lukrativen Geschäftsmodells, das ver-
heerende Folgen hat für Umwelt und Gesundheit. Doch wer darüber offen
spricht, begibt sich in Gefahr.

TIMO KOLLBRUNNER

«Er war ein Bandit», sagt Wilson Santos, und lehnt sich    war er Bürgermeister der Staatshauptstadt Cuiabá, wo
in seinem Lederstuhl zurück. Der «Bandit» hiess Wagner     er uns Mitte Februar in seinem heruntergekühlten Büro
Florêncio Pimentel. Seit Dezember 2017 war der Agrar­      empfängt. Ein paar Tage zuvor hat er einen Vorstoss für
unternehmer inhaftiert gewesen, angeklagt, an der Spitze   die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungs-
eines Konstrukts gestanden zu haben, mit dem Agrar-        ausschusses eingereicht. Es ist der Dritte innert weni-
händler während fünf Jahren über 35 Millionen US-Dol-      ger Jahre in der gleichen Sache; geschehen sei bisher gar
lar an Steuern hinterzogen haben sollen. Für eine Straf-   nichts, sagt er. Er wolle wissen, wie gross der Betrag der
milderung wollte er mit der Justiz kooperieren. Ein Tag,   Steuern sei, die den grossen Agrarbetrieben vom Staat
bevor er erstmals ausgesagt hätte, wurde er in Cuiabá in   erlassen wurden oder die sie an diesem vorbeigeschleust
seinem Auto mit mindestens fünf Schüssen erschossen.       hätten. Es gehe wohl um über 500 Millionen US-Dol-
Wilson Santos seinerseits ist Abgeordneter einer Mitte-    lar, sagt er. Aber dagegen werde nichts unternommen,
partei im Parlament von Mato Grosso. Von 2005 bis 2010     weil der Agronegócio – Brasilianisch für «das Agro­
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AUF GIFTIGEN SPUREN           5

business» – schlicht zu mächtig sei. «Das System ist          2015 wurden im Bundesstaat gemäss Zahlen der Uni-
festgefahren. Ein paar Wenige haben hier viel Geld und        versidade Federal de Mato Grosso (UFMT) knapp 208
viel Macht. Das ändert sich nicht so rasch.»                  Millionen Liter Pestizide ausgebracht. Pro Einwohnerin
       Nur: Für die Rolle des edlen Ritters im Gefecht ge-    und Einwohner sind das rund 64 Liter an Pestiziden –
gen die mächtigen Agrobarone scheint der Abgeordnete          bevor sie mit Wasser gemischt werden. Von den 15
Santos nicht eben überqualifiziert. Letztes Jahr wurde        meistverwendeten Wirkstoffen werden elf vom inter-
er zu umgerechnet drei Millionen Dollar an Rückzah-           nationalen Pesticide Action Network (PAN) als «hoch-
lungen und Bussen verurteilt, weil er als Bürgermeister       gefährliche Pestizide» (in Englisch «Highly Hazardous
von Cuiabá ohne Ausschreibung und ohne erkennbare             Pesticides» oder HHPs) eingestuft.
Gegenleistung öffentliche Werbeflächen an Firmen ver-                 Welche Folgen haben all diese giftigen Substanzen
geben haben soll. In einem anderen Fall wird ihm Kor-         für die Gesundheit der Menschen, die hier leben? Geht
ruption und Geldwäsche vorgeworfen. Wilson Santos             man dieser Frage nach, stösst man immer wieder auf
versäumt es im Gespräch denn auch nicht, mehrmals zu          einen Namen: Wanderlei Pignati, Professor an der UFMT
erwähnen, der Staat Mato Grosso habe dem Agrobusi-            in Cuiabá. Er und sein Team sind die einzigen, die sich in
ness «sehr viel zu verdanken». Willkommen in Cuiabá,          Mato Grosso seit Jahren wissenschaftlich mit dem The-
der selbst ernannten «Hauptstadt des Agronegócio».            ma befassen. Sie haben in verschiedenen Studien aufge-
                                                              zeigt, dass es einen statistisch signifikanten Zusammen-
        Zweieinhalb Mal die Schweiz – aus Soja                hang gibt zwischen Krebserkrankungen bei Kindern und
Brasilien ist der zweitgrösste Exporteur von Agrarrohstof-    Jugendlichen und dem Einsatz von Pestiziden in den
fen nach den USA – und kein Bundesstaat produziert so         jeweiligen Gemeinden Mato Grossos. Zudem besteht für
viel davon wie Mato Grosso. 27 Prozent der brasilianischen    Kinder, deren Eltern in Kontakt mit Pestiziden waren,
Soja, 31 Prozent des Maises und 68 Prozent der Baumwolle      ein deutlich höheres Risiko für Missbildungen.
werden hier angebaut. An der Soja lässt sich zeigen, wie
rasch sich die kultivierte Fläche in den letzten zwanzig                    Antonios «spezielles Mädchen»
Jahren vergrössert hat: 1998 gab es in Mato Grosso 2,7        Wir wollten besser verstehen, was das bedeutet; inmitten
Millionen Hektar Sojafelder. 2008 waren es 5,6 Millionen,     von diesen monströsen Feldern zu leben, die fast un-
2018 bereits 9,5. Zur Veranschaulichung: Diese 9,5 Millio-    entwegt mit giftigen Substanzen eingesprüht werden.
nen Hektar sind exakt die richtige Grösse, damit alle rund    Wir wollten erfahren, was Ärztinnen und Ärzte sagen
212 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer darauf         zu der Verbindung zwischen Pestiziden und bestimm-
gleichzeitig nebeneinander Fussball spielen könnten – re-     ten Krankheiten. Und wir wollten mit den Menschen
gelkonform elf gegen elf, auf Spielfeldern nach offiziellen   sprechen, die von diesen negativen Auswirkungen direkt
                                                              betroffen sind. Menschen wie Antonio Lemos Correa.
                                                                      Wir treffen den 34-Jährigen in den Räumen der As-
                                                              sociação de Espinha Bífida de Mato Grosso in Cuiabá. Spina
Auf den Sojafeldern Mato Grossos könnten alle Bra-            Bifida ist eine angeborene Fehlbildung des Neuralrohrs im
silianerinnen und Brasilianer gleichzeitig nebenein-          unteren Rücken, das zu Sehbeeinträchtigungen bis hin zu
ander Fussball spielen – elf gegen elf, auf Spielfeldern      Querschnittlähmungen und zu einem Verlust der Kontrolle
nach offiziellen FIFA-Massen.                                 von Darm und Blase führen kann. Studien weisen auf ei-
                                                              nen Zusammenhang hin zwischen dem Kontakt der Eltern
                                                              mit Pestiziden und der Wahrscheinlichkeit einer Spina-Bi-
                                                              fida-Erkrankung des Kindes. Von all dem wusste Antonio
FIFA-Maximalmassen. Hinzu kommen knapp fünf Millio-           nichts – bis seine Tochter Emanuelly geboren wurde. Schon
nen Hektar Mais und über 600 000 Hektar Baumwolle. In         die Schwangerschaft sei kompliziert gewesen, erzählt der
den letzten zwanzig Jahren wurden alleine in Mato Grosso      Vater, und als das Mädchen schliesslich zur Welt kam, habe
14,5 Millionen Hektar Amazonaswälder gerodet – eine           es am Rücken eine Zyste gehabt, «so gross wie eine Melone».
Fläche, dreieinhalb mal so gross wie die Schweiz.                     Stolz zeigt der Vater Bilder seiner Tochter auf dem
                                                              Display seines Smartphones. Emanuelly in Ballettkleidern,
              64 Liter Pestizid pro Person                    mit Schienen an den Beinen, damit sie sich die Knöchel nicht
Die zum allergrössten Teil genmodifizierten ­Soja-,           bricht, die sie nicht spürt. «Die Ärzte sagten, sie werde nie
Mais- und Baumwollsorten gedeihen nur dank des                laufen können. Und sie tanzt Ballett. Ich danke Gott, dass
intensiven, flächendeckenden Einsatzes von Insekti-
ziden, Herbiziden und Fungiziden. In keinem Land der                Zum Pestizideinsatz in Brasilien: S. 18
Welt werden mehr Pestizide versprüht als in ­Brasilien –            Zu den gesundheitlichen Folgen hochgiftiger
knapp ein Fünftel davon in Mato Grosso.                             Pestizide: S. 32
Syngentas Gift geschäfte in Brasilien - PUBLIC EYE MAGAZIN Nr 17 April 2019
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er mir dieses spezielle Mädchen geschenkt hat», sagt er. Die
Ärztinnen und Ärzte hätten ihn gefragt, ob er in der Nähe
von Feldern lebe. «Ja», sagte er. Ob er selbst mit Pestiziden
in Berührung gekommen sei? Wieder sagte er «ja». Antonio,
der seine Familie heute mit dem Erlös aus dem Verkauf von
Solarpanels zu versorgen versucht, arbeitete damals als Ta-
gelöhner auf verschiedenen Farmen. Immer wieder auch als
                                                                        «Ein paar Wenige haben hier viel Geld und Macht»
«Bandeira». Das sind jene Männer, die vor dem Durchbruch                – Abgeordneter Wilson Santos.
des GPS den Piloten der Agrarflugzeuge vom Boden aus mit
Flaggen anzeigten, wo sie durchzufliegen hatten. Er habe
jeweils eine Haube auf dem Kopf getragen und ein Hemd
mit langen Ärmeln, sonst sei er nicht geschützt gewesen. Am
Abend habe ihm oft der Kopf geschmerzt, und schwindlig
sei ihm gewesen. Er habe keine Ahnung, welche Substanzen
dort versprüht worden seien. Die Depots seien jeweils von
bewaffneten Männern bewacht worden.

