Treffpunkte 1/ 2020 - Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie
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Treffpunkte Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie in der Rhein-Main-Region 1 / 2020 Hoher Sinn für das Mögliche, das Machbare und das Realistische Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet sich in den Ruhestand Ein Netz, das auffängt Das Lotsennetzwerk Rhein-Main Wohnen inklusiv Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für neue Erkenntnisse Experten für Eigensinn Menschen mit herausforderndem N Z E N re Verhalten stellen institutionelle Grenzen infrage G R E d äuße e r e un i n den In n übe r w Humane Psychiatrie r d e n Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Hü Herausgegeben von der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V.
Impressum Impressum Treffpunkte Frankfurter Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie Die Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Ausgabe 1/2020 Frankfurt am Main e. V. Konzept Die Zeitschrift ist ein Forum für alle Beteiligten in der ambulanten, teilstationären und stationären Psychia- trie sowie in der Sozialpsychiatrie. Die Zeitschrift berichtet über allgemeine Entwicklungen; das hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1970 zur Aufgabe gemacht, die Situation psychisch besondere Gewicht liegt auf regionalen Aspekten der kranker Menschen in Frankfurt am Main zu verbessern und deren gleichberechtigte Rhein-Main-Region. Teilnahme im städtischen Leben und das Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Gründer Christof Streidl (1939-1992) Herausgeber Hierzu wurden von der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main im Lauf der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. Jahre viele Projekte initiiert sowie Dienste und Einrichtungen gegründet. Heute stellen Holbeinstraße 25-27, 60596 Frankfurt am Main Telefon 069 96201869, Fax 069 627705 wir im Süden der Stadt ein umfangreiches Hilfe-, Beratungs- und Unterstützungsange- gst@bsf-frankfurt.de bot im Rahmen der gemeindepsychiatrischen Versorgung der Großstadt Frankfurt am www.bsf-frankfurt.de Main zur Verfügung. Redaktionsteam Christel Gilcher, Konrad Hertrampf, Andrea Kempf, Kai Marschner, Stephan von Nessen, Mit rund 50 angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ehrenamtlichen Gerhard Pfannendörfer Kräften betreiben wir folgende Dienste und Einrichtungen: Betreutes Wohnen, die Psy- Chefredaktion Gerhard Pfannendörfer chosoziale Kontakt- und Beratungsstelle Süd, eine Tagesstätte, ein Wohnheim und den Eichwaldstraße 45, 60385 Frankfurt am Main offenen »Treffpunkt Süd« im traditionsreichen Teplitz-Pavillon in Frankfurt am Main- gerhard.pfannendoerfer@gmail.com Sachsenhausen. Die Dienste und Einrichtungen bieten psychisch kranken Menschen Druck Unterkunft, psychosoziale Betreuung und Beratung sowie die Möglichkeit, ihren Tag zu druckwerkstatt Rödelheim, Biedenkopfer Weg 40a 60489 Frankfurt am Main strukturieren, Zeit sinnvoll zu gestalten und mit anderen Menschen ins Gespräch und Telefon 069 907498-0, Fax 069 90749825 in Kontakt zu kommen. dwr@frankfurter-verein.de www.reha-werkstaetten.de/branchen/ druck-werbetechnik Der Psychosoziale Krisendienst, für das gesamte Stadtgebiet organisiert von der Bür- Layout, Satz und Gestaltung gerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main, sichert außerhalb der allgemeinen Bettina Hackenspiel / bettin@hackenspiel.de Dienstzeiten der Beratungsstellen und sonstigen Dienste in Notlagen psychosoziale Titelseite Hilfe und vermittelt bei Bedarf ärztliche Hilfe. Er wendet sich an Menschen mit Das Überwinden von Grenzen gehört zum menschlichen Leben dazu. psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen, die an einer akuten ernst- haften Störung ihrer seelischen Gesundheit leiden, sowie deren Angehörige, Freunde, Erscheinungsweise Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich. Bekannte und Nachbarn. Auflage 1.000 Exemplare Von Anfang an war die Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiges und satzungsmäßiges Anlie- Einzelpreis gen des Vereins. So existiert seit über vier Jahrzehnten die von der Bürgerhilfe Sozial- Die Zeitschrift kostet 5,- Euro einschließlich Versandpauschale. psychiatrie Frankfurt am Main herausgegebene Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie Abonnement »Treffpunkte«. Die Publikation sieht sich als Forum für alle Akteure der Sozialpsychia- Das Jahresabonnement kostet 21,- Euro einschließlich trie. Die »Treffpunkte« bieten Berichte und Essays zu aktuellen sozialpolitischen The- Versandkosten. Das Abonnement kann bis zum 31. Dezember jedes Jahres gekündigt werden. men, diskutiert allgemeine Entwicklungen, stellt Betrachtungen zu Kunst und Kultur Bestellungen bitte an den Herausgeber. an, ist Plattform für Fachleute, Betroffene und Angehörige. Besonderes Gewicht liegt in Förderabonnement der Berichterstattung auf Themen aus der Region Rhein-Main und Hessen. Dies wird Mit einem Förderabonnement ab 30,- Euro jährlich kann die Zeitschrift unterstützt werden. untermauert durch die Kooperation der Zeitschrift mit der Stiftung Lebensräume in Anzeigen Offenbach am Main, die in einer eigenen Rubrik ihre Themen vorstellt. Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. Holbeinstraße 25-27, 60596 Frankfurt am Main Telefon 069 96201869, Fax 069 627705 Die Arbeit der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main wird finanziert durch gst@bsf-frankfurt.de Leistungsentgelte für die erbrachten Einzelangebote, durch Zuschüsse der Stadt Frank- www.bsf-frankfurt.de furt am Main und des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen sowie durch Mitgliedsbei- träge und Spenden. Der Vorstand der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. setzt sich zusammen aus Stephan von Nessen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (1. Vorsitzender), Regina Stappelton (2. Vorsitzende) sowie den weiteren Vorstandsmit- gliedern Gabriele Schlembach, Kirstin von Witzleben-Stromeyer und Bernard Hennek. Geschäftsführer der Bürgerhilfe ist Kai Marschner. www.bsf-frankfurt.de
