WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER - ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER - CURAVIVA Schweiz

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WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER - ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER - CURAVIVA Schweiz
WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER
ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER
AUTOR
Dr. Heinz Rüegger MAE ist Theologe, Ethiker und zerti-
fizierter Gerontologe INAG. Er ist freier Mitarbeiter am
Institut Neumünster, Zollikerberg, und assoziiertes
Mitglied des Zentrums für Gerontologie der Universi-
tät Zürich.

Anschrift
E-Mail: h.rueegger@outlook.com

IMPRESSUM
Herausgeber
CURAVIVA Schweiz – Fachbereich Menschen im Alter
Zieglerstrasse 53
Postfach 1003
3000 Bern 14

Zitierweise
CURAVIVA Schweiz (2021)
Themenheft: Würde und Autonomie im Alter
Hrsg. CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter
Online: curaviva.ch.

Auskünfte/Informationen
Anna Jörger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Fachbereich Menschen im Alter
E-Mail: a.joerger@curaviva.ch

© CURAVIVA Schweiz, 2021

Copyright Titelbild: iStockphoto, © Tamara Murray
Layout: !Frappant, Bern
Ausgabe: Mai 2021

Aus Gründen der Verständlichkeit wird im Text bei genderspezifischen Begriffen
­abwechselnd die männliche und die weibliche Form verwendet. Es sind dabei aber
immer beide Geschlechter gemeint.
Inhaltsverzeichnis

        Vorwort                                                        4
    

    1 Zur Bedeutung des Thema6                                         6

    2. Alter und Würde                                                10
       2.1    Die schleichende Entwürdigung des Alters                 11
       2.2    Der doppelte Würdebegriff                                12
       2.3    Lebensqualität und Menschenwürde                        18
       2.4    Nichtdiskriminierung des Alters                         19
       2.5    Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde                  20

    3 Autonomie im Alter                                              22
      3.1  Der heutige Stellenwert von Autonomie                      23
      3.2  Differenzierungen des Autonomiebegriffs                    24
      3.3  Autonomie fördernde Gestaltung des Heimalltags             25
      3.4  Autonomie als medizinethisches Grundprinzip                31
      3.5  Das Instrument der Patientenverfügung                      35
      3.6  Stellvertretendes Entscheiden                              37
      3.7  Grenzen der Selbstbestimmung                               38
      3.8  Selbstbestimmtes Sterben                                   41

    4 Anhang                                                          44
      4.1  Literaturhinweise                                          45

                                                         WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER   |   Inhaltsverzeichnis   | 3
Vorwort 

          ERSTE AUFLAGE
          Liebe Leserin, lieber Leser
          Würde und Autonomie sind zwei grundlegende ethi-             lungsprozessen und zur Reflexion der alltäglichen Ar-
          sche Begriffe zur Charakterisierung eines humanen Le-        beit in Teambesprechungen eingesetzt werden. Als
          bens. Sie gelten für jedes Leben, auch für das Leben im      Leserinnen und Leser wünschen wir uns aber anderseits
          Alter. Dieses Anliegen verfolgt auch die Strategie für       auch Lehrende, die die hier angesprochenen Inhalte wei-
          eine schweizerische Alterspolitik. Sie verlangt als Stand-   tervermitteln, sowie die Pflegenden selbst. Sie sind es
          bein der strategischen Ausrichtung für die älteren Men-      vornehmlich, die dazu beitragen, dass ältere, pflegebe-
          schen die «Förderung ihrer Autonomie, ihrer Selbstver-       dürftige Menschen sich in ihrer Würde respektiert und
          sorgung und ihrer Selbstbestimmung» (Bericht des             in ihrer Selbstbestimmung unterstützt erfahren kön-
          Bundesrates 2007: 45).                                       nen. Die Publikation vertieft und konkretisiert die Postu-
                                                                       late, welche in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum
          Autonomie und Selbstbestimmung sind verankert in             würdigen Umgang mit älteren Menschen» (CURAVIVA
          der unverlierbaren Menschenwürde. Weil diese beiden          Schweiz 2010) festgelegt wurden.
          Orientierungsgrössen unabdingbar zusammengehö-
          ren, werden sie in diesem Themenheft gemeinsam be-           Erarbeitet wurde das vorliegende Themenheft vom
          handelt.                                                     Theologen, Ethiker und Gerontologen Heinz Rüegger. In
                                                                       einer Resonanzgruppe von leitenden Personen aus der
          Würde und Selbstbestimmung müssen besonders ge-              Branche der Alters- und Pflegeheime wurden die zentra-
          schützt werden, wenn Menschen durch gesundheit­liche         len Fragestellungen gemeinsam festgelegt. Zudem wur-
          Einschränkungen ihre Autonomiefähigkeit ganz oder            den zum Text in zwei Stufen Rückmeldungen gemacht.
          teilweise verlieren. Dies betrifft in besonderer Weise die   So entstand ein Werk, das die theoretischen Grundlagen
          Situation von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pfle-           und die konkrete Praxis miteinander verbindet.
          geheimen.
                                                                       Ich danke sowohl Heinz Rüegger wie auch den Mitglie-
          In diesem Themenheft werden die beiden grundlegen-           dern der Resonanzgruppe ganz herzlich für ihr grosses
          den ethischen Begriffe erklärt und verständlich ge-          Engagement und den spannenden Erarbeitungspro-
          macht. Zudem wird aufgezeigt, wie sie in der alltägli-       zess. Mit diesem Dank verbinde ich den Wunsch, dass die
          chen Praxis von Pflegeeinrichtungen konkret umgesetzt        erarbeiteten Anregungen und Anstösse jetzt im konkre-
          werden können. Angesprochen sind einerseits die Ver-         ten Alltag der Alters- und Pflegeinstitutionen breit zum
          antwortlichen dieser Institutionen, die durch ihre Inter-    Tragen kommen.
          ventionen und Massnahmen die Kultur ihrer Institution
          massgebend beeinflussen. Zu den einzelnen Anliegen
          und Themen finden sich darum verschiedene Reflexi-           Herbst 2012
          onsfragen. Sie können in betriebsinternen Entwick-           Christoph Schmid, CURAVIVA Schweiz

4 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER       |   
ZWEITE AUFLAGE
Der Autor Heinz Rüegger hat im Jahr 2021 im Auftrag     Die zweite Auflage greift den Wandel und die Diskus-
von CURAVIVA Schweiz die bald 10-jährige Ausgabe        sion auf und sorgt für eine weitere Differenzierung der
der ersten Auflage überarbeitet und aktualisiert.       Thematik. Wir danken Heinz Rüegger für seinen wert-
Würde und Selbstbestimmung im hohen und vor al-         vollen Beitrag und wünschen allen eine angenehme
lem multimorbiden Alter sind wesentliche Inhalte,       und auch anregende Lektüre der vorliegenden Doku-
welche die Lebensqualität bis zum Tode auf höchste      mentation. Mögen die Inhalte zum Nachdenken und
Weise beeinflussen. Sie sind jedoch keine starren Be-   Reflektieren für das eigene Älterwerden, aber auch für
griffe, sondern wandeln sich einerseits im Laufe der    die Arbeit mit Menschen im Alter dienen.
Zeit und müssen andererseits immer wieder auf dem
Hintergrund der alltäglichen Arbeit mit älteren Men-    Frühjahr 2021
schen reflektiert werden.                               Dr. Markus Leser, CURAVIVA Schweiz