              «Wie Ameisen gegen Löwen»
Die Fälle von Spina Bifida haben gemäss Antonio in den
letzten Jahren massiv zugenommen. Und die meisten Kin-
der, die in Cuiabá behandelt würden, kämen aus den länd-
lichen Regionen mit intensiver Landwirtschaft. Alleine in
seinem früheren Wohnort wisse er von über zehn Betrof-
fenen. Jede Erkrankung sei individuell, sagt Antonio, «aber            «Wir müssen tun, was wir tun»:
wenn es fast immer einen Link zu Pestiziden gibt, heisst               Antonio, Vater der fünfjährigen Emanuelly.
das schon was, oder?», fragt er. Die Organisation, für die er
sich heute voller Elan einsetzt, kämpft für grössere Unter-
stützung der Betroffenen und für bessere Schutzmassnah-
men, inklusive des Verbots besonders gefährlicher Pestizi-
de. Und sie weibelt dafür, dass die Erkrankungen endlich        Criança com Câncer in Cuiabá, einer Organisation, die
spezifisch registriert werden, statt dass die Ärztinnen und     krebskranke Kinder unterstützt, mit der 36-Jährigen
Ärzte schlicht «Malformação» auf die Geburtsurkunde             ins Gespräch. Elisangela lebt mit ihren drei Buben und
schreiben – und sie so endlich beweisen könnten, dass es        ihrem Mann in einem Städtchen über 300 Kilometer
eine unübliche Häufung von Spina-Bifida-Fällen gibt.            nördlich, in Lucas do Rio Verde. Aber seit drei Jahren
        Solange das nicht möglich ist, bleiben die wissen-      nimmt sie immer wieder den langen Weg auf sich, um
schaftlichen Erkenntnisse genereller Natur. Eine Studie,        hierhin zu kommen – zusammen mit dem mittleren
die Professor Pignatis Team 2016 im Bundesstaat Mato            ihrer drei Söhne, dem fünfjährigen Kalebi.
Grosso durchgeführt hat, zeigt etwa, dass das Risiko                   Kalebi war zwei Jahre und drei Monate alt, als er
für Missbildungen bei Kindern über vier Mal höher ist,          plötzlich starkes Fieber kriegte in der Nacht und am Mor-
wenn deren Eltern in Kontakt mit Pestiziden waren, und          gen nicht mehr recht wach wurde. Er bewegte sich auch
noch höher, wenn der Vater in der Landwirtschaft arbei-         nicht mehr rund, zog sein Bein nach, war bleich im Ge-
tete. «Aber die Barone des Agro­business kontrollieren          sicht. Auf der Notaufnahme sagte man ihr, das sei nichts
hier alles, auch die Politik. Und sie haben kein Interesse      Schlimmes, ein eingeklemmter Nerv vielleicht. Doch als
daran, dass diese Verbindung ans Licht kommt», sagt             sie ihm am Abend einen feinen Klaps auf den Arm ge-
Antonio. «Wir müssen tun, was wir tun», sagt er, «un-           geben habe und sich dort gleich ein grosses Hämatom
sere Kinder brauchen uns. Aber wir sind wie Ameisen,            gebildet habe, «da wusste ich, da stimmt etwas ganz und
die gegen einen Löwen kämpfen.»                                 gar nicht». Im Spital in Rio Verde wurde das Blut des Jun-
                                                                gen getestet – und Leukämie diagnostiziert. Kalebi kam
         «Da stimmt etwas ganz und gar nicht»                   in Cuiabá in Behandlung, erhielt eine Chemotherapie, bis
Der Verdacht, dass Pestizide am Ursprung stehen der             die Krebszellen weg waren. Künftig muss er noch einmal
Erkrankung des eigenen Kindes. Und die Unmöglich-               pro Monat zur Kontrolle kommen, acht Jahre lang.
keit, sich dessen sicher zu sein, geschweige denn, es                  Dass bestimmte Pestizide das Risiko für Kinder-
zu beweisen. Elisangela Silva dos Anjos kennt das gut.          leukämie erhöhen können, ist wissenschaftlich belegt.
Wir kommen im Innenhof der Associação Amigos da                 Eine in Spitälern von dreizehn brasilianischen Staaten
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«Niemand wagt es, darüber zu reden»:
Kalebi, Mutter Elisangela.

durchgeführte Studie etwa zeigte für Kinder, deren          Pestizideinsatz in den Feldern rund um Lucas do Rio
Mütter während der Schwangerschaft mit Pestiziden           Verde und diesen Fällen, sagt Elisangela. «Aber niemand
in Kontakt kamen, ein erhöhtes Risiko, in den ersten bei-   wagt es, darüber zu reden.»
den Lebensjahren an Leukämie zu erkranken. Sie hätten
damals gleich neben einer Anlage gelebt, in der Baum-          Auf in die nächste «Hauptstadt des Agronegócio»
wolle verarbeitet worden sei, erzählt Elisangela. «Unser    Wir beschliessen, dorthin zu fahren, wo Elisangela mit
Haus war immer voller Baumwollstaub.» Und ihr Mann,         ihrer Familie lebt. Nach Lucas do Rio Verde. An den Ort,
                                                            an dem eine Mitarbeiterin des Wissenschaftlers Pignati
                                                            im Jahr 2010 die Muttermilch von 62 Frauen untersucht
                                                            hat – und in allen Proben Rückstände verschiedener Pes-
«Die Barone des Agrobusiness kontrollieren hier alles,      tizide fand. Unter anderem wies sie in der Muttermilch
auch die Politik. Und sie haben kein Interesse daran,       sämtlicher Frauen Spuren von DDT nach – einer Substanz,
dass die Verbindung zwischen Pestiziden und Krank-          die einst von Syngentas Vorgängerfirma Ciba-Geigy erfun-
heiten ans Licht kommt.»                                    den wurde und immer noch nachweisbar ist, obwohl sie in
                                                            Brasilien seit 20 Jahren nicht mehr verwendet werden darf.
                                                                   Je weiter wir uns von Cuiabá entfernen, desto
                                                            kleiner werden die Bäume und grösser die Felder mit
der als Mechaniker auf Landwirtschaftsbetrieben arbei-      den in akkurate Linien gesetzten Genpflanzen. Jetzt,
tete, sie unvorsichtig gewesen, habe jeweils seine Söhne    im Februar, wird entweder gerade noch die letzte Soja
und sie umarmt, wenn er nach Hause gekommen sei, in         geerntet, oder es wird bereits für die Zwischensaison –
den Arbeitskleidern, «er stank nach Chemie». Auch der       die «safrinha» – Mais gepflanzt. «Mato Grosso» heisst
Sohn eines Ex-Arbeitgebers ihres Mannes, welcher eine       übersetzt in etwa «dichtes Buschland», aber schaut
Farm betreibe, und ein Mädchen aus der Nachbarschaft        man hier aus dem Autofenster, fände man einen ande-
seien an Leukämie erkrankt. Es scheine ihr offensicht-      ren Namen treffender, so etwas wie «Campo Infinito»
lich, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen dem            vielleicht, unendliches Feld.
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Maskottchen Luquinha, Preciosa (oben rechts): Wo so viel      «Viele andere Jobs gibt es hier nicht»:
Mais und Soja wächst, lohnt sich auch das Schlachten.         städtischer Angestellter mit Syngenta-Pestizid.

