Wilfried Datler, Markus Hochgerner, Christian Korunka, Henriette Löffler-Stastka & Gerhard Pawlowsky
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Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem. Eine Bilanz Wilfried Datler, Markus Hochgerner, Christian Korunka, Henriette Löffler- Stastka & Gerhard Pawlowsky Psychotherapie Forum ISSN 0943-1950 Psychotherapie Forum DOI 10.1007/s00729-021-00167-4 1 23
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übersichtsarbeit Psychotherapie Forum https://doi.org/10.1007/s00729-021-00167-4 Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem. Eine Bilanz Wilfried Datler · Markus Hochgerner · Christian Korunka · Henriette Löffler-Stastka · Gerhard Pawlowsky Angenommen: 27. Januar 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Zusammenfassung 30 Jahre nach der Verabschie- Discipline, profession and evidence-based dung des österreichischen Psychotherapiegesetzes practice: The position of psychotherapy in the wird die Besonderheit der Psychotherapie im Gesund- health care system. A balance heitssystem mit Bezug auf nationale Gegebenheiten und international vorliegende Forschungsergebnis- Summary 30 years after the implementation of the se dargestellt. Dabei werden zentrale Qualitäts- und Austrian Psychotherapy Act, the distinctions of psy- Unterscheidungsmerkmale der Psychotherapie im chotherapy in the health system is presented with ref- Verhältnis zur Klinischen Psychologie und zu wei- erence to national circumstances and international re- teren Gesundheitsberufen unter Miteinbeziehung search results. In the following, essential quality and von evidenzbasierter Forschungsliteratur vorgestellt. distinguishing features of psychotherapy in relation to Es wird deutlich gemacht, dass Psychotherapie das psychology/clinical psychology and other health pro- bedeutsamste und weitreichendste Versorgungsan- fessions are presented on the basis of evidence-based gebot zur interaktionellen Behandlung psychischer research literature. Psychotherapy is the most impor- Erkrankungen darstellt. Zu den zentralen Merkma- tant and provides the most extensive range of services len der Psychotherapie zählen die umfassenden, evi- for the interactional treatment of mental illnesses. The denzbasierten sowie wissenschaftstheoretisch und central features of psychotherapy include the compre- methodisch in vier Clustern verankerten Konzepte hensive, evidence-based, and scientific theoretically zur Erklärung, Diagnose und individuellen, prozess- and methodologically anchored concepts for explana- orientierten Behandlung von psychischen Erkran- tion, diagnosis and individual, process-oriented treat- kungen sowie die im Vergleich zu ähnlichen Berufen ment of mental illnesses, as well as the significantly deutlich höhere Qualität der Ausbildung. higher quality of training compared to similar occu- pations. Schlüsselwörter Psychotherapie · Klinische Psychologie · Psychiatrie und Psychotherapeutische Keywords Psychotherapy · Clinical Psychology · Medizin · Ausbildung · Kompetenz Psychiatry and Psychotherapeutic Medicine · Training · Competence Vorbemerkung Vor 30 Jahren wurde im österreichischen Parlament Die Nennung der AutorInnen erfolgt in alphabetischer nach jahrzehntelangem Ringen das Psychotherapie- Reihenfolge. Als korrespondierende Autorin fungiert Henriette Löffler-Stastka. gesetz verabschiedet (Kierein et al. 1991; Wißgott 2009). Obgleich wesentliche Beiträge zur Entwick- H. Löffler-Stastka (!) lung der modernen Psychotherapie bereits im aus- Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, und Postgraduate Unit | Teaching Center, Medizinische gehenden 19. Jahrhundert in Wien erarbeitet worden Universität Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, waren, bedurfte