WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER - ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER - CURAVIVA Schweiz
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WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER
AUTOR Dr. Heinz Rüegger MAE ist Theologe, Ethiker und zerti- fizierter Gerontologe INAG. Er ist freier Mitarbeiter am Institut Neumünster, Zollikerberg, und assoziiertes Mitglied des Zentrums für Gerontologie der Universi- tät Zürich. Anschrift E-Mail: h.rueegger@outlook.com IMPRESSUM Herausgeber CURAVIVA Schweiz – Fachbereich Menschen im Alter Zieglerstrasse 53 Postfach 1003 3000 Bern 14 Zitierweise CURAVIVA Schweiz (2021) Themenheft: Würde und Autonomie im Alter Hrsg. CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter Online: curaviva.ch. Auskünfte/Informationen Anna Jörger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Menschen im Alter E-Mail: a.joerger@curaviva.ch © CURAVIVA Schweiz, 2021 Copyright Titelbild: iStockphoto, © Tamara Murray Layout: !Frappant, Bern Ausgabe: Mai 2021 Aus Gründen der Verständlichkeit wird im Text bei genderspezifischen Begriffen abwechselnd die männliche und die weibliche Form verwendet. Es sind dabei aber immer beide Geschlechter gemeint.
Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 1 Zur Bedeutung des Thema6 6 2. Alter und Würde 10 2.1 Die schleichende Entwürdigung des Alters 11 2.2 Der doppelte Würdebegriff 12 2.3 Lebensqualität und Menschenwürde 18 2.4 Nichtdiskriminierung des Alters 19 2.5 Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde 20 3 Autonomie im Alter 22 3.1 Der heutige Stellenwert von Autonomie 23 3.2 Differenzierungen des Autonomiebegriffs 24 3.3 Autonomie fördernde Gestaltung des Heimalltags 25 3.4 Autonomie als medizinethisches Grundprinzip 31 3.5 Das Instrument der Patientenverfügung 35 3.6 Stellvertretendes Entscheiden 37 3.7 Grenzen der Selbstbestimmung 38 3.8 Selbstbestimmtes Sterben 41 4 Anhang 44 4.1 Literaturhinweise 45 WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Inhaltsverzeichnis | 3
Vorwort ERSTE AUFLAGE Liebe Leserin, lieber Leser Würde und Autonomie sind zwei grundlegende ethi- lungsprozessen und zur Reflexion der alltäglichen Ar- sche Begriffe zur Charakterisierung eines humanen Le- beit in Teambesprechungen eingesetzt werden. Als bens. Sie gelten für jedes Leben, auch für das Leben im Leserinnen und Leser wünschen wir uns aber anderseits Alter. Dieses Anliegen verfolgt auch die Strategie für auch Lehrende, die die hier angesprochenen Inhalte wei- eine schweizerische Alterspolitik. Sie verlangt als Stand- tervermitteln, sowie die Pflegenden selbst. Sie sind es bein der strategischen Ausrichtung für die älteren Men- vornehmlich, die dazu beitragen, dass ältere, pflegebe- schen die «Förderung ihrer Autonomie, ihrer Selbstver- dürftige Menschen sich in ihrer Würde respektiert und sorgung und ihrer Selbstbestimmung» (Bericht des in ihrer Selbstbestimmung unterstützt erfahren kön- Bundesrates 2007: 45). nen. Die Publikation vertieft und konkretisiert die Postu- late, welche in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum Autonomie und Selbstbestimmung sind verankert in würdigen Umgang mit älteren Menschen» (CURAVIVA der unverlierbaren Menschenwürde. Weil diese beiden Schweiz 2010) festgelegt wurden. Orientierungsgrössen unabdingbar zusammengehö- ren, werden sie in diesem Themenheft gemeinsam be- Erarbeitet wurde das vorliegende Themenheft vom handelt. Theologen, Ethiker und Gerontologen Heinz Rüegger. In einer Resonanzgruppe von leitenden Personen aus der Würde und Selbstbestimmung müssen besonders ge- Branche der Alters- und Pflegeheime wurden die zentra- schützt werden, wenn Menschen durch gesundheitliche len Fragestellungen gemeinsam festgelegt. Zudem wur- Einschränkungen ihre Autonomiefähigkeit ganz oder den zum Text in zwei Stufen Rückmeldungen gemacht. teilweise verlieren. Dies betrifft in besonderer Weise die So entstand ein Werk, das die theoretischen Grundlagen Situation von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pfle- und die konkrete Praxis miteinander verbindet. geheimen. Ich danke sowohl Heinz Rüegger wie auch den Mitglie- In diesem Themenheft werden die beiden grundlegen- dern der Resonanzgruppe ganz herzlich für ihr grosses den ethischen Begriffe erklärt und verständlich ge- Engagement und den spannenden Erarbeitungspro- macht. Zudem wird aufgezeigt, wie sie in der alltägli- zess. Mit diesem Dank verbinde ich den Wunsch, dass die chen Praxis von Pflegeeinrichtungen konkret umgesetzt erarbeiteten Anregungen und Anstösse jetzt im konkre- werden können. Angesprochen sind einerseits die Ver- ten Alltag der Alters- und Pflegeinstitutionen breit zum antwortlichen dieser Institutionen, die durch ihre Inter- Tragen kommen. ventionen und Massnahmen die Kultur ihrer Institution massgebend beeinflussen. Zu den einzelnen Anliegen und Themen finden sich darum verschiedene Reflexi- Herbst 2012 onsfragen. Sie können in betriebsinternen Entwick- Christoph Schmid, CURAVIVA Schweiz 4 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER |
ZWEITE AUFLAGE Der Autor Heinz Rüegger hat im Jahr 2021 im Auftrag Die zweite Auflage greift den Wandel und die Diskus- von CURAVIVA Schweiz die bald 10-jährige Ausgabe sion auf und sorgt für eine weitere Differenzierung der der ersten Auflage überarbeitet und aktualisiert. Thematik. Wir danken Heinz Rüegger für seinen wert- Würde und Selbstbestimmung im hohen und vor al- vollen Beitrag und wünschen allen eine angenehme lem multimorbiden Alter sind wesentliche Inhalte, und auch anregende Lektüre der vorliegenden Doku- welche die Lebensqualität bis zum Tode auf höchste mentation. Mögen die Inhalte zum Nachdenken und Weise beeinflussen. Sie sind jedoch keine starren Be- Reflektieren für das eigene Älterwerden, aber auch für griffe, sondern wandeln sich einerseits im Laufe der die Arbeit mit Menschen im Alter dienen. Zeit und müssen andererseits immer wieder auf dem Hintergrund der alltäglichen Arbeit mit älteren Men- Frühjahr 2021 schen reflektiert werden. Dr. Markus Leser, CURAVIVA Schweiz WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Vorwort | 5
1 Einleitung Zur Bedeutung des Themas