Wir biegen ein auf die BR 163, die «Kornader» Mato         dern. In der einen Hand hält es einen Maiskolben, in
Grossos, und überholen von da an zahllose unbeschrif-      der anderen Sojabohnen. Das andere, «Preciosa», die
tete, staubige Lastwagen, die Soja in Richtung des         Kostbare, ist ein naturalistisches Huhn von zehn Me-
fast 2000 Kilometer nördlich gelegenen Hafens San-         tern Grösse, eine Hommage an die Geflügelindustrie,
tarém transportieren. Dann passieren wir die ersten        thronend auf einem Kreisel ausgangs des Städtchens.
monströsen Silos, mit den Schriftzügen der grössten        Folgt man dort der Strasse, passiert man den riesigen
Agrar­händler der Welt, Bunge, Louis Dreyfus, Cargill,
­Cofco. Und schliesslich kommen wir an, in Lucas do
 Rio Verde, einem Städtchen mit gut 60 000 Einwoh-
 nern inmitten von Feldern, das Ende 2018 im Amtsblatt     Auf seinen Händen und an seinen Handgelenken haben
 des Staates Mato Grosso offiziell als «Hauptstadt des     grosse Stellen keine Pigmente mehr. Das komme vom
 Agro­negócio» anerkannt wurde. Es riecht gerade nicht     «Veneno», sagt er, dem Gift.
 gut hier. Nach gärendem Heu, nur unangenehmer. Der
 Gestank kommt von den riesigen Sojasilos her. Es rie-
 che hier oft so, sagt man uns.
                                                           Schlachthof des brasilianischen Lebensmittelgiganten
             Hühner, Schweine, Soja, Mais                  BRF, in dem 4500 Angestellte täglich 300 000 Hüh-
Wie soll man Lucas do Rio Verde beschreiben? Man           ner verarbeiten. Warum der Konzern hierhin zog, liegt
kann erzählen, was einem als erstes auffällt: Es ist das   auf der Hand: Das Mais und die Soja zur Mästung der
Städtchen mit der vielleicht weltweit höchsten Dichte      Hühner wachsen gleich vor der Haustür. Die Chancen
an Reifenwerkstätten – für die Tausenden von Lastwa-       stehen gut, das auch Sie schon ein Hühnchen aus dieser
gen, die sich hier Stunde für Stunde hindurchzwängen.      Anlage auf dem Teller hatten: 2017 hat die Schweiz ge-
Man kann den Ort auch anhand seiner beiden Maskott-        mäss der Statistik der Eidgenössischen Zollverwaltung
chen zu verstehen versuchen. Das eine heisst Luquinha      gut 45 000 Tonnen Geflügelfleisch importiert. Knapp
und ist ein sechs Meter grosses Schweinchen in Klei-       18 000 davon stammten aus Brasilien.
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AUF GIFTIGEN SPUREN            9

       Das Schweigen der Ärztinnen und Ärzte                 hier nicht. Dann zieht er seine Maske über und beginnt,
Doch am besten lässt sich Lucas do Rio Verde wohl be-        den Rasenstreifen einzusprühen. Es riecht nach Chlor,
schreiben, wenn man von den Begegnungen mit den              angereichert mit einem ätzenden Beigeschmack.
Menschen dort erzählt. Mit Claudiomir Boff etwa, dem
Präsidenten der Landarbeiter-Gewerkschaft, von dem                       «Unsere Natur ist verschwunden»
wir mehr erfahren möchten über den Pestizideinsatz           Am nächsten Tag fahren wir raus aufs Land, entlang der im-
hier und dessen gesundheitlichen Folgen. Wir sollten         mer gleichen Felder. Wir wollen mit den Leuten reden, die
uns doch im Spital selbst ein Bild machen, schlägt er        an deren Rändern leben. In der allseitig von Äckern umge-
vor. Er könne das in die Wege leiten, schliesslich sei er    benen Siedlung Groslândia halten wir vor einem einfachen
auch der Präsident der Stiftung, die das Spital betreibt.    Haus an. Auf der Veranda sitzt der 50 Jahre alte Darino da
Die zuständige Kollegin werde sich melden, sagt er. Sie      Silva und geniesst seinen freien Tag. Wir sprechen ihn an,
meldet sich nicht, und auch Claudiomir Boff geht nie         bald reicht er uns gekühltes Guaraná. Seit er zwölf ist – also
mehr ans Telefon. Schliesslich machen wir uns auf eige-      seit 38 Jahren – arbeitet er auf Feldern, zwanzig Jahre nun
ne Faust auf zum Spital. Die Verantwortliche werde uns       schon auf dem gleichen Betrieb, nicht weit von hier. Das
anrufen, verspricht man uns auch dort. Wird sie nicht.       Einkommen reiche gut für ihn, sagt er, der seit zehn Jahren
Auch zuvor schon, im Universitätsspital von Cuiabá,          verwitwet ist. Seine Frau starb an einem Nierenversagen,
hatten wir umsonst versucht, mit Ärztinnen oder Ärz-         eine Ursache wurde nie herausgefunden. Darino verliert
ten sprechen zu können. Und, so viel sei vorweggenom-        kein schlechtes Wort über seinen Arbeitgeber, über die
men: Auch später im weiter nördlich gelegenen Sinop          Gutsherren grundsätzlich, über die Agrarindustrie.
wird es nicht klappen. Der mögliche Zusammenhang                     Aber er erzählt von den Bananen, die er hinter sei-
zwischen Pestiziden und Erkrankungen ist offensicht-         nem Haus pflanzt. Wie sie seit fünf Jahren immer kleiner
lich kein Thema, zu dem sich das medizinische Fachper-       würden, jetzt gerade noch so gross seien wie ein Daumen.
sonal der Region gerne öffentlich äussert.                   Er erwähnt den Limettenbaum, den er fällen musste, weil
                                                             er verfault war. Zwischen November und Februar, wenn
           Schädlingsgeplagte Strassenkreisel                auf den Feldern erst Soja und dann Mais wachse und am
Der Besuch im Spital von Lucas do Rio Verde ist trotzdem     meisten Pestizide ausgebracht würden, sei der Schädlings-
aufschlussreich. Denn gleich davor, auf dem Trottoir der     befall auf seinen Pflanzen am schlimmsten. Und auch der
Avenida Brasil, treffen wir auf einen Mann in Schutzan-      Gestank in der Siedlung. «Wenn sie sprühen, schliesse ich
zug und Stiefeln, der gerade damit beschäftigt ist, eine     alle Fenster», sagt er. Und die Nachbarn holten dann ihre
Pestizidmischung anzurühren. Er sei von der Stadt da-        Kinder in die Häuser. Diese beklagten sich oft über starke
für angestellt, die Grünflächen auf den Mittelstreifen der   Kopfschmerzen, und immer mal wieder müsse eines von
Strasse und die Kreisel mit Pestiziden einzusprühen, sagt    ihnen auf den Gesundheitsposten im Ort gebracht werden.
er uns. Denn manche der Schädlinge, die mittels Chemie               Und Darino spricht von früher. Von den farbigen
aus den Feldern vertrieben werden, flüchten in die Stadt.    Aras, die ihn noch vor wenigen Jahren regelmässig hier
Der Befall werde Jahr für Jahr grösser. Das städtische       im Garten besucht hätten. «Hier, hier und hier», sagt er
Mittel der Wahl ist heute das Insektizid Engeo Pleno des     und zeigt rund um sein Haus, «war überall Wald». Dort
Schweizer Konzerns Syngenta. Das Produkt enthält eine        habe er jeweils Wildschweine gejagt und Nagetiere. Heute
Kombination der Wirkstoffe Thiamethoxam und Lamb-            sieht man nur noch Felder, bis zum Horizont, das nächste
da-Cyhalothrin. Lambda-Cyhalothrin ist unter anderem         beginnt exakt 20 Schritte von Darinos Hausfassade ent-
hormonaktiv und kann laut Syngentas eigenen Angaben          fernt. Ein Pestizidfahrzeug dreht darauf seine Runden. Es
akut Atemwege, Haut und Augen irritieren. Gemäss EU          hätten hier Tapire gelebt und Ameisenbären und Jaguare,
kann das Einatmen des Stoffes gar tödlich sein.              erzählt er, die Regenfälle seien länger und stärker gewesen
       Das weiss vielleicht auch der städtische Angestell-   und die Temperaturen tiefer. Heute sehe man höchstens
te. Aber mit den Gummihandschuhen will es ihm einfach        noch vereinzelte Kolonien von Wildschweinen, die auf
nicht gelingen, die Schutzfolie aus Alu von der Pesti-       der Suche nach Nahrung durch die Felder zögen, hin zum
zidflasche zu klauben. Also zieht er den Handschuh aus       kleinen Streifen übrig gebliebener Bäume am Fluss in der
und drückt seinen nackten Daumen in das Alu, bis die-        Ferne. «Unsere Natur ist verschwunden», sagt Darino.
ses nachgibt. Es spritzt. Auf seinen Händen und an sei-
nen Handgelenken haben grosse Stellen keine Pigmente                    Spielerisches Lernen mit Syngenta
mehr. Das komme vom «Veneno», sagt er, dem Gift. Es          Auch bei einer Schule in der Nähe von Lucas do Rio
jucke ziemlich dort. Auch sein böser Husten komme vom        ­Verde halten wir an. Sie ist umgeben von Sojafeldern,
Hantieren mit den Pestiziden. Klar würde er lieber etwas      bis zu 50 Meter reichen sie an das Schulgelände heran.
anderes machen, sagt der Mann, aber zur Schule gegan-         Kann das gesund sein? Die Direktorin empfängt uns
gen sei er nicht lange genug und viele andere Jobs gebe es    nett, doch ihr Blick verfinstert sich sofort, als wir zum
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Gleich vor der Haustür wird gesprüht, Darios
Bananen gehen ein. «Hier war alles Wald.»