                                                              WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER      |   Vorwort   | 5
1   Einleitung
     Zur Bedeutung des Themas
HERAUSFORDERUNG LANGLEBIGKEIT                                ZUNAHME ALTERSBEDINGTER MORBIDITÄT
Eine der grössten Errungenschaften unserer moder-            UND PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT
nen Zivilisation besteht in der enormen Zunahme der          Mit der Zunahme der Zahl hochaltriger Menschen und
durchschnittlichen Lebenserwartung (zum Folgenden            damit der Zunahme der Multimorbidität steigt aller-
vgl. HUBER/RÜEGGER 2013: 3f.). Lag diese bei Men-            dings der Bedarf an Hilfe bei der praktischen Bewälti-
schen, die im Jahr 1900 geboren wurden, noch bei 46,2        gung des Alltags und die Abhängigkeit von medizi-
Jahren für Männer und 48,9 Jahren für Frauen, betrug         nisch-pflegerischer Betreuung nimmt zu. Wenn die
sie 2019 bereits 81,9 bzw. 85,6 Jahre (BFS). Das bedeu-      Unterstützung durch das soziale Umfeld und durch
tet eine Steigerung der durchschnittlichen Lebenser-         ambulante Dienste nicht mehr ausreicht, um selbst-
wartung in gut einem Jahrhundert um über 30 Jahre!           ständig zu wohnen, wird der – häufig unfreiwillige –
Langlebigkeit wird zu einem markanten Phänomen               Umzug in eine Wohn- und Pflegeeinrichtung für alte
unserer Zeit. Sie wird zu einer zentralen biografischen      Menschen meist unumgänglich. Für die Schweiz gilt,
Herausforderung für das Individuum und zur vielleicht        dass «die Betreuungsrate (Anteil an Bewohnern von
grössten sozialpolitischen Herausforderung für die           Alters- und Pflegeheimen an der gesamten Wohnbe-
Gesellschaft als Ganzes. Durch den gleichzeitigen            völkerung) erst ab dem Alter von 80 Jahren einen deut-
Rückgang der Anzahl Geburten kommt es zu einer               lichen Anstieg zeigt. Von den 80- bis 84-Jährigen leben
­demografischen Alterung der Bevölkerung: Immer              noch gut 90 % zuhause, aber anschliessend steigt eine
 ­weniger Junge stehen immer mehr Alten gegenüber.           stationäre Versorgung rasch an, und wer ein hohes Al-
  ­Verdankte sich die markante Steigerung der durch-         ter von 95 Jahren und mehr erreicht, lebt zu gut 45% in
   schnittlichen Lebenserwartung anfänglich primär           einer Alters- und Pflegeeinrichtung» (HÖPFLINGER/
   dem Rückgang der Kindersterblichkeit, ist sie heute vor   BAYER-OGLESBY/ZUMBRUNN 2011: 97).
   allem Folge der Verlängerung der Lebenserwartung
   der Hochaltrigen. Die Zukunft des Alters ist darum vor    Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit und der sich auf-
   allem eine Zukunft der Hochaltrigen (BALTES 2001:         drängende Schritt in eine kollektive, betreute Lebens-
   345). Sie stellen diejenige Bevölkerungsgruppe dar, die   form wird von den meisten Betroffenen als gravieren-
   verhältnismässig am stärksten wächst.                     der Einschnitt erlebt, oft verbunden mit mancherlei
                                                             Ängsten, dadurch einen beträchtlichen Verlust an Frei-
Bei dieser Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des         heit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung hinneh-
langen Lebens kann erfreulicherweise festgehalten            men zu müssen. Vor allem wenn sich zu den körper­
werden, dass die erfolgte Zunahme an Lebensjahren            lichen Einschränkungen noch eine demenzielle
mehrheitlich eine Zunahme relativ gesunder, be­              Entwicklung einstellt, sind alte Menschen immer mehr
hinderungsfreier Jahre bedeutet (HÖPFLINGER/BAYER/           auf die respektvolle Fürsorge und Unterstützung
ZUMBRUNN 2011: 33–37). Nach der These des Stanfor-           durch andere angewiesen. Dies bedeutet nicht selten,
der Mediziners JAMES F. FRIES zeichnet sich eine «Kom-       dass schwerwiegende Behandlungsentscheide mit
pression der Morbidität» ab, das heisst eine Auswei-         weitreichenden Konsequenzen im Blick auf Leben und
tung der gesunden, behinderungsfreien Lebensjahre            Tod stellvertretend für einen nicht mehr urteilsfähi-
im Alter, auf die dann eine letzte, kürzere Phase der        gen alten Menschen gefällt werden müssen. Ange-
Multimorbidität folgt, in der jemand an mehreren             sichts solcher Situationen, in denen Menschen in
Krankheiten gleichzeitig leidet, die schliesslich zum        ­hohem Masse verletzlich, manipulierbar und der Be-
Tode führen (FRIES 1980).                                     handlung durch ihr Umfeld ausgeliefert sind, stellt
                                                              sich besonders dringlich die Frage, wie sichergestellt
                                                              werden kann, dass die unantastbare Würde jedes Men-
                                                              schen und sein bleibender Anspruch auf Autonomie
                                                              respektiert werden (SCHMITT-MANNHART 2009: 253–
                                                              255).

                                                 WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER      |   Zur Bedeutung des Themas   | 7
LATENTE UND MANIFESTE FORMEN                              Insofern greifen die nachfolgenden Überlegungen
VON ­A BWERTUNG DES ALTERS                                zwei der drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik
Diese Frage ist umso wichtiger, weil in weiten Kreisen    des Alterns auf, die der eidgenössische Altersbericht
der Bevölkerung und selbst bei Fachexperten die Ten-      von 1995 formuliert hat:
denz festzustellen ist, ein Leben im hohen Alter, das
gezeichnet ist von Multimorbidität, Demenz und star-
                                                           Die drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik
ker Pflegeabhängigkeit, als sinn- und würdelos und da-
                                                           des Alterns
mit letztlich als unerwünscht anzusehen. Die sich da-
                                                           1) Die Menschen von jung auf ermuntern, ihre Auto-
rin abzeichnende Tendenz einer latenten, zuweilen
                                                              nomie zu leben und dabei Freiheit und Ver­
auch manifesten Abwertung und Entwürdigung des
                                                              antwortung in einer Form zu gebrauchen, die den
Alters erfährt dadurch noch eine Verstärkung, dass
                                                              Menschen als Mit-Menschen auszeichnet.
sich parallel zur Entwicklung moderner Langlebigkeit
eine breite Anti-Aging-Strömung entwickelt hat. Mit
                                                           2) Mit dem Altern den Respekt vor der Autonomie
ihrem Slogan «forever young» huldigt sie einem Ju-
                                                              fördern, sie erhalten und stärken.
gendlichkeitskult und erklärt den Prozess des Alterns
mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen als patho-
                                                           3) Das Individuum unter allen Umständen (insbe-
logisch, als zu bekämpfende und wenn möglich zu
                                                              sondere beim Verlust der Autonomie) auf-
überwindende Krankheit (DE GREY/RAE 2010; PFALLER
                                                              grund seiner ontologischen Menschenwürde als
2016). Das heisst: Die heutige Gesellschaft unterliegt
                                                              Mit-Mensch anerkennen und respektieren.
einer ausgeprägten demografischen Alterung, wäh-
rend man gleichzeitig im Blick auf die Würdigung des
                                                           (Altern 1995: 13)
Alters durch die Gesellschaft mit dem amerikanischen
Psychoanalytiker JAMES HILLMAN feststellen muss:
«Je länger wir leben, desto weniger sind wir wert»        Zugleich versteht sich die vorliegende Schrift als Ver-
(HILLMAN 2001: 52). Oder anders gesagt: «Langlebig-       tiefung und Konkretisierung dessen, was im Jahr 2010
keit und Gesundheit bis ins hohe Alter werden zwar        von acht nationalen, in der Altersarbeit tätigen Dach-
von der Gesellschaft und der Medizin gefördert, der       verbänden in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum
Prozess des Alterns aber eher verdrängt, bekämpft         würdigen Umgang mit älteren Menschen» postuliert
oder verleugnet als gestaltet und begleitet» (SCHMITT-    worden ist (CURAVIVA SCHWEIZ 2010).
MANNHART 2009: 254).