HERAUSFORDERUNG LANGLEBIGKEIT ZUNAHME ALTERSBEDINGTER MORBIDITÄT Eine der grössten Errungenschaften unserer moder- UND PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT nen Zivilisation besteht in der enormen Zunahme der Mit der Zunahme der Zahl hochaltriger Menschen und durchschnittlichen Lebenserwartung (zum Folgenden damit der Zunahme der Multimorbidität steigt aller- vgl. HUBER/RÜEGGER 2013: 3f.). Lag diese bei Men- dings der Bedarf an Hilfe bei der praktischen Bewälti- schen, die im Jahr 1900 geboren wurden, noch bei 46,2 gung des Alltags und die Abhängigkeit von medizi- Jahren für Männer und 48,9 Jahren für Frauen, betrug nisch-pflegerischer Betreuung nimmt zu. Wenn die sie 2019 bereits 81,9 bzw. 85,6 Jahre (BFS). Das bedeu- Unterstützung durch das soziale Umfeld und durch tet eine Steigerung der durchschnittlichen Lebenser- ambulante Dienste nicht mehr ausreicht, um selbst- wartung in gut einem Jahrhundert um über 30 Jahre! ständig zu wohnen, wird der – häufig unfreiwillige – Langlebigkeit wird zu einem markanten Phänomen Umzug in eine Wohn- und Pflegeeinrichtung für alte unserer Zeit. Sie wird zu einer zentralen biografischen Menschen meist unumgänglich. Für die Schweiz gilt, Herausforderung für das Individuum und zur vielleicht dass «die Betreuungsrate (Anteil an Bewohnern von grössten sozialpolitischen Herausforderung für die Alters- und Pflegeheimen an der gesamten Wohnbe- Gesellschaft als Ganzes. Durch den gleichzeitigen völkerung) erst ab dem Alter von 80 Jahren einen deut- Rückgang der Anzahl Geburten kommt es zu einer lichen Anstieg zeigt. Von den 80- bis 84-Jährigen leben demografischen Alterung der Bevölkerung: Immer noch gut 90 % zuhause, aber anschliessend steigt eine weniger Junge stehen immer mehr Alten gegenüber. stationäre Versorgung rasch an, und wer ein hohes Al- Verdankte sich die markante Steigerung der durch- ter von 95 Jahren und mehr erreicht, lebt zu gut 45% in schnittlichen Lebenserwartung anfänglich primär einer Alters- und Pflegeeinrichtung» (HÖPFLINGER/ dem Rückgang der Kindersterblichkeit, ist sie heute vor BAYER-OGLESBY/ZUMBRUNN 2011: 97). allem Folge der Verlängerung der Lebenserwartung der Hochaltrigen. Die Zukunft des Alters ist darum vor Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit und der sich auf- allem eine Zukunft der Hochaltrigen (BALTES 2001: drängende Schritt in eine kollektive, betreute Lebens- 345). Sie stellen diejenige Bevölkerungsgruppe dar, die form wird von den meisten Betroffenen als gravieren- verhältnismässig am stärksten wächst. der Einschnitt erlebt, oft verbunden mit mancherlei Ängsten, dadurch einen beträchtlichen Verlust an Frei- Bei dieser Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des heit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung hinneh- langen Lebens kann erfreulicherweise festgehalten men zu müssen. Vor allem wenn sich zu den körper werden, dass die erfolgte Zunahme an Lebensjahren lichen Einschränkungen noch eine demenzielle mehrheitlich eine Zunahme relativ gesunder, be Entwicklung einstellt, sind alte Menschen immer mehr hinderungsfreier Jahre bedeutet (HÖPFLINGER/BAYER/ auf die respektvolle Fürsorge und Unterstützung ZUMBRUNN 2011: 33–37). Nach der These des Stanfor- durch andere angewiesen. Dies bedeutet nicht selten, der Mediziners JAMES F. FRIES zeichnet sich eine «Kom- dass schwerwiegende Behandlungsentscheide mit pression der Morbidität» ab, das heisst eine Auswei- weitreichenden Konsequenzen im Blick auf Leben und tung der gesunden, behinderungsfreien Lebensjahre Tod stellvertretend für einen nicht mehr urteilsfähi- im Alter, auf die dann eine letzte, kürzere Phase der gen alten Menschen gefällt werden müssen. Ange- Multimorbidität folgt, in der jemand an mehreren sichts solcher Situationen, in denen Menschen in Krankheiten gleichzeitig leidet, die schliesslich zum hohem Masse verletzlich, manipulierbar und der Be- Tode führen (FRIES 1980). handlung durch ihr Umfeld ausgeliefert sind, stellt sich besonders dringlich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass die unantastbare Würde jedes Men- schen und sein bleibender Anspruch auf Autonomie respektiert werden (SCHMITT-MANNHART 2009: 253– 255). WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Zur Bedeutung des Themas | 7
LATENTE UND MANIFESTE FORMEN Insofern greifen die nachfolgenden Überlegungen VON A BWERTUNG DES ALTERS zwei der drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik Diese Frage ist umso wichtiger, weil in weiten Kreisen des Alterns auf, die der eidgenössische Altersbericht der Bevölkerung und selbst bei Fachexperten die Ten- von 1995 formuliert hat: denz festzustellen ist, ein Leben im hohen Alter, das gezeichnet ist von Multimorbidität, Demenz und star- Die drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik ker Pflegeabhängigkeit, als sinn- und würdelos und da- des Alterns mit letztlich als unerwünscht anzusehen. Die sich da- 1) Die Menschen von jung auf ermuntern, ihre Auto- rin abzeichnende Tendenz einer latenten, zuweilen nomie zu leben und dabei Freiheit und Ver auch manifesten Abwertung und Entwürdigung des antwortung in einer Form zu gebrauchen, die den Alters erfährt dadurch noch eine Verstärkung, dass Menschen als Mit-Menschen auszeichnet. sich parallel zur Entwicklung moderner Langlebigkeit eine breite Anti-Aging-Strömung entwickelt hat. Mit 2) Mit dem Altern den Respekt vor der Autonomie ihrem Slogan «forever young» huldigt sie einem Ju- fördern, sie erhalten und stärken. gendlichkeitskult und erklärt den Prozess des Alterns mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen als patho- 3) Das Individuum unter allen Umständen (insbe- logisch, als zu bekämpfende und wenn möglich zu sondere beim Verlust der Autonomie) auf- überwindende Krankheit (DE GREY/RAE 2010; PFALLER grund seiner ontologischen Menschenwürde als 2016). Das heisst: Die heutige Gesellschaft unterliegt Mit-Mensch anerkennen und respektieren. einer ausgeprägten demografischen Alterung, wäh- rend man gleichzeitig im Blick auf die Würdigung des (Altern 1995: 13) Alters durch die Gesellschaft mit dem amerikanischen Psychoanalytiker JAMES HILLMAN feststellen muss: «Je länger wir leben, desto weniger sind wir wert» Zugleich versteht sich die vorliegende Schrift als Ver- (HILLMAN 2001: 52). Oder anders gesagt: «Langlebig- tiefung und Konkretisierung dessen, was im Jahr 2010 keit und Gesundheit bis ins hohe Alter werden zwar von acht nationalen, in der Altersarbeit tätigen Dach- von der Gesellschaft und der Medizin gefördert, der verbänden in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum Prozess des Alterns aber eher verdrängt, bekämpft würdigen Umgang mit älteren Menschen» postuliert oder verleugnet als gestaltet und begleitet» (SCHMITT- worden ist (CURAVIVA SCHWEIZ 2010). MANNHART 2009: 254). Auf diesem Hintergrund wendet sich die vorliegende Schrift den beiden ethischen Grundkonzepten der Würde und der Autonomie zu, die entscheidend sind für eine humane Behandlung und Betreuung von al- ten Menschen. Diese beiden Konzepte werden in ihrer Bedeutung erklärt und es wird aufgezeigt, wie sie in der alltäglichen Praxis von Alters- und Pflegeeinrich- tungen als Kriterien verantwortlichen Handelns ange- wandt werden können. Ziel ist, Anregungen zu geben, wie die Praxis im Heimalltag so gestaltet werden kann, dass Menschen sich – entgegen manchen Klischees vom Leben in einem Pflegeheim – in ihrer Würde res- pektiert und in ihrer Selbstbestimmung unterstützt erfahren können. 8 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Zur Bedeutung des Themas