Editorial » Gefühl von Grenze darf nicht heißen: hier bis du zu Ende, sondern: hier hast du noch zu wachsen.« Emil Gött, deutscher Schriftsteller (1864-1908) Liebe Leserin, lieber Leser, Grenzen lösen bei vielen Menschen widersprüchliche Gefühle aus. Grenzen können angst machen und sie können als Schutz empfunden werden. Dies gilt für räumliche Grenzen zwischen Ländern wie für eigene und zwischen- menschliche Grenzen. Wenn Ärzte von »austherapiert« sprechen, scheint alle Hoffnung dahin zu sein. Ist dieses Urteil bei körperlichen Krankheiten schon zweifelhaft, so gilt dies noch viel mehr bei seelischen und psy- chischen Leiden. Denn viele Kranke haben über lange Zeit nur unzurei- chend fachliche Hilfe erhalten, haben oft in prekären Verhältnissen gelebt, stellt Jo Becker in seinem Beitrag in diesem Heft über die Grenzüberschrei- ter besonderer Art fest, die von Diensten und Einrichtungen gefürchteten »Systemsprenger«. Meist hätten sie eine Vorgeschichte von gescheiterten Betreuungsbeziehungen und andere Beziehungsabbrüche hinter sich. Häufig seien neben der Erkrankung zusätzliche Komplikationen entstan- den: Substanzmissbrauch, unzureichende Ernährung, Verwahrlosung, körperliche Erkrankungen, Schulden, Verlust sozialer Bindungen. Und oft auch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Institutionen und Fach- kräften. Sein Rat: Viele dieser Menschen bräuchten individuelle und keine institutionellen Lösungen! Gerhard Pfannendörfer Chefredaktion »Treffpunkte« gerhard.pfannendoerfer@gmail.com Treffpunkte 1/20 1
Inhalt Inhalt Editorial 1 Grenzüberschreiter Von Gerhard Pfannendörfer Magazin 3 Hoher Sinn für das Mögliche, das 19 Zurück in den Alltag Machbare und das Realistische Grenzen einer psychischen Erkrankung Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet sich in können überwunden werden den Ruhestand Von Christel Gilcher 5 Ein Netz, das auffängt Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für neue Erkenntnisse Forum Von Lisa Schmidt 22 Humane Psychiatrie Zwischen Anspruch und Wirklichkeit 6 Wohnen inklusiv Von Jonathan Gutmann Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für neue Erkenntnisse Von Lisa Schmidt 24 Kreativität kann heilen Zwei Malgruppen bieten Räume, Material und Begleitung 9 »Austherapiert« gibt es nicht Von Melanie Attari und Pierrette Rouvinez Grenzen bei den Hilfen für psychisch kranke Menschen können überwunden werden Von Stephan von Nessen Informationen 26 Rhein-Main-Kaleidoskop, Zitat, Thema Themenhefte, Notizen, Kennzahlen 12 Experten für Eigensinn Menschen mit herausforderndem Verhalten Fragebogen stellen institutionelle Grenzen infrage 32 Sieben Fragen an Von Jo Becker Michelle Hübenthal 16 Grenzen überwinden Geflüchtete Menschen sind auf der Suche nach Normalität und gesellschaftlicher Teilhabe Von Ulrike Schneck 2 Treffpunkte 1/20
Magazin Hoher Sinn für das Mögliche, das Machbare und das Realistische Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet sich in den Ruhestand Zum 30. November 2019 ist der langjährige Geschäftsführer der Bürgerhilfe, Gerhard Seitz-Cychy, in den Ruhestand gegangen. Sein Wirken hat die fachliche, organisatorische und wirtschaftliche Entwicklung des Vereins über die vergangenen Jahre maßgeblich geprägt. Die Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Es ist jedoch zu wenig, sich auf die Frankfurt am Main e. V. ist eine Orga- außerordentlichen Fähigkeiten im nisation der ambulanten sozialpsy- administrativen Bereich zu fokussie- chiatrischen Versorgung in der Main- ren. Insbesondere sind die Verdienste Metropole. Die Aufgabe und Intenti- von Gerhard Seitz-Cychy für die Bür- on des Vereins besteht seit dem gerhilfe untrennbar mit seiner Gründungsjahr 1970 darin, Projekte, zutiefst bodenständigen Persönlich- Initiativen, Angebote und Dienstleis- keit verbunden. Auf dieser Grundlage tungen zu gründen, zu fördern und sind seine unternehmerischen Ent- zu betreiben, die der Integration und scheidungen immer mit dem gebote- Teilhabe psychisch kranker Men- nen Augenmaß getroffen worden. schen in der Gesellschaft dienen. Sein Führungshandeln war durchweg vom Sinn für das Mögliche, Machbare Nach dem Ausscheiden des vorheri- und Realistische geprägt. gen Geschäftsführers Eckhard Seelig und einer Interimsphase unter Karl Geleitet von diesem pragmatischen Wieß erfolgte die Übernahme der Ansatz konnte die Bürgerhilfe in den Geschäftsführung durch Gerhard vergangenen vierzehn Jahren ihr Seitz-Cychy im Jahre 2005 zu einem fachliches Spektrum an Diensten Zeitpunkt, als es darum ging, bishe- und Teilhabeangeboten deutlich rige Strukturen, den Anforderungen erweitern. Um nur drei Beispiele zu Gerhard Se der mittlerweile an Diensten und nennen: itz-Cychy Mitarbeitern gewachsenen Bürger- hilfe anzupassen. • Für die Lücke in der damals unzu- reichenden stationären Versorgung Nicht nur für die betriebswirtschaft- alt gewordener psychisch kranker lichen Funktionen entwickelte Menschen wurde mit der Eröff- Gerhard Seitz-Cychy in der Folge nung des Wohnheims Goldsteins sorgung des Frankfurter Südens wirkungsvolle Instrumente des Con- ein wichtiger Baustein gesetzt. kontinuierlich ausgebaut und last trollings, der Kosten- und Leistungs- but not least: mit der Backstube als rechnung, des Abrechnungswesens • Die Bereitschaftszeiten des aus- Zuverdienstmöglichkeit der Tages- und des Personalmanagements. nahmslos mit Fachpersonal des stätte Süd ein echtes Herzenspro- Auch die einzelnen Dienste und Ein- gesamten sozialpsychiatrischen jekt realisiert. richtungen profitierten von seiner Netzwerks Frankfurts besetzten fundierten Kenntnis in der Entwick- Psychosozialen Krisendienstes Mit der Ausweitung der fachlichen lung geeigneter Administrations- wurden erweitert. Angebote wurde auch die Anzahl und Dokumentationssysteme der Mitarbeitenden mehr als verdop- (genannt sei nur das Stichwort: • Der steigenden Nachfrage entspre- pelt und der Umsatz des Vereins Excel-Tabellen ☺). chend wurde die ambulante Ver- nahezu verdreifacht. In all den Jah- Treffpunkte 1/20 3