Auf diesem Hintergrund wendet sich die vorliegende
Schrift den beiden ethischen Grundkonzepten der
Würde und der Autonomie zu, die entscheidend sind
für eine humane Behandlung und Betreuung von al-
ten Menschen. Diese beiden Konzepte werden in ihrer
Bedeutung erklärt und es wird aufgezeigt, wie sie in
der alltäglichen Praxis von Alters- und Pflegeeinrich-
tungen als Kriterien verantwortlichen Handelns ange-
wandt werden können. Ziel ist, Anregungen zu geben,
wie die Praxis im Heimalltag so gestaltet werden kann,
dass Menschen sich – entgegen manchen Klischees
vom Leben in einem Pflegeheim – in ihrer Würde res-
pektiert und in ihrer Selbstbestimmung unterstützt
erfahren können.

8 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER    |   Zur Bedeutung des Themas
2   Alter und Würde
2.1 Die schleichende Entwürdigung des Alters

    Es ist eigenartig, dass alt werden (der Prozess des Al-       Stimmen auf gerontologischer wie auf ethischer Seite,
    terns) und alt sein (die Lebensphase des Alters) ausge-       die davon ausgehen, dass alte Menschen, die an einer
    rechnet heute vielen unattraktiv erscheint, wo doch           Demenz erkranken, im Verlauf dieser Erkrankung auch
    ein Grossteil der Bevölkerung zum ersten Mal in der           ihre Würde verlieren. So war PAUL B. BALTES, der grosse
    Geschichte der Menschheit die reale Möglichkeit hat,          Gerontopsychologe des letzten Jahrhunderts, der Mei-
    alt, ja hochaltrig zu werden! Die Schriftstellerin MO-        nung, dass Demenzerkrankungen einen «schleichen-
    NIKA MARON spricht wohl vielen aus dem Herzen,                den Verlust vieler Grundeigenschaften des Homo
    wenn sie bekennt: «Natürlich will ich, was alle wollen:       ­sapiens wie etwa Intentionalität, Selbstständigkeit,
    Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was        Identität und soziale Eingebundenheit bedeuten – Ei-
    alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. (…) Ich          genschaften, die wesentlich die menschliche Würde
    würde … auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis            bestimmen. (…) Angesichts dieser Tatsache stellt sich
    fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte              eine neue, beängstigende Herausforderung: die Erhal-
    dreissig … und Mitte vierzig, bis die Jahre abgelaufen         tung der menschlichen Würde in den späten Jahren
    sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in An-        des Lebens. (Denn) gesundes und menschenwürdiges
    spruch genommen» (MARON 2002: 22, 26).                         Altern hat seine Grenzen» (BALTES 2003: 17) –, wenn
                                                                   nicht pharmakologische Fortschritte und medizini-
    ANTI-AGING                                                     sche Interventionen bald etwas Wirksames gegen De-
    Diese populäre, ablehnende Einstellung gegenüber               menz unternehmen können! Hier wird ein Würde­
    dem Alter findet in der sich rasch ausbreitenden Anti-         verständnis propagiert, demzufolge die Würde eines
    Aging-Bewegung Unterstützung (RÜEGGER 2011). In                Menschen empirisch bedingt ist; das heisst, sie hängt
    ihren radikalen Vertretern führt sie einen leidenschaft-       davon ab, ob die entsprechende Person über gewisse
    lichen «Krieg gegen das Altern» (DE GREY 2010: 325).           Eigenschaften oder Fähigkeiten verfügt, die ihr zualler-
    Ihr berühmtester Exponent, AUBREY DE GREY, hat er-             erst Würde vermitteln. Kann sie nicht mehr klar den-
    klärt, Altern sei barbarisch und sollte deshalb seiner         ken, selber für sich sorgen und sich sozial kompetent
    Meinung nach nicht erlaubt sein (zit. STUCKELBERGER            verhalten, verliert sie ihre Würde und gerät in die Situ-
    2008: 233). Moderater tritt demgegenüber die Anti-             ation eines menschenunwürdigen Alterns.
    Aging-Medizin auf, die sich neuerdings auch in der
    klassischen europäischen Schulmedizin etabliert hat           RELATIVIERUNG DER PERSONWÜRDE
    (JACOBI 2005). In ihren seriösen Vertretern lehnt Anti-       Ähnliche Konsequenzen ergeben sich aus den Überle-
    Aging-Medizin nicht eigentlich das Altern als solches         gungen des australischen Ethikers PETER SINGER. Er
    ab, sondern will bloss vorbeugend oder therapeutisch          unterscheidet zwischen Menschen und Personen.
    altersbedingte Krankheiten abwehren, also ein «Good           Mensch ist, wer zur Gattung Homo sapiens gehört.
    Aging» oder «Healthy Aging» oder «Better Aging» er-           Personen hingegen sind Lebewesen (ob Menschen
    möglichen (STUCKELBERGER 2008: 45–78). Dass sie               oder höher entwickelte Tiere!), die über gewisse geis-
    dies aber irritierenderweise unter der Fahne des «Anti-       tige Fähigkeiten verfügen wie: «Selbstbewusstsein,
    Agings» tut, also in einer Haltung, die sich explizit «ge-    Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangen-
    gen das Altern» richtet, wird seine Wirkung in der Öf-        heit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüp-
    fentlichkeit nicht verfehlen und einem latenten               fen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und
    gesellschaftlichen Ageismus, also einer Altersdiskrimi-       Neugier» (SINGER 1994: 118). Nur ihnen kommt eine
    nierung, Vorschub leisten.                                    Personwürde (im Sinne der Menschenwürde) und ein
                                                                  entsprechendes Recht auf absoluten Lebensschutz zu.
    MENSCHENUNWÜRDIGES ALTERN                                     Das heisst: «Die Tatsache, dass ein Wesen ein mensch-
    BEI ­D EMENZ?                                                 liches Wesen … ist, (ist) für die Unrechtmässigkeit sei-
    Zur schleichenden Entwürdigung des Alters trägt noch          ner Tötung ohne Bedeutung; entscheidend sind viel-
    eine weitere Entwicklung bei. Es gibt heute namhafte          mehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und

                                                                 WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER      |   Alter und Würde   | 11
Selbstbewusstsein. Säuglinge haben diese Eigenschaf-         zieht sich in unserer Einstellung zu Fragen rund um Al-
ten nicht. Sie zu töten, kann daher nicht gleichgesetzt      ter, Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit, Behinderung
werden mit der Tötung normaler menschlicher We-              und Sterben eine Relativierung des Würdeverständnis-
sen.» Diese Überlegungen gelten nach Singer auch für         ses und des daraus sich ergebenden Lebensschutzes
Erwachsene, die sich auf der Reifestufe eines Säuglings      (PICKER 2002). Es wundert nicht, wenn in einem sol-
befinden (ebd.: 232f.). Demenzkranke Menschen in             chen gesellschaftlichen Klima Fälle von Tötungen be-
fortgeschrittenem Stadium dürften also ihren morali-         kannt werden, die Pflegende in Altersinstitutionen an
schen Status als Person und ihre menschliche Würde           Bewohnerinnen und Bewohnern begangen haben,
verlieren, weshalb sie nach SINGER grundsätzlich auch        oder Fälle von entwürdigender Behandlung, die sie
ohne ihre zuvor erfolgte Einwilligung getötet werden         sich Patientinnen und Patienten gegenüber erlaubt
dürften (ebd.: 244–246).                                     haben. Und es erstaunt nicht, dass immer mehr ältere
                                                             Leute mit einem begleiteten Suizid ihr Leben beenden
Durch solche Entwicklungen findet in unserer Gesell-         wollen, um so die Phase des kranken, pflegeabhängi-
schaft eine schleichende Entwürdigung des Alters, vor        gen Alters zu verkürzen. Deshalb ist es wichtig, sich die
allem des kranken, stark pflegeabhängigen und von            zentrale Bedeutung klar zu machen, die die im Recht
Demenz betroffenen hohen Alters, statt, die nachdenk-        und in den Berufsethiken des Sozial- und Gesundheits-
lich stimmt (RÜEGGER 2009). Während rechtsstaatli-           wesens enthaltenen Konzepte von Würde und Autono-
che Verfassungen die Menschenwürde als oberstes,             mie für den Umgang mit Menschen in Alters- und Pfle-
absolutes ethisches Grundprinzip proklamieren, voll-         geeinrichtungen besitzen.

