Treffpunkte 1/ 2020 - Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie

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Treffpunkte           Zeitschrift für   Gemeindepsychiatrie in der Rhein-Main-Region

                                                                                  1 / 2020

Hoher Sinn für das Mögliche,
das Machbare und das Realistische
Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet
sich in den Ruhestand

Ein Netz, das auffängt
Das Lotsennetzwerk Rhein-Main

Wohnen inklusiv
Bundesprojekt des Paritätischen
sorgte für neue Erkenntnisse

Experten für Eigensinn
Menschen mit herausforderndem
                                                                        N Z E N re
Verhalten stellen institutionelle
Grenzen infrage                                                    G R E d äuße
                                                                         e r e un        i n den
                                                                    In n         übe r w
Humane Psychiatrie                                                       r d e n
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit                                   Hü

                 Herausgegeben von der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V.
Impressum

                                                                                           Impressum
                                                                                           Treffpunkte
                                                                                           Frankfurter Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie
Die Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie                                                          Ausgabe 1/2020

Frankfurt am Main e. V.                                                                    Konzept
                                                                                           Die Zeitschrift ist ein Forum für alle Beteiligten in der
                                                                                           ambulanten, teilstationären und stationären Psychia-
                                                                                           trie sowie in der Sozialpsychiatrie. Die Zeitschrift
                                                                                           berichtet über allgemeine Entwicklungen; das
hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1970 zur Aufgabe gemacht, die Situation psychisch     besondere Gewicht liegt auf regionalen Aspekten der
kranker Menschen in Frankfurt am Main zu verbessern und deren gleichberechtigte            Rhein-Main-Region.
Teilnahme im städtischen Leben und das Miteinander in der Gesellschaft zu fördern.         Gründer
                                                                                           Christof Streidl (1939-1992)
                                                                                           Herausgeber
Hierzu wurden von der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main im Lauf der
                                                                                           Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V.
Jahre viele Projekte initiiert sowie Dienste und Einrichtungen gegründet. Heute stellen    Holbeinstraße 25-27, 60596 Frankfurt am Main
                                                                                           Telefon 069 96201869, Fax 069 627705
wir im Süden der Stadt ein umfangreiches Hilfe-, Beratungs- und Unterstützungsange-        gst@bsf-frankfurt.de
bot im Rahmen der gemeindepsychiatrischen Versorgung der Großstadt Frankfurt am            www.bsf-frankfurt.de
Main zur Verfügung.                                                                        Redaktionsteam
                                                                                           Christel Gilcher, Konrad Hertrampf, Andrea Kempf,
                                                                                           Kai Marschner, Stephan von Nessen,
Mit rund 50 angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ehrenamtlichen            Gerhard Pfannendörfer
Kräften betreiben wir folgende Dienste und Einrichtungen: Betreutes Wohnen, die Psy-       Chefredaktion
                                                                                           Gerhard Pfannendörfer
chosoziale Kontakt- und Beratungsstelle Süd, eine Tagesstätte, ein Wohnheim und den        Eichwaldstraße 45, 60385 Frankfurt am Main
offenen »Treffpunkt Süd« im traditionsreichen Teplitz-Pavillon in Frankfurt am Main-       gerhard.pfannendoerfer@gmail.com
Sachsenhausen. Die Dienste und Einrichtungen bieten psychisch kranken Menschen             Druck
Unterkunft, psychosoziale Betreuung und Beratung sowie die Möglichkeit, ihren Tag zu       druckwerkstatt Rödelheim, Biedenkopfer Weg 40a
                                                                                           60489 Frankfurt am Main
strukturieren, Zeit sinnvoll zu gestalten und mit anderen Menschen ins Gespräch und        Telefon 069 907498-0, Fax 069 90749825
in Kontakt zu kommen.                                                                      dwr@frankfurter-verein.de
                                                                                           www.reha-werkstaetten.de/branchen/
                                                                                           druck-werbetechnik
Der Psychosoziale Krisendienst, für das gesamte Stadtgebiet organisiert von der Bür-       Layout, Satz und Gestaltung
gerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main, sichert außerhalb der allgemeinen            Bettina Hackenspiel / bettin@hackenspiel.de

Dienstzeiten der Beratungsstellen und sonstigen Dienste in Notlagen psychosoziale          Titelseite
Hilfe und vermittelt bei Bedarf ärztliche Hilfe. Er wendet sich an Menschen mit            Das Überwinden von Grenzen gehört zum
                                                                                           menschlichen Leben dazu.
psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen, die an einer akuten ernst-
haften Störung ihrer seelischen Gesundheit leiden, sowie deren Angehörige, Freunde,        Erscheinungsweise
                                                                                           Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich.
Bekannte und Nachbarn.
                                                                                           Auflage
                                                                                           1.000 Exemplare
Von Anfang an war die Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiges und satzungsmäßiges Anlie-       Einzelpreis
gen des Vereins. So existiert seit über vier Jahrzehnten die von der Bürgerhilfe Sozial-   Die Zeitschrift kostet 5,- Euro einschließlich
                                                                                           Versandpauschale.
psychiatrie Frankfurt am Main herausgegebene Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie
                                                                                           Abonnement
»Treffpunkte«. Die Publikation sieht sich als Forum für alle Akteure der Sozialpsychia-    Das Jahresabonnement kostet 21,- Euro einschließlich
trie. Die »Treffpunkte« bieten Berichte und Essays zu aktuellen sozialpolitischen The-     Versandkosten. Das Abonnement kann bis zum
                                                                                           31. Dezember jedes Jahres gekündigt werden.
men, diskutiert allgemeine Entwicklungen, stellt Betrachtungen zu Kunst und Kultur         Bestellungen bitte an den Herausgeber.
an, ist Plattform für Fachleute, Betroffene und Angehörige. Besonderes Gewicht liegt in    Förderabonnement
der Berichterstattung auf Themen aus der Region Rhein-Main und Hessen. Dies wird           Mit einem Förderabonnement ab 30,- Euro jährlich
                                                                                           kann die Zeitschrift unterstützt werden.
untermauert durch die Kooperation der Zeitschrift mit der Stiftung Lebensräume in
                                                                                           Anzeigen
Offenbach am Main, die in einer eigenen Rubrik ihre Themen vorstellt.                      Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V.
                                                                                           Holbeinstraße 25-27, 60596 Frankfurt am Main
                                                                                           Telefon 069 96201869, Fax 069 627705
Die Arbeit der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main wird finanziert durch       gst@bsf-frankfurt.de
Leistungsentgelte für die erbrachten Einzelangebote, durch Zuschüsse der Stadt Frank-      www.bsf-frankfurt.de

furt am Main und des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen sowie durch Mitgliedsbei-
träge und Spenden.

Der Vorstand der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e. V. setzt sich
zusammen aus Stephan von Nessen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
(1. Vorsitzender), Regina Stappelton (2. Vorsitzende) sowie den weiteren Vorstandsmit-
gliedern Gabriele Schlembach, Kirstin von Witzleben-Stromeyer und Bernard Hennek.
Geschäftsführer der Bürgerhilfe ist Kai Marschner.

www.bsf-frankfurt.de
Editorial

» Gefühl von Grenze darf nicht
heißen: hier bis du zu Ende, sondern:
hier hast du noch zu wachsen.«
                                           Emil Gött, deutscher Schriftsteller (1864-1908)

 Liebe Leserin, lieber Leser,

 Grenzen lösen bei vielen Menschen widersprüchliche Gefühle aus. Grenzen
 können angst machen und sie können als Schutz empfunden werden. Dies
 gilt für räumliche Grenzen zwischen Ländern wie für eigene und zwischen-
 menschliche Grenzen. Wenn Ärzte von »austherapiert« sprechen, scheint
 alle Hoffnung dahin zu sein. Ist dieses Urteil bei körperlichen Krankheiten
 schon zweifelhaft, so gilt dies noch viel mehr bei seelischen und psy-
 chischen Leiden. Denn viele Kranke haben über lange Zeit nur unzurei-
 chend fachliche Hilfe erhalten, haben oft in prekären Verhältnissen gelebt,
 stellt Jo Becker in seinem Beitrag in diesem Heft über die Grenzüberschrei-
 ter besonderer Art fest, die von Diensten und Einrichtungen gefürchteten
 »Systemsprenger«. Meist hätten sie eine Vorgeschichte von gescheiterten
 Betreuungsbeziehungen und andere Beziehungsabbrüche hinter sich.
 Häufig seien neben der Erkrankung zusätzliche Komplikationen entstan-
 den: Substanzmissbrauch, unzureichende Ernährung, Verwahrlosung,
 körperliche Erkrankungen, Schulden, Verlust sozialer Bindungen. Und oft
 auch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Institutionen und Fach-
 kräften. Sein Rat: Viele dieser Menschen bräuchten individuelle und keine
 institutionellen Lösungen!