2 Alter und Würde
2.1 Die schleichende Entwürdigung des Alters Es ist eigenartig, dass alt werden (der Prozess des Al- Stimmen auf gerontologischer wie auf ethischer Seite, terns) und alt sein (die Lebensphase des Alters) ausge- die davon ausgehen, dass alte Menschen, die an einer rechnet heute vielen unattraktiv erscheint, wo doch Demenz erkranken, im Verlauf dieser Erkrankung auch ein Grossteil der Bevölkerung zum ersten Mal in der ihre Würde verlieren. So war PAUL B. BALTES, der grosse Geschichte der Menschheit die reale Möglichkeit hat, Gerontopsychologe des letzten Jahrhunderts, der Mei- alt, ja hochaltrig zu werden! Die Schriftstellerin MO- nung, dass Demenzerkrankungen einen «schleichen- NIKA MARON spricht wohl vielen aus dem Herzen, den Verlust vieler Grundeigenschaften des Homo wenn sie bekennt: «Natürlich will ich, was alle wollen: sapiens wie etwa Intentionalität, Selbstständigkeit, Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was Identität und soziale Eingebundenheit bedeuten – Ei- alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. (…) Ich genschaften, die wesentlich die menschliche Würde würde … auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis bestimmen. (…) Angesichts dieser Tatsache stellt sich fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte eine neue, beängstigende Herausforderung: die Erhal- dreissig … und Mitte vierzig, bis die Jahre abgelaufen tung der menschlichen Würde in den späten Jahren sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in An- des Lebens. (Denn) gesundes und menschenwürdiges spruch genommen» (MARON 2002: 22, 26). Altern hat seine Grenzen» (BALTES 2003: 17) –, wenn nicht pharmakologische Fortschritte und medizini- ANTI-AGING sche Interventionen bald etwas Wirksames gegen De- Diese populäre, ablehnende Einstellung gegenüber menz unternehmen können! Hier wird ein Würde dem Alter findet in der sich rasch ausbreitenden Anti- verständnis propagiert, demzufolge die Würde eines Aging-Bewegung Unterstützung (RÜEGGER 2011). In Menschen empirisch bedingt ist; das heisst, sie hängt ihren radikalen Vertretern führt sie einen leidenschaft- davon ab, ob die entsprechende Person über gewisse lichen «Krieg gegen das Altern» (DE GREY 2010: 325). Eigenschaften oder Fähigkeiten verfügt, die ihr zualler- Ihr berühmtester Exponent, AUBREY DE GREY, hat er- erst Würde vermitteln. Kann sie nicht mehr klar den- klärt, Altern sei barbarisch und sollte deshalb seiner ken, selber für sich sorgen und sich sozial kompetent Meinung nach nicht erlaubt sein (zit. STUCKELBERGER verhalten, verliert sie ihre Würde und gerät in die Situ- 2008: 233). Moderater tritt demgegenüber die Anti- ation eines menschenunwürdigen Alterns. Aging-Medizin auf, die sich neuerdings auch in der klassischen europäischen Schulmedizin etabliert hat RELATIVIERUNG DER PERSONWÜRDE (JACOBI 2005). In ihren seriösen Vertretern lehnt Anti- Ähnliche Konsequenzen ergeben sich aus den Überle- Aging-Medizin nicht eigentlich das Altern als solches gungen des australischen Ethikers PETER SINGER. Er ab, sondern will bloss vorbeugend oder therapeutisch unterscheidet zwischen Menschen und Personen. altersbedingte Krankheiten abwehren, also ein «Good Mensch ist, wer zur Gattung Homo sapiens gehört. Aging» oder «Healthy Aging» oder «Better Aging» er- Personen hingegen sind Lebewesen (ob Menschen möglichen (STUCKELBERGER 2008: 45–78). Dass sie oder höher entwickelte Tiere!), die über gewisse geis- dies aber irritierenderweise unter der Fahne des «Anti- tige Fähigkeiten verfügen wie: «Selbstbewusstsein, Agings» tut, also in einer Haltung, die sich explizit «ge- Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangen- gen das Altern» richtet, wird seine Wirkung in der Öf- heit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüp- fentlichkeit nicht verfehlen und einem latenten fen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und gesellschaftlichen Ageismus, also einer Altersdiskrimi- Neugier» (SINGER 1994: 118). Nur ihnen kommt eine nierung, Vorschub leisten. Personwürde (im Sinne der Menschenwürde) und ein entsprechendes Recht auf absoluten Lebensschutz zu. MENSCHENUNWÜRDIGES ALTERN Das heisst: «Die Tatsache, dass ein Wesen ein mensch- BEI D EMENZ? liches Wesen … ist, (ist) für die Unrechtmässigkeit sei- Zur schleichenden Entwürdigung des Alters trägt noch ner Tötung ohne Bedeutung; entscheidend sind viel- eine weitere Entwicklung bei. Es gibt heute namhafte mehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 11
Selbstbewusstsein. Säuglinge haben diese Eigenschaf- zieht sich in unserer Einstellung zu Fragen rund um Al- ten nicht. Sie zu töten, kann daher nicht gleichgesetzt ter, Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit, Behinderung werden mit der Tötung normaler menschlicher We- und Sterben eine Relativierung des Würdeverständnis- sen.» Diese Überlegungen gelten nach Singer auch für ses und des daraus sich ergebenden Lebensschutzes Erwachsene, die sich auf der Reifestufe eines Säuglings (PICKER 2002). Es wundert nicht, wenn in einem sol- befinden (ebd.: 232f.). Demenzkranke Menschen in chen gesellschaftlichen Klima Fälle von Tötungen be- fortgeschrittenem Stadium dürften also ihren morali- kannt werden, die Pflegende in Altersinstitutionen an schen Status als Person und ihre menschliche Würde Bewohnerinnen und Bewohnern begangen haben, verlieren, weshalb sie nach SINGER grundsätzlich auch oder Fälle von entwürdigender Behandlung, die sie ohne ihre zuvor erfolgte Einwilligung getötet werden sich Patientinnen und Patienten gegenüber erlaubt dürften (ebd.: 244–246). haben. Und es erstaunt nicht, dass immer mehr ältere Leute mit einem begleiteten Suizid ihr Leben beenden Durch solche Entwicklungen findet in unserer Gesell- wollen, um so die Phase des kranken, pflegeabhängi- schaft eine schleichende Entwürdigung des Alters, vor gen Alters zu verkürzen. Deshalb ist es wichtig, sich die allem des kranken, stark pflegeabhängigen und von zentrale Bedeutung klar zu machen, die die im Recht Demenz betroffenen hohen Alters, statt, die nachdenk- und in den Berufsethiken des Sozial- und Gesundheits- lich stimmt (RÜEGGER 2009). Während rechtsstaatli- wesens enthaltenen Konzepte von Würde und Autono- che Verfassungen die Menschenwürde als oberstes, mie für den Umgang mit Menschen in Alters- und Pfle- absolutes ethisches Grundprinzip proklamieren, voll- geeinrichtungen besitzen. 