ersten Mal das Wort «Pestizid» aussprechen. Damit gebe     Mitteln die globale Ernährungssicherheit gewährleistet
es hier kein Problem, sagt sie bestimmt. Klar rieche man   werden kann. Und was der Konzern unter dem Begriff
es, wenn diese ausgebracht würden, und nein, sie könne     «Umwelt» versteht: «Steigerung der Produktion im glei-
natürlich nicht sagen, dass es keinerlei Zusammenhang      chen Anbaugebiet, bewusste Nutzung der natürlichen
gebe zwischen Pestiziden und Gesundheitsproblemen.         Ressourcen und Förderung der biologischen Vielfalt.»
Aber den Kindern hier gehe es bestens. Und man müsse
auch sehen, was die Landwirtschaft dem Ort gebracht                           Verbotenes Terrain
habe. Früher habe es hier keine Strassenbeleuchtung        Während uns die Direktorin das Spiel präsentiert, hört
gegeben, keine Klimaanlagen, sagt sie.                     unser brasilianischer Kollege draussen im Schulhof eine
                                                           andere Geschichte. Eine Biologielehrerin sagt ihm, sie
                                                           sei besorgt. Es gebe auffällig viele Kinder an der Schule,
                                                           die an Autismus litten, und sie gehe sehr davon aus, dass
Es gebe hier Dinge, sagt die Biologielehrerin, über die    das mit den Pestiziden zusammenhänge. Sie habe schon
man nicht reden dürfe. Wir hören diesen Satz so und so     an einigen Schulen gearbeitet, und eine solche Häufung
ähnlich einige Male.                                       habe sie noch nie erlebt. Sie habe das Grundwasser in
                                                           der Region testen lassen wollen, schliesslich aber wegen
                                                           des Widerstands einiger Väter aufgegeben. Viele von
                                                           ihnen arbeiteten in der Landwirtschaft. Es gebe hier
Als wir das Gespräch auf Syngenta bringen, sagt sie        Dinge, sagt sie, über die man nicht reden dürfe.
«wartet schnell», geht aus dem Büro und kommt gleich              «Darüber spricht man hier nicht.» Wir hören die-
wieder herein, in den Händen hält sie einen Papier-        sen Satz so und so ähnlich einige Male. Vom Mann in
bogen. «Umweltspiel» steht darauf, auf der Rückseite       einer Behörde etwa, der uns von Bauern erzählt, die an
prangt das Logo des Schweizer Multis. Syngenta klärt       Magentumoren gestorben seien oder nach Vergiftungen
die Kinder in diesem über eine Stiftung in grosser Men-    an Gastritis litten. Und der sagt: Nein, er könne keinen
ge in Umlauf gebrachten Würfelspiel auf, mit welchen       Kontakt zu den Betroffenen herstellen, das wäre «zu ge-
Syngentas Paraquat in der Recyclingstelle:
700 Tonnen Pestizidverpackungen pro Jahr.

fährlich», das sei «territorio proibido», verbotenes Terrain.   zwei Männern in Schutzanzügen gepresst und danach je
Oder von der Mitarbeiterin einer Krebshilfeinstitution,         nach Material recycelt oder verbrannt zu werden. 2012
die erzählt, eine auffallend hohe Anzahl der Erkrankten,        wurden hier über 700 Tonnen Pestizidbehältnisse ent-
die sie betreuten, seien dort an Tumoren erkrankt, wo die       sorgt, liest man in Zeitungen, die damals über die «Vor-
Nahrung und das Wasser hindurch gingen, im Rachen, im           zeigeanlage» berichteten. Auffallend viele der Container
Magen, im Darm. «Warum wohl», fragt sie, und ergänzt,           tragen die Aufschrift «Gramoxone» und das Logo von
sie persönlich sei überzeugt, dass die Krebserkrankungen        Syngenta. Der Wirkstoff des Herbizids ist Paraquat – töd-
damit zusammenhängen, «dass hier so viel Gift versprüht         lich, wenn eingenommen, höchst schädlich für Lungen,
wird. Aber das darf man nicht offiziell sagen.»                 Haut und Augen, im Verdacht, Parkinson zu fördern und
        In verschiedenen Variationen hören wir die Klage,       in der Schweiz seit mittlerweile dreissig Jahren verboten.
ein paar wenige würden mit diesen riesigen Fazendas                    Es ist an der Zeit, der Frage nachzugehen, welche
immer reicher, während der Staat kaum Einkünfte gene-           Rolle der Schweizer Konzern hier in der Region spielt. Im-
riere und auch noch für die Behandlung der Erkrankten           merhin ist Syngenta gemäss unserer Recherche der Pesti-
aufkommen müsse. Dass kaum je etwas über die gesund-            zidverkäufer Nummer eins – sowohl in Brasilien wie auch
heitlichen Folgen des Pestizideinsatzes berichtet würde,        weltweit. Und wir wissen: Syngenta verkauft in Mato
weil auch die Spitäler und die Medien in den Händen             Grosso mindestens vier Pestizidwirkstoffe – A     ­ trazin,
der Agrobarone oder von deren Freunden seien. Dass es           Ciproconazol, Propiconazol und Lambda-Cyhalothrin –,
«uma rede fechada» sei, ein geschlossenes Netz. Aber mit        welche mit Fehlbildungen in Verbindung gebracht wer-
diesen Worten zitieren lassen will sich niemand.                den, und mit Glyphosat und Diuron mindestens zwei, die
                                                                wahrscheinlich krebserregend sind. Alle sechs Wirkstoffe
                    Giftige Bestseller                          stehen auf der PAN-Liste der HHPs.
Am Stadtrand von Lucas do Rio Verde erhalten wir einen
visuellen Eindruck von der Menge der Pestizide, die in
der Region verwendet werden. Im Annahmezentrum für
leere Behälter sind Tausende Kanister aufgehäuft, um von             Zu Syngentas Verkäufen in Brasilien: S.19
12                                                                               PUBLIC EYE MAGAZIN   Nr. 17   April 2019