 Gerhard Pfannendörfer
 Chefredaktion »Treffpunkte«
 gerhard.pfannendoerfer@gmail.com

                                                            Treffpunkte 1/20       1
Inhalt

         Inhalt

         Editorial
    1    Grenzüberschreiter
         Von Gerhard Pfannendörfer

         Magazin
    3    Hoher Sinn für das Mögliche, das              19   Zurück in den Alltag
         Machbare und das Realistische                      Grenzen einer psychischen Erkrankung
         Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet sich in          können überwunden werden
         den Ruhestand                                      Von Christel Gilcher

    5    Ein Netz, das auffängt
         Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für
         neue Erkenntnisse
                                                            Forum
         Von Lisa Schmidt
                                                       22   Humane Psychiatrie
                                                            Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
    6    Wohnen inklusiv
                                                            Von Jonathan Gutmann
         Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für
         neue Erkenntnisse
         Von Lisa Schmidt                              24   Kreativität kann heilen
                                                            Zwei Malgruppen bieten Räume,
                                                            Material und Begleitung
    9    »Austherapiert« gibt es nicht
                                                            Von Melanie Attari und Pierrette Rouvinez
         Grenzen bei den Hilfen für psychisch kranke
         Menschen können überwunden werden
         Von Stephan von Nessen
                                                            Informationen
                                                       26   Rhein-Main-Kaleidoskop, Zitat,
         Thema                                              Themenhefte, Notizen, Kennzahlen

    12   Experten für Eigensinn
         Menschen mit herausforderndem Verhalten            Fragebogen
         stellen institutionelle Grenzen infrage       32   Sieben Fragen an
         Von Jo Becker                                      Michelle Hübenthal

    16   Grenzen überwinden
         Geflüchtete Menschen sind auf der Suche
         nach Normalität und gesellschaftlicher
         Teilhabe
         Von Ulrike Schneck

    2       Treffpunkte 1/20
Magazin

                                              Hoher Sinn für das Mögliche,
                                         das Machbare und das Realistische
                                 Gerhard Seitz-Cychy verabschiedet sich in den Ruhestand

                      Zum 30. November 2019 ist der langjährige Geschäftsführer der Bürgerhilfe,
                           Gerhard Seitz-Cychy, in den Ruhestand gegangen. Sein Wirken hat die
                         fachliche, organisatorische und wirtschaftliche Entwicklung des Vereins
                                                über die vergangenen Jahre maßgeblich geprägt.

Die Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie        Es ist jedoch zu wenig, sich auf die
Frankfurt am Main e. V. ist eine Orga-   außerordentlichen Fähigkeiten im
nisation der ambulanten sozialpsy-       administrativen Bereich zu fokussie-
chiatrischen Versorgung in der Main-     ren. Insbesondere sind die Verdienste
Metropole. Die Aufgabe und Intenti-      von Gerhard Seitz-Cychy für die Bür-
on des Vereins besteht seit dem          gerhilfe untrennbar mit seiner
Gründungsjahr 1970 darin, Projekte,      zutiefst bodenständigen Persönlich-
Initiativen, Angebote und Dienstleis-    keit verbunden. Auf dieser Grundlage
tungen zu gründen, zu fördern und        sind seine unternehmerischen Ent-
zu betreiben, die der Integration und    scheidungen immer mit dem gebote-
Teilhabe psychisch kranker Men-          nen Augenmaß getroffen worden.
schen in der Gesellschaft dienen.        Sein Führungshandeln war durchweg
                                         vom Sinn für das Mögliche, Machbare
Nach dem Ausscheiden des vorheri-        und Realistische geprägt.
gen Geschäftsführers Eckhard Seelig
und einer Interimsphase unter Karl       Geleitet von diesem pragmatischen
Wieß erfolgte die Übernahme der          Ansatz konnte die Bürgerhilfe in den
Geschäftsführung durch Gerhard           vergangenen vierzehn Jahren ihr
Seitz-Cychy im Jahre 2005 zu einem       fachliches Spektrum an Diensten
Zeitpunkt, als es darum ging, bishe-     und Teilhabeangeboten deutlich
rige Strukturen, den Anforderungen       erweitern. Um nur drei Beispiele zu
                                                                                                    Gerhard Se
der mittlerweile an Diensten und         nennen:                                                              itz-Cychy
Mitarbeitern gewachsenen Bürger-
hilfe anzupassen.                        • Für die Lücke in der damals unzu-
                                           reichenden stationären Versorgung
Nicht nur für die betriebswirtschaft-      alt gewordener psychisch kranker
lichen Funktionen entwickelte              Menschen wurde mit der Eröff-
Gerhard Seitz-Cychy in der Folge           nung des Wohnheims Goldsteins          sorgung des Frankfurter Südens
wirkungsvolle Instrumente des Con-         ein wichtiger Baustein gesetzt.        kontinuierlich ausgebaut und last
trollings, der Kosten- und Leistungs-                                             but not least: mit der Backstube als
rechnung, des Abrechnungswesens          • Die Bereitschaftszeiten des aus-       Zuverdienstmöglichkeit der Tages-
und des Personalmanagements.               nahmslos mit Fachpersonal des          stätte Süd ein echtes Herzenspro-
Auch die einzelnen Dienste und Ein-        gesamten sozialpsychiatrischen         jekt realisiert.
richtungen profitierten von seiner         Netzwerks Frankfurts besetzten
fundierten Kenntnis in der Entwick-        Psychosozialen Krisendienstes         Mit der Ausweitung der fachlichen
lung geeigneter Administrations-           wurden erweitert.                     Angebote wurde auch die Anzahl
und Dokumentationssysteme                                                        der Mitarbeitenden mehr als verdop-
(genannt sei nur das Stichwort:          • Der steigenden Nachfrage entspre-     pelt und der Umsatz des Vereins
Excel-Tabellen ☺).                         chend wurde die ambulante Ver-        nahezu verdreifacht. In all den Jah-

                                                                                             Treffpunkte 1/20        3
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   ren seiner Geschäftsführungstätig-           hilfe. Die geringe Fluktuation inner-       vereinsinterne Verabschiedung statt.
   keit ist Gerhard immer zuerst                halb der Mitarbeiterschaft über die         Sicherlich ist es ein Kennzeichen
   Mensch geblieben.                            Jahre und die hohe Attraktivität der        hoher Anerkennung, dass nahezu
                                                Bürgerhilfe als Arbeitgeber sind ein        alle Kolleginnen und Kollegen und
   Die menschliche, authentische Hal-           Indiz hierfür.                              auch eine Vielzahl »Ehemaliger« zu
   tung von Gerhard Seitz-Cychy ist                                                         diesem Anlass vor Ort waren, um
   auch ausschlaggebend für die geleb-          In einer ungezwungenen, familiär            sich zu verabschieden und dem nun
   te mitarbeiterorientierte, auf Augen-        freundlichen Atmosphäre fand denn           ehemaligen Chef eine wunderbare
   höhe stattfindende, kooperative              auch am 15. November 2019 in der            Zeit im Ruhestand zu wünschen.
   Unternehmenskultur in der Bürger-            Tagesstätte Süd der Bürgerhilfe die                                 Kai Marschner