2.2 Der doppelte Würdebegriff Will man angemessen von der Würde des Menschen menschlichen Gemeinschaft eine unverlierbare Würde sprechen, ist es nötig, zwei Arten von Würde zu unter- und einen sich daraus ergebenden Anspruch auf Ach- scheiden (RÜEGGER 2004, WERREN 2019). tung. «Menschenwürde ist das mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch» NORMATIVE MENSCHENWÜRDE (HÄRLE, Würde 2010: 14). Die Allgemeine Erklärung der Im klassischen, seit Immanuel Kant ausformulierten Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 for- und seit Mitte des letzten Jahrhunderts auch völker- muliert: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde rechtlich anerkannten Sinn bezeichnet Menschen- und Rechten geboren.» Das ist die egalisierende Funk- würde einen absoluten Wert, der jedem menschlichen tion des normativen Menschenwürdebegriffs. Wesen eigen ist und allen Menschen gleichermassen zukommt – völlig unabhängig von irgendwelchen em- Es handelt sich also um eine «angeborene», vorgege- pirisch gegebenen Faktoren wie sozialem Status oder bene und deshalb unantastbare Würde, die an keine Geschlecht, Rasse oder Religion, Gesundheit oder Bedingungen geknüpft ist, sondern unbedingt gilt. Krankheit, Reichtum oder Armut, Fähigkeiten, äusse- Man braucht sie sich nicht erst zu erringen. «Würde ren Lebensumständen oder vollbrachten Taten. Ein- kommt Personen … zu, ohne dass sie dafür etwas ge- fach weil sie Menschen sind, haben alle Mitglieder der tan haben» (SCHABER 2012, 27). Man kann sie auch nie 12 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde
verlieren. Sie kann zwar von anderen Menschen miss- löst, aber doch weltweit über unterschiedliche Kultu- achtet oder verletzt werden: in der Pflege etwa durch ren und ethische Ansätze hinweg eine zentrale Be Missachtung der Intimsphäre, durch gewalttätige deutung gewonnen hat und «einen übergreifenden Übergriffe, durch Nichtrespektierung des Patienten- Konsens … darstellt. (...) Es ist ein fundamental men- willens oder durch Respektlosigkeit im Umgang mit schendienliches Prinzip, ... sodass auch in pluralisti- Pflegebedürftigen. Aber auch verletzte Würde bleibt schen Gesellschaften davon ausgegangen werden Würde, die ihrem Träger und ihrer Trägerin ein bleiben- kann, dass das Prinzip der Menschenwürde ein Prinzip des Anrecht auf Achtung als Mensch verleiht. darstellt, dem praktisch alle zustimmen können» (KNOEPFFLER 2004: 10, 90). In welchem Sinne sich aus Bezeichnend für dieses Verständnis von menschlicher diesem normativen Würdeverständnis durchaus pra- Würde ist, xisrelevante Perspektiven ergeben, können die Fragen – dass sie menschlichem Leben inhärent, also wesens- auf den Seiten 17 bis 18 verdeutlichen. mässig eigen ist; – dass sie einen normativen Anspruch darstellt, der Versteht man Würde im oben beschriebenen normati- unabhängig ist von allen empirischen Lebensum- ven Sinne dieses vierfachen Anspruchs, ergibt sich da- ständen; raus durchaus eine hilfreiche und praktisch relevante – dass sie an keine Bedingungen oder Voraussetzun- ethische Grundorientierung für soziales Handeln. gen geknüpft ist und darum unbedingt gilt; Zwar können aus ihr nicht immer eindeutige, direkte – dass sie allen Menschen gleich zukommt und Handlungsanweisungen abgeleitet werden; aber es – dass sie unverlierbar ist. ist doch ein Kriterium, vor dem sich alles moralische Handeln und jede ethische Argumentation rechtferti- Inhaltlich beinhaltet die Menschenwürde – auf eine gen müssen. In diesem Sinne erweist sich das Konzept einfache Formel gebracht – einen vierfachen An- der Menschenwürde im Umgang mit alten, zumal spruch: hochaltrigen, pflegebedürftigen Menschen als wirksa- mes Schutzprinzip und als Fundament für eine hu- mane Kultur des würdigen Umgangs mit älteren Men- Menschenwürde umfasst einen Anspruch schen (CURAVIVA SCHWEIZ 2010). «Würde wird zu – auf Schutz von Leib und Leben, also den Schutz einem Grundbegriff einer Moral der Achtung» (SCHA- der persönlichen Integrität (gegen Zufügung von BER 2012: 39). Schmerzen, gegen Tötung) – auf Selbstbestimmung bzw. Autonomie Das beschriebene normative Verständnis von Men- (gegen Fremdbestimmung in persönlichen An schenwürde ist nicht zuletzt deshalb so zentral, weil gelegenheiten) sich von ihm die Menschenrechte herleiten. Aus der – auf grundlegende Rechte, insbesondere die Men- Menschenwürde ergibt sich der Anspruch auf die schenrechte (gegen Diskriminierung) und Menschenrechte. Darin liegt auch die zentrale Schutz- – auf einen elementaren Respekt vor der eigenen funktion der Menschenwürde. Umgekehrt gilt: Wer je- Person (gegen Beschämung, Demütigung mandem die volle Menschenwürde abspricht, entzieht oder Blossstellung). dieser Person damit zugleich die Grundlage ihres An- spruchs auf die Menschenrechte. Dem Konzept der Menschenwürde ist gelegentlich vorgeworfen worden, es sei inhaltlich diffus, «eine Auf dem Hintergrund dieses rechtlich und berufs- nichts sagende Leerformel» (NORBERT HOERSTER) und ethisch weithin anerkannten normativen Würdever- deswegen ethisch wenig brauchbar. Dem ist entge- ständnisses dürfte auch deutlich werden, wie fatal die genzuhalten, dass das Konzept Menschenwürde zwar Auswirkungen für alte, insbesondere hochaltrige, pfle- gewiss nicht alle ethischen Begründungsprobleme gebedürftige Menschen wären, wenn das bereits in WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 13