Magazin ren seiner Geschäftsführungstätig- hilfe. Die geringe Fluktuation inner- vereinsinterne Verabschiedung statt. keit ist Gerhard immer zuerst halb der Mitarbeiterschaft über die Sicherlich ist es ein Kennzeichen Mensch geblieben. Jahre und die hohe Attraktivität der hoher Anerkennung, dass nahezu Bürgerhilfe als Arbeitgeber sind ein alle Kolleginnen und Kollegen und Die menschliche, authentische Hal- Indiz hierfür. auch eine Vielzahl »Ehemaliger« zu tung von Gerhard Seitz-Cychy ist diesem Anlass vor Ort waren, um auch ausschlaggebend für die geleb- In einer ungezwungenen, familiär sich zu verabschieden und dem nun te mitarbeiterorientierte, auf Augen- freundlichen Atmosphäre fand denn ehemaligen Chef eine wunderbare höhe stattfindende, kooperative auch am 15. November 2019 in der Zeit im Ruhestand zu wünschen. Unternehmenskultur in der Bürger- Tagesstätte Süd der Bürgerhilfe die Kai Marschner In jedem Fall ist die Übernahme der Geschäfte zum jetzi- gen Zeitpunkt ein Start in den vollen Lauf. Gut, dass der neue Geschäftsführer neben seiner Leidenschaft für die Arbeit in der Sozialpsychiatrie eine Leidenschaft für den Ausdauersport hat. Sicherlich eine Eigenschaft, die für die kommenden Herausforderungen nützlich ist. Die Geschäftsführung der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. liegt seit dem 1. Dezember 2019 bei Kai Marschner. Wie sein Vorgänger Gerhard Seitz- Cychy hat er eine lange berufliche Sozialisation im Frank- furter Verein für soziale Heimstätten e. V., wo er seit 1999 Der »Neue« ist gut vernetzt als Sozialarbeiter in den Ambulanten Diensten und im Integrationsfachdienst beschäftigt war, bevor er 2013 die Die Geschäftsführung der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Leitung des Wohnheims Teichmühle in Friedrichsdorf- Frankfurt am Main e. V. liegt seit dem 1. Dezember 2019 Köppern übernahm. Insofern ist der »Neue« kein Unbe- bei Kai Marschner. Wie sein Vorgänger Gerhard Seitz- kannter und er kann mit dem Start seiner Tätigkeit auf Cychy hat er eine lange berufliche Sozialisation im Frank- ein überwiegend bekanntes Netzwerk zurückgreifen. furter Verein für soziale Heimstätten e. V., wo er seit 1999 als Sozialarbeiter in den Ambulanten Diensten und im Die Wechsel der Geschäftsleitung bei der Bürgerhilfe fällt Integrationsfachdienst beschäftigt war, bevor er 2013 die in die Zeit einer der größten Sozialreformen der vergan- Leitung des Wohnheims Teichmühle in Friedrichsdorf- genen Jahrzehnte. Die Auswirkungen des Bundesteilha- Köppern übernahm. Insofern ist der »Neue« kein Unbe- begesetzes stellen die Organisation der Eingliederungs- kannter und er kann mit dem Start seiner Tätigkeit auf hilfe vor große Herausforderungen. Inwiefern am Ende ein überwiegend bekanntes Netzwerk zurückgreifen. dieses Prozesses ein tatsächlicher Mehrwert für die betroffenen Menschen als Leistungsberechtigte entstan- Die Wechsel der Geschäftsleitung bei der Bürgerhilfe fällt den sein wird, muss zu einem späteren Zeitpunkt bewer- in die Zeit einer der größten Sozialreformen der vergan- tet werden. genen Jahrzehnte. Die Auswirkungen des Bundesteilha- begesetzes stellen die Organisation der Eingliederungs- In jedem Fall ist die Übernahme der Geschäfte zum jetzi- hilfe vor große Herausforderungen. Inwiefern am Ende gen Zeitpunkt ein Start in den vollen Lauf. Gut, dass der dieses Prozesses ein tatsächlicher Mehrwert für die neue Geschäftsführer neben seiner Leidenschaft für die betroffenen Menschen als Leistungsberechtigte entstan- Arbeit in der Sozialpsychiatrie eine Leidenschaft für den den sein wird, muss zu einem späteren Zeitpunkt bewer- Ausdauersport hat. Sicherlich eine Eigenschaft, die für die tet werden. kommenden Herausforderungen nützlich ist. 4 Treffpunkte 1/20
Magazin Ein Netz, das auffängt Das Lotsennetzwerk Rhein-Main Immer wieder passiert es, dass Menschen in Krankenhäusern behan- delt werden und aufgrund fehlender Ressourcen nicht auf die Zweit- diagnose Sucht angesprochen und ins Hilfesystem vermittelt werden. Die Schnittstelle zwischen Krankenhäusern und Suchthilfesystem zu schließen ist ein Anliegen des Lotsennetzwerks. Ziel ist, dass mit Hilfe der Lotsen ein Teil der Abhängigkeitserkrankten nicht wieder in ihr altes Suchtver- halten zurückfällt und einer erneu- ten und kostenintensiven stationä- ren Akutbehandlung bedarf. Immer im Blick hat die Koordinato- rin dabei die Lotsen und Lotsinnen, regelmäßige Schulungen und Pra- xisbegleitungen werden angeboten, Der Caritasverband Darmstadt will Beim Lotsenprojekt Rhein-Main sind damit diese an ihrer Aufgabe wach- das Lotsennetzwerk Rhein-Main Lotsen suchterfahrene Menschen, sen und nicht zerbrechen. Denn der weiter ausbauen. Zielgruppe des Pro- die andere Suchtkranke oder deren Lotse ist ein Weg-Begleiter, der jekts sind Menschen mit einem Angehörige auf dem Weg aus der jedoch nicht für die Klienten verant- missbräuchlichen oder abhängigen Sucht für eine bestimmte Zeit beglei- wortlich ist. Konsum von Suchtmitteln. Suchter- ten und unterstützen und ihnen fahrene zeigen Menschen mit Sucht- dabei helfen, die Probleme anzupa- problemen Hilfemöglichkeiten und cken. Die Lotsen sind Mitglieder von stehen ihnen als Lotse zur Seite. Selbsthilfegruppen. Sie sind freiwil- lig und ehrenamtlich im Lotsennetz- Das Lotsennetzwerk Rhein-Main ist werk tätig und wurden durch eine mit seiner Koordinierungsstelle an Schulung auf diese Tätigkeit vorbe- das Suchthilfezentrum des Caritas- reitet. verbandes Darmstadt angebunden. Kontakt Das Projekt wurde drei Jahre lang Die Schnittstelle zwischen Kranken- Lotsennetzwerk Rhein-Main von der Aktion Mensch und dem häusern und Suchthilfesystem zu Diözesancaritasverband Mainz schließen ist ein Anliegen des Lot- Koordinatorin: Christine Müller gefördert. Die Koordinierungsstelle sennetzwerks, denn in den Kliniken Caritasverband Darmstadt e. V. ist mit einer halben Stelle einer entsteht der erste Kontakt zu den Wilhelm-Glässing-Straße15-17 hauptamtlichen sozialpädagogi- Betroffenen. Der Caritasverband 64283 Darmstadt schen Fachkraft besetzt. Das Konzept Darmstadt hofft, so auch die sucht- wurde mit der Koordinatorin des kranken Menschen und Angehörige Telefon 06151 500-2847 Suchthilfeverbundes der Caritasver- zu erreichen, die das Hilfesystem www.caritas-darmstadt.de/ bände Hessen und der Selbsthilfeor- noch nicht nutzen wollen oder kön- caritasvorort/darmstadt/ ganisation Kreuzbund, Diözesanver- nen. Weitere Kooperationspartner suchthilfezentrum-darmstadt/ band Mainz e. V., entwickelt und sind Job Center, Bewährungshilfen, lotsennetzwerk/lotsennetzwerk abgestimmt. Wohngruppen, Psychiatrien und Sozialpsychiatrische Dienste. Treffpunkte 1/20 5