                                                                      In jedem Fall ist die Übernahme der Geschäfte zum jetzi-
                                                                      gen Zeitpunkt ein Start in den vollen Lauf. Gut, dass der
                                                                      neue Geschäftsführer neben seiner Leidenschaft für die
                                                                      Arbeit in der Sozialpsychiatrie eine Leidenschaft für den
                                                                      Ausdauersport hat. Sicherlich eine Eigenschaft, die für die
                                                                      kommenden Herausforderungen nützlich ist.
                                                                      Die Geschäftsführung der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie
                                                                      Frankfurt am Main e. V. liegt seit dem 1. Dezember 2019
                                                                      bei Kai Marschner. Wie sein Vorgänger Gerhard Seitz-
                                                                      Cychy hat er eine lange berufliche Sozialisation im Frank-
                                                                      furter Verein für soziale Heimstätten e. V., wo er seit 1999
         Der »Neue« ist gut vernetzt                                  als Sozialarbeiter in den Ambulanten Diensten und im
                                                                      Integrationsfachdienst beschäftigt war, bevor er 2013 die
       Die Geschäftsführung der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie         Leitung des Wohnheims Teichmühle in Friedrichsdorf-
       Frankfurt am Main e. V. liegt seit dem 1. Dezember 2019        Köppern übernahm. Insofern ist der »Neue« kein Unbe-
       bei Kai Marschner. Wie sein Vorgänger Gerhard Seitz-           kannter und er kann mit dem Start seiner Tätigkeit auf
       Cychy hat er eine lange berufliche Sozialisation im Frank-     ein überwiegend bekanntes Netzwerk zurückgreifen.
       furter Verein für soziale Heimstätten e. V., wo er seit 1999
       als Sozialarbeiter in den Ambulanten Diensten und im           Die Wechsel der Geschäftsleitung bei der Bürgerhilfe fällt
       Integrationsfachdienst beschäftigt war, bevor er 2013 die      in die Zeit einer der größten Sozialreformen der vergan-
       Leitung des Wohnheims Teichmühle in Friedrichsdorf-            genen Jahrzehnte. Die Auswirkungen des Bundesteilha-
       Köppern übernahm. Insofern ist der »Neue« kein Unbe-           begesetzes stellen die Organisation der Eingliederungs-
       kannter und er kann mit dem Start seiner Tätigkeit auf         hilfe vor große Herausforderungen. Inwiefern am Ende
       ein überwiegend bekanntes Netzwerk zurückgreifen.              dieses Prozesses ein tatsächlicher Mehrwert für die
                                                                      betroffenen Menschen als Leistungsberechtigte entstan-
       Die Wechsel der Geschäftsleitung bei der Bürgerhilfe fällt     den sein wird, muss zu einem späteren Zeitpunkt bewer-
       in die Zeit einer der größten Sozialreformen der vergan-       tet werden.
       genen Jahrzehnte. Die Auswirkungen des Bundesteilha-
       begesetzes stellen die Organisation der Eingliederungs-        In jedem Fall ist die Übernahme der Geschäfte zum jetzi-
       hilfe vor große Herausforderungen. Inwiefern am Ende           gen Zeitpunkt ein Start in den vollen Lauf. Gut, dass der
       dieses Prozesses ein tatsächlicher Mehrwert für die            neue Geschäftsführer neben seiner Leidenschaft für die
       betroffenen Menschen als Leistungsberechtigte entstan-         Arbeit in der Sozialpsychiatrie eine Leidenschaft für den
       den sein wird, muss zu einem späteren Zeitpunkt bewer-         Ausdauersport hat. Sicherlich eine Eigenschaft, die für die
       tet werden.                                                    kommenden Herausforderungen nützlich ist.

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                                                                   Ein Netz, das auffängt
                                                                   Das Lotsennetzwerk Rhein-Main

                             Immer wieder passiert es, dass Menschen in Krankenhäusern behan-
                             delt werden und aufgrund fehlender Ressourcen nicht auf die Zweit-
                            diagnose Sucht angesprochen und ins Hilfesystem vermittelt werden.
                             Die Schnittstelle zwischen Krankenhäusern und Suchthilfesystem zu
                                                  schließen ist ein Anliegen des Lotsennetzwerks.

                                                                               Ziel ist, dass mit Hilfe der Lotsen ein
                                                                               Teil der Abhängigkeitserkrankten
                                                                               nicht wieder in ihr altes Suchtver-
                                                                               halten zurückfällt und einer erneu-
                                                                               ten und kostenintensiven stationä-
                                                                               ren Akutbehandlung bedarf.

                                                                               Immer im Blick hat die Koordinato-
                                                                               rin dabei die Lotsen und Lotsinnen,
                                                                               regelmäßige Schulungen und Pra-
                                                                               xisbegleitungen werden angeboten,
Der Caritasverband Darmstadt will      Beim Lotsenprojekt Rhein-Main sind
                                                                               damit diese an ihrer Aufgabe wach-
das Lotsennetzwerk Rhein-Main          Lotsen suchterfahrene Menschen,
                                                                               sen und nicht zerbrechen. Denn der
weiter ausbauen. Zielgruppe des Pro-   die andere Suchtkranke oder deren
                                                                               Lotse ist ein Weg-Begleiter, der
jekts sind Menschen mit einem          Angehörige auf dem Weg aus der
                                                                               jedoch nicht für die Klienten verant-
missbräuchlichen oder abhängigen       Sucht für eine bestimmte Zeit beglei-
                                                                               wortlich ist.
Konsum von Suchtmitteln. Suchter-      ten und unterstützen und ihnen
fahrene zeigen Menschen mit Sucht-     dabei helfen, die Probleme anzupa-
problemen Hilfemöglichkeiten und       cken. Die Lotsen sind Mitglieder von
stehen ihnen als Lotse zur Seite.      Selbsthilfegruppen. Sie sind freiwil-
                                       lig und ehrenamtlich im Lotsennetz-
Das Lotsennetzwerk Rhein-Main ist      werk tätig und wurden durch eine
mit seiner Koordinierungsstelle an     Schulung auf diese Tätigkeit vorbe-
das Suchthilfezentrum des Caritas-     reitet.
verbandes Darmstadt angebunden.
                                                                                           Kontakt
Das Projekt wurde drei Jahre lang      Die Schnittstelle zwischen Kranken-
                                                                                 Lotsennetzwerk Rhein-Main
von der Aktion Mensch und dem          häusern und Suchthilfesystem zu
Diözesancaritasverband Mainz           schließen ist ein Anliegen des Lot-       Koordinatorin: Christine Müller
gefördert. Die Koordinierungsstelle    sennetzwerks, denn in den Kliniken        Caritasverband Darmstadt e. V.
ist mit einer halben Stelle einer      entsteht der erste Kontakt zu den         Wilhelm-Glässing-Straße15-17
hauptamtlichen sozialpädagogi-         Betroffenen. Der Caritasverband           64283 Darmstadt
schen Fachkraft besetzt. Das Konzept   Darmstadt hofft, so auch die sucht-
wurde mit der Koordinatorin des        kranken Menschen und Angehörige           Telefon 06151 500-2847
Suchthilfeverbundes der Caritasver-    zu erreichen, die das Hilfesystem         www.caritas-darmstadt.de/
bände Hessen und der Selbsthilfeor-    noch nicht nutzen wollen oder kön-        caritasvorort/darmstadt/
ganisation Kreuzbund, Diözesanver-     nen. Weitere Kooperationspartner          suchthilfezentrum-darmstadt/
band Mainz e. V., entwickelt und       sind Job Center, Bewährungshilfen,        lotsennetzwerk/lotsennetzwerk
abgestimmt.                            Wohngruppen, Psychiatrien und
                                       Sozialpsychiatrische Dienste.

                                                                                             Treffpunkte 1/20        5
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   Wohnen inklusiv
   Bundesprojekt des Paritätischen sorgte für neue Erkenntnisse

   Von Lisa Schmidt

   Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat sein Projekt zum Wohnen für Menschen
   mit psychischer Beeinträchtigung nach fünfjähriger Laufzeit abgeschlossen.
   Die Arbeit für eine umfassende Inklusion geht jedoch weiter.

                                                                                  Befragungen und Vernetzung
                                                                                  der Akteure

                                                                                  Um Barrieren und Ressourcen zu
                                                                                  identifizieren, wurden in Zusam-
                                                                                  menarbeit mit dem Dachverband
                                                                                  Gemeindepsychiatrie Befragungen
                                                                                  durchgeführt. In einer ersten Befra-
                                                                                  gung wurden Betroffene von psy-
                                                                                  chischen Beeinträchtigungen über
                                                                                  ihre Wohnsituation interviewt. Eine
                                                                                  zweite Befragung widmete sich der
                                                                                  Perspektive der Träger der psychi-
                                                                                  atrischen Versorgung. Die dritte
                                                                                  Erhebung nahm die Perspektive der
                                                                                  Wohnungswirtschaft in den Blick.