weiten Kreisen als «politically correct» geltende Kon- und sich von Verwertbarem aus dem städtischen Müll zept einer an empirische Bedingungen geknüpften ernähren müssen, empfinden wir dies zu Recht als eine und darum nur bedingt anzuerkennenden Würde sich «menschenunwürdige» Situation. In all diesen Fällen durchsetzen sollte. Wenn der Verlust von Eigenschaf- geht es um eine Qualität des Handelns oder der Situa- ten wie kognitiver Orientierung, Selbstständigkeit und tion, aus der sich ein Gestaltungsauftrag ergibt (RÜEG- Leistungsfähigkeit mit einem Verlust an Würde gleich- GER 2004: 29f.). Je nachdem, wie die Magistratin han- gesetzt wird, fallen gerade diejenigen Personen aus delt, benimmt sie sich mehr oder weniger würdig. Je dem Schutzbereich der Menschenwürde und der auf nachdem, unter welchen äusseren Bedingungen je- ihnen basierenden Menschenrechte heraus, die ihrer mand leben muss, empfinden wir dies als mehr oder in besonders hohem Masse bedürfen: hochaltrige, weniger menschenwürdig. Eine Gedenkfeier kann multimorbide, an Demenz erkrankte Pflegebedürftige! mehr oder weniger würdig gestaltet werden. Dieses «mehr oder weniger» hängt immer von äusseren, em- Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass «auch alte, pirischen Faktoren ab, weshalb diese Art von Würde – sieche, sterbende Menschen (noch) Menschenwürde im Unterschied zur inhärenten Menschenwürde – als haben, und das ist zu verteidigen, dafür ist einzutreten, kontingente, von irgendwelchen Bedingungen abhän- dafür muss sogar notfalls gekämpft werden» (HÄRLE, gige Handlungs- oder Situationswürde bezeichnet Menschenbild 2010: 15). werden kann (RÜEGGER 2004: 32–36). Dieser empi- risch-kontingente Würdebegriff hat eine differenzie- rende Funktion: Nicht alle Personen, Handlungen oder Es geht darum, die auch im Alter grundsätzlich in- Situationen sind gleichermassen würdig – als würdig takte und unverlierbare Würde jedes Menschen gilt nur, wer oder was gewissen (kulturell variablen) anzuerkennen und zu respektieren, und zwar durch Vorstellungen des guten Lebens, des Schönen oder des die Art, angemessenen Verhaltens entspricht (MEIREIS 2013: – wie wir vom Alter und von alten Menschen reden, 32f.). In diesem Sinne kann man zum Beispiel dann von – wie wir ihnen als Mitmenschen begegnen einem «würdigen Alter» reden, wenn ein alter Mensch und wie wir sie fachkompetent helfend begleiten. sich als reife Persönlichkeit erweist, die über eine ge- wisse Lebensweisheit verfügt und gelernt hat, einiger- massen geduldig und gelassen mit den Beschwernis- EMPIRISCHE HANDLUNGS- UND sen des Alters umzugehen. Solche Würde hängt in der S ITUATIONSWÜRDE Tat von bestimmten Voraussetzungen ab und kommt Von dem eben beschriebenen normativen Verständnis nicht allen gleichermassen zu, ist vielmehr im Sinne ei- von Würde zu unterscheiden ist eine andere, uns im ner sozialen Ehre zu verstehen (BARANZKE 2015: 96, Alltag geläufigere Verwendung des Würdebegriffs. 102). Wenn ein Sportler, der einen Wettkampf verliert, sei- nem überlegenen Gegner nach der Niederlage zum Der kanadische Psychoonkologe HARVEY MAX CHO- Sieg gratuliert, sagen wir, er habe sich als «würdiger» CHINOV hat aus der Beobachtung heraus, dass es für Verlierer erwiesen. Wenn eine berühmte Persönlich- das subjektive, empirische Würde- und Sinnempfin- keit gestorben ist, bemühen sich die Hinterbliebenen, den Sterbender wichtig ist, Nahestehenden so etwas eine «würdige» Gedenkfeier zu veranstalten, das wie ein ideelles Vermächtnis zu hinterlassen, eine heisst eine Feier, die schön und eindrücklich ist und die eigene «dignity therapy» (Würdezentrierte Therapie, Verdienste des Verstorbenen gebührend «würdigt». 2017) entwickelt. Dabei geht es nicht um die Men- Von einem Magistraten erwarten wir, dass er sich schenwürde, sondern um die soziale Würde des Ster- «würdig» verhält, so, wie es seinem hohen Amt ent- benden in seinem sozialen Umfeld. spricht. Und wenn Menschen in den Favelas Latein- amerikas in Hütten aus Blech und Pappkarton hausen 14 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde
Es ist wichtig, die beiden Formen von Würde – die nor- Fragen zum Schutz von Leib und Leben mative/vorgegebene und die kontingente/empfun- – Nehmen wir Schmerzen und andere Symptome von dene – klar voneinander zu unterscheiden (SCHABER Patientinnen genug sensibel wahr und verfügen 2012: 19; vgl. Schema auf S. 19). wir über ein angemessenes Symptommanage- ment nach heutigen Standards von Palliative Care? Es gibt Situationen im hohen Alter und in Sterbepro- – Ist unsere Pflege gut genug, um allfällige Schädi- zessen, die Betroffene angesichts von Hilflosigkeit, gungen (z. B. Dekubitus, Mangelernährung, Verlust Pflegeabhängigkeit, Übelkeit, Inkontinenz oder De- motorischer Fähigkeiten) zu vermeiden? menz subjektiv als «entwürdigend» empfinden und – Werden rehabilitative Möglichkeiten zur Verbesse- sich dafür schämen. Das ist gut nachvollziehbar. Ge- rung der Situation des Bewohners ausgeschöpft? rade dann ist es aber entscheidend, dass Pflegende und – Werden psychische Erkrankungen wahrgenommen, Betreuende nicht nur Verständnis haben für eine sol- angemessen diagnostiziert und therapeutisch be- che empfundene (empirische) Unwürdigkeit, sondern handelt? ihr mit einem klaren Bewusstsein begegnen können, – Ist die räumliche/bauliche Infrastruktur so, dass sich dass die betroffene Patientin trotz ihrem subjektiven alte Menschen darin wohlfühlen können und dass Empfinden eine unverlierbare, jenseits aller Erfahrung möglichst wenig Gefährdungen bestehen? begründete Würde als Mensch hat und dass sich Pflege – Sind genügend Massnahmen getroffen worden, um und Betreuung ganz an dieser unerschütterlichen nor- die Sicherheit der Bewohnerinnen zu gewährleis- mativen Würde des Betroffenen o rientieren. ten? Wo bestehen allenfalls noch Sicherheitsrisiken? Fragen zum Respekt vor der Autonomie bzw. Selbstbe- Die Würde des Menschen bleibt auch stimmung im hohen Alter unverlierbar – Wo lassen wir den Bewohner entscheiden und wo Die Würde jedes Menschen ist in jeder Situation entscheiden wir aus welchen Gründen für ihn? unverlierbar und damit unantastbar. Sie ist an – Nehmen wir uns Zeit, Bewohnerinnen auf dem Weg keine Bedingungen geknüpft und gilt unabhängig zu einer für sie stimmigen Entscheidung im Ge- von Gesundheit oder Krankheit, von vorhandenen spräch zu begleiten? Fähigkeiten oder erlittenen Verlusten, unabhängig – Wird der Bewohner in die Pflegeplanung einbezo- auch von der finanziellen Situation. Menschen gen? mit Demenz etwa oder stark pflegeabhängigen Be- – Wird er angemessen informiert und wird seine Zu- tagten kommt diese Menschenwürde genauso stimmung eingeholt bei Änderungen der Therapie zu wie allen anderen Menschen. oder der Pflege? – Kann er dabei zwischen verschiedenen Optionen CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum auswählen? würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 6 – Wie weit kann die Bewohnerin ihre Vorstellungen von Normalität im Blick auf den Tagesablauf ausle- Alters- und Pflegeinstitutionen sind gefordert, einen ben? würdigen, das heisst die Menschenwürde respektie- – Werden die Bewohner explizit ermutigt, ihren Willen renden, Umgang mit ihren Bewohnerinnen und Be- kundzutun? Spüren sie, dass ihre Selbstbestimmung wohnern zu pflegen. Wie kann sich das konkret aus- dem Personal ein Anliegen ist? drücken? Es empfiehlt sich, als Institution oder als – Wird eine Ablehnung vonseiten der Bewohnerin Team die eigene Praxis immer wieder einmal mit Fra- vom Personal ernst genommen? gen zu den vier grundlegenden inhaltlichen Ansprü- – Ist der Behandlungswille der Bewohner für den Fall chen der Menschenwürde zu durchleuchten: einer plötzlichen Verschlechterung ihres Zustandes und einer eintretenden Urteilsunfähigkeit bekannt? WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 15