Magazin Wohnen inklusiv Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für neue Erkenntnisse Von Lisa Schmidt Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat sein Projekt zum Wohnen für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung nach fünfjähriger Laufzeit abgeschlossen. Die Arbeit für eine umfassende Inklusion geht jedoch weiter. Befragungen und Vernetzung der Akteure Um Barrieren und Ressourcen zu identifizieren, wurden in Zusam- menarbeit mit dem Dachverband Gemeindepsychiatrie Befragungen durchgeführt. In einer ersten Befra- gung wurden Betroffene von psy- chischen Beeinträchtigungen über ihre Wohnsituation interviewt. Eine zweite Befragung widmete sich der Perspektive der Träger der psychi- atrischen Versorgung. Die dritte Erhebung nahm die Perspektive der Wohnungswirtschaft in den Blick. Besonders hervorzuheben ist der kontinuierliche und nachhaltige Alle Menschen sollen mit gleichen Mit seinem von der Aktion Mensch Kontakt vieler unterschiedlicher Wahlmöglichkeiten in der Gemein- Stiftung geförderten Projekt »Inklu- Akteure während der Projektlauf- schaft leben können. Ob mit oder sion psychisch kranker Menschen zeit: aus der Wohnungswirtschaft, ohne Behinderung: Jede und jeder bewegen« hat sich der Paritätische von sozialen Trägern, Politik, Ver- soll die Möglichkeit haben, zu ent- Gesamtverband auf den Weg bänden, der Wissenschaft und nicht scheiden, wo, wie und mit wem sie gemacht, Impulse zur Inklusion von zuletzt Betroffenenvertretungen. Bei oder er leben will. Dies besagt Arti- Menschen mit psychischen Beein- Gremiensitzungen, Runden Tischen kel 19 der UN-Behindertenrechtskon- trächtigungen im Bereich Wohnen in den Projektregionen und Fachge- vention. zu geben. sprächen konnten so verschiedene Perspektiven diskutiert und klarere Menschen mit psychischen Beein- Innerhalb der fünfjährigen Laufzeit Ideen für eine inklusive Zukunft for- trächtigungen haben es jedoch konnte das Thema Wohnen für Men- muliert werden. Die breite fachliche sowohl in Ballungszentren als auch schen mit psychischen Beeinträchti- Diskussion hat viele Gestaltungsbe- in ländlichen Regionen besonders gungen aus unterschiedlichen Per- darfe aufgezeigt, Forderungen her- schwer, eine geeignete Wohnung zu spektiven beleuchtet und diskutiert vorgebracht und zu Lösungsvor- finden. Der Mangel an preiswertem werden. Mithilfe von Befragungen schlägen für die aufgezeigten Pro- und geeignetem Wohnraum führt, und im Austausch mit Experten in bleme geführt. gepaart mit vorhandenen Vorurtei- eigener Sache, sozialen Organisatio- len, für Menschen mit psychischer nen, Politik, Wissenschaft und Woh- Aus der Projektarbeit lassen sich Beeinträchtigung und sie unterstüt- nungswirtschaft wurden Gestal- Gestaltungsbedarfe ableiten, die Ein- zende Träger zu deutlicher Benach- tungsbedarfe in verschiedenen gang in ein vom Paritätischen Ver- teiligung auf dem Wohnungsmarkt. Handlungsfeldern abgeleitet. bandsrat verabschiedeten Positions- 6 Treffpunkte 1/20
Magazin papier fanden. Mit diesen Positionen Ländern und Kommunen sowie den den und durch langwierige institu- wird sich der Paritätische auch nach Akteuren der Wohnungswirtschaft zu tionelle Bearbeitungsprozesse. Es gilt Ende der Projektlaufzeit für die unterstützten. Mit dem neuen Miet- daher strukturelle Barrieren abzu- Bedarfe von Menschen mit psy- rechtsanpassungsgesetz wurde der bauen. So können beispielsweise chischen Beeinträchtigungen einset- Kündigungsschutz für soziale Träger durch eine lokal realistische Anpas- zen und dabei insbesondere die verbessert: Mietverhältnisse, die zu sung der Kosten der Unterkunft und Herausforderungen, vor denen Men- einem sozialen Zweck eingegangen durch die Vereinfachung des büro- schen mit psychischen Erkrankun- werden, um Wohnraum an Personen kratischen Aufwands bei einer gen bei der Suche und dem Erhalt zum Wohnen zu überlassen, wurden Anmietung hohe Hürden aus dem von Wohnraum stehen, in die Debat- damit unter besonderen Kündigungs- Weg geräumt werden. ten einbringen. schutz gestellt. Diese Regelung gilt jedoch lediglich für ab dem 1. Januar 2019 abgeschlossene Verträge. Wohnraum erhalten, Woh- Adäquaten und bezahlbaren Sozialen Organisationen, die Wohn- nungsverlust vermeiden Wohnraum schaffen raum für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung anbieten, entste- Fachkräfte der Eingliederungshilfe Notwendig ist die Schaffung bezahl- hen teilweise hohe Instandsetzungs- unterstützen und begleiten Men- baren Wohnraums für Menschen kosten, Kosten für Mietausfälle schen mit psychischen Erkrankun- mit psychischen Beeinträchtigungen sowie bürokratischer Aufwand, der gen, wenn es darum geht, eine eige- sowie auch für andere auf dem Woh- über die eigentliche psychosoziale ne Wohnung zu finden, diese zu nungsmarkt benachteiligte Perso- Arbeit hinausgeht. Diese Ausgaben bewirtschaften und alle Dinge zu nengruppen. Hierfür trägt auch der müssen im Kostensatz Berücksichti- regeln, die mit der Anmietung einer Bund Verantwortung, in dem er den gung finden. Die Schaffung von Wohnung zusammenhängen. Sie sozialen Wohnungsbau stärker unabhängigen Wohnraumvermitt- sind Ansprechpersonen für die Woh- finanziell unterstützt. Die Kommu- lungs- und Beratungszentren, die nungswirtschaft sowie für Vermie- nen sollten sich in ihrem Einflussbe- zwischen sozialen Trägern und der ter. Die ambulante psychosoziale reich stärker für bezahlbaren Wohn- Wohnungswirtschaft vermitteln Versorgung von Menschen mit psy- raum für die Zielgruppe einsetzen. sowie Nachfrage und Angebot nach chischer Beeinträchtigung sowie Besonders im Neubau von bezahlba- Wohnungen bündeln, sollte vorange- niedrigschwellige, selbsthilfeför- rem Wohnraum sollten Diskussio- trieben werden. dernde und andere Hilfen spielen nen um die Ausgestaltung lebens- eine wesentliche Rolle bei der Förde- werter Quartiere geführt sowie rung sozialer Teilhabe sowie der Ver- Lösungsansätze für die flexible Zugang zu Wohnraum meidung von Wohnungsverlust und Anpassung von Wohnungsgrößen schaffen stationären Aufenthalten. für die Zukunft gesucht werden. Für Menschen mit psychischer Mit der dritten Stufe der Umsetzung Soziale Organisationen fungieren Beeinträchtigung stellt die Woh- des Bundesteilhabegesetzes ab Janu- durch die Übernahme von Mietver- nungssuche häufig eine große ar 2020 kommen auf die sozialen hältnissen für Menschen mit psy- Herausforderung dar. Vermieter sind Träger neue Aufgaben zu. Mit dem chischer Beeinträchtigung als wich- oft verunsichert, wenn sie wissen, bevorstehenden Reformschritt soll tige Akteure in der kommunalen dass potenzielle Mieter psychisch der Anspruch auf gleichberechtigte Daseinsvorsorge. Durch Bauprojekte beeinträchtigt sind. Wohlfahrtsver- Teilhabe und Partizipation in allen schaffen sie neuen Wohnraum, mit bände, soziale Organisationen, Anti- Lebensbereichen leistungsrechtlich der Anmietung von Wohnraum für diskriminierungsstellen und Woh- umgesetzt werden. In diesem Menschen mit psychischer Beein- nungswirtschaft sollten kooperieren, Zusammenhang tauchen zahlreiche trächtigung sorgen sie für den Erhalt um Diskriminierungen auf dem Fragen auf. Ein besonderes Augen- bezahlbaren Wohnraums. Wohnungsmarkt von Menschen mit merk muss deshalb auf die Siche- psychischen Beeinträchtigungen rung und Umsetzung der sozialen Die langjährige Erfahrung in der abzubauen und den besonderen Teilhabe gelegt werden. Es gilt in Zusammenarbeit mit privaten Ver- Bedürfnissen dieser Zielgruppe diesem Zusammenhang zu beach- mietern, Wohnungsbaugenossen- gerecht zu werden. ten, dass ambulante Wohngruppen schaften und anderen Anbietern von auch weiterhin als solche erhalten Wohnungen machen soziale Organi- Hürden bei der Suche nach einer bleiben und der Bezug von Sachleis- sationen und deren Mitarbeitende zu Wohnung entstehen besonders tungen der Pflege in diesen auch kompetenten Ansprechpartnern. Sie durch Nachweise, die bei der Bewer- weiterhin möglich ist. ➝ sind deshalb entsprechend von den bung um Wohnraum gefordert wer- Treffpunkte 1/20 7