                                                                                  Besonders hervorzuheben ist der
                                                                                  kontinuierliche und nachhaltige
   Alle    Menschen sollen mit gleichen    Mit seinem von der Aktion Mensch       Kontakt vieler unterschiedlicher
   Wahlmöglichkeiten in der Gemein-        Stiftung geförderten Projekt »Inklu-   Akteure während der Projektlauf-
   schaft leben können. Ob mit oder        sion psychisch kranker Menschen        zeit: aus der Wohnungswirtschaft,
   ohne Behinderung: Jede und jeder        bewegen« hat sich der Paritätische     von sozialen Trägern, Politik, Ver-
   soll die Möglichkeit haben, zu ent-     Gesamtverband auf den Weg              bänden, der Wissenschaft und nicht
   scheiden, wo, wie und mit wem sie       gemacht, Impulse zur Inklusion von     zuletzt Betroffenenvertretungen. Bei
   oder er leben will. Dies besagt Arti-   Menschen mit psychischen Beein-        Gremiensitzungen, Runden Tischen
   kel 19 der UN-Behindertenrechtskon-     trächtigungen im Bereich Wohnen        in den Projektregionen und Fachge-
   vention.                                zu geben.                              sprächen konnten so verschiedene
                                                                                  Perspektiven diskutiert und klarere
   Menschen mit psychischen Beein-         Innerhalb der fünfjährigen Laufzeit    Ideen für eine inklusive Zukunft for-
   trächtigungen haben es jedoch           konnte das Thema Wohnen für Men-       muliert werden. Die breite fachliche
   sowohl in Ballungszentren als auch      schen mit psychischen Beeinträchti-    Diskussion hat viele Gestaltungsbe-
   in ländlichen Regionen besonders        gungen aus unterschiedlichen Per-      darfe aufgezeigt, Forderungen her-
   schwer, eine geeignete Wohnung zu       spektiven beleuchtet und diskutiert    vorgebracht und zu Lösungsvor-
   finden. Der Mangel an preiswertem       werden. Mithilfe von Befragungen       schlägen für die aufgezeigten Pro-
   und geeignetem Wohnraum führt,          und im Austausch mit Experten in       bleme geführt.
   gepaart mit vorhandenen Vorurtei-       eigener Sache, sozialen Organisatio-
   len, für Menschen mit psychischer       nen, Politik, Wissenschaft und Woh-    Aus der Projektarbeit lassen sich
   Beeinträchtigung und sie unterstüt-     nungswirtschaft wurden Gestal-         Gestaltungsbedarfe ableiten, die Ein-
   zende Träger zu deutlicher Benach-      tungsbedarfe in verschiedenen          gang in ein vom Paritätischen Ver-
   teiligung auf dem Wohnungsmarkt.        Handlungsfeldern abgeleitet.           bandsrat verabschiedeten Positions-

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Magazin

papier fanden. Mit diesen Positionen    Ländern und Kommunen sowie den          den und durch langwierige institu-
wird sich der Paritätische auch nach    Akteuren der Wohnungswirtschaft zu      tionelle Bearbeitungsprozesse. Es gilt
Ende der Projektlaufzeit für die        unterstützten. Mit dem neuen Miet-      daher strukturelle Barrieren abzu-
Bedarfe von Menschen mit psy-           rechtsanpassungsgesetz wurde der        bauen. So können beispielsweise
chischen Beeinträchtigungen einset-     Kündigungsschutz für soziale Träger     durch eine lokal realistische Anpas-
zen und dabei insbesondere die          verbessert: Mietverhältnisse, die zu    sung der Kosten der Unterkunft und
Herausforderungen, vor denen Men-       einem sozialen Zweck eingegangen        durch die Vereinfachung des büro-
schen mit psychischen Erkrankun-        werden, um Wohnraum an Personen         kratischen Aufwands bei einer
gen bei der Suche und dem Erhalt        zum Wohnen zu überlassen, wurden        Anmietung hohe Hürden aus dem
von Wohnraum stehen, in die Debat-      damit unter besonderen Kündigungs-      Weg geräumt werden.
ten einbringen.                         schutz gestellt. Diese Regelung gilt
                                        jedoch lediglich für ab dem 1. Januar
                                        2019 abgeschlossene Verträge.           Wohnraum erhalten, Woh-
Adäquaten und bezahlbaren               Sozialen Organisationen, die Wohn-      nungsverlust vermeiden
Wohnraum schaffen                       raum für Menschen mit psychischer
                                        Beeinträchtigung anbieten, entste-      Fachkräfte der Eingliederungshilfe
Notwendig ist die Schaffung bezahl-     hen teilweise hohe Instandsetzungs-     unterstützen und begleiten Men-
baren Wohnraums für Menschen            kosten, Kosten für Mietausfälle         schen mit psychischen Erkrankun-
mit psychischen Beeinträchtigungen      sowie bürokratischer Aufwand, der       gen, wenn es darum geht, eine eige-
sowie auch für andere auf dem Woh-      über die eigentliche psychosoziale      ne Wohnung zu finden, diese zu
nungsmarkt benachteiligte Perso-        Arbeit hinausgeht. Diese Ausgaben       bewirtschaften und alle Dinge zu
nengruppen. Hierfür trägt auch der      müssen im Kostensatz Berücksichti-      regeln, die mit der Anmietung einer
Bund Verantwortung, in dem er den       gung finden. Die Schaffung von          Wohnung zusammenhängen. Sie
sozialen Wohnungsbau stärker            unabhängigen Wohnraumvermitt-           sind Ansprechpersonen für die Woh-
finanziell unterstützt. Die Kommu-      lungs- und Beratungszentren, die        nungswirtschaft sowie für Vermie-
nen sollten sich in ihrem Einflussbe-   zwischen sozialen Trägern und der       ter. Die ambulante psychosoziale
reich stärker für bezahlbaren Wohn-     Wohnungswirtschaft vermitteln           Versorgung von Menschen mit psy-
raum für die Zielgruppe einsetzen.      sowie Nachfrage und Angebot nach        chischer Beeinträchtigung sowie
Besonders im Neubau von bezahlba-       Wohnungen bündeln, sollte vorange-      niedrigschwellige, selbsthilfeför-
rem Wohnraum sollten Diskussio-         trieben werden.                         dernde und andere Hilfen spielen
nen um die Ausgestaltung lebens-                                                eine wesentliche Rolle bei der Förde-
werter Quartiere geführt sowie                                                  rung sozialer Teilhabe sowie der Ver-
Lösungsansätze für die flexible         Zugang zu Wohnraum                      meidung von Wohnungsverlust und
Anpassung von Wohnungsgrößen            schaffen                                stationären Aufenthalten.
für die Zukunft gesucht werden.
                                        Für Menschen mit psychischer            Mit der dritten Stufe der Umsetzung
Soziale Organisationen fungieren        Beeinträchtigung stellt die Woh-        des Bundesteilhabegesetzes ab Janu-
durch die Übernahme von Mietver-        nungssuche häufig eine große            ar 2020 kommen auf die sozialen
hältnissen für Menschen mit psy-        Herausforderung dar. Vermieter sind     Träger neue Aufgaben zu. Mit dem
chischer Beeinträchtigung als wich-     oft verunsichert, wenn sie wissen,      bevorstehenden Reformschritt soll
tige Akteure in der kommunalen          dass potenzielle Mieter psychisch       der Anspruch auf gleichberechtigte
Daseinsvorsorge. Durch Bauprojekte      beeinträchtigt sind. Wohlfahrtsver-     Teilhabe und Partizipation in allen
schaffen sie neuen Wohnraum, mit        bände, soziale Organisationen, Anti-    Lebensbereichen leistungsrechtlich
der Anmietung von Wohnraum für          diskriminierungsstellen und Woh-        umgesetzt werden. In diesem
Menschen mit psychischer Beein-         nungswirtschaft sollten kooperieren,    Zusammenhang tauchen zahlreiche
trächtigung sorgen sie für den Erhalt   um Diskriminierungen auf dem            Fragen auf. Ein besonderes Augen-
bezahlbaren Wohnraums.                  Wohnungsmarkt von Menschen mit          merk muss deshalb auf die Siche-
                                        psychischen Beeinträchtigungen          rung und Umsetzung der sozialen
Die langjährige Erfahrung in der        abzubauen und den besonderen            Teilhabe gelegt werden. Es gilt in
Zusammenarbeit mit privaten Ver-        Bedürfnissen dieser Zielgruppe          diesem Zusammenhang zu beach-
mietern, Wohnungsbaugenossen-           gerecht zu werden.                      ten, dass ambulante Wohngruppen
schaften und anderen Anbietern von                                              auch weiterhin als solche erhalten
Wohnungen machen soziale Organi-        Hürden bei der Suche nach einer         bleiben und der Bezug von Sachleis-
sationen und deren Mitarbeitende zu     Wohnung entstehen besonders             tungen der Pflege in diesen auch
kompetenten Ansprechpartnern. Sie       durch Nachweise, die bei der Bewer-     weiterhin möglich ist. ➝
sind deshalb entsprechend von den       bung um Wohnraum gefordert wer-