– Gibt es eine Kultur des gemeinsamen, interdiszipli- – Gibt es eine klare Regelung, wie das «Duzen» und nären Fragens nach dem mutmasslichen Willen ei- «Siezen» gehandhabt wird? nes urteilsunfähigen Patienten? – Sind die Mitarbeitenden fähig, auch unangeneh- – Werden Patientenverfügungen ernst genommen men Bewohnern mit dem nötigen Respekt zu be- und werden sie kompetent interpretiert? gegnen? – Können wir es akzeptieren und aushalten, wenn eine – Werden Verschwiegenheit und Diskretion von den Bewohnerin für sich anders entscheidet, als wir es Mitarbeitenden ernst genommen? für sinnvoll halten? – Bekommen die Bewohnerinnen genügend Zuwen- – Gibt es ein institutionelles Gefäss für die Mitsprache dung? der Bewohner (z. B. Heimrat)? Wird es ernsthaft ge- nutzt? Solche konkreten, selbstkritischen Nachfragen können – Ist das Vorgehen im Blick auf freiheitsbeschrän- sicherstellen, dass der Verweis auf die Menschenwürde kende Massnahmen geregelt? Sind weniger ein- nicht zu einer Leerformel verkommt und dass der Um- schneidende Massnahmen, die Freiheitsbeschrän- gang mit den in der eigenen Institution lebenden alten kungen eventuell unnötig machen, bekannt? Menschen wirklich «würdig» bzw. «würdigend» ist und von ihnen auch tatsächlich so empfunden wird. Ach- Fragen zur Wahrung grundlegender Rechte tung der Menschenwürde ist «eine kostbare, weil – Sind die Bewohner über ihre Rechte und Pflichten schwer zu erreichende und schwer zu erhaltende Er- informiert? rungenschaft» (HÄRLE, Würde 2010: 48). Es ist darum – Werden Reklamationen ernst genommen? wichtig, sich bewusst dafür einzusetzen. – Ist den Bewohnerinnen die Möglichkeit der Anru- fung einer unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter bekannt? – Können die Bewohnerinnen ihren Glauben in der Pflegeinstitution frei ausüben? – Haben Bewohner das Recht und die Möglichkeit, ihre Sexualität zu leben und Beziehungen einzugehen? – Erhalten alle Bewohnerinnen den ihnen fairerweise zustehenden Anteil an den vorhandenen (personel- len, zeitlichen, materiellen) Ressourcen? – Wird ihnen das Recht auf risikoreiches Verhalten zu- gestanden? Fragen zum Respekt vor der Person – Ist der Umgangston mit den Bewohnerinnen ge- prägt von Respekt, Anstand und Höflichkeit? – Werden die Privat- und die Intimsphäre der Bewoh- ner gewahrt? – Wird vor dem Eintritt in ein Zimmer angeklopft und um Zutritt gebeten? – Haben die Bewohnerinnen die Möglichkeit, ihr Zim- mer abzuschliessen? – Stimmen Nähe und Distanz im Umgang mit den Be- wohnern? 16 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde
Menschenwürde Handlungswürde/Situationswürde Fachbegriff: «inhärente Würde» Fachbegriff: «kontingente Würde» (= jedem Menschen innewohnende Würde) (= von gewissen Faktoren abhängige Würde) oder: «Seinswürde» (= mit dem Menschsein gegebene Würde) «Handlungswürde» meint in der Pflege: eine Hand- lung respektiert die Menschenwürde des Patienten oder: «Wesenswürde» (= zum Wesen des Mensch- (= menschenwürdige Behandlung von Patientinnen) seins gehörige Würde) > jeder Mensch hat eine grundsätzliche Würde, einen grundsätzlichen, abso- «Situationswürde» meint: dem Patienten wird eine luten Wert Lebens- und Pflegesituation geschaffen, die durch Respekt vor seiner Menschenwürde geprägt ist Die Menschenwürde ist Die Würdigkeit unseres Handelns – eine Seinsbestimmung (seinsmässig vorgegeben) (z. B. Pflege und Betreuung) ist – bei allen Menschen gleich – ein Gestaltungsauftrag – unverlierbar (sie ist uns zur Verwirklichung aufgetragen) – unantastbar – je nach Situation besser oder schlechter – kann fehlen oder mangelhaft sein – abhängig von unserem Tun beinhaltet einen Anspruch auf: beinhaltet eine Verpflichtung gegenüber – Schutz des eigenen Lebens anderen zu: – Autonomie/Selbstbestimmung – Schutz ihres Lebens – Recht auf die Menschenrechte – Anerkennung ihrer Autonomie/Selbstbestimmung – elementaren Respekt vonseiten anderer – Gewährung der Menschenrechte – elementarem Respekt vor ihrer Person – menschenwürdige Behandlung durch andere – menschenwürdigem Verhalten ihnen gegenüber Kontingent «unwürdige Pflege» heisst nicht, dass der Auch wenn das Personal eines Pflegeheims die Würde Patient seine normative Menschenwürde durch die des Patienten missachtet/verletzt, bleibt dessen Men- schlechte Pflege verliert, sondern nur, dass die Pflege schenwürde und der sich daraus ergebende Anspruch den nötigen Respekt vor der immer intakt bleibenden auf Achtung und Respekt unverlierbar und erfordert Menschenwürde der Patientin vermissen lässt. ein radikales Verändern des die Würde verachtenden Verhaltens des Personals. WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 17
2.3 Lebensqualität und Menschenwürde Für ein solches Verständnis von Menschenwürde ist Aussenstehende tendieren zuweilen zu schnell dazu, grundlegend, dass zwischen der empirisch vorhande- dem Leben multimorbider Hochaltriger Lebensquali- nen Lebensqualität eines Menschen und seiner nor- tät abzusprechen. Solche Urteile aus der Fremdpers- mativ gegebenen Würde unterschieden wird (zum pektive sind unangemessen und tragen ihrerseits zur Konzept vgl. das zugrunde liegende Papier von CURA- Entwürdigung des Alters in unserer Gesellschaft bei. VIVA 2011 zur Lebensqualitätskonzeption, das auch ein Es steht niemandem zu, im Blick auf das Leben eines Instrument zur Bestimmung und Förderung der indivi- anderen Menschen ein Urteil darüber zu fällen, ob duellen Lebensqualität von Heimbewohnerinnen ent- diese Leben «lebenswert» oder «lebensunwert» sei. hält). Es ist entscheidend, dass nicht von einer wie Wenn schon, steht es höchstens dem Betroffenen sel- auch immer bestimmten Lebensqualität auf die Men- ber zu, darüber zu urteilen, ob er sein Leben subjektiv schenwürde oder den Lebenswert geschlossen wird. noch als lebenswert oder als nicht mehr lebenswert ansieht. Bei Urteilen über die Lebensqualität im Alter ist ohne- hin Vorsicht