2.2 Der doppelte Würdebegriff

Will man angemessen von der Würde des Menschen               menschlichen Gemeinschaft eine unverlierbare Würde
sprechen, ist es nötig, zwei Arten von Würde zu unter-       und einen sich daraus ergebenden Anspruch auf Ach-
scheiden (RÜEGGER 2004, WERREN 2019).                        tung. «Menschenwürde ist das mit dem Dasein als
                                                             Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch»
NORMATIVE MENSCHENWÜRDE                                      (HÄRLE, Würde 2010: 14). Die Allgemeine Erklärung der
Im klassischen, seit Immanuel Kant ausformulierten           Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 for-
und seit Mitte des letzten Jahrhunderts auch völker-         muliert: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde
rechtlich anerkannten Sinn bezeichnet Menschen-              und Rechten geboren.» Das ist die egalisierende Funk-
würde einen absoluten Wert, der jedem menschlichen           tion des normativen Menschenwürdebegriffs.
Wesen eigen ist und allen Menschen gleichermassen
zukommt – völlig unabhängig von irgendwelchen em-            Es handelt sich also um eine «angeborene», vorgege-
pirisch gegebenen Faktoren wie sozialem Status oder          bene und deshalb unantastbare Würde, die an keine
Geschlecht, Rasse oder Religion, Gesundheit oder             Bedingungen geknüpft ist, sondern unbedingt gilt.
Krankheit, Reichtum oder Armut, Fähigkeiten, äusse-          Man braucht sie sich nicht erst zu erringen. «Würde
ren Lebensumständen oder vollbrachten Taten. Ein-            kommt Personen … zu, ohne dass sie dafür etwas ge-
fach weil sie Menschen sind, haben alle Mitglieder der       tan haben» (SCHABER 2012, 27). Man kann sie auch nie

12 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER    |   Alter und Würde
verlieren. Sie kann zwar von anderen Menschen miss-        löst, aber doch weltweit über unterschiedliche Kultu-
achtet oder verletzt werden: in der Pflege etwa durch      ren und ethische Ansätze hinweg eine zentrale Be­
Missachtung der Intimsphäre, durch gewalttätige            deutung gewonnen hat und «einen übergreifenden
Übergriffe, durch Nichtrespektierung des Patienten-        ­Konsens … darstellt. (...) Es ist ein fundamental men-
willens oder durch Respektlosigkeit im Umgang mit           schendienliches Prinzip, ... sodass auch in pluralisti-
Pflegebedürftigen. Aber auch verletzte Würde bleibt         schen Gesellschaften davon ausgegangen werden
Würde, die ihrem Träger und ihrer Trägerin ein bleiben-     kann, dass das Prinzip der Menschenwürde ein Prinzip
des Anrecht auf Achtung als Mensch verleiht.                darstellt, dem praktisch alle zustimmen können»
                                                            (KNOEPFFLER 2004: 10, 90). In welchem Sinne sich aus
Bezeichnend für dieses Verständnis von menschlicher         diesem normativen Würdeverständnis durchaus pra-
Würde ist,                                                  xisrelevante Perspektiven ergeben, können die Fragen
– dass sie menschlichem Leben inhärent, also wesens-        auf den Seiten 17 bis 18 verdeutlichen.
  mässig eigen ist;
– dass sie einen normativen Anspruch darstellt, der        Versteht man Würde im oben beschriebenen normati-
  unabhängig ist von allen empirischen Lebensum-           ven Sinne dieses vierfachen Anspruchs, ergibt sich da-
  ständen;                                                 raus durchaus eine hilfreiche und praktisch relevante
– dass sie an keine Bedingungen oder Voraussetzun-         ethische Grundorientierung für soziales Handeln.
  gen geknüpft ist und darum unbedingt gilt;               Zwar können aus ihr nicht immer eindeutige, direkte
– dass sie allen Menschen gleich zukommt und               Handlungsanweisungen abgeleitet werden; aber es
– dass sie unverlierbar ist.                               ist doch ein Kriterium, vor dem sich alles moralische
                                                           Handeln und jede ethische Argumentation rechtferti-
Inhaltlich beinhaltet die Menschenwürde – auf eine         gen müssen. In diesem Sinne erweist sich das Konzept
einfache Formel gebracht – einen vierfachen An-            der Menschenwürde im Umgang mit alten, zumal
spruch:                                                    hochaltrigen, pflegebedürftigen Menschen als wirksa-
                                                           mes Schutzprinzip und als Fundament für eine hu-
                                                           mane Kultur des würdigen Umgangs mit älteren Men-
Menschenwürde umfasst einen Anspruch
                                                           schen (CURAVIVA SCHWEIZ 2010). «Würde wird zu
– auf Schutz von Leib und Leben, also den Schutz
                                                           einem Grundbegriff einer Moral der Achtung» (SCHA-
  der persönlichen Integrität (gegen Zufügung von
                                                           BER 2012: 39).
  Schmerzen, gegen Tötung)
– auf Selbstbestimmung bzw. Autonomie
                                                           Das beschriebene normative Verständnis von Men-
  (gegen Fremdbestimmung in persönlichen An­
                                                           schenwürde ist nicht zuletzt deshalb so zentral, weil
  gelegenheiten)
                                                           sich von ihm die Menschenrechte herleiten. Aus der
– auf grundlegende Rechte, insbesondere die Men-
                                                           Menschenwürde ergibt sich der Anspruch auf die
  schenrechte (gegen Diskriminierung) und
                                                           Menschenrechte. Darin liegt auch die zentrale Schutz-
– auf einen elementaren Respekt vor der eigenen
                                                           funktion der Menschenwürde. Umgekehrt gilt: Wer je-
  Person (gegen Beschämung, Demütigung
                                                           mandem die volle Menschenwürde abspricht, entzieht
  oder Blossstellung).
                                                           dieser Person damit zugleich die Grundlage ihres An-
                                                           spruchs auf die Menschenrechte.
Dem Konzept der Menschenwürde ist gelegentlich
vorgeworfen worden, es sei inhaltlich diffus, «eine        Auf dem Hintergrund dieses rechtlich und berufs-
nichts sagende Leerformel» (NORBERT HOERSTER) und          ethisch weithin anerkannten normativen Würdever-
deswegen ethisch wenig brauchbar. Dem ist entge-           ständnisses dürfte auch deutlich werden, wie fatal die
genzuhalten, dass das Konzept Menschenwürde zwar           Auswirkungen für alte, insbesondere hochaltrige, pfle-
gewiss nicht alle ethischen Begründungsprobleme            gebedürftige Menschen wären, wenn das bereits in