«Gehen wir da rüber, es stinkt nach Gift»:                   «Man spürt es, klar»:
Pilot Antonio Carlos da Silva.                               «Giftmischer» Ney.

                 «Alle wollen Syngenta»                   erstes das Herbizid ZappQi. Zwischen hundert- und
Also fahren wir eine Runde durch das Städtchen. Ei-       hundertzwanzigtausend Liter davon verkaufe man al-
nen ersten Stopp legen wir bei Araguaía ein, einem        leine hier in dieser Filiale pro Sojasaison. Dann rattert
der grössten Dünger- und Pestizidverkäufer in der         er eine ganze Liste herunter der am besten verkauften
Region. Klar, sie verkauften Syngenta-Produkte, sagt      Syngenta-Pestizide: Sämtliche sechs hochgefährlichen
uns ein Mitarbeiter, der eben daran ist, den Laden zu     Wirkstoffe, die mit Krebs und Fehlbildungen in Verbin-
schliessen. Am besten verkauften sich die Herbizide       dung gebracht werden, tauchen auf.
Primoleo – mit dem Wirkstoff Atrazin, der nachweis-              Während Firmen wie Syngenta mit den riesi-
lich den Hormonhaushalt stören, das Fortpflanzungs-       gen Soja- und Maisproduzenten wie Cargill, Bunge
system schädigen und das Risiko von Geburtsfehlern        oder Amaggi direkt verhandelten, erklärt uns der nette
erhöhen kann und in der Schweiz seit 2007 verboten        Mann, laufe das Pestizidgeschäft für die nicht ganz so
ist – und ZappQi (mit dem Wirkstoff Glyphosat) sowie      grossen Betriebe – solche mit Feldern von im Schnitt
das Fungizid Elatus und das Insektizid Engeo Pleno,       etwa tausend Hektar – über eine Firma wie Agrológica.
das wir bereits kennen.                                   Diese liefert den Bauern alle nötigen Inputs im Paket –
       Am nächsten Morgen schauen wir bei Agro­           neben Pestiziden auch die Samen und den Dünger. Zu-
lógica vorbei, einem von zwei offiziellen Syngenta-Ver-   rückbezahlt wird Agrológica mit einem Anteil an der
triebspartnern in der Region. Ein Mitarbeiter hinter      Ernte. Der Mitarbeiter der Firma begleite den Bauern
Stapeln von Pestizid-, Dünger- und Traktorprospek-        während des ganzen Anbauzyklus, empfehle allenfalls
ten erzählt uns begeistert, dass sie die Produkte von     eine zusätzlich Applikation eines Fungizids oder Herbi-
Syngenta seit 2016 im Angebot hätten. Man habe sich       zids, wenn ein Befall konstatiert werde. Und besonders
sehr gefreut über diese Partnerschaft. Denn Syngenta      genau beobachte die Firma natürlich jene Landwirte,
habe einen guten Namen – die Firma stehe für eher         die schon bei ihr Schulden hätten. Durch diese soge-
teure, dafür aber hochwertige Ware. «Alle hier wollen     nannten Barterverträge profitierten alle, sagt er: Input-
die Produkte von Syngenta verkaufen», sagt er. Als        geber wie Syngenta, Zwischenhändler wie Agrológica
wir ihn nach den Bestsellern fragen, nennt auch er als    und auch die Bauern.
AUF GIFTIGEN SPUREN           13