geboten. Entgegen traditionellen negati- So oder so sind solche subjektiven, auf empirischen ven Altersstereotypen ist wichtig festzuhalten, dass Faktoren beruhenden Urteile streng vom normativen Altern nicht einfach ein defizitärer Prozess ist, in des- Gesichtspunkt der Menschenwürde zu unterscheiden. sen Verlauf Ressourcen, subjektive Lebensqualität und Jedem menschlichen Leben – auch dem einer schwer Lebenszufriedenheit kontinuierlich abnehmen. Geron- kranken oder schwerbehinderten Person, auch dem tologische Forschung hat gezeigt, dass viele körperli- von Menschen, die ihre Lebensqualität persönlich che, seelische und geistige Ressourcen bis ins hohe Al- ganz niedrig einschätzen – kommt grundsätzlich die ter erhalten bleiben, zum Teil sogar noch zunehmen gleiche menschliche Würde zu wie allen anderen Men- können. Vor allem hat die Forschung bewusst ge- schen. Und diese Menschenwürde beinhaltet den An- macht, dass alte Menschen – trotz aller nicht zu leug- spruch auf Lebensschutz und schliesst damit ein Urteil nenden Erfahrungen von Verlusten und Grenzen im von vornherein aus, wonach irgendein Leben objektiv hohen Alter – im Durchschnitt eine sehr hohe Lebens- nicht lebenswert sei (es gibt also kein «unwertes Le- zufriedenheit aufweisen, eine Lebenszufriedenheit, ben»!). Menschenwürde als normatives Konzept trägt die diejenige der jüngeren Erwachsenen sogar über- den Anspruch in sich, das Leben jedes Menschen zu steigt (HÖPFLINGER 2003)! Man spricht hier vom sog. schützen, es zu achten und zu respektieren und in die- «Zufriedenheitsparadox» des Alters, einem erstaunli- sem Sinne «würdig», das heisst der Menschenwürde chen Phänomen, das uns lehrt, einseitig negative Al- entsprechend, mit ihm umzugehen. tersbilder kritisch zu hinterfragen. Ähnliches gilt auch für demenzkranke Menschen. ALBERT WETTSTEIN «Ob ein Mensch nach einem erfüllten Leben, körper- weist darauf hin, dass nach vorliegenden Studien «das lich noch rüstig und geistig klar zu Hause friedlich für allgemeine Wohlbefinden von Demenzkranken sich immer einschläft oder ob er, inkontinent geworden, nicht signifikant von dem gleichaltriger kognitiv Ge- geistig verwirrt und seiner Fähigkeit zur Selbstbestim- sunder unterscheidet», ja, dass es Demenzkranke gibt, mung verlustig gegangen, nach mehrjährigem Pflege- «deren Wohlbefinden sich durch die Demenz positiv heimaufenthalt in einem langen Todeskampf stirbt, verändert hat» (WETTSTEIN 2005: 108). macht zwar auf der Ebene der Lebensqualität einen grossen Unterschied; mit Blick auf die Menschen- Daraus ergibt sich, dass auf der subjektiven, empiri- würde des jeweils Sterbenden besteht allerdings zwi- schen Ebene das Leben im Alter ein durchaus hohes schen beiden Sterbesituationen kein Unterschied. So Mass an Lebensqualität besitzen kann, selbst bei de- verstanden gibt es keine Krankheiten, welche mit fort- menzkranken Menschen und bei Personen, die so schreitender Entwicklung die Würde des Menschen schwer pflegebedürftig sind, dass sie auf die Unter- beeinträchtigen» (BETHESDA/DIALOG ETHIK 2011: 45). stützung einer Pflegeeinrichtung angewiesen sind. 18 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde
2.4 Nichtdiskriminierung des Alters Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der des Alters gehört deshalb wesentlich auch dies, den Vereinten Nationen geht davon aus, dass «alle Men- gesellschaftlichen Beitrag einer Alterskultur anzuer- schen gleich an Würde und Rechten geboren» sind. kennen und zur Entfaltung zu bringen (RÜEGGER Das bezieht sich sowohl auf unterschiedliche Men- 2009). schen – alle haben die gleiche Würde – als auch auf un- terschiedliche Lebensphasen ein und desselben Men- Eine neue Alterskultur entwickeln schen: Der Mensch in seiner Jugend und der Mensch in Jede Lebensphase hat ihre eigene Bedeutung, ihre seinem Alter haben die gleiche Würde. Daraus ergibt eigenen Möglichkeiten und Herausforderungen … sich das Verbot der Diskriminierung, das die Bundes- Keine Lebensphase kann aber zum Massstab werden verfassung der Eidgenossenschaft in Art. 8 Abs. 2 expli- für andere Lebensphasen … Alte Menschen sind zit auch auf das Alter bezieht: «Niemand darf diskrimi- deshalb zu ermutigen, selbstbewusst zu ihrem Alt- niert werden, namentlich nicht … wegen des Alters.» sein zu stehen, eine ihrer Lebensphase entspre- Das gilt im Blick auf den einzelnen alten Menschen, chende Alterskultur mit eigenen Werten und Priori- nicht weniger aber auch mit Bezug auf die Gruppe der täten zu entwickeln und diese aktiv in die alten Menschen in der Gesellschaft insgesamt. Des- Gesellschaft einzubringen. In der Gesellschaft ist halb impliziert das Ernstnehmen der Würde des Men- einer solchen Alterskultur Raum und Anerken- schen auch, dass eine Gesellschaft das Jungsein der nung zu verschaffen. Jungen und das Altsein der Alten gleichermassen wür- digt. CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 3 Angesichts der oben beschriebenen schleichenden Entwürdigung des Alters ergibt sich daraus die Forde- rung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Jugendlichkeitswahn der Anti-Aging-Bewegung, der alles am Massstab dessen misst, war für die jun- gen Erwachsenen gilt; eine kritische Auseinanderset- zung auch mit dem latenten gesellschaftlichen Ageis- mus, der das Alter durch negative Stereotypisierung als minderwertig darstellt, stigmatisiert und entwür- digt. Demgegenüber ist auch unter ethischem Ge- sichtspunkt mit einer in der Gerontologie weithin gän- gig gewordenen Lebenszyklusperspektive ernst zu machen, die das Leben eines Menschen als Abfolge verschiedener Lebensphasen versteht, die alle ihre je eigenen Möglichkeiten und Grenzen, Aufgaben und Herausforderungen haben, alle aber in sich gleich wertvoll und bedeutsam sind. Dementsprechend hängt die soziale und kulturelle Qualität einer Gesell- schaft in ihrem intergenerationellen Miteinander da- von ab, dass jede Altersgruppe ihre spezifischen Auf- gaben und Möglichkeiten wahrnimmt, ihre besondere Lebenshaltung ausprägt und diese – komplementär! – zum Wohl des Ganzen in die Gesellschaft einbringt, ohne sie zum Massstab für die Beurteilung anderer Al- tersgruppen zu machen. Zum Ernstnehmen der Würde WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 19