                                                          WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER     |   Alter und Würde   | 13
weiten Kreisen als «politically correct» geltende Kon-          und sich von Verwertbarem aus dem städtischen Müll
zept einer an empirische Bedingungen geknüpften                 ernähren müssen, empfinden wir dies zu Recht als eine
und darum nur bedingt anzuerkennenden Würde sich                «menschenunwürdige» Situation. In all diesen Fällen
durchsetzen sollte. Wenn der Verlust von Eigenschaf-            geht es um eine Qualität des Handelns oder der Situa-
ten wie kognitiver Orientierung, Selbstständigkeit und          tion, aus der sich ein Gestaltungsauftrag ergibt (RÜEG-
Leistungsfähigkeit mit einem Verlust an Würde gleich-           GER 2004: 29f.). Je nachdem, wie die Magistratin han-
gesetzt wird, fallen gerade diejenigen Personen aus             delt, benimmt sie sich mehr oder weniger würdig. Je
dem Schutzbereich der Menschenwürde und der auf                 nachdem, unter welchen äusseren Bedingungen je-
ihnen basierenden Menschenrechte heraus, die ihrer              mand leben muss, empfinden wir dies als mehr oder
in besonders hohem Masse bedürfen: hochaltrige,                 weniger menschenwürdig. Eine Gedenkfeier kann
multimorbide, an Demenz erkrankte Pflegebedürftige!             mehr oder weniger würdig gestaltet werden. Dieses
                                                                «mehr oder weniger» hängt immer von äusseren, em-
Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass «auch alte,            pirischen Faktoren ab, weshalb diese Art von Würde –
sieche, sterbende Menschen (noch) Menschenwürde                 im Unterschied zur inhärenten Menschenwürde – als
haben, und das ist zu verteidigen, dafür ist einzutreten,       kontingente, von irgendwelchen Bedingungen abhän-
dafür muss sogar notfalls gekämpft werden» (HÄRLE,              gige Handlungs- oder Situationswürde bezeichnet
Menschenbild 2010: 15).                                         werden kann (RÜEGGER 2004: 32–36). Dieser empi-
                                                                risch-kontingente Würdebegriff hat eine differenzie-
                                                                rende Funktion: Nicht alle Personen, Handlungen oder
Es geht darum, die auch im Alter grundsätzlich in-
                                                                Situationen sind gleichermassen würdig – als würdig
takte und unverlierbare Würde jedes Menschen
                                                                gilt nur, wer oder was gewissen (kulturell variablen)
­anzuerkennen und zu respektieren, und zwar durch
                                                                Vorstellungen des guten Lebens, des Schönen oder des
 die Art,
                                                                angemessenen Verhaltens entspricht (MEIREIS 2013:
 – wie wir vom Alter und von alten Menschen reden,
                                                                32f.). In diesem Sinne kann man zum Beispiel dann von
 – wie wir ihnen als Mitmenschen begegnen
                                                                einem «würdigen Alter» reden, wenn ein alter Mensch
   und wie wir sie fachkompetent helfend begleiten.
                                                                sich als reife Persönlichkeit erweist, die über eine ge-
                                                                wisse Lebensweisheit verfügt und gelernt hat, einiger-
                                                                massen geduldig und gelassen mit den Beschwernis-
EMPIRISCHE HANDLUNGS- UND                                       sen des Alters umzugehen. Solche Würde hängt in der
­S ITUATIONSWÜRDE                                               Tat von bestimmten Voraussetzungen ab und kommt
 Von dem eben beschriebenen normativen Verständnis              nicht allen gleichermassen zu, ist vielmehr im Sinne ei-
 von Würde zu unterscheiden ist eine andere, uns im             ner sozialen Ehre zu verstehen (BARANZKE 2015: 96,
 Alltag geläufigere Verwendung des Würdebegriffs.               102).
 Wenn ein Sportler, der einen Wettkampf verliert, sei-
 nem überlegenen Gegner nach der Niederlage zum                 Der kanadische Psychoonkologe HARVEY MAX CHO-
 Sieg gratuliert, sagen wir, er habe sich als «würdiger»        CHINOV hat aus der Beobachtung heraus, dass es für
 Verlierer erwiesen. Wenn eine berühmte Persönlich-             das subjektive, empirische Würde- und Sinnempfin-
 keit gestorben ist, bemühen sich die Hinterbliebenen,          den Sterbender wichtig ist, Nahestehenden so etwas
 eine «würdige» Gedenkfeier zu veranstalten, das                wie ein ideelles Vermächtnis zu hinterlassen, eine
 heisst eine Feier, die schön und eindrücklich ist und die      ­eigene «dignity therapy» (Würdezentrierte Therapie,
 Verdienste des Verstorbenen gebührend «würdigt».                2017) entwickelt. Dabei geht es nicht um die Men-
 Von einem Magistraten erwarten wir, dass er sich                schenwürde, sondern um die soziale Würde des Ster-
 «würdig» verhält, so, wie es seinem hohen Amt ent-              benden in seinem sozialen Umfeld.
 spricht. Und wenn Menschen in den Favelas Latein-
 amerikas in Hütten aus Blech und Pappkarton hausen

14 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER       |   Alter und Würde
Es ist wichtig, die beiden Formen von Würde – die nor-     Fragen zum Schutz von Leib und Leben
mative/vorgegebene und die kontingente/empfun-             – Nehmen wir Schmerzen und andere Symptome von
dene – klar voneinander zu unterscheiden (SCHABER            Patientinnen genug sensibel wahr und verfügen
2012: 19; vgl. Schema auf S. 19).                            wir über ein angemessenes Symptommanage-
                                                             ment nach heutigen Standards von Palliative Care?
Es gibt Situationen im hohen Alter und in Sterbepro-       – Ist unsere Pflege gut genug, um allfällige Schädi-
zessen, die Betroffene angesichts von Hilflosigkeit,         gungen (z. B. Dekubitus, Mangelernährung, Verlust
­Pflegeabhängigkeit, Übelkeit, Inkontinenz oder De-          motorischer Fähigkeiten) zu vermeiden?
 menz subjektiv als «entwürdigend» empfinden und           – Werden rehabilitative Möglichkeiten zur Verbesse-
 sich dafür schämen. Das ist gut nachvollziehbar. Ge-        rung der Situation des Bewohners ausgeschöpft?
 rade dann ist es aber entscheidend, dass Pflegende und    – Werden psychische Erkrankungen wahrgenommen,
 Betreuende nicht nur Verständnis haben für eine sol-        angemessen diagnostiziert und therapeutisch be-
 che empfundene (empirische) Unwürdigkeit, sondern           handelt?
 ihr mit einem klaren Bewusstsein begegnen können,         – Ist die räumliche/bauliche Infrastruktur so, dass sich
 dass die betroffene Patientin trotz ihrem subjektiven       alte Menschen darin wohlfühlen können und dass
 Empfinden eine unverlierbare, jenseits aller Erfahrung      möglichst wenig Gefährdungen bestehen?
 begründete Würde als Mensch hat und dass sich Pflege      – Sind genügend Massnahmen getroffen worden, um
 und Betreuung ganz an dieser unerschütterlichen nor-        die Sicherheit der Bewohnerinnen zu gewährleis-
 mativen Würde des Betroffenen o ­ rientieren.               ten? Wo bestehen allenfalls noch Sicherheitsrisiken?

                                                           Fragen zum Respekt vor der Autonomie bzw. Selbstbe-
Die Würde des Menschen bleibt auch
                                                           stimmung
im ­hohen ­Alter unverlierbar
                                                           – Wo lassen wir den Bewohner entscheiden und wo
Die Würde jedes Menschen ist in jeder Situation
                                                             entscheiden wir aus welchen Gründen für ihn?
­unverlierbar und damit unantastbar. Sie ist an
                                                           – Nehmen wir uns Zeit, Bewohnerinnen auf dem Weg
 keine Bedingungen geknüpft und gilt unabhängig
                                                             zu einer für sie stimmigen Entscheidung im Ge-
 von Gesundheit oder Krankheit, von vorhandenen
                                                             spräch zu begleiten?
 Fähigkeiten oder erlittenen Verlusten, unabhängig
                                                           – Wird der Bewohner in die Pflegeplanung einbezo-
 auch von der finanziellen Situation. Menschen
                                                             gen?
 mit Demenz etwa oder stark pflegeabhängigen Be-
                                                           – Wird er angemessen informiert und wird seine Zu-
 tagten kommt diese Menschenwürde genauso
                                                             stimmung eingeholt bei Änderungen der Therapie
 zu wie allen anderen Menschen.
                                                             oder der Pflege?
                                                           – Kann er dabei zwischen verschiedenen Optionen
CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum
                                                             auswählen?
würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 6
                                                           – Wie weit kann die Bewohnerin ihre Vorstellungen
                                                             von Normalität im Blick auf den Tagesablauf ausle-
Alters- und Pflegeinstitutionen sind gefordert, einen        ben?
würdigen, das heisst die Menschenwürde respektie-          – Werden die Bewohner explizit ermutigt, ihren Willen
renden, Umgang mit ihren Bewohnerinnen und Be-               kundzutun? Spüren sie, dass ihre Selbstbestimmung
wohnern zu pflegen. Wie kann sich das konkret aus-           dem Personal ein Anliegen ist?
drücken? Es empfiehlt sich, als Institution oder als       – Wird eine Ablehnung vonseiten der Bewohnerin
Team die eigene Praxis immer wieder einmal mit Fra-          vom Personal ernst genommen?
gen zu den vier grundlegenden inhaltlichen Ansprü-         – Ist der Behandlungswille der Bewohner für den Fall
chen der Menschenwürde zu durchleuchten:                     einer plötzlichen Verschlechterung ihres Zustandes
                                                             und einer eintretenden Urteilsunfähigkeit bekannt?