                    Bauern unter Druck                         renem Posten. Die derzeit im Parlament diskutierte, von
Zumindest dann, wenn die Ernte gut ist, möchte man anfü-       Kritikern als «Giftpaket» bezeichnete Gesetzesrevision
gen. Ist sie schlecht, hat der Bauer ein Problem. Dann muss    möchte nämlich nicht nur die Registrierung von umstrit-
er bei Agrológica oder sonst wo einen Kredit aufnehmen,        tenen Pestiziden erleichtern, sondern auch den Begriff
um an die Inputs für die nächste Ernte zu kommen. Gerade       «Agrotóxicos» eliminieren. Stattdessen soll künftig von
für kleinere Produzenten sei dieser Druck enorm, erzählt       «defensivos agrícolas» die Rede sein. Doch mit wem wir
uns am Abend ein unabhängiger Maishändler, den wir auf         auch sprechen, alle sagen sie entweder «Agrotóxico», oder,
ein Bier treffen. Er wisse von mehreren Bauern in der Regi-    häufiger noch, «Veneno».
on, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen hätten.              Antonio arbeitet vor allem auf dem Land seiner
Wenn ein Bauer verschuldet sei, komme es vor, dass der In-     Tante, manchmal wird er aber auch von Syngenta kon-
putgeber die Ware konfisziere, gegen den Produzenten vor       traktiert, um deren Felder, auf denen neue Sorten getes-
Gericht gehe. «So was wie gestern», sagt er, «passiert nicht   tet werden, zu behandeln. Was er dort jeweils versprüht,
jeden Tag. Aber es passiert.» Tags zuvor hatte in einem fünf   wisse er nicht, sagt er, er erhalte die Produkte jeweils in
Stunden entfernten Städtchen ein verschuldeter Bauer, der      unbeschrifteten Behältnissen. Sein Geschäft laufe gut,
sich von den Kontrollen eines Agronomen unter Druck            sagt Antonio, «es werden heute mehr Pestizide versprüht
gesetzt fühlte, die Nerven verloren – und diesen in einem      als früher». Fungizide etwa habe man vor 15 Jahren noch
Restaurant mit mehreren Schüssen in den Nacken getötet.        kaum anwenden müssen, weil es keinen Befall gegeben
                                                               habe. Heute würden Soja und Mais etwa drei Mal pro Sai-
                    Über den Wolken                            son mit Fungiziden behandelt, Baumwolle gar bis zu zehn
Wir wollen noch an einem weiteren Ort versuchen, mehr          Mal. Und es seien immer mehr Insektizide nötig, weil die
zu erfahren über die gesundheitlichen Folgen des ex-           Schädlinge Resistenzen entwickelten. Zum Beispiel gegen
zessiven Pestizideinsatzes: in Sinop, einer Stadt knapp        das Syngenta-Produkt Engeo Pleno, das hier in mehreren
150 Kilometer nördlich von Lucas do Rio Verde und ein          Kanistern bereitsteht. «Dieses Jahr funktioniert es nicht
weiteres Zentrum des Agrobusiness. Aber auf dem Weg            mehr richtig», sagt Antonio. Jahrelang habe es formidable
dorthin machen wir erst noch bei einem Hangar halt.            Dienste geleistet, doch mittlerweile seien zumindest auf
Der Maistrader hatte uns den Kontakt eines Mannes ver-         diesen Feldern hier zu viele Schädlinge resistent.
mittelt, der per Flugzeug Pestizide ausbringt. Antonio                Dann steigt Antonio in seine Maschine und rollt
Carlos da Silva – der gleich klarstellt, dass sein Name also   von dannen, und wir nutzen die Zeit, um uns noch kurz
gar nichts mit dem inhaftierten Ex-Präsidenten Lula zu         mit seinem «Doseador», dem Mischer, zu unterhalten,
tun habe – sieht genauso aus, wie man sich einen bra-          der sich als Ney vorstellt. Seit fünf Jahren arbeitet er auf
silianischen Agrarpiloten vorstellen würde, wenn man           der Farm, auf der er mit seiner Frau auch wohnt, und
das je täte: Karohemd, Goldkette, Jeans mit Sichtfenster,      erledigt die Arbeiten, die anfallen. Von Oktober bis März
penetranter Sandelholzduft und kaum allein durch den           heisst das in erster Linie: «misturar veneno», wie er sagt,
Flugwind gestraffte Gesichtszüge. Er wird später noch          Gift mischen. Er trägt Handschuhe und Stiefel, aber keine
vor uns unter den tief hängenden Stromleitungen durch-         Maske, trotz des beissenden Gestanks. Klar, nach dem Mi-
fliegen. Er macht das gern, wenn Besuch kommt.                 schen habe er schon mal etwas Husten und könne nicht
       Doch zuvor hält er uns vor seiner gelben Propeller-     ganz frei atmen. Schlimm sei das nicht, sagt er, es gehöre
maschine namens «Ipanema» einen kleinen Vortrag, wieso         halt dazu, «aber man spürt es, klar».
es grundsätzlich wenig Sinnvolleres gebe, als Pestizide per
Flugzeug auszubringen. Er demonstriert, wie das Flugzeug                    Viel Geld, wenig Geschmack
nach jeder Applikation gereinigt und das Wasser aufberei-      Wir machen uns auf, weiter in Richtung Norden, vorbei am
tet werde. «Bei einem Traktor macht das niemand», sagt         Städtchen Sorriso, das genauso wie Cuiabá und Lucas do
er. Nicht nur schaffe er in 20 Minuten 60 Hektar, zudem        Rio Verde den Titel «Hauptstadt des Agrobusiness» für sich
überfahre ein Traktor pro behandeltem Hektar im Schnitt        in Anspruch nimmt, und an der davor liegenden Siedlung
Pflanzen für drei Säcke Soja, er dagegen keinen Halm.          namens «Costa Brava», in der sich manche der Vermögends-
                                                               ten der Region hinter von Stacheldraht gesäumten Back-
                 Immer mehr Pestizide                          steinmauern in protzigen Anwesen eingerichtet haben.
Während Antonio spricht, sticht uns ein ätzender Gestank              Sinop begrüsst einen auf einem Plakat am Stadt­
in die Nase: Er kommt vom grossen Bottich, in dem sein         eingang mit dem Slogan «Hier ist die Gelegenheit für
Mitarbeiter ein Pestizidgemisch anrührt. «Gehen wir dort       gute Geschäfte». In Bezug auf Syngenta scheint er seine
rüber, es stinkt nach Veneno», sagt er. Wenn sogar die-        Richtigkeit zu haben. An mehreren Gebäuden erkennen
ser Mann von «Veneno», Gift, spricht, dann scheint eines       wir den Schriftzug des Konzerns. Ein Verkaufspartner
klar: Zumindest auf semantischer Ebene stehen die Agrar­       hat sich sogar die Mühe gemacht, auf dem Eingangs-
industrie und die ihr gewogene Politik bislang auf verlo-      tor fein säuberlich die Markennamen von 20 Syngenta-­
So sieht hier «urban» aus:                                      Luxus hinter Mauern:
Einfahrt ins Städtchen Sorriso.                                 Reichensiedlung «Costa Brava» vor Sorriso.

Auch Sorriso hält sich für die nationale                        Liebe Liebe in Zeiten
                                                                      in Zeiten       der Monokultur:
                                                                                der Monokultur:
Hauptstadt des Agrobusiness.                                    vorneVorne   Mais, hinten
                                                                      Mais, hinten  Motel,Motel, dahinter
                                                                                           dahinter Sinop.Sinop.

Produkten aufzulisten, die er im Angebot hat. Nicht we-      solcher beim Gesundheitsministerium in Sinop ange-
niger als 15 davon enthalten Wirkstoffe, die vom Pesticide   stellt. Er hat sich Notizen gemacht zur Vorbereitung,
Action Network als «hochgefährlich» eingestuft werden.       und nun zählt er in seinem fensterlosen Büro auf: Atem-
       Vor erst 45 Jahren mitten in die Amazonaswälder       wegserkrankungen hätten zugenommen, immer mehr
gehauen, hat Sinop heute gegen 150 000 Einwohner und         Menschen erkrankten an Haut-, Magen- oder Darm-
ist umgeben von Feldern. Kirchen, Restaurants, Shop-         krebs, auch Missbildungen, Fehlgeburten, Nierenschä-
pingcenter oder die Gebäude der Agrarkonzerne – von
aussen sehen sie alle praktisch gleich aus: viereckig,
gross, anonym. Auf den Strassen scheint ein Wettrüs-
ten um den grössten Pick-up im Gange, manche tragen          Zwei Dinge seien nötig, damit sich etwas ändere, sagt
das Konterfei des Präsidenten Jair Bolsonaro auf der         er. Erstens mehr wissenschaftliche Studien, zweitens
Heckscheibe: «Brachial, rustikal und systematisch». Sein     kritischere Konsumentinnen und Konsumenten.
Slogan könnte auch für die Stadt stehen.

                  «Sprecht mit João»
Nein, Sinop ist kein Ort, der zum Verweilen einlädt.         den und Depressionen gäbe es immer mehr. «Wir sehen,
Doch bevor wir ihn verlassen, wollen wir noch einen          dass mit der verstärkten Anwendung von Pestiziden
Mann treffen. Den Tipp hatten wir von einem Mathe-           die Anzahl dieser Fälle zunimmt», sagt João. Doch es
matikprofessor erhalten, der sich nebenbei in einer          sei kaum möglich, darüber in dieser vom Agronegócio
Kooperative engagiert, die biologische Lebensmittel          dominierten Region eine Debatte zu führen. Aber er
produziert – auf einem der wenigen Flecken, auf denen        lasse sich den Mund nicht verbieten, «auch wenn man
dies hier der Boden überhaupt noch zulasse. «Sprecht         hier für so etwas erschossen werden kann».
mit João», hatte er uns geraten. João heisst mit vollem             Zweierlei sei dringend nötig, sagt er, damit sich
Namen João de Deus da Silva Filho. Er ist 59 Jahre alt,      etwas ändere. Erstens: mehr wissenschaftliche Studien.
Biologe und Experte für öffentliche Gesundheit und als       «Bisher gibt es ja fast nur jene von Pignati.» Denn wenn
«Mehr Krebs, mehr Missbildungen, mehr Depressionen»:             Anzeige eines
Gesundheitsexperte João de Deus da Silva Filho.                  «Giftausbringers» in Sinop.