es damit etwa eines Jahrhunderts, Österreich ehe Psychotherapie als „eigenständiges Heilverfah- henriette.loeffler-stastka@meduniwien.ac.at ren im Gesundheitsbereich für die Diagnostik und K Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit Behandlung von psychischen, psychosozialen oder Die angeführten Aspekte stehen notwendigerweise auch psychosomatisch bedingten Leidenszuständen in einem engen Zusammenhang mit nationalen Gege- und krankheitswertigen Störungen“ gesetzliche Aner- benheiten, sind zugleich aber auch in internationale kennung fand (Bundesministerium 2019, S. 44). Psy- Diskurse (vgl. European Association for Psychothera- chotherapeut oder Psychotherapeutin durften sich py 2013) eingebettet, die in den letzten Jahrzehnten ab dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 1991 nur ebenfalls an Dynamik zugenommen haben. Es ist da- mehr Personen nennen, die in die „Psychotherapeu- her 30 Jahre nach der Beschlussfassung über das öster- tenliste“ eingetragen waren. Dafür ist seit dem Aus- reichische Psychotherapiegesetz angebracht, auf eini- laufen von Übergangsbestimmungen der Abschluss ge der oben genannten Aspekte näher einzugehen. des psychotherapeutischen Propädeutikums und des psychotherapeutische Fachspezifikums im Sinne des Zur evidenzbasierten Wirksamkeit Psychotherapiegesetzes nötig. psychotherapeutischer Behandlungen Die Umsetzung des Gesetzes, das 1991 in Kraft trat, zog zahlreiche Entwicklungen nach sich. Diese Psychotherapie zeichnet sich durch ausgesprochen betrafen etwa die Gestaltung der Aus- und Weiter- hohe Behandlungswirksamkeit aus (mittlere Effekt- bildung, die Führung der Liste der eingetragenen stärken in den großen Metaanalysen zwischen 0,5 PsychotherapeutInnen, die Einrichtung des Psycho- und 0,7; z. B. Cooper et al. 2013; Cuijpers et al. 2020). therapiebeirats, den Ausbau der psychotherapeuti- Im Vergleich ist Psychotherapie damit einer phar- schen Versorgung Österreichs oder die wissenschaft- makologischen Behandlung zumindest ebenbürtig, ei- liche Befassung mit Psychotherapie. Diskussionen nigen Metaanalysen zufolge, zum Teil sogar deutlich, um die öffentliche Finanzierung der Psychotherapie überlegen (z. B. Cooper et al. 2013). Eine Kombination intensivierten überdies Forderungen nach weiteren aus beiden Behandlungskonzepten ist oft besonders wissenschaftlichen Nachweisen, welche die Wirksam- wirksam (Cuijpers et al. 2020). Die hohe Wirksamkeit keit des Einsatzes psychotherapeutischer Methoden lässt sich für unterschiedliche Störungsbilder und betreffen. für unterschiedliche Therapieverfahren zeigen (z. B. Parallel dazu kam es auch in zwei Nachbardiszipli- Lambert 2013). nen zu einer verstärkten Befassung mit Psychothera- Dabei zeichnet sich Psychotherapie besonders pie und verwandten Tätigkeitsbereichen: Im Bereich durch eine langfristige und nachhaltige Behand- der Psychologie wurden im Sinne des Psychologen- lungswirkung aus (Zimmermann et al. 2015), wo- gesetzes postgraduale Ausbildungsgänge eingerichtet, raus eine beachtenswerte Kosteneffizienz resultiert in denen AbsolventInnen des Diplom- oder Master- (De Maat et al. 2013). Dies gilt auch für hochfre- studiums der Psychologie zu Klinischen PsychologIn- quente, über einen längeren Zeitraum durchgeführte nen qualifiziert werden (vgl. Psychologengesetz 2013). Behandlungen. So konnte etwa in einer von der Me- Und im Bereich der Medizin fanden drei Annäherun- dizinischen Universität Wien 2014 vorgelegten Meta- gen an Psychotherapie statt: Psychotherapie erhielt Analyse, in welche die Auswertung von insgesamt im grundständigen Studium der Medizin einen größe- 7000 Behandlungen aus 13 Katamnesestudien, 9 qua- ren Stellenwert (Firbas 2001). Über die Österreichische si-experimentellen Studien und 4 randomisiert-kon- Ärztekammer (ÖÄK) werden drei Weiterbildungsgän- trollierten Studien eingingen, gezeigt werden, dass ge für ÄrztInnen angeboten, die mit der Verleihung hochfrequente Psychoanalyse ein wirksames Psycho- der PSY-Diplome für psychosoziale Medizin (PSY1), therapieverfahren darstellt, das bei einem Großteil psychosomatische Medizin (PSY2) und psychothera- der PatientInnen zu signifikanten und anhaltenden peutische Medizin (PSY3) abschließen (ÖÄK, ÖGPPM Verbesserungen des Gesundheits- und Krankheitszu- o.J.). Und der Facharzttitel „Psychiatrie“ wurde auf standes führt. Belege aus randomisiert-kontrollierten „Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin“ er- Therapiestudien zeigen in diesem Zusammenhang, weitert und zog eine veränderte Ausbildungsordnung dass die Effekte der psychotherapeutischen Behand- (ÖÄK 2018) nach sich. lung (anders als in den Kontrollgruppen) auch nach Angesichts dieser Entwicklungen ist es angebracht, Ende der Behandlung weiter zunehmen (vgl. Zimmer- sich der Psychotherapie im Sinne des österreichischen mann et al. 2015; De Maat et al. 2009). Psychotherapiegesetzes zuzuwenden und im Wissen Aus differenzierten Meta-Analysen der verfügbaren darum Bilanz zu ziehen, dass eine Neufassung des Kosten-Effektivitäts-Studien (De Maat et al. 2007, Psychotherapiegesetzes zur Diskussion steht (vgl. 2013) geht hervor, dass Psychotherapie zu einer nach- Datler et al. 2021). Unter Einbeziehung internationa- haltigen Senkung der Gesundheitskosten führt. Die- ler Forschungsbefunde werden punktuelle Vergleiche se Reduktion entsteht durch die verminderte Inan- mit ausgewählten Aspekten der Klinischen Psycholo- spruchnahme medizinischer Leistungen und einer gie und der Psychotherapeutischen Medizin gezogen, geringeren Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen (vgl. zu welcher die FachärztInnenausbildung (Brittlebank Seitz et al. 2019). Die Kosten für die psychothera- et al. 2016; Union Europeenne des Medecins Specia- peutischen Behandlungen amortisieren sich nach listes UEMS 2017/18) qualifiziert. ca. 3 Jahren. Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . . K
übersichtsarbeit Die neuere Wirkfaktorenforschung hat gezeigt, dass alle vier Cluster nachgewiesen: Unter Bezugnahme allgemeine Wirkfaktoren, wie die Person der Thera- auf die meisten psychiatrischen Erkrankungen refe- peutIn und die therapeutische Beziehung (vgl. Nor- rieren Leichsenring et al. (2015) und Shedler (2010) cross und Lambert 2019; Norcross und Wampold Belege für die Wirksamkeit psychoanalytisch-psy- 2019), eine besonders große und hilfreiche Bedeu- chodynamischer Psychotherapien (Cluster 1/PPT). tung für den Therapieerfolg haben. Diese allgemei- Die theoretische Basis, auf der PPT seit den An- nen Wirkfaktoren haben einen stärkeren Einfluss auf fängen bei Freud basiert, ist von umfassender Li- den Therapieerfolg als spezifische Interventionstech- teratur gestützt (Westen 1998; Westen et al. 2004). niken. Dies korrespondiert mit dem Umstand, dass Für die verhaltenstherapeutischen Methoden (Clus- Psychotherapie seit jeher einen besonderen Schwer- ter 2/VT) fassen Cuijpers et al. (2008a, 2008b) Out- punkt auf die Entwicklung dieser handlungsleitenden come Studien mit Bezug auf die häufigsten psychi- Wirkfaktoren sowohl in der psychotherapeutischen atrischen Störungsbilder in Metaanalysen zusam- Theorie als auch in der Ausbildung und in der thera- men. Nach Cain (2016) sowie Wampold und Imel peutischen Praxis legt. Sie ist daher in ihrer Wirksam- (2015) wurden ähnliche Ergebnisse wiederholt und keit Zugängen weit überlegen, die ihren Schwerpunkt umfassend für den Bereich der Humanistischen vorrangig und handlungsleitend auf spezifische In- Therapieverfahren (Cluster 3/HPT) nachgewiesen. terventionstechniken legen, die