                                                                                             Treffpunkte 1/20       7
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   In akuten Krisen- und Konfliktsitua-      Gutes Zusammenleben ist maßgeb-          Und jetzt?
   tionen in Wohnangelegenheiten             lich abhängig von konkreten mate-
   sollten feste Ansprechpersonen der        riellen und räumlichen Aspekten,         Die Erkenntnisse aus dem Projekt
   sozialen Organisationen als Mittler       die in Bauvorhaben einbezogen wer-       wurden in einem Abschlussbericht
   zwischen Vermietern und Mietern           den sollten. Im Projekt wurde deut-      festgehalten. Diese werden zudem in
   fungieren. Diese Leistung trägt zum       lich, inwiefern einfache Gegenstän-      die zielgruppenübergreifende Bear-
   Erhalt von Wohnraum bei und muss          de und Wünsche der Wohnausstat-          beitung des Themas im Paritäti-
   im Rahmen der Assistenzleistungen         tung (Begrünung, kleiner Balkon,         schen Gesamtverband eingebracht.
   sichergestellt werden.                    Baum vor dem Fenster, Badewanne)         Zu nennen ist beispielsweise die
                                             große wohltuende Wirkung erzielen        diesjährige Veranstaltungsreihe
                                             können. Das Thema Lärm ist hier          »Soziale Organisationen als Partner
   Inklusiven Sozialraum                     besonders wichtig: Sich von Nach-        der Wohnungswirtschaft« mit dem
   gestalten                                 barn durch Lärm gestört zu fühlen        Ziel die Kooperation vor Ort zwi-
                                             oder diese krankheitsbedingt durch       schen sozialen Trägern und der
   Lebenswerten Wohnraum zu finden,          eigene Lärmerzeugung zu stören,          Wohnungswirtschaft zu den ver-
   geht über die Anmietung einer Woh-        stellt eine Herausforderung für alle     schiedenen wohnungsbezogenen
   nung hinaus. Vielmehr braucht es          Beteiligten dar.                         Thematiken zu fördern und einen
   die Einbindung in Nachbarschaften                                                  Beitrag zur Sensibilisierung der
   und in das Gemeinwesen, welches           Die infrastrukturelle Anbindung von      Wohnungswirtschaft leisten.
   die richtige Mischung aus Nähe und        Wohngebieten, medizinische Versor-
   Distanz, Kontaktmöglichkeiten und         gung, Lebensmittelversorgung sowie       Einen weiteren Anknüpfungspunkt
   Rückzug ermöglicht. Im Sinne einer        Angebote von sozialer und kulturel-      bietet das im Paritätischen Gesamt-
   ganzheitlichen Wohnungs- und              ler Teilhabe sind sowohl für Bal-        verband angesiedelte Projekt »Teil-
   Stadtentwicklungspolitik sollten          lungszentren wie auch für ländliche      habeforschung: Inklusion wirksam
   gesundheitsfördernde Aspekte              Regionen von besonderer Bedeu-           gestalten«. Mit Analysen sowie der
   bedacht und positive Entwicklungen        tung. Die Verdrängung einkom-            Einbeziehung von Betroffenen in
   in Stadtteilen gestärkt werden.           mensschwacher Haushalte und              Form von Interviews und Workshops
                                             mangelnde Investitionen in soziale       werden Vorschläge zur Verbesserung
   Um Hilfen im Sozialraum zu organi-        Infrastruktur führen zu Segregation      der Lebenssituation und Teilhabe-
   sieren, sind gemeindepsychiatrische       und Exklusion von Menschen mit           möglichkeiten von Menschen mit
   Träger notwendig, damit Kontakte          psychischer Beeinträchtigung oder        Beeinträchtigungen entwickelt.
   zu Nachbarn und weiteren Personen         auch anderer Personengruppen.
   aufgebaut werden können. Sie
   unterstützen bei der Kontaktaufnah-       Ein funktionierender öffentlicher        Ergebnisse, Informationen und Publi-
   me zu Selbsthilfegruppen und -orga-       Personennahverkehr ist unabding-         kationen rund um das Projekt »Inklu-
   nisationen. Der unverzichtbare Bei-       bar für soziale und kulturelle Teilha-   sion psychisch kranker Menschen
   trag dieser Träger zur gesundheitli-      be. Dieser muss ausgebaut und kos-       bewegen« sind auf der Schwerpunkt-
   chen Stabilisierung und zur sozialen      tengünstig beziehungsweise kosten-       seite »Wohnen« des Paritätischen
   Teilhabe erfordert personelle Res-        frei für einkommensschwache Haus-        Gesamtverbands zu finden:
   sourcen, die besser als bislang zu        halte angeboten werden.                  www.der-paritaetische.de/
   finanzieren sind.                                                                  schwerpunkte/wohnen

                                 Lisa Schmidt
                                 war Leiterin des Projekts »Inklusion psychisch kranker
                                 Menschen bewegen« beim Gesamtverband des Paritäti-
                                 schen Wohlfahrtsverbandes.
                                 www. der-paritaetische.de

   8          Treffpunkte 1/20
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                                                     »Austherapiert« gibt es nicht
                                       Grenzen bei den Hilfen für psychisch kranke Menschen
                                                                können überwunden werden

                                                                                      Von Stephan von Nessen

  In der Medizin werden immer wieder neue Möglichkeiten der Behandlung von Krankheiten
 entwickelt, erprobt und für Patienten zugänglich gemacht. Dies gilt auch für die Psychiatrie.