man zu den Auswirkungen von Agrotoxicos forschen           der Spitze der Regierung.» Jair Bolsonaro hat als eine
wolle, kriege man dafür kaum je Geld. Der Staat müs-       seiner ersten Amtshandlungen die Verantwortung über
se die Finanzierung von Studien sicherstellen, und in      die für die Zuteilung von Land an Indigene und Bauern
den Schulen müsse über die Gefahren von Agrotoxicos        zuständige Behörde dem Landwirtschaftsministerium
unterrichtet werden, fordert er, damit ein Bewusstsein,    übertragen. Als Agrarministerin setzte er die Agrono-
eine Debatte entstehe. Und zweitens müssten die Kon-       min Tereza Cristina ein, die sich durch ihren unbeirrten
sumentinnen und Konsumenten aufwachen. «Wenn               Einsatz für die Lockerung der Registrierungsanforde-
jene, die unsere Soja und unseren Mais kaufen, sagen       rungen für Pestizide den Spitznamen «Musa do Vene-
würden: ‹Wir wollen saubere Ware›, dann würde sich         no» oder Giftkönigin erarbeitet hat. Unter ihrem Vorsitz
wohl etwas ändern. Solange es ihnen egal ist, kaum.»       hat das Ministerium seit Anfang des Jahres bereits 86
                                                           neue Pestizidprodukte freigegeben. Die Anbaufläche für
                    «Nur noch Wüste»                       die pestizidintensive Baumwolle wächst in rasantem
Dann will uns der Biologe noch etwas zeigen. Er steigt     Tempo. Und die brasilianische Regierung geht in ihrem
in seinen Wagen und lässt uns ihm folgen, hinaus aus       «Investorenführer» davon aus, dass sich die Menge an
Sinop, einem geraden Weg entlang, mitten durch Baum-       produzierter Soja in ganz Brasilien von heute 114 Milli-
wollfelder. In der Nähe des Flusses Teles Pires steigen    onen Tonnen bis 2027 auf 288 Millionen Tonnen erhö-
wir aus. All das seien einst Territorien Indigener gewe-   hen wird. Nein, es spricht derzeit kaum etwas für eine
sen, erzählt João. Heute sieht man nur noch Felder, und    Trendwende hin zu nachhaltigeren Anbauformen oder
all die Pestizide, die darauf versprüht würden, landeten   zu einem moderateren Einsatz von Pestiziden in abseh-
hier im Fluss. Wenn nicht bald Gegensteuer gegeben         barer Zeit. «Aber wenn wir einfach so weitermachen»,
werde, «dann werden die Lebensräume der Indigenen          sagt João de Deus da Silva Filho und weist mit seinem
weiter schwinden, die Felder weiter wachsen, der Ein-      Blick in Richtung der unendlichen Felder, «dann ist das
satz von Pestiziden weiter steigen und die Todesraten      alles hier in fünfzig Jahren nur noch Wüste.» �
weiter raufgehen». Aber Anlass zur Hoffnung gebe
es kaum. «Denn jetzt haben wir einen Verrückten an              Die Geschichte online:
                                                                stories.publiceye.ch/pestizide
16

 Der globale
 Pestizidmarkt

                                                                    W
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                                                                                                                                                         A
                                                                                   te

                                                                                                                                                              rg

                                                                                                                                                                                    EU
                                                                                                                                                                     en
                                                                                     ilu

                                                                                                                                                                                               28
                                                                                                                                                                               ti
                                                                                                                                                                               ni
                                                                                        ng

                                                                                                                                                                                                                                   29
                                                                                                                                                                                    en
                                                                                                                                                               C
                                                                                                                                                                   hi
                                                                                                                                                                          na

                                                                                                                                                                                                                                    %
                                                                                             de

                                                                                                                                                    U

                                                                                                                                                                                                          13 %
                                                                                              r

                                                                                                                         B
                                                        3 st

                                                                                                                                                     SA
                                                                                                                         ra
                                                                                               P

                                                                                                                                                                                                            %
                                                                                                                                                                                                            11 %
                                                                                                                                si
                                                                                                   es

                                                                                                                                      lie
                                                         M iz

                                                                                                                                                                                                    11
                                                                                                                                              n
                                                                                                            ti
                                                        P

                                                                                                                   zi
                                                          io id

                                                                                                                                                                                 18
                                                                                                                         de
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                                                                                                                                                                                            %
                                                             .T e

                                                                                                                                                                18
                                                                                                                                                                           %
                                                               on
                                                                  ne
               1
            S c 200

                                                                     n
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                 im mp                                                                        Pro Jahr werden weltweit 3 Mio. Tonnen
                    mb is                                                                     Pestizide versprüht. Die Menge
                        ec che                                                                entspricht 25 Mio. Badewannen oder
                          ke                                                                  1200 olympischen Schwimmbecken.
                             n

 1. Wirkstoff                                                                                 3. Pestizidgemisch

 Diese Menge beinhaltet allein die                                                            Das formulierte Pestizid wird nochmals
 Wirkstoffe, also jene Substanzen,                                                            mit Wasser verdünnt. Die schliesslich
 welche die Schädlinge bekämpfen.                                                             auf den Feldern ausgebrachte Menge
                                                                                              an Pestizidgemisch beträgt somit ein
                                                                                              Vielfaches.

 2. Formuliertes Pestizid

 Zusatzstoffe

 Wirkstoff

                         Pestizid

 Die Wirkstoffe werden mit weiteren                                                                                   fün S o vi
                                                                                                                            f G el v
 Substanzen vermischt, um die                                                                                                      iga erd
                                                                                                                                      nte ien
                                                                                                                                         n m en
 Wirksamkeit des Produkts zu erhöhen                                                              66.7
                                                                                                      .
                                                                                                   66.77 M Mi                               it P die
                                                                                                               l       88.7
                                                                                                                                                est
 und die Anwendungseigenschaften                                                         t          66..77 Miillll $$ 8..77 M
                                                                                                                            M
                                                                                                                                                    izi
                                                                                    ark en
                                                                                                  66..77 M M i   ll $ 88.7 Miillll $
                                                                                                               l
                                                                                                           Mil $ .7 Mi $
                                                                                                     . Miilll $$
                                                                                                  666..777 M                 88..7 M    ll
                                                                                                                                    Miiilllll $$$    999..22 M                                            den
 zu verbessern.                                                                  m                         Miilllll $$   888..777 M M                 99..22 M   il                                                  .
                                                                                        d
                                                                             izidilliar
                                                                                                    6..77 M                                 l
                                                                                                           Miillll $$
                                                                                                           M                   . Miiillll $$$
                                                                                                                          888..777 M                    9..2 MMiiillllll $$$
                                                                                                             illl $$                    l
                                                                                                                                    Miillll $$      999..222 M        l
                                                                           t                                                                                  Miiilllll $$$
                                                                                                                                                              M

                                                                                             12% %
                                                                         s                                                     . M
                                                                                                                           888..777 M i     l
                                                                       Pe M
                                                                                                                                    Mill $$
                                                                                                                                         l l         99..22 M Miillll $$
                                                                                                                               .7 M Miiilllll $$$     99..22 M       l$
                                                                   ler 4.219
                                                                                                                                                              M
                                                                                                                                                       99..22 M i l  l
                                                                                                                                                                iilll $$       66.1
                                                                                                                                           l$                                       . Mi
                                                                                                                                                          . M    illl $          666..111 M
                                                                 a                                                                                   99..222 M                            Millll $

                                                                                                16 %
                                                                                                                                                              Miiilllll $$$
                                                                                                                                                              M
                                                               b 5            r                                                                                                     . M
                                                                                                                                                                               666..111 M Miillll $$
                                                            Glo 017: D olla
                                                                                                                                                              M illl $$
                                                                                                                                                                               66..11 M   Miiilllll $$$
                                                                                                                                                                                                  l

                                                                                                  17 %
                                                                                                                                                                                  6..11 M Miiilllll $$$    33.7
                                                              2 S-                                                                                                                        M  illl $$        3..7 Mil
                                                                                                                                                                                                          333..777 M
                                                                  U
                                                                                                                                                                                                                           l
                                                                                                                                                                                                                   Miiilllll $$$
                                                                                                                                                                                                                   M

                                                                                                    11 %
                                                                                                                                                                                                           3..77 M         l
                                                                                                                                                                                                                   Miiilllll $$$
                                                                                                                                                                                                                   M
                                                                                                                                                                                                                           l$

Quelle                                                                                                 7
Sämtliche hier dargestellten Zahlen sind Schätzungen
von Public Eye auf der Grundlage von Daten des priva-
ten Marktforschungsunternehmens Phillips McDougall.
Die besonders
        Giftigen

        Highly Hazardous
        Pesticides (HHPs)

        Von den ca. 1000 Wirkstoffen auf
        dem Markt stehen 310 auf der Liste
        der «Highly Hazardous Pesticides»
        des Pesticide Action Network (PAN).
        Das heisst: Jedes dritte Pestizid ist
        ein HHP.