2.5 Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde Das Konzept «Würde» kommt heute oft in Zusammen- die Geriaterin REGULA SCHMITT-MANNHART stimmt hang mit dem Prozess des Sterbens zur Sprache. Der ihm zu: «Sterben ist nicht schön … Wir müssen lernen, Ruf nach einem «würdigen Tod» oder «würdigen Ster- uns einzugestehen, … dass wir unser vorgefertigtes ben» ist weit verbreitet (RÜEGGER 2004). Gemeint ist Bild vom ‹würdigen Sterben› nicht verwirklichen kön- mit dieser Forderung meistens ein Sterben nen. Es ist eine Illusion zu meinen, dass wir ein Sterben – ohne allzu grosse Schmerzen, ohne Belastung, ein ‹stressfreies› Sterben … erzwingen – ohne lange vorausgehende Zeit der Pflegebedürftig- können» (2000: 264–266). So gesehen setzt die Forde- keit, rung nach einem «würdigen Sterben» die Sterbenden – ohne demenziell bedingten Verlust der geistigen nur unter einen Leistungsdruck, der das Sterben noch Klarheit, schwieriger machen dürfte, als es ohnehin schon ist. – ohne das Sterben verlängernde oder hinausschie- bende medizinische Interventionen, MENSCHENWÜRDE IST IM STERBEN NICHT – ein Sterben, bei dem der Sterbende selbst bestimmt, VERLIERBAR wann, wo und wie er sein Leben beenden möchte. Das Anliegen, in Würde zu sterben, kann darum sinn- Für einige gehört dazu auch die Möglichkeit der ak- vollerweise nur zweierlei beinhalten. Zum einen ein ra- tiven Sterbehilfe, also des Rechtes, verlangen zu dikales Ernstnehmen, dass menschliche Würde im nor- können, dass man auf eigenen Wunsch hin mit einer mativen Sinn etwas Unverlierbares ist, das man nicht entsprechenden Injektion getötet wird, sowie die durch ein besonders tapferes oder friedliches Sterben Möglichkeit eines begleiteten Suizids, um auf die- an den Tag legen und sichern muss; kein Sterbeprozess, sem Wege unerträglich oder «unwürdig» empfun- und sei er noch so lang und zermürbend, kann die denen Leidenssituationen zu entgehen. Würde des Sterbenden beeinträchtigen. Auch das Aus- halten von Leiden gehört zu einem Sterben, das men- Der Ruf nach einem «würdigen» Sterben zielt eigent- schenwürdig ist. Deshalb spricht die Psychothera lich auf ein «friedliches» Sterben, wie es im internatio- peutin und Sterbebegleiterin MONIKA RENZ von der nal breit abgestützten Hastings-Report «Die Ziele der «Würde des Aushaltens» im Sterben (RENZ 2008) und Medizin» von 1996 als eines der wesentlichen Ziele kritisiert eine Gesellschaft, die Leiden und Sterben nur heutiger Medizin benannt wird (STAUFFACHER/BIR- noch als sinnlos ansieht, weil sie damit Kranken und CHER 2002: 327). Dank enormen medizinischen und Sterbenden das Gefühl vermittelt, würdelos zu sein pharmazeutischen Fortschritten, in neuster Zeit auch (RENZ 2012: 83). Sterben in Würde kann also nicht heis- dank neusten Entwicklungen von Palliative Care, kann sen, dass die sterbende Person Gefahr läuft, ihre Würde in der Tat viel getan werden, um den Prozess des Ster- durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf zu ver- bens zu erleichtern und ihn möglichst friedlich, also lieren und deswegen selbst dafür Verantwortung tra- erträglich, zu gestalten. Aber das lässt sich nicht ga- gen muss, zu einem Zeitpunkt oder auf eine Art zu rantieren! Die Würde des Sterbens an einem friedli- sterben, die ihre Würde sicherstellt. Pointiert gesagt: chen Prozess des Sterbens festmachen zu wollen, Die Menschenwürde ist unverlierbar, man muss nichts dürfte jedenfalls problematisch sein und leicht zu ei- für sie tun und kann auch im Sterben nicht aus ihr he- ner Überforderung für alle daran Beteiligten werden. rausfallen. Insofern steht jedes Sterben eines Men- schen unter dem Zeichen einer unantastbaren Würde, Der amerikanische Mediziner SHERWIN B. NULAND die menschlichem Leben auch im Sterben Wert ver- hat in einem Buch beschrieben, wie man an den ver- leiht und – zum andern – eine respektvolle, das heisst schiedensten Krankheiten stirbt. Für ihn ist das viel be- die Menschenwürde des Sterbenden achtende Sterbe- schworene Ideal eines «würdigen Todes» ein Mythos. begleitung fordert. Er konstatiert: «Ich habe nur selten Würde beim Ster- ben erlebt. Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich lässt» (NULAND 1994: 17f.). Und 20 | WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde
HUMANE STERBEKULTUR Sinnvoll erscheint mir die Rede von einem Sterben in Elemente einer menschenwürdigen Sterbekultur Würde vor allem dann, wenn damit ein Anspruch an – eine Haltung, die die Bedeutung des Todes als die professionellen und freiwilligen Betreuerinnen wichtige Dimension des Lebens anerkennt; und Begleiter eines Sterbenden gemeint ist, diesen – das offene Thematisieren des Sterbens mit allen menschenwürdig, das heisst bis zuletzt mit Respekt Beteiligten; vor seiner unverlierbaren Menschenwürde, zu behan- – eine fachlich hochstehende palliative Symptom- deln, auch wenn die Umstände seines Sterbens viel- kontrolle, insbesondere ein kompetentes Schmerz- leicht mühsam, beelendend und mit Gefühlen der management unter Einschluss der Möglichkeit, Scham und des Ekels belastet sind. Zu einem solchen wenn gewünscht auch hohe Dosen von Schmerz- Respekt vor der Würde eines Sterbenden gehört eine mitteln oder Sedativa abzugeben, selbst wenn da- humane Sterbekultur, wie sie zahlreiche Initiativen der durch der Tod etwas früher eintreten sollte (= indi- Hospizarbeit und der Palliative Care in den letzten Jahr- rekte Sterbehilfe); zehnten entwickelt haben (WILKENING/KUNZ 2003). – Verzicht auf lebensverlängernde medizinische Massnahmen (= passive Sterbehilfe), sofern der Sterbende es nicht anders wünscht; – konsequentes Respektieren des aktuellen, des vor- Diese Liste (rechte Seite) kann durchaus noch ergänzt aus verfügten oder des mutmasslichen Willens der werden. Sie kann auch dazu dienen, im Rahmen eines Patientin; Teamgesprächs selbstkritisch zu prüfen, wie es um die – Verzicht auf künstliche Ernährung, wenn der Ster- Sterbekultur in der eigenen Institution steht und wo bende Nahrung und Flüssigkeit verweigert; sie allenfalls noch weiterzuentwickeln wäre. – Räumlichkeiten, die im Sterbeprozess Ruhe und Privatsphäre sichern; – Möglichkeit für Angehörige, den Sterbenden zu besuchen und bei ihm zu bleiben; – Phasen, in denen man der Sterbenden ermöglicht, allein zu sein; – seelsorgliche Begleitung des Sterbenden im Sinne von Spiritual Care gemäss seinem Wunsch; – je nach Wunsch der Sterbenden Beizug von Sitz- wachen oder sonstigen freiwilligen Begleitern, wenn sie lieber nicht allein sein möchte; – gute interdisziplinäre Absprache und Beratung; – angemessene Begleitung und Unterstützung der Angehörigen; – eine Haltung des tiefen Respekts vor der unverlier- baren Würde des Sterbenden und vor dem Ge- heimnis des Lebens und Sterbens. WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER | Alter und Würde | 21
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