Wer kennt sie nicht, die Filmsze-        führt zu neuen Fragestellungen. Mit      sen«, »malignen Verläufen« oder
nen, in denen engagierte Ärzte am        den zunehmenden Erkenntnissen            »präfinalen Zuständen«, um einen
Ende langer Qual und nach langem         über genetische Dispositionen und        den üblichen Rahmen deutlich über-
Siechtum von Patienten erschöpft         deren Zusammenwirken mit                 steigenden Bedarf an Behandlung -
den Kampf aufgeben und im Beisein        Umweltfaktoren gehe ich von einer        Medikamente, Hilfsmittel, Pflege und
von Angehörigen lebenserhaltende         inzwischen sehr viel kürzeren Ver-       Unterstützung - zu begründen oder
Maschinen abschalten? Krankheits-        dopplungszeit aus.                       um die eingefahrenen Wege der
verläufe, an deren Ende sich der Tod                                              Schulmedizin zum Wohle ihrer
nur um den Preis des Verlustes von       Seltene Diagnosen geraten immer          Patienten verlassen zu dürfen.
Menschenwürde vielleicht noch            häufiger in den Fokus wissenschaft-
etwas aufschieben lässt. In diesen       licher Ursachenforschung und die         So können Ärzte beispielsweise nach
Fällen ist der Begriff »austherapiert«   Entwicklung spezifischer Behand-         einer neuen gesetzlichen Bestim-
so eindeutig wie wortwörtlich zu         lungen. Für die Erbkrankheit »Spina-     mung schwerwiegend Erkrankten
verstehen: Das Ende der Therapie ist     le Muskelatrophie« zum Beispiel, die     Cannabis verschreiben, »wenn eine
das Betätigen des Aus-Schalters.         einen von 10.000 lebend geborenen        allgemein anerkannte, dem medizini-
                                         Säuglingen betrifft, wurde im ver-       schen Standard entsprechende Leis-
Im weitaus größten Teil jedweder         gangenen Jahr ein Medikament der         tung nicht zur Verfügung steht … und
Behandlungen geht es glücklicher-        Firma Novartis zugelassen, welches       eine nicht ganz entfernt liegende
weise nicht unmittelbar um Leben         für den Preis von 2,1 Millionen Dollar   Aussicht auf eine spürbare positive
oder Tod, sondern um Heilung und -       mit einmaliger Anwendung eine            Einwirkung auf den Krankheitsver-
so diese wie bei vielen chronischen      Heilung bringt, indem es eine funk-      lauf oder auf schwerwiegende Symp-
Erkrankungen nicht möglich ist - um      tionierende Kopie des defekten Gens      tome besteht« (§ 31 Abs. 6 SGB V).
Linderung von Leid und der Vorbeu-       bereitstellt. Ein alternatives Medika-   Cannabis hatte über Jahrhunderte als
gung von Folgeschäden.                   ment für diese Erkrankung verur-         Medikamente sehr wohl seinen Platz
                                         sachte bislang im ersten Behand-         in der Behandlung verschiedener
Bei der Suche nach einer Definition      lungsjahr Kosten von 750.000 Dollar      Krankheiten und ist in Deutschland
des Begriffes habe ich folgendes         und in den Folgejahren von jeweils       erst seit 1872 gesetzlich reguliert.
gefunden: »Als austherapiert gilt ein    375.000 Dollar. Vor dem Hintergrund
Patient, wenn die kurativen Behand-      solcher Zahlen könnten vermutlich        Je schlechter es Patienten geht, je grö-
lungsmöglichkeiten seiner Erkran-        Volkswirtschaftler schnell zu einer      ßer deren Leid ist, desto wichtiger ist
kung erschöpft sind und keine wei-       ganz anderen Definition des Begrif-      eine Linderung bringende Therapie.
teren Therapieoptionen mehr beste-       fes »austherapiert« kommen …             Nicht nur weil die Hoffnung zuletzt
hen, die zu einer Heilung oder erheb-                                             stirbt, gibt es in der somatischen
lichen Besserung des Gesundheits-        Ärzte benutzen die Bezeichnung »aus-     Medizin - jenseits einer kurativen
zustandes führen könnten.«               therapiert« nach meiner Erfahrung        Behandlung - im palliativen Bereich
                                         eher ungern, weil - wie ich vermute -    gute Entwicklungen. Menschen, die
Das Wissen in der Medizin verdop-        sie ihre Patienten wie deren Angehö-     in diesem Bereich arbeiten, begreifen
pelte sich in der Vergangenheit alle     rige nicht der Hoffnungslosigkeit        den Tod nicht als Feind, sondern als
zehn Jahre. Neues Wissen kommt,          preisgeben wollen. Stattdessen spre-     zwingende Konsequenz des Lebens,
ergänzt oder ersetzt Bekanntes und       chen sie von »ungünstigen Progno-        zu deren Bewältigung die ihnen

                                                                                                Treffpunkte 1/20        9
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     anvertrauten Patienten Kraft und         tigen Zuwachs an Therapiebaustei-          also »therapieresistenten«) Krank-
     Unterstützung brauchen.                  nen, die - richtig kombiniert - sehr gut   heitsbildern bewirken kann.
                                              geeignet sind, das Leid der betroffe-      Während früher beispielsweise
     In meiner jahrelangen ambulanten         nen Menschen zu lindern und deren          Patientinnen mit einer Borderline-
     Arbeit mit meist schwerkranken,          Lebenszufriedenheit zu verbessern,         Persönlichkeitsstörung insgesamt
     chronischen psychiatrischen Patien-      ohne dass es dafür zu einer wirkli-        als »anstrengend« und »schwierig«
     ten höre ich der Begriff »austhera-      chen Heilung kommen muss.                  galten, weil schon einzelne von
     piert« (alternativ findet sich auch                                                 ihnen in der Klinik schnell ganze
     der Begriff »therapieresistent«)         Im Bereich der Behandlung mit Psy-         Stationen durcheinander bringen
     meist aus dem Mund der Patienten         chopharmaka lassen durchschlagen-          konnten, finden sich heute bundes-
     selbst, wenn diese jedwede medika-       de Innovationen zwar schon länger          weit immer mehr Stationen explizit
     mentöse oder andere Behandlung           auf sich warten (wir dürfen gespannt       für eine Behandlung eben dieser
     als nicht hilfreich empfunden            sein auf die Erfahrungen mit Ketamin       Patientengruppe; und zwar auf Basis
     haben, oder wenn im Verlauf der          zur Behandlung von Depressionen).          der Dialektisch-Behaviorale Therapie
     Erkrankung zunächst überwundene          Dafür nimmt aber der Erfahrungs-           (DBT) mit zunehmend gutem Erfolg,
     Symptome wieder auftraten, weil          schatz im Einsatz mit einer Vielzahl       sowohl kurzfristig, wie auch in der
     beispielsweise Medikamente im Ver-       sich bewährt habender Substanzen           längeren Nachbeobachtung.
     lauf an Wirkung verloren haben.          stetig zu. So ist nach meiner Erfah-
                                              rung auch nach jahrelangem Krank-          Die amerikanische Psychologin
                                              heitsverlauf mit ein wenig Glück und       Marsha Linehan entwickelte diese
                    nten
     Manche Patie
 »   benutzen den
                      Begriff
                                              Geduld doch oft ein Ersatz zu finden,
                                              sollte es zum Wirkungsverlust eines
                                                                                         zunächst rein ambulante Therapie
                                                                                         in den 1980er Jahren. In Deutschland
                      ‹ selbst,               über lange Zeit hilfreich gewesenen        wird sie - wie eine Reihe weiterer
     ›austherapiert                           Wirkstoffes kommen. Mitunter               moderner Verfahren - über die
                     andlungen
     wenn sie Beh                             braucht es auch Kombinationen von          Arbeitsgemeinschaft für Wissen-

       ls nicht hilfreich erlebt              Wirkstoffen, um scheinbare Therapie-       schaftliche Psychotherapie in Berlin
      a                                       resistenz zu überwinden.                   gelehrt und kontinuierlich weiter-

      haben      «                            Anders als bei der Entwicklung neu-
                                              er Medikamente ist bei den psycho-
                                                                                         entwickelt. Dank der Dialektisch-
                                                                                         Behavioralen Therapie ist die Prog-
                                                                                         nose der Borderline-Persönlichkeits-
     Manchmal meine ich, wenn sich            therapeutischen Verfahren vieles im        störung heute deutlich besser als
     Patienten selbst als »austherapiert«     Fluss. Speziell die auf verhaltensthe-     noch vor einigen Jahren, als viele der
     vorstellen, eine Art vorweg genom-       rapeutischen Grundlagen beruhen-           betroffenen Menschen als »therapie-
     mene Entschuldigung zu hören:            den Angebote stehen bei streng wis-        resistent« bezeichnet wurden und
     »Machen-Sie-sich-keine-Hoffnungen,       senschaftlicher Bewertung sowohl           die Krankheit als unheilbar oder
     mir-ist-sowieso-nicht-zu-helfen!«. Da    in Bezug auf Wirksamkeit, als auch         zumindest mit schlechter Prognose
     ich in einem Umfeld aufgewachsen         im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit         behaftet galt. Einen erheblichen Bei-
     bin, in dem es an Zweckpessimismus       gut bis sehr gut da.                       trag zum Erfolg dieser Therapie hat
     selten mangelte, sind mir diese                                                     die in der DBT-Ausbildung vermittel-
     Patienten in besonderem Maße nah.        Als eine Folge dieser Entwicklung          te Grundeinstellung der Therapeu-
                                              wurde neben den bewährten psy-             ten im Team sowie ein stetes Trai-
     Unter Patienten mit bestimmten Per-      choanalytischen, tiefenpsychologi-         ning von Achtsamkeit bei Patienten
     sönlichkeitsstörungen finden sich        schen und verhaltenstherapeuti-            wie Therapeuten.
     etliche, die aufgrund ihrer spezifi-     schen Verfahren im November 2018
     schen Probleme in der zwischen-          auch die Systemische Therapie in           Eine ebenfalls recht neue Therapie
     menschlichen Interaktion nicht von       den Leistungskatalog der Kranken-          chronischer psychischer Erkrankun-
     den üblichen Behandlungsangeboten        kassen aufgenommen (nachdem                gen ist die Akzeptanz- und Commit-
     profitieren konnten, sondern im          bereits im Jahre 2008 ein erstes Gut-      ment-Therapie (ACT). Wenn langfris-
     Gegenteil eher Gefahr liefen, durch      achten des Wissenschaftlichen Bei-         tig das Bestehen bestimmter Symp-
     unpassende Therapie-Settings zusätz-     rates Psychotherapie erstellt worden       tome zu Veränderungen im Fühlen,
     liche negative Erfahrungen zu            war). Bei der Systemischen Therapie        Denken und Handeln führt und
     machen.                                  werden Mitglieder des sozialen             deren Konsequenzen für den Betrof-
                                              Umfeldes der Patienten in die              fenen weit schwerer sind, als die
     Genau hier, bei einer Vielzahl chroni-   Behandlung einbezogen, was von             Symptome selbst es zunächst recht-
     scher psychischer Erkrankungen, gibt     nun an Verbesserungen bei zuvor            fertigen, kann über eine Akzeptanz
     es in den letzten Jahren einen gewal-    schwer beeinflussbaren (bis dahin          der Symptome (»als das, was sie