        Von diesen 310 HHPs sind

                                                                                                                                                                     Anteil der HHPs
              HHP                            HHP                  HHP                  HHP                 HHP                  HHP

                                                                                                                                                                     am gesamten
                                                                                                                                                                     Pestizidmarkt
            77                            50                   78                     4                  30                   55
               ak                              l                  kre                   m                  r                          e
                                             we e b e n                              (er uta            (sc epro                  (sc ndo

                                                                                                                                                                     60%
                    ut                                                bs
                         se
                              hr               nn sg                     err            bg ge              hä du                      hä krin
                                                    ein efä                  eg           utv n              dli kti                    dli
                                   gif                  ge hrl                  en           erä                c      o
                                                                                                                  h f ns                    ch e Di
                                         tig              atm ich                  d             nd                  ür to                    für sru
                                                             et ,                                   ern                 Fo x i s                 Ho pto
                                                                                                        d)                r t p fl c h              rm ren
                                                                                                                                  an                  on
                                                                                                                                                         sys
                                                                                                                                     zun
                                                                                                                                         g)                  tem     des weltweit ausgebrachten
                                                                                                                                                                 )
                                                                                                                                                                     Pestizidvolumens sind HHPs.

        Wo wie viele HHPs eingesetzt werden
        70 Prozent aller HHPs werden in Entwicklungs- und Schwellenländern ausgebracht.
                                                                                           K
   P

                                                                                             ol

                                                                                                                   T
                     B

                                                     U
       ar

                                                                                                                     ha
                          ra

                                                                                                 um
                                                       ru
       ag

                                                                              C
                                   si

                                                                                                                          ila
                                                           gu

                                                                                 hi

                                                                                                      bi

            Paraguay                      Brasilien            Uruguay                China            Kolumbien              Thailand                 EU
        ua

                                         lie

                                                                                                                                                   EU
                                                                                                                              nd
                                                                                    na
                                                               ay

                                                                                                         en
                                             n
              y

100%

50%

                                                                                                                                                                     40%
             93%                            90%                  85 %                 75%                  60%                  60%                  23%
                                                                                                                                                                     des globalen Pestizid-
        Anteil der HHPs an allen ausgebrachten Pestiziden                                                                                                            umsatzes wird mit HHPs
                                                                                                                                                                     erzielt.
  10
            Paraguay                      Brasilien            Uruguay                China            Kolumbien              Thailand                 EU

   0

              7.2                           5.7                      8               2.25                  6.4                  2.2                  0.8

             7.2                           5.7                   8               2.3                   6.4                 2.2                0.8
        Menge an ausgebrachten HHPs in Kilogramm pro Hektare
18

Brasilien – der grösste Pestizidmarkt der Welt

                 0   00
            3 70

                                                                                       2

                                                                                                2

                                                                                                        2

                                                                                                                2

                                                                                                                      2
                                                                                        0

                                                                                                0

                                                                                                        0

                                                                                                                 0

                                                                                                                       0
                                                                                            0

                                                                                                0

                                                                                                        10

                                                                                                                  15

                                                                                                                       17
                                                                                            0

                                                                                                    5
                                                                                      550                                   110

                                  P
                                                             Wert der landwirt-
                                 H
                               H
                                                             schaftlichen
                                                             Produktion
                                                                                      413                                   83
                                                             (in Milliarden $)

                                                                                      275                                   55
                                                             Pestizidverbrauch
                     Ve oba des

                                                             (in 1000 Tonnen)
                                                                                      138                                   28
                          ra n
                               hs
                       rb le
                        gl %

                            uc
                20

                                                                                        0                                   0

370 000 Tonnen HHPs wurden im Jahr 2017 in                   Immer weiter nach oben: Entwicklung der landwirt-
Brasilien versprüht. So viele wie in keinem Land             schaftlichen Produktion und der Menge an ausgebrach-
sonst. Das sind 20% des globalen Verbrauchs.                 ten Pestiziden in Brasilien, von 2000 bis 2017.

Vier Fünftel der in Brasilien verkauften Pestizide
werden auf fünf Nutzpflanzen ausgebracht
Anbaugebiete und Produktionsmenge 2017 in Tonnen

Soja                      Zuckerrohr               Mais                           Baumwolle             Kaffee
114 599 168 t             758 548 292 t            97 721 860 t                   3 842 872 t           2 680 515 t

                                                                                      Anteil pro Pflanze am Gesamtwert
                                                                                      der verkauften Pestizide
19

Syngenta – die Nummer eins im Geschäft

HHPs als Kerngeschäft für Syngenta

42                                                                                        42 %
von 120 Syngenta-Pestiziden                                                               des weltweiten Umsatzes von
sind auf der HHP-Liste.                                                                   Syngenta wird mit HHPs erzielt.

51                                                                       Syn
                                                                                          16 %
                                                                         Pe s g e n t a   beträgt Syngentas Marktanteil am

                                                                                                                             H %
von 120 Syngenta-Pestiziden

                                                                                                                               42

                                                                                                                                P
                                                                         por tizid- s

                                                                                                                              H
sind in der Schweiz nicht                                                                 globalen HHP-Business.
zugelassen.                                                                  tfo
                                                                                  lio

                                                                                                                             P
                                                                                                                             H
                                                                                                                             H

                                                                                                                                 P
                                                                                                                                 H
                                                                                                                                 H
                                                                              P
                                                                             H
                                                                            H
                                                                     P
                                                                     H
                                                                     H

Syngenta in Brasilien

Allein in Brasilien hat Syngenta 2017 Pestizide
im Wert von 1,6 Milliarden US-Dollar verkauft,
was einen Marktanteil von 18 % ergibt. 60 %
dieser Pestizide waren HHPs.

                   -
               rkt n                                                                         Die Hauptmärkte
             Ma teil i lien
           %                                                                                 für Syngentas HHPs
         18 an rasi
                B

                                                                d$
       $ $ $ $ $ $ .3 .3 .3 .3 .3 .3
                                  777777

                                                            r                                  Land          Anteil an
                             MMMMMM
                          lli lli lli lli lli lli

                                                         6M
                      $$$$$$

                     333333
                 7. 7. 7. 7. 7. 7.
            MMMMMM

                                                                                                             Verkäufen
         lli lli lli lli lli lli

                                                    1.                                         Brasilien       32 %
                                                                                               USA             19 %
                                                                                               Argentinien      6%
                                                                                               China            4%
                                                                                               Frankreich       2%
                                                                                               Japan            1%
                                                                                               Deutschland      1%
                                                                                               Australien       1%
                                                                                               Paraguay         1%
                              H %
        60

                                                                                               Ukraine          1%
                                 P
                               H

                                                                                               Mexico           1%

        HH
           P                                                                                   Russland         1%
                                    P
                             HH                                                                Indien           1%
                                                                                               Vietnam          1%
                                                                                               Ungarn           1%
20                                                  PUBLIC EYE MAGAZIN   Nr. 17   April 2019

Syngentas Milliardengeschäft
mit hochgiftigen Pestiziden

Fast ein Drittel aller Pestizide auf dem Weltmarkt sind laut der Liste des
Pesticide Action Network «hochgefährlich». Public Eye hat das lukrative
Geschäft mit diesen Produkten unter die Lupe genommen. Auf der Grund-
lage exklusiver Daten können wir zeigen, welch zentrale Rolle Syngenta
darin spielt – insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. Unsere
Recherche zeigt: In Brasilien, dem wichtigsten Markt Syngentas, sind Millio-
nen Menschen einem gefährlichen Pestizidcocktail ausgesetzt.
                                                                                               © GFábio Erdos/Panos Pictures

GÉRALDINE VIRET
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