                                                          WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER     |   Alter und Würde   | 15
– Gibt es eine Kultur des gemeinsamen, interdiszipli-         – Gibt es eine klare Regelung, wie das «Duzen» und
  nären Fragens nach dem mutmasslichen Willen ei-               «Siezen» gehandhabt wird?
  nes urteilsunfähigen Patienten?                             – Sind die Mitarbeitenden fähig, auch unangeneh-
– Werden Patientenverfügungen ernst genommen                    men Bewohnern mit dem nötigen Respekt zu be-
  und werden sie kompetent interpretiert?                       gegnen?
– Können wir es akzeptieren und aushalten, wenn eine          – Werden Verschwiegenheit und Diskretion von den
  Bewohnerin für sich anders entscheidet, als wir es            Mitarbeitenden ernst genommen?
  für sinnvoll halten?                                        – Bekommen die Bewohnerinnen genügend Zuwen-
– Gibt es ein institutionelles Gefäss für die Mitsprache        dung?
  der Bewohner (z. B. Heimrat)? Wird es ernsthaft ge-
  nutzt?                                                      Solche konkreten, selbstkritischen Nachfragen können
– Ist das Vorgehen im Blick auf freiheitsbeschrän-            sicherstellen, dass der Verweis auf die Menschenwürde
  kende Massnahmen geregelt? Sind weniger ein-                nicht zu einer Leerformel verkommt und dass der Um-
  schneidende Massnahmen, die Freiheitsbeschrän-              gang mit den in der eigenen Institution lebenden alten
  kungen eventuell unnötig machen, bekannt?                   Menschen wirklich «würdig» bzw. «würdigend» ist und
                                                              von ihnen auch tatsächlich so empfunden wird. Ach-
Fragen zur Wahrung grundlegender Rechte                       tung der Menschenwürde ist «eine kostbare, weil
– Sind die Bewohner über ihre Rechte und Pflichten            schwer zu erreichende und schwer zu erhaltende Er-
  informiert?                                                 rungenschaft» (HÄRLE, Würde 2010: 48). Es ist darum
– Werden Reklamationen ernst genommen?                        wichtig, sich bewusst dafür einzusetzen.
– Ist den Bewohnerinnen die Möglichkeit der Anru-
  fung einer unabhängigen Beschwerdestelle für das
  Alter bekannt?
– Können die Bewohnerinnen ihren Glauben in der
  Pflegeinstitution frei ausüben?
– Haben Bewohner das Recht und die Möglichkeit, ihre
  Sexualität zu leben und Beziehungen einzugehen?
– Erhalten alle Bewohnerinnen den ihnen fairerweise
  zustehenden Anteil an den vorhandenen (personel-
  len, zeitlichen, materiellen) Ressourcen?
– Wird ihnen das Recht auf risikoreiches Verhalten zu-
  gestanden?

Fragen zum Respekt vor der Person
– Ist der Umgangston mit den Bewohnerinnen ge-
  prägt von Respekt, Anstand und Höflichkeit?
– Werden die Privat- und die Intimsphäre der Bewoh-
  ner gewahrt?
– Wird vor dem Eintritt in ein Zimmer angeklopft und
  um Zutritt gebeten?
– Haben die Bewohnerinnen die Möglichkeit, ihr Zim-
  mer abzuschliessen?
– Stimmen Nähe und Distanz im Umgang mit den Be-
  wohnern?

16 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER     |   Alter und Würde
Menschenwürde                                               Handlungswürde/Situationswürde
Fachbegriff: «inhärente Würde»                              Fachbegriff: «kontingente Würde»
(= jedem Menschen innewohnende Würde)                       (= von gewissen Faktoren abhängige Würde)

oder: «Seinswürde»
(= mit dem Menschsein gegebene Würde)                       «Handlungswürde» meint in der Pflege: eine Hand-
                                                            lung respektiert die Menschenwürde des Patienten
oder: «Wesenswürde» (= zum Wesen des Mensch-                (= menschenwürdige Behandlung von Patientinnen)
seins gehörige Würde) > jeder Mensch hat eine
grundsätzliche Würde, einen grundsätzlichen, abso-          «Situationswürde» meint: dem Patienten wird eine
luten Wert                                                  Lebens- und Pflegesituation geschaffen, die durch
                                                            Respekt vor seiner Menschenwürde geprägt ist

Die Menschenwürde ist                                       Die Würdigkeit unseres Handelns
– eine Seinsbestimmung (seinsmässig vorgegeben)             (z. B. Pflege und Betreuung) ist
– bei allen Menschen gleich                                 – ein Gestaltungsauftrag
– unverlierbar                                                 (sie ist uns zur Verwirklichung aufgetragen)
– unantastbar                                               – je nach Situation besser oder schlechter
                                                            – kann fehlen oder mangelhaft sein
                                                            – abhängig von unserem Tun

beinhaltet einen Anspruch auf:                              beinhaltet eine Verpflichtung gegenüber
– Schutz des eigenen Lebens                                 anderen zu:
– Autonomie/Selbstbestimmung                                – Schutz ihres Lebens
– Recht auf die Menschenrechte                              – Anerkennung ihrer Autonomie/Selbstbestimmung
– elementaren Respekt vonseiten anderer                     – Gewährung der Menschenrechte
                                                            – elementarem Respekt vor ihrer Person
– menschenwürdige Behandlung durch andere
                                                            – menschenwürdigem Verhalten ihnen gegenüber

Kontingent «unwürdige Pflege» heisst nicht, dass der       Auch wenn das Personal eines Pflegeheims die Würde
Patient seine normative Menschenwürde durch die            des Patienten missachtet/verletzt, bleibt dessen Men-
schlechte Pflege verliert, sondern nur, dass die Pflege    schenwürde und der sich daraus ergebende Anspruch
den nötigen Respekt vor der immer intakt bleibenden        auf Achtung und Respekt unverlierbar und erfordert
Menschenwürde der Patientin vermissen lässt.               ein radikales Verändern des die Würde verachtenden
                                                           Verhaltens des Personals.

                                                          WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER     |   Alter und Würde   | 17
2.3 Lebensqualität und Menschenwürde