Magazin In akuten Krisen- und Konfliktsitua- Gutes Zusammenleben ist maßgeb- Und jetzt? tionen in Wohnangelegenheiten lich abhängig von konkreten mate- sollten feste Ansprechpersonen der riellen und räumlichen Aspekten, Die Erkenntnisse aus dem Projekt sozialen Organisationen als Mittler die in Bauvorhaben einbezogen wer- wurden in einem Abschlussbericht zwischen Vermietern und Mietern den sollten. Im Projekt wurde deut- festgehalten. Diese werden zudem in fungieren. Diese Leistung trägt zum lich, inwiefern einfache Gegenstän- die zielgruppenübergreifende Bear- Erhalt von Wohnraum bei und muss de und Wünsche der Wohnausstat- beitung des Themas im Paritäti- im Rahmen der Assistenzleistungen tung (Begrünung, kleiner Balkon, schen Gesamtverband eingebracht. sichergestellt werden. Baum vor dem Fenster, Badewanne) Zu nennen ist beispielsweise die große wohltuende Wirkung erzielen diesjährige Veranstaltungsreihe können. Das Thema Lärm ist hier »Soziale Organisationen als Partner Inklusiven Sozialraum besonders wichtig: Sich von Nach- der Wohnungswirtschaft« mit dem gestalten barn durch Lärm gestört zu fühlen Ziel die Kooperation vor Ort zwi- oder diese krankheitsbedingt durch schen sozialen Trägern und der Lebenswerten Wohnraum zu finden, eigene Lärmerzeugung zu stören, Wohnungswirtschaft zu den ver- geht über die Anmietung einer Woh- stellt eine Herausforderung für alle schiedenen wohnungsbezogenen nung hinaus. Vielmehr braucht es Beteiligten dar. Thematiken zu fördern und einen die Einbindung in Nachbarschaften Beitrag zur Sensibilisierung der und in das Gemeinwesen, welches Die infrastrukturelle Anbindung von Wohnungswirtschaft leisten. die richtige Mischung aus Nähe und Wohngebieten, medizinische Versor- Distanz, Kontaktmöglichkeiten und gung, Lebensmittelversorgung sowie Einen weiteren Anknüpfungspunkt Rückzug ermöglicht. Im Sinne einer Angebote von sozialer und kulturel- bietet das im Paritätischen Gesamt- ganzheitlichen Wohnungs- und ler Teilhabe sind sowohl für Bal- verband angesiedelte Projekt »Teil- Stadtentwicklungspolitik sollten lungszentren wie auch für ländliche habeforschung: Inklusion wirksam gesundheitsfördernde Aspekte Regionen von besonderer Bedeu- gestalten«. Mit Analysen sowie der bedacht und positive Entwicklungen tung. Die Verdrängung einkom- Einbeziehung von Betroffenen in in Stadtteilen gestärkt werden. mensschwacher Haushalte und Form von Interviews und Workshops mangelnde Investitionen in soziale werden Vorschläge zur Verbesserung Um Hilfen im Sozialraum zu organi- Infrastruktur führen zu Segregation der Lebenssituation und Teilhabe- sieren, sind gemeindepsychiatrische und Exklusion von Menschen mit möglichkeiten von Menschen mit Träger notwendig, damit Kontakte psychischer Beeinträchtigung oder Beeinträchtigungen entwickelt. zu Nachbarn und weiteren Personen auch anderer Personengruppen. aufgebaut werden können. Sie unterstützen bei der Kontaktaufnah- Ein funktionierender öffentlicher Ergebnisse, Informationen und Publi- me zu Selbsthilfegruppen und -orga- Personennahverkehr ist unabding- kationen rund um das Projekt »Inklu- nisationen. Der unverzichtbare Bei- bar für soziale und kulturelle Teilha- sion psychisch kranker Menschen trag dieser Träger zur gesundheitli- be. Dieser muss ausgebaut und kos- bewegen« sind auf der Schwerpunkt- chen Stabilisierung und zur sozialen tengünstig beziehungsweise kosten- seite »Wohnen« des Paritätischen Teilhabe erfordert personelle Res- frei für einkommensschwache Haus- Gesamtverbands zu finden: sourcen, die besser als bislang zu halte angeboten werden. www.der-paritaetische.de/ finanzieren sind. schwerpunkte/wohnen Lisa Schmidt war Leiterin des Projekts »Inklusion psychisch kranker Menschen bewegen« beim Gesamtverband des Paritäti- schen Wohlfahrtsverbandes. www. der-paritaetische.de 8 Treffpunkte 1/20
Magazin »Austherapiert« gibt es nicht Grenzen bei den Hilfen für psychisch kranke Menschen können überwunden werden Von Stephan von Nessen In der Medizin werden immer wieder neue Möglichkeiten der Behandlung von Krankheiten entwickelt, erprobt und für Patienten zugänglich gemacht. Dies gilt auch für die Psychiatrie. Wer kennt sie nicht, die Filmsze- führt zu neuen Fragestellungen. Mit sen«, »malignen Verläufen« oder nen, in denen engagierte Ärzte am den zunehmenden Erkenntnissen »präfinalen Zuständen«, um einen Ende langer Qual und nach langem über genetische Dispositionen und den üblichen Rahmen deutlich über- Siechtum von Patienten erschöpft deren Zusammenwirken mit steigenden Bedarf an Behandlung - den Kampf aufgeben und im Beisein Umweltfaktoren gehe ich von einer Medikamente, Hilfsmittel, Pflege und von Angehörigen lebenserhaltende inzwischen sehr viel kürzeren Ver- Unterstützung - zu begründen oder Maschinen abschalten? Krankheits- dopplungszeit aus. um die eingefahrenen Wege der verläufe, an deren Ende sich der Tod Schulmedizin zum Wohle ihrer nur um den Preis des Verlustes von Seltene Diagnosen geraten immer Patienten verlassen zu dürfen. Menschenwürde vielleicht noch häufiger in den Fokus wissenschaft- etwas aufschieben lässt. In diesen licher Ursachenforschung und die So können Ärzte beispielsweise nach Fällen ist der Begriff »austherapiert« Entwicklung spezifischer Behand- einer neuen gesetzlichen Bestim- so eindeutig wie wortwörtlich zu lungen. Für die Erbkrankheit »Spina- mung schwerwiegend Erkrankten verstehen: Das Ende der Therapie ist le Muskelatrophie« zum Beispiel, die Cannabis verschreiben, »wenn eine das Betätigen des Aus-Schalters. einen von 10.000 lebend geborenen allgemein anerkannte, dem medizini- Säuglingen betrifft, wurde im ver- schen Standard entsprechende Leis- Im weitaus größten Teil jedweder gangenen Jahr ein Medikament der tung nicht zur Verfügung steht … und Behandlungen geht es glücklicher- Firma Novartis zugelassen, welches eine nicht ganz entfernt liegende weise nicht unmittelbar um Leben für den Preis von 2,1 Millionen Dollar Aussicht auf eine spürbare positive oder Tod, sondern um Heilung und - mit einmaliger