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Magazin

sind, nicht als das, was sie zu sein     von Perspektiven, körperlicher Ver-         mit wochenlangen stationären
vorgeben«) und über eine Verringe-       fall). Eine erfolgreiche Behandlung         Behandlungsphasen. Manche
rung dysfunktionaler Verhaltens-         von Patienten mit Doppeldiagnosen           Patienten können, ohne ihren Wohn-
muster (bei Ängsten zum Beispiel         stellt daher besondere Ansprüche an         ort zu wechseln, gar nicht adäquat
Vermeidung auslösender Situatio-         räumliche, personelle wie konzeptio-        behandelt werden. Bestimmte Ange-
nen) eine Verbesserung des Funkti-       nelle Ressourcen.                           bote für besondere Wohnformen
onsniveaus erreicht werden. Die Klä-                                                 und auch die Verfügbarkeit von
rung von Werten und Lebenszielen,        Gerade aber in der Arbeit mit Patien-       Arbeit in einem geschützten Rah-
aus den sich konkrete Handlungsab-       ten mit Doppeldiagnosen lassen sich         men erfordern ein Maß an Mobilität,
sichten (»commitments«) ableiten         Erkenntnisse finden, die allen psy-         das viele unserer Patienten nicht
lassen, bildet die zweite Säule dieser   chisch Erkrankten zugutekommen.             erfüllen können oder wollen.
bei verschiedenen Diagnosen anzu-        So ist in den letzten Jahren beispiels-
wendenden Behandlung.                    weise viel zum Thema Aufmerksam-            Die bittere Phase vieler Patienten
                                         keits-Defizit-Hyperaktivitäts-Stö-          liegt in der Zeit vor einer Diagnose-
Im Jahr 2000 wurde als Therapiean-       rung (ADHS) im Erwachsenenalter             stellung und damit auch vor Einlei-
satz für chronische Depressionen die     geforscht worden, was nach meinem           tung einer spezifischen Therapie.
Cognitive Behavioral Analysis Sys-       Empfinden vielleicht die psychiatri-        Während - wie dargestellt - die Theo-
tem of Psychotherapy (CBASP) ent-        sche Diagnose überhaupt ist, die bei        rie in Form wissenschaftlicher
wickelt. Grundannahme der Thera-         bestehender Komorbidität (oft Ess-          Erkenntnisse große Fortschritte
pie ist das Vorhandensein von Ent-       störungen, Depressionen, Sucht,             macht, lässt die Praxis in Form einer
wicklungsblockaden als Folge von         Boderline-Störung) am häufigsten            niederschwellig zugänglichen
Misshandlungen, frühen Verluster-        unerkannt bleibt. Auch hier wird im         Behandlungsinfrastruktur in weiten
fahrungen oder chronischer Ver-          Einzelfall eine bislang chronische          Bereichen noch immer sehr zu wün-
nachlässigung. Probleme in der           und scheinbar therapieresistente            schen übrig.
Interaktion der Patienten mit deren      Situation durch einen neuen diag-
unmittelbaren Umwelt sowie Fertig-       nostischen Blick auf die Symptoma-          Wenn die Hoffnung die Erinnerung
keitsdefizite werden mithilfe von        tik oft vom Patienten als weniger           an das vergangene Leben braucht,
Situationsanalysen und interperso-       belastend empfunden.                        um selbst am Leben zu bleiben, gibt
nellen Strategien erfolgreich thera-                                                 es leider auch in der Psychiatrie eini-
peutisch angegangen.                     Mein Plädoyer gegen den Begriff             ge Krankheitsbilder mit unaufhalt-
                                         »austherapiert« muss dahingehend            sam tragischem Verlauf. Kommt es
Eine weitere Gruppe an Patienten,        relativiert werden, dass viele der          durch den steten Niedergang von
die von unterschiedlichen Seiten         genannten neuen Therapie für nicht          Nervenzellen im Gehirn zu einer
schnell das Etikett »therapieresis-      alle Patienten verfügbar sind. Je           Demenz, sind die bislang verfügba-
tent« bekommen, sind Patienten mit       nach Wohnort ist schon der Zugang           ren Medikamente nur im begrenzten
sogenannten Doppeldiagnosen. Als         zu »einfacher« Psychotherapie               Rahmen in der Lage, diesen Zerfall
solche bezeichnet man das gleichzei-     schwer und mit Wartezeiten von              der letztlich aufzuhalten. Hier findet
tige Auftreten von psychischen Stö-      nicht selten mehr als einem halben          sich die größte Analogie zur ein-
rungen und einer Suchterkrankung.        Jahr verbunden.                             gangs zitierten Filmszene. Das sich
In aller Regel limitiert die Sucht die                                               in solchen Fällen Angehörige einen
Behandlung der Erkrankung, oft ver-      Bestimmte Spezialtherapien (wie z.          »Ausschalter« wünschen, ist die Fol-
schlechtert sie diese aufgrund der       B. die Behandlung schwerer seeli-           ge einer Identifikation mit den
mit ihr verbundenen Probleme             scher Traumatisierungen) erfordern          Patienten und der Wunsch nach
(Schulden, sozialer Abstieg, Verlust     sogenannte Intervall-Behandlungen           einem würdevollen Ende.

                                                                          Stephan von Nessen
                             ist seit 1987 Mitglied der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt
                                   am Main e. V. und seit einigen Jahren deren 1. Vorsitzender.
                            Er arbeitet als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der
                                  psychiatrischen Institutsambulanz der Fachklinik Hofheim.
                                                                         www.bsf-frankfurt.de

                                                                                                  Treffpunkte 1/20        11
Thema

   Experten für Eigensinn
   Menschen mit herausforderndem Verhalten stellen institutionelle
   Grenzen infrage

   Von Jo Becker

   Menschen mit herausforderndem Verhalten brauchen mehr als individuelle Assistenz-
   leistungen, wie sie das Bundesteilhabegesetz vorsieht. Das WohnRaum-Konzept ist
   eine Forderung an die Träger der Gemeindepsychiatrie, geeignete Wohnungen zu
   beschaffen und den Sozialraum in die Betreuung einzubeziehen.

   Es gibt sie überall in Deutschland, diese Klienten. Immer    andere Beziehungsabbrüche hinter sich. Häufig sind
   nur einige wenige in jeder Region. Jeder in der Helfersze-   neben der Erkrankung zusätzliche Komplikationen ent-
   ne kennt sie. Wir bezeichnen sie als »schwierige Klien-      standen: Substanzmissbrauch, unzureichende Ernäh-
   ten«, als »Systemsprenger«, weil sie die Regeln und          rung, Verwahrlosung, körperliche Erkrankungen, Schul-
   Grenzen einer Einrichtung regelmäßig überschreiten, als      den, Verlust sozialer Bindungen. Und oft auch ein tief sit-
   Klienten »mit herausforderndem Verhalten«. Was macht         zendes Misstrauen gegenüber Institutionen und Fach-
   diese Menschen so besonders?                                 kräften.