Für ein solches Verständnis von Menschenwürde ist              Aussenstehende tendieren zuweilen zu schnell dazu,
grundlegend, dass zwischen der empirisch vorhande-             dem Leben multimorbider Hochaltriger Lebensquali-
nen Lebensqualität eines Menschen und seiner nor-              tät abzusprechen. Solche Urteile aus der Fremdpers-
mativ gegebenen Würde unterschieden wird (zum                  pektive sind unangemessen und tragen ihrerseits zur
Konzept vgl. das zugrunde liegende Papier von CURA-            Entwürdigung des Alters in unserer Gesellschaft bei.
VIVA 2011 zur Lebensqualitätskonzeption, das auch ein          Es steht niemandem zu, im Blick auf das Leben eines
Instrument zur Bestimmung und Förderung der indivi-            anderen Menschen ein Urteil darüber zu fällen, ob
duellen Lebensqualität von Heimbewohnerinnen ent-              diese Leben «lebenswert» oder «lebensunwert» sei.
hält). Es ist entscheidend, dass nicht von einer wie           Wenn schon, steht es höchstens dem Betroffenen sel-
auch immer bestimmten Lebensqualität auf die Men-              ber zu, darüber zu urteilen, ob er sein Leben subjektiv
schenwürde oder den Lebenswert geschlossen wird.               noch als lebenswert oder als nicht mehr lebenswert
                                                               ansieht.
Bei Urteilen über die Lebensqualität im Alter ist ohne-
hin Vorsicht geboten. Entgegen traditionellen negati-          So oder so sind solche subjektiven, auf empirischen
ven Altersstereotypen ist wichtig festzuhalten, dass           Faktoren beruhenden Urteile streng vom normativen
Altern nicht einfach ein defizitärer Prozess ist, in des-      Gesichtspunkt der Menschenwürde zu unterscheiden.
sen Verlauf Ressourcen, subjektive Lebensqualität und          Jedem menschlichen Leben – auch dem einer schwer
Lebenszufriedenheit kontinuierlich abnehmen. Geron-            kranken oder schwerbehinderten Person, auch dem
tologische Forschung hat gezeigt, dass viele körperli-         von Menschen, die ihre Lebensqualität persönlich
che, seelische und geistige Ressourcen bis ins hohe Al-        ganz niedrig einschätzen – kommt grundsätzlich die
ter erhalten bleiben, zum Teil sogar noch zunehmen             gleiche menschliche Würde zu wie allen anderen Men-
können. Vor allem hat die Forschung bewusst ge-                schen. Und diese Menschenwürde beinhaltet den An-
macht, dass alte Menschen – trotz aller nicht zu leug-         spruch auf Lebensschutz und schliesst damit ein Urteil
nenden Erfahrungen von Verlusten und Grenzen im                von vornherein aus, wonach irgendein Leben objektiv
hohen Alter – im Durchschnitt eine sehr hohe Lebens-           nicht lebenswert sei (es gibt also kein «unwertes Le-
zufriedenheit aufweisen, eine Lebenszufriedenheit,             ben»!). Menschenwürde als normatives Konzept trägt
die diejenige der jüngeren Erwachsenen sogar über-             den Anspruch in sich, das Leben jedes Menschen zu
steigt (HÖPFLINGER 2003)! Man spricht hier vom sog.            schützen, es zu achten und zu respektieren und in die-
«Zufriedenheitsparadox» des Alters, einem erstaunli-           sem Sinne «würdig», das heisst der Menschenwürde
chen Phänomen, das uns lehrt, einseitig negative Al-           entsprechend, mit ihm umzugehen.
tersbilder kritisch zu hinterfragen. Ähnliches gilt auch
für demenzkranke Menschen. ALBERT WETTSTEIN                    «Ob ein Mensch nach einem erfüllten Leben, körper-
weist darauf hin, dass nach vorliegenden Studien «das          lich noch rüstig und geistig klar zu Hause friedlich für
allgemeine Wohlbefinden von Demenzkranken sich                 immer einschläft oder ob er, inkontinent geworden,
nicht signifikant von dem gleichaltriger kognitiv Ge-          geistig verwirrt und seiner Fähigkeit zur Selbstbestim-
sunder unterscheidet», ja, dass es Demenzkranke gibt,          mung verlustig gegangen, nach mehrjährigem Pflege-
«deren Wohlbefinden sich durch die Demenz positiv              heimaufenthalt in einem langen Todeskampf stirbt,
verändert hat» (WETTSTEIN 2005: 108).                          macht zwar auf der Ebene der Lebensqualität einen
                                                               grossen Unterschied; mit Blick auf die Menschen-
Daraus ergibt sich, dass auf der subjektiven, empiri-          würde des jeweils Sterbenden besteht allerdings zwi-
schen Ebene das Leben im Alter ein durchaus hohes              schen beiden Sterbesituationen kein Unterschied. So
Mass an Lebensqualität besitzen kann, selbst bei de-           verstanden gibt es keine Krankheiten, welche mit fort-
menzkranken Menschen und bei Personen, die so                  schreitender Entwicklung die Würde des Menschen
schwer pflegebedürftig sind, dass sie auf die Unter-           beeinträchtigen» (BETHESDA/DIALOG ETHIK 2011: 45).
stützung einer Pflegeeinrichtung angewiesen sind.

18 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER      |   Alter und Würde
2.4 Nichtdiskriminierung des Alters

    Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der              des Alters gehört deshalb wesentlich auch dies, den
    Vereinten Nationen geht davon aus, dass «alle Men-           gesellschaftlichen Beitrag einer Alterskultur anzuer-
    schen gleich an Würde und Rechten geboren» sind.             kennen und zur Entfaltung zu bringen (RÜEGGER
    Das bezieht sich sowohl auf unterschiedliche Men-            2009).
    schen – alle haben die gleiche Würde – als auch auf un-
    terschiedliche Lebensphasen ein und desselben Men-
                                                                  Eine neue Alterskultur entwickeln
    schen: Der Mensch in seiner Jugend und der Mensch in
                                                                  Jede Lebensphase hat ihre eigene Bedeutung, ihre
    seinem Alter haben die gleiche Würde. Daraus ergibt
                                                                  eigenen Möglichkeiten und Herausforderungen …
    sich das Verbot der Diskriminierung, das die Bundes-
                                                                  Keine Lebensphase kann aber zum Massstab werden
    verfassung der Eidgenossenschaft in Art. 8 Abs. 2 expli-
                                                                  für andere Lebensphasen … Alte Menschen sind
    zit auch auf das Alter bezieht: «Niemand darf diskrimi-
                                                                  deshalb zu ermutigen, selbstbewusst zu ihrem Alt-
    niert werden, namentlich nicht … wegen des Alters.»
                                                                  sein zu stehen, eine ihrer Lebensphase entspre-
    Das gilt im Blick auf den einzelnen alten Menschen,
                                                                  chende Alterskultur mit eigenen Werten und Priori-
    nicht weniger aber auch mit Bezug auf die Gruppe der
                                                                  täten zu entwickeln und diese aktiv in die
    alten Menschen in der Gesellschaft insgesamt. Des-
                                                                  Gesellschaft einzubringen. In der Gesellschaft ist
    halb impliziert das Ernstnehmen der Würde des Men-
                                                                  ­einer solchen Alterskultur Raum und Anerken-
    schen auch, dass eine Gesellschaft das Jungsein der
                                                                   nung zu verschaffen.
    Jungen und das Altsein der Alten gleichermassen wür-
    digt.
                                                                  CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum
                                                                  würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 3
    Angesichts der oben beschriebenen schleichenden
    Entwürdigung des Alters ergibt sich daraus die Forde-
    rung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit
    dem Jugendlichkeitswahn der Anti-Aging-Bewegung,
    der alles am Massstab dessen misst, war für die jun-
    gen Erwachsenen gilt; eine kritische Auseinanderset-
    zung auch mit dem latenten gesellschaftlichen Ageis-
    mus, der das Alter durch negative Stereotypisierung
    als minderwertig darstellt, stigmatisiert und entwür-
    digt. Demgegenüber ist auch unter ethischem Ge-
    sichtspunkt mit einer in der Gerontologie weithin gän-
    gig gewordenen Lebenszyklusperspektive ernst zu
    machen, die das Leben eines Menschen als Abfolge
    verschiedener Lebensphasen versteht, die alle ihre je
    eigenen Möglichkeiten und Grenzen, Aufgaben und
    Herausforderungen haben, alle aber in sich gleich
    wertvoll und bedeutsam sind. Dementsprechend
    hängt die soziale und kulturelle Qualität einer Gesell-
    schaft in ihrem intergenerationellen Miteinander da-
    von ab, dass jede Altersgruppe ihre spezifischen Auf-
    gaben und Möglichkeiten wahrnimmt, ihre besondere
    Lebenshaltung ausprägt und diese – komplementär! –
    zum Wohl des Ganzen in die Gesellschaft einbringt,
    ohne sie zum Massstab für die Beurteilung anderer Al-
    tersgruppen zu machen. Zum Ernstnehmen der Würde

                                                               WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER    |   Alter und Würde   | 19
2.5 Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde

Das Konzept «Würde» kommt heute oft in Zusammen-               die Geriaterin REGULA SCHMITT-MANNHART stimmt
hang mit dem Prozess des Sterbens zur Sprache. Der             ihm zu: «Sterben ist nicht schön … Wir müssen lernen,
Ruf nach einem «würdigen Tod» oder «würdigen Ster-             uns einzugestehen, … dass wir unser vorgefertigtes
ben» ist weit verbreitet (RÜEGGER 2004). Gemeint ist           Bild vom ‹würdigen Sterben› nicht verwirklichen kön-
mit dieser Forderung meistens ein Sterben                      nen. Es ist eine Illusion zu meinen, dass wir ein Sterben
– ohne allzu grosse Schmerzen,                                 ohne Belastung, ein ‹stressfreies› Sterben … erzwingen
– ohne lange vorausgehende Zeit der Pflegebedürftig-           können» (2000: 264–266). So gesehen setzt die Forde-
  keit,                                                        rung nach einem «würdigen Sterben» die Sterbenden
– ohne demenziell bedingten Verlust der geistigen              nur unter einen Leistungsdruck, der das Sterben noch
  Klarheit,                                                    schwieriger machen dürfte, als es ohnehin schon ist.
– ohne das Sterben verlängernde oder hinausschie-
  bende medizinische Interventionen,                           MENSCHENWÜRDE IST IM STERBEN NICHT
– ein Sterben, bei dem der Sterbende selbst bestimmt,          VERLIERBAR
  wann, wo und wie er sein Leben beenden möchte.               Das Anliegen, in Würde zu sterben, kann darum sinn-
  Für einige gehört dazu auch die Möglichkeit der ak-          vollerweise nur zweierlei beinhalten. Zum einen ein ra-
  tiven Sterbehilfe, also des Rechtes, verlangen zu            dikales Ernstnehmen, dass menschliche Würde im nor-
  ­können, dass man auf eigenen Wunsch hin mit einer           mativen Sinn etwas Unverlierbares ist, das man nicht
   entsprechenden Injektion getötet wird, sowie die            durch ein besonders tapferes oder friedliches Sterben
   Möglichkeit eines begleiteten Suizids, um auf die-          an den Tag legen und sichern muss; kein ­Sterbeprozess,
   sem Wege unerträglich oder «unwürdig» empfun-               und sei er noch so lang und zermürbend, kann die
   denen Leidenssituationen zu entgehen.                       Würde des Sterbenden beeinträchtigen. Auch das Aus-
                                                               halten von Leiden gehört zu einem Sterben, das men-
Der Ruf nach einem «würdigen» Sterben zielt eigent-            schenwürdig ist. Deshalb spricht die Psychothera­
lich auf ein «friedliches» Sterben, wie es im internatio-      peutin und Sterbebegleiterin MONIKA RENZ von der
nal breit abgestützten Hastings-Report «Die Ziele der          «Würde des Aushaltens» im Sterben (RENZ 2008) und
Medizin» von 1996 als eines der wesentlichen Ziele             kritisiert eine Gesellschaft, die Leiden und Sterben nur
heutiger Medizin benannt wird (STAUFFACHER/BIR-                noch als sinnlos ansieht, weil sie damit Kranken und
CHER 2002: 327). Dank enormen medizinischen und                Sterbenden das Gefühl vermittelt, würdelos zu sein
pharmazeutischen Fortschritten, in neuster Zeit auch           (RENZ 2012: 83). Sterben in Würde kann also nicht heis-
dank neusten Entwicklungen von Palliative Care, kann           sen, dass die sterbende Person Gefahr läuft, ihre Würde
in der Tat viel getan werden, um den Prozess des Ster-         durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf zu ver-
bens zu erleichtern und ihn möglichst friedlich, also          lieren und deswegen selbst dafür Verantwortung tra-
erträglich, zu gestalten. Aber das lässt sich nicht ga-        gen muss, zu einem Zeitpunkt oder auf eine Art zu
rantieren! Die Würde des Sterbens an einem friedli-            sterben, die ihre Würde sicherstellt. Pointiert gesagt:
chen Prozess des Sterbens festmachen zu wollen,                Die Menschenwürde ist unverlierbar, man muss nichts
dürfte jedenfalls problematisch sein und leicht zu ei-         für sie tun und kann auch im Sterben nicht aus ihr he-
ner Überforderung für alle daran Beteiligten werden.           rausfallen. Insofern steht jedes Sterben eines Men-
                                                               schen unter dem Zeichen einer unantastbaren Würde,
Der amerikanische Mediziner SHERWIN B. NULAND                  die menschlichem Leben auch im Sterben Wert ver-
hat in einem Buch beschrieben, wie man an den ver-             leiht und – zum andern – eine respektvolle, das heisst
schiedensten Krankheiten stirbt. Für ihn ist das viel be-      die Menschenwürde des Sterbenden achtende Sterbe-
schworene Ideal eines «würdigen Todes» ein Mythos.             begleitung fordert.
Er konstatiert: «Ich habe nur selten Würde beim Ster-
ben erlebt. Das Bemühen um Würde scheitert, wenn
der Körper uns im Stich lässt» (NULAND 1994: 17f.). Und

20 |   WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER      |   Alter und Würde
HUMANE STERBEKULTUR
Sinnvoll erscheint mir die Rede von einem Sterben in           Elemente einer menschenwürdigen Sterbekultur
Würde vor allem dann, wenn damit ein Anspruch an               – eine Haltung, die die Bedeutung des Todes als
die professionellen und freiwilligen Betreuerinnen               wichtige Dimension des Lebens anerkennt;
und Begleiter eines Sterbenden gemeint ist, diesen             – das offene Thematisieren des Sterbens mit allen
menschenwürdig, das heisst bis zuletzt mit Respekt               Beteiligten;
vor seiner unverlierbaren Menschenwürde, zu behan-             – eine fachlich hochstehende palliative Symptom-
deln, auch wenn die Umstände seines Sterbens viel-               kontrolle, insbesondere ein kompetentes Schmerz-
leicht mühsam, beelendend und mit Gefühlen der                   management unter Einschluss der Möglichkeit,
Scham und des Ekels belastet sind. Zu einem solchen              wenn gewünscht auch hohe Dosen von Schmerz-
Respekt vor der Würde eines Sterbenden gehört eine               mitteln oder Sedativa abzugeben, selbst wenn da-
humane Sterbekultur, wie sie zahlreiche Initiativen der          durch der Tod etwas früher eintreten sollte (= indi-
Hospizarbeit und der Palliative Care in den letzten Jahr-        rekte Sterbehilfe);
zehnten entwickelt haben (WILKENING/KUNZ 2003).                – Verzicht auf lebensverlängernde medizinische
                                                                 Mass­nahmen (= passive Sterbehilfe), sofern der
                                                                 Sterbende es nicht anders wünscht;
                                                               – konsequentes Respektieren des aktuellen, des vor-
Diese Liste (rechte Seite) kann durchaus noch ergänzt            aus verfügten oder des mutmasslichen Willens der
werden. Sie kann auch dazu dienen, im Rahmen eines               Patientin;
Teamgesprächs selbstkritisch zu prüfen, wie es um die          – Verzicht auf künstliche Ernährung, wenn der Ster-
Sterbekultur in der eigenen Institution steht und wo             bende Nahrung und Flüssigkeit verweigert;
sie allenfalls noch weiterzuentwickeln wäre.                   – Räumlichkeiten, die im Sterbeprozess Ruhe und
                                                                 Privatsphäre sichern;
                                                               – Möglichkeit für Angehörige, den Sterbenden zu
                                                                 besuchen und bei ihm zu bleiben;
                                                               – Phasen, in denen man der Sterbenden ermöglicht,
                                                                 allein zu sein;
                                                               – seelsorgliche Begleitung des Sterbenden im Sinne
                                                                 von Spiritual Care gemäss seinem Wunsch;
                                                               – je nach Wunsch der Sterbenden Beizug von Sitz-
                                                                 wachen oder sonstigen freiwilligen Begleitern,
                                                                 wenn sie lieber nicht allein sein möchte;
                                                               – gute interdisziplinäre Absprache und Beratung;
                                                               – angemessene Begleitung und Unterstützung der
                                                                 Angehörigen;
                                                               – eine Haltung des tiefen Respekts vor der unverlier-
                                                                 baren Würde des Sterbenden und vor dem Ge-
                                                                 heimnis des Lebens und Sterbens.

                                                            WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER     |   Alter und Würde   | 21
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