Anwendung eine Einwirkung auf den Krankheitsver- so diese wie bei vielen chronischen Heilung bringt, indem es eine funk- lauf oder auf schwerwiegende Symp- Erkrankungen nicht möglich ist - um tionierende Kopie des defekten Gens tome besteht« (§ 31 Abs. 6 SGB V). Linderung von Leid und der Vorbeu- bereitstellt. Ein alternatives Medika- Cannabis hatte über Jahrhunderte als gung von Folgeschäden. ment für diese Erkrankung verur- Medikamente sehr wohl seinen Platz sachte bislang im ersten Behand- in der Behandlung verschiedener Bei der Suche nach einer Definition lungsjahr Kosten von 750.000 Dollar Krankheiten und ist in Deutschland des Begriffes habe ich folgendes und in den Folgejahren von jeweils erst seit 1872 gesetzlich reguliert. gefunden: »Als austherapiert gilt ein 375.000 Dollar. Vor dem Hintergrund Patient, wenn die kurativen Behand- solcher Zahlen könnten vermutlich Je schlechter es Patienten geht, je grö- lungsmöglichkeiten seiner Erkran- Volkswirtschaftler schnell zu einer ßer deren Leid ist, desto wichtiger ist kung erschöpft sind und keine wei- ganz anderen Definition des Begrif- eine Linderung bringende Therapie. teren Therapieoptionen mehr beste- fes »austherapiert« kommen … Nicht nur weil die Hoffnung zuletzt hen, die zu einer Heilung oder erheb- stirbt, gibt es in der somatischen lichen Besserung des Gesundheits- Ärzte benutzen die Bezeichnung »aus- Medizin - jenseits einer kurativen zustandes führen könnten.« therapiert« nach meiner Erfahrung Behandlung - im palliativen Bereich eher ungern, weil - wie ich vermute - gute Entwicklungen. Menschen, die Das Wissen in der Medizin verdop- sie ihre Patienten wie deren Angehö- in diesem Bereich arbeiten, begreifen pelte sich in der Vergangenheit alle rige nicht der Hoffnungslosigkeit den Tod nicht als Feind, sondern als zehn Jahre. Neues Wissen kommt, preisgeben wollen. Stattdessen spre- zwingende Konsequenz des Lebens, ergänzt oder ersetzt Bekanntes und chen sie von »ungünstigen Progno- zu deren Bewältigung die ihnen Treffpunkte 1/20 9
Magazin anvertrauten Patienten Kraft und tigen Zuwachs an Therapiebaustei- also »therapieresistenten«) Krank- Unterstützung brauchen. nen, die - richtig kombiniert - sehr gut heitsbildern bewirken kann. geeignet sind, das Leid der betroffe- Während früher beispielsweise In meiner jahrelangen ambulanten nen Menschen zu lindern und deren Patientinnen mit einer Borderline- Arbeit mit meist schwerkranken, Lebenszufriedenheit zu verbessern, Persönlichkeitsstörung insgesamt chronischen psychiatrischen Patien- ohne dass es dafür zu einer wirkli- als »anstrengend« und »schwierig« ten höre ich der Begriff »austhera- chen Heilung kommen muss. galten, weil schon einzelne von piert« (alternativ findet sich auch ihnen in der Klinik schnell ganze der Begriff »therapieresistent«) Im Bereich der Behandlung mit Psy- Stationen durcheinander bringen meist aus dem Mund der Patienten chopharmaka lassen durchschlagen- konnten, finden sich heute bundes- selbst, wenn diese jedwede medika- de Innovationen zwar schon länger weit immer mehr Stationen explizit mentöse oder andere Behandlung auf sich warten (wir dürfen gespannt für eine Behandlung eben dieser als nicht hilfreich empfunden sein auf die Erfahrungen mit Ketamin Patientengruppe; und zwar auf Basis haben, oder wenn im Verlauf der zur Behandlung von Depressionen). der Dialektisch-Behaviorale Therapie Erkrankung zunächst überwundene Dafür nimmt aber der Erfahrungs- (DBT) mit zunehmend gutem Erfolg, Symptome wieder auftraten, weil schatz im Einsatz mit einer Vielzahl sowohl kurzfristig, wie auch in der beispielsweise Medikamente im Ver- sich bewährt habender Substanzen längeren Nachbeobachtung. lauf an Wirkung verloren haben. stetig zu. So ist nach meiner Erfah- rung auch nach jahrelangem Krank- Die amerikanische Psychologin heitsverlauf mit ein wenig Glück und Marsha Linehan entwickelte diese nten Manche Patie » benutzen den Begriff Geduld doch oft ein Ersatz zu finden, sollte es zum Wirkungsverlust eines zunächst rein ambulante Therapie in den 1980er Jahren. In Deutschland ‹ selbst, über lange Zeit hilfreich gewesenen wird sie - wie eine Reihe weiterer ›austherapiert Wirkstoffes kommen. Mitunter moderner Verfahren - über die andlungen wenn sie Beh braucht es auch Kombinationen von Arbeitsgemeinschaft für Wissen- ls nicht hilfreich erlebt Wirkstoffen, um scheinbare Therapie- schaftliche Psychotherapie in Berlin a resistenz zu überwinden. gelehrt und kontinuierlich weiter- haben « Anders als bei der Entwicklung neu- er Medikamente ist bei den psycho- entwickelt. Dank der Dialektisch- Behavioralen Therapie ist die Prog- nose der Borderline-Persönlichkeits- Manchmal meine ich, wenn sich therapeutischen Verfahren vieles im störung heute deutlich besser als Patienten selbst als »austherapiert« Fluss. Speziell die auf verhaltensthe- noch vor einigen Jahren, als viele der vorstellen, eine Art vorweg genom- rapeutischen Grundlagen beruhen- betroffenen Menschen als »therapie- mene Entschuldigung zu hören: den Angebote stehen bei streng wis- resistent« bezeichnet wurden und »Machen-Sie-sich-keine-Hoffnungen, senschaftlicher Bewertung sowohl die Krankheit als unheilbar oder mir-ist-sowieso-nicht-zu-helfen!«. Da in Bezug auf Wirksamkeit, als auch zumindest mit schlechter Prognose ich in einem Umfeld aufgewachsen im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit behaftet galt. Einen erheblichen Bei- bin, in dem es an Zweckpessimismus gut bis sehr gut da. trag zum Erfolg dieser Therapie hat selten mangelte, sind mir diese die in der DBT-Ausbildung vermittel- Patienten in besonderem Maße nah. Als eine Folge dieser Entwicklung te Grundeinstellung der Therapeu- wurde neben den bewährten psy- ten im Team sowie ein stetes Trai- Unter Patienten mit bestimmten Per- choanalytischen, tiefenpsychologi- ning von Achtsamkeit bei Patienten sönlichkeitsstörungen finden sich schen und verhaltenstherapeuti- wie Therapeuten. etliche, die aufgrund ihrer spezifi- schen Verfahren im November 2018 schen Probleme in der zwischen- auch die Systemische Therapie in Eine ebenfalls recht neue Therapie menschlichen Interaktion nicht von den Leistungskatalog der Kranken- chronischer psychischer Erkrankun- den üblichen Behandlungsangeboten kassen aufgenommen (nachdem gen ist die Akzeptanz- und Commit- profitieren konnten, sondern im bereits im Jahre 2008 ein erstes Gut- ment-Therapie (ACT). Wenn langfris- Gegenteil eher Gefahr liefen, durch achten des Wissenschaftlichen Bei- tig das Bestehen bestimmter Symp- unpassende Therapie-Settings zusätz- rates Psychotherapie erstellt worden tome zu Veränderungen im Fühlen, liche negative Erfahrungen zu war). Bei der Systemischen Therapie Denken und Handeln führt und machen. werden Mitglieder des sozialen deren Konsequenzen für den Betrof- Umfeldes der Patienten in die fenen weit schwerer sind, als die Genau hier, bei einer Vielzahl chroni- Behandlung einbezogen, was von Symptome selbst es zunächst recht- scher psychischer Erkrankungen, gibt nun an Verbesserungen bei zuvor fertigen, kann über eine Akzeptanz es in den letzten Jahren einen gewal- schwer beeinflussbaren (bis dahin der Symptome (»als das, was sie 10 Treffpunkte 1/20