   Sie sind nicht immer besonders schwer erkrankt. Die          Menschen mit diesem besonderen Hilfebedarf stellen
   meisten würden sich selbst auch keineswegs als               die Anbieter von Hilfen vor besondere Herausforderun-
   »schwierig« bezeichnen. Wir Fachleute sind es, die sie so    gen, wegen ihres oft störenden und als unkooperativ
   erleben. Warum? Salopp gesagt, weil sie uns besonders        erlebten Verhaltens. Konflikte und andere Belastungen
   viel Arbeit, Ärger oder manchmal auch Angst bereiten.        von Mitbewohnern und Mitarbeitern gehören zum All-
   Mit ihrem Verhalten fordern sie uns heraus, Hilfe zu leis-   tag. Die gesellschaftliche Antwort auf diese fachliche
   ten, während sie es gleichzeitig ablehnen, Psychophar-       Herausforderung lautet heute an vielen Orten wieder
   maka einzunehmen, abstinent zu leben oder die Haus-          ähnlich wie bis in die 1980er Jahre: nämlich Einsperren.
   ordnung einzuhalten. In der Beziehung zu uns erleben         Deshalb finden sich viele kranke Menschen fehlplatziert
   wir sie als unkooperativ.                                    in geschlossenen Altersheimen. Sie werden dort mit rich-
                                                                terlicher Genehmigung untergebracht, obwohl sie weder
   Betrachtet man sie dagegen unabhängig von unseren            alt noch pflegebedürftig sind. Andernorts werden gleich
   fachlichen Erwartungen, sind es Menschen mit einem           neue geschlossene Wohnheime für psychisch kranke
   starken Willen zur Selbstständigkeit. Sie haben eigene       Menschen eröffnet. Aber es geht auch anders. Experten
   Vorstellungen vom Leben und verfolgen diese hartnä-          für Eigensinn brauchen individuelle und keine institutio-
   ckig. Sie sind Experten für Eigensinn.                       nellen Lösungen!

   Es ist verständlich, dass solche Klienten nicht selten in    Richtig ist: In gefährlichen Krisensituationen gelingt
   den Einrichtungen und Diensten der Gemeindepsychia-          eine ausreichende Fürsorge oft nur im Rahmen einer
   trie auf Ablehnung treffen. Sie erleben deshalb immer        geschlossenen Unterbringung. Eine lebensgefährliche
   wieder den Abbruch von Betreuungsbeziehungen. Man            Krise ist aber ein Ausnahmezustand, auch wenn sie
   könnte sagen: An diesen Klienten zeigt sich die Qualität     mehrmals im Jahr auftritt. Das Krankenhaus ist dafür
   der gemeindepsychiatrischen Versorgung einer Region.         der richtige Ort, weil dort mit intensiven therapeuti-
   Mit ihnen zu arbeiten, erfordert eine hohe fachliche         schen Mitteln, mit hohem Personaleinsatz und unter
   Kunst. Es braucht dafür die Besten im Team.                  enger gerichtlicher Kontrolle versucht wird, die Krise so
                                                                schnell es geht zu beenden.
   Viele Experten für Eigensinn haben über lange Zeit nur
   unzureichend fachliche Hilfe erhalten, haben oft in pre-     Wenn aber der private Wohnort eine geschlossene Ein-
   kären Verhältnissen gelebt. Meist haben sie eine Vorge-      richtung ist, wird Eingesperrtsein zum Alltag. Wenn vie-
   schichte von gescheiterten Betreuungsbeziehungen und         le unterschiedliche, schwer erkrankte Menschen gegen

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Thema

ihren Willen und langfristig hinter geschlossenen Türen
wohnen müssen, führt das zu einer Wohnatmosphäre,
die alles andere als rehabilitativ ist. In diesem Kontext
gelingt es nur schwer, eine vertrauensvolle Zusammen-
arbeit zu entwickeln. Selbstheilungsprozesse im Sinne
einer Recovery verzögern sich. Es drohen langfristige
Hospitalisierungen wie früher auf den Langzeitstationen
psychiatrischer Krankenhäuser. Nicht mit den Mitteln
eines Krankenhauses ausgestattet, sondern mit denen
der Sozialhilfe. Das ist kein Weg zur Inklusion von Exper-
ten für Eigensinn.

»Herausforderndes Verhalten« ist keine Diagnose oder
Eigenschaft, sondern eine Beziehungsbeschreibung aus
Fachkraftsicht. Es sind Menschen, die durch ihr Verhalten
zeigen, dass sie dringend Hilfe brauchen, mit denen eine
                                                               In einem neuen Buch beschreiben im ersten Teil 20
Zusammenarbeit oder ein Mindestmaß an Hilfe aber
                                                               ehemalige »Experten für Eigensinn« ihren Weg;
noch nicht gelungen sind. Es wäre zynisch, ihre unzurei-
chende Versorgung als ihre freie Willensentscheidung zu
                                                               Fachkräfte und Angehörige schildern den Verlauf
deuten, weil sie die marktüblichen Hilfen der Gemeinde-        aus ihrer Sicht. Im zweiten Teil werden einfache
psychiatrie nicht annehmen, zum Beispiel nicht in              und effektive Methoden vorgestellt, die sich in der
einem Wohnheim leben wollen.                                   Zusammenarbeit mit »schwierigen Klienten«
                                                               bewährt haben.
Nicht der Klient sollte sich der Hilfe anpassen müssen.
Die Hilfe muss so passend sein, dass sie freiwillig akzep-     Jo Becker, Daniela Schlutz: Experten für Eigensinn.
tiert wird. Die Herausforderung bei Menschen mit
                                                               Berichte gelungener Zusammenarbeit bei heraus-
herausforderndem Verhalten besteht vor allem darin,
                                                               forderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Ange-
mit ihnen eine funktionierende professionelle Bezie-
hung zu entwickeln. Es geht darum, von einer emotional         hörigen und Fachkräften. Psychiatrie Verlag, Köln
belastenden zu einer von Wertschätzung geprägten               2019. 20,- Euro. ISBN 978-3-88414-922-5.
Zusammenarbeit zu gelangen.

Was also brauchen Experten für Eigensinn? Sie brauchen       duelle Assistenzleistungen anzubieten. Sie sollten jenen
das gleiche wie alle anderen Menschen auch. Und sie          Menschen eine Wohnung beschaffen, denen das krank-
benötigen dabei Unterstützung, weil sie es nicht aus         heitsbedingt nicht gelingt. Ohne Vorbedingungen wie
eigener Kraft finden: Alle Menschen brauchen einen           Abstinenz oder medikamentöse Compliance. Und sie
Platz, wo sie wohnen und in Würde leben können. Sie          müssen das Wohnumfeld einbeziehen, sodass beispiels-
brauchen soziale Beziehungen, in denen sie so akzeptiert     weise die Nachbarn oder der Vermieter einen Mensch
werden, wie sie sind.                                        mit seinem Eigensinn tolerieren. Dafür gibt es mehrere
                                                             Ansätze: Die vorhandenen Ressourcen durch Vernetzung
                                                             und Synergie besser nutzen, Ressourcen umwidmen oder
WohnRaum schaffen                                            neue Ressourcen schaffen.

Das WohnRaum-Konzept macht daraus einen Auftrag,
eine systematische Strategie für die Träger sozialer         Gemeindepsychiatrischer Verbund und
Dienste. Ziel ist es, individuell passende Wohnorte neu      Runder Tisch
zu schaffen oder so umzugestalten, dass ein Experte für
Eigensinn dort sein Zuhause findet. Es geht sowohl um        Die früheren Langzeitkrankenhäuser hatten eine Versor-
eine passende Wohnung als auch um einen toleranten           gungsverpflichtung für ihr Einzugsgebiet. Diese Asyl-
Lebensraum, ein Wohnumfeld, das die Eigenarten des           funktion gibt es nicht mehr. »Freie Träger« der Gemein-
Klienten toleriert.                                          depsychiatrie sind frei zu entscheiden, wem sie ihre
                                                             Dienstleistungen anbieten.
Experten für Eigensinn finden aus eigener Kraft oft kei-
ne Wohnung. Sie verlieren aufgrund ihrer Erkrankung          Aber wer bietet denen Hilfe, die keiner will? Aus dieser
häufig sogar ihr Zuhause. Deshalb müssen die Träger der      Situation heraus haben sich bereits an vielen Orten
Sozialwirtschaft für diese Menschen mehr tun, als indivi-    Gemeindepsychiatrische Verbünde gebildet (www.bag-

                                                                                              Treffpunkte 1/20       13
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