Magazin sind, nicht als das, was sie zu sein von Perspektiven, körperlicher Ver- mit wochenlangen stationären vorgeben«) und über eine Verringe- fall). Eine erfolgreiche Behandlung Behandlungsphasen. Manche rung dysfunktionaler Verhaltens- von Patienten mit Doppeldiagnosen Patienten können, ohne ihren Wohn- muster (bei Ängsten zum Beispiel stellt daher besondere Ansprüche an ort zu wechseln, gar nicht adäquat Vermeidung auslösender Situatio- räumliche, personelle wie konzeptio- behandelt werden. Bestimmte Ange- nen) eine Verbesserung des Funkti- nelle Ressourcen. bote für besondere Wohnformen onsniveaus erreicht werden. Die Klä- und auch die Verfügbarkeit von rung von Werten und Lebenszielen, Gerade aber in der Arbeit mit Patien- Arbeit in einem geschützten Rah- aus den sich konkrete Handlungsab- ten mit Doppeldiagnosen lassen sich men erfordern ein Maß an Mobilität, sichten (»commitments«) ableiten Erkenntnisse finden, die allen psy- das viele unserer Patienten nicht lassen, bildet die zweite Säule dieser chisch Erkrankten zugutekommen. erfüllen können oder wollen. bei verschiedenen Diagnosen anzu- So ist in den letzten Jahren beispiels- wendenden Behandlung. weise viel zum Thema Aufmerksam- Die bittere Phase vieler Patienten keits-Defizit-Hyperaktivitäts-Stö- liegt in der Zeit vor einer Diagnose- Im Jahr 2000 wurde als Therapiean- rung (ADHS) im Erwachsenenalter stellung und damit auch vor Einlei- satz für chronische Depressionen die geforscht worden, was nach meinem tung einer spezifischen Therapie. Cognitive Behavioral Analysis Sys- Empfinden vielleicht die psychiatri- Während - wie dargestellt - die Theo- tem of Psychotherapy (CBASP) ent- sche Diagnose überhaupt ist, die bei rie in Form wissenschaftlicher wickelt. Grundannahme der Thera- bestehender Komorbidität (oft Ess- Erkenntnisse große Fortschritte pie ist das Vorhandensein von Ent- störungen, Depressionen, Sucht, macht, lässt die Praxis in Form einer wicklungsblockaden als Folge von Boderline-Störung) am häufigsten niederschwellig zugänglichen Misshandlungen, frühen Verluster- unerkannt bleibt. Auch hier wird im Behandlungsinfrastruktur in weiten fahrungen oder chronischer Ver- Einzelfall eine bislang chronische Bereichen noch immer sehr zu wün- nachlässigung. Probleme in der und scheinbar therapieresistente schen übrig. Interaktion der Patienten mit deren Situation durch einen neuen diag- unmittelbaren Umwelt sowie Fertig- nostischen Blick auf die Symptoma- Wenn die Hoffnung die Erinnerung keitsdefizite werden mithilfe von tik oft vom Patienten als weniger an das vergangene Leben braucht, Situationsanalysen und interperso- belastend empfunden. um selbst am Leben zu bleiben, gibt nellen Strategien erfolgreich thera- es leider auch in der Psychiatrie eini- peutisch angegangen. Mein Plädoyer gegen den Begriff ge Krankheitsbilder mit unaufhalt- »austherapiert« muss dahingehend sam tragischem Verlauf. Kommt es Eine weitere Gruppe an Patienten, relativiert werden, dass viele der durch den steten Niedergang von die von unterschiedlichen Seiten genannten neuen Therapie für nicht Nervenzellen im Gehirn zu einer schnell das Etikett »therapieresis- alle Patienten verfügbar sind. Je Demenz, sind die bislang verfügba- tent« bekommen, sind Patienten mit nach Wohnort ist schon der Zugang ren Medikamente nur im begrenzten sogenannten Doppeldiagnosen. Als zu »einfacher« Psychotherapie Rahmen in der Lage, diesen Zerfall solche bezeichnet man das gleichzei- schwer und mit Wartezeiten von der letztlich aufzuhalten. Hier findet tige Auftreten von psychischen Stö- nicht selten mehr als einem halben sich die größte Analogie zur ein- rungen und einer Suchterkrankung. Jahr verbunden. gangs zitierten Filmszene. Das sich In aller Regel limitiert die Sucht die in solchen Fällen Angehörige einen Behandlung der Erkrankung, oft ver- Bestimmte Spezialtherapien (wie z. »Ausschalter« wünschen, ist die Fol- schlechtert sie diese aufgrund der B. die Behandlung schwerer seeli- ge einer Identifikation mit den mit ihr verbundenen Probleme scher Traumatisierungen) erfordern Patienten und der Wunsch nach (Schulden, sozialer Abstieg, Verlust sogenannte Intervall-Behandlungen einem würdevollen Ende. Stephan von Nessen ist seit 1987 Mitglied der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. und seit einigen Jahren deren 1. Vorsitzender. Er arbeitet als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der psychiatrischen Institutsambulanz der Fachklinik Hofheim. www.bsf-frankfurt.de Treffpunkte 1/20 11
Thema Experten für Eigensinn Menschen mit herausforderndem Verhalten stellen institutionelle Grenzen infrage Von Jo Becker Menschen mit herausforderndem Verhalten brauchen mehr als individuelle Assistenz- leistungen, wie sie das Bundesteilhabegesetz vorsieht. Das WohnRaum-Konzept ist eine Forderung an die Träger der Gemeindepsychiatrie, geeignete Wohnungen zu beschaffen und den Sozialraum in die Betreuung einzubeziehen. Es gibt sie überall in Deutschland, diese Klienten. Immer andere Beziehungsabbrüche hinter sich. Häufig sind nur einige wenige in jeder Region. Jeder in der Helfersze- neben der Erkrankung zusätzliche Komplikationen ent- ne kennt sie. Wir bezeichnen sie als »schwierige Klien- standen: Substanzmissbrauch, unzureichende Ernäh- ten«, als »Systemsprenger«, weil sie die Regeln und rung, Verwahrlosung, körperliche Erkrankungen, Schul- Grenzen einer Einrichtung regelmäßig überschreiten, als den, Verlust sozialer Bindungen. Und oft auch ein tief sit- Klienten »mit herausforderndem Verhalten«. Was macht zendes Misstrauen gegenüber Institutionen und Fach- diese Menschen so besonders? kräften. Sie sind nicht immer besonders schwer erkrankt. Die Menschen mit diesem besonderen Hilfebedarf stellen meisten würden sich selbst auch keineswegs als die Anbieter von Hilfen vor besondere Herausforderun- »schwierig« bezeichnen. Wir Fachleute sind es, die sie so gen, wegen ihres oft störenden und als unkooperativ erleben. Warum? Salopp gesagt, weil sie uns besonders erlebten Verhaltens. Konflikte und andere Belastungen viel Arbeit, Ärger oder manchmal auch Angst bereiten. von Mitbewohnern und Mitarbeitern gehören zum All- Mit ihrem Verhalten fordern sie uns heraus, Hilfe zu leis- tag. Die gesellschaftliche Antwort auf diese fachliche ten, während sie es gleichzeitig ablehnen, Psychophar- Herausforderung lautet heute an vielen Orten wieder maka einzunehmen, abstinent zu leben oder die Haus- ähnlich wie bis in die 1980er Jahre: nämlich Einsperren. ordnung einzuhalten. In der Beziehung zu uns erleben Deshalb finden sich viele kranke Menschen fehlplatziert wir sie als unkooperativ. in geschlossenen Altersheimen. Sie werden dort mit rich- terlicher Genehmigung untergebracht, obwohl sie weder Betrachtet man sie dagegen unabhängig von unseren alt noch pflegebedürftig sind. Andernorts werden gleich fachlichen Erwartungen, sind es Menschen mit einem neue geschlossene Wohnheime für psychisch kranke starken Willen zur Selbstständigkeit. Sie haben eigene Menschen eröffnet. Aber es geht auch anders. Experten Vorstellungen vom Leben und verfolgen diese hartnä- für Eigensinn brauchen individuelle und keine institutio- ckig. Sie sind Experten für Eigensinn. nellen Lösungen! Es ist verständlich, dass solche Klienten nicht selten in Richtig ist: In gefährlichen Krisensituationen gelingt den Einrichtungen und Diensten der Gemeindepsychia- eine ausreichende Fürsorge oft nur im Rahmen einer trie auf Ablehnung treffen. Sie erleben deshalb immer geschlossenen Unterbringung. Eine lebensgefährliche wieder den Abbruch von Betreuungsbeziehungen. Man Krise ist aber ein Ausnahmezustand, auch wenn sie könnte sagen: An diesen Klienten zeigt sich die Qualität mehrmals im Jahr auftritt. Das Krankenhaus ist dafür der gemeindepsychiatrischen Versorgung einer Region. der richtige Ort, weil dort mit intensiven therapeuti- Mit ihnen zu arbeiten, erfordert eine hohe fachliche schen Mitteln, mit hohem Personaleinsatz und unter Kunst. Es braucht dafür die Besten im Team. enger gerichtlicher Kontrolle versucht wird, die Krise so schnell es geht zu beenden. Viele Experten für Eigensinn haben über lange Zeit nur unzureichend fachliche Hilfe erhalten, haben oft in pre- Wenn aber der private Wohnort eine geschlossene Ein- kären Verhältnissen gelebt. Meist haben sie eine Vorge- richtung ist, wird Eingesperrtsein zum Alltag. Wenn vie- schichte von gescheiterten Betreuungsbeziehungen und le unterschiedliche, schwer erkrankte Menschen gegen 12 Treffpunkte 1/20
Thema ihren Willen und langfristig hinter geschlossenen Türen wohnen müssen, führt das zu einer Wohnatmosphäre, die alles andere als rehabilitativ ist. In diesem Kontext gelingt es nur schwer, eine vertrauensvolle Zusammen- arbeit zu entwickeln. Selbstheilungsprozesse im Sinne einer Recovery verzögern sich. Es drohen langfristige Hospitalisierungen wie früher auf den Langzeitstationen psychiatrischer Krankenhäuser. Nicht mit den Mitteln eines Krankenhauses ausgestattet, sondern mit denen der Sozialhilfe. Das ist kein Weg zur Inklusion von Exper- ten für Eigensinn. »Herausforderndes Verhalten« ist keine Diagnose oder Eigenschaft, sondern eine Beziehungsbeschreibung aus Fachkraftsicht. Es sind Menschen, die durch ihr Verhalten zeigen, dass sie dringend Hilfe brauchen, mit denen eine In einem neuen Buch beschreiben im ersten Teil 20 Zusammenarbeit oder ein Mindestmaß an Hilfe aber ehemalige »Experten für Eigensinn« ihren Weg; noch nicht gelungen sind. Es wäre zynisch, ihre unzurei- chende Versorgung als ihre freie Willensentscheidung zu Fachkräfte und Angehörige schildern den Verlauf deuten, weil sie die marktüblichen Hilfen der Gemeinde- aus ihrer Sicht. Im zweiten Teil werden einfache psychiatrie nicht annehmen, zum Beispiel nicht in und effektive Methoden vorgestellt, die sich in der einem Wohnheim leben wollen. Zusammenarbeit mit »schwierigen Klienten« bewährt haben. Nicht der Klient sollte sich der Hilfe anpassen müssen. Die Hilfe muss so passend sein, dass sie freiwillig akzep- Jo Becker, Daniela Schlutz: Experten für Eigensinn. tiert wird. Die Herausforderung bei Menschen mit Berichte gelungener Zusammenarbeit bei heraus- herausforderndem Verhalten besteht vor allem darin, forderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Ange- mit ihnen eine funktionierende professionelle Bezie- hung zu entwickeln. Es geht darum, von einer emotional hörigen und Fachkräften. Psychiatrie Verlag, Köln belastenden zu einer von Wertschätzung geprägten 2019. 20,- Euro. ISBN 978-3-88414-922-5. Zusammenarbeit zu gelangen. Was also brauchen Experten für Eigensinn? Sie brauchen duelle Assistenzleistungen anzubieten. Sie sollten jenen das gleiche wie alle anderen Menschen auch. Und sie Menschen eine Wohnung beschaffen, denen das krank- benötigen dabei Unterstützung, weil sie es nicht aus heitsbedingt nicht gelingt. Ohne Vorbedingungen wie eigener Kraft finden: Alle Menschen brauchen einen Abstinenz oder medikamentöse Compliance. Und sie Platz, wo sie wohnen und in Würde leben können. Sie müssen das Wohnumfeld einbeziehen, sodass beispiels- brauchen soziale Beziehungen, in denen sie so akzeptiert weise die Nachbarn oder der Vermieter einen Mensch werden, wie sie sind. mit seinem Eigensinn tolerieren. Dafür gibt es mehrere Ansätze: Die vorhandenen Ressourcen durch Vernetzung und Synergie besser nutzen, Ressourcen umwidmen oder WohnRaum schaffen neue Ressourcen schaffen. Das WohnRaum-Konzept macht daraus einen Auftrag, eine systematische Strategie für die Träger sozialer Gemeindepsychiatrischer Verbund und Dienste. Ziel ist es, individuell passende Wohnorte neu Runder Tisch zu schaffen oder so umzugestalten, dass ein Experte für Eigensinn dort sein Zuhause findet. Es geht sowohl um Die früheren Langzeitkrankenhäuser hatten eine Versor- eine passende Wohnung als auch um einen toleranten gungsverpflichtung für ihr Einzugsgebiet. Diese Asyl- Lebensraum, ein Wohnumfeld, das die Eigenarten des funktion gibt es nicht mehr. »Freie Träger« der Gemein- Klienten toleriert. depsychiatrie sind frei zu entscheiden, wem sie ihre Dienstleistungen anbieten. Experten für Eigensinn finden aus eigener Kraft oft kei- ne Wohnung. Sie verlieren aufgrund ihrer Erkrankung Aber wer bietet denen Hilfe, die keiner will? Aus dieser häufig sogar ihr Zuhause. Deshalb müssen die Träger der Situation heraus haben sich bereits an vielen Orten Sozialwirtschaft für diese Menschen mehr tun, als indivi- Gemeindepsychiatrische Verbünde gebildet (www.bag- Treffpunkte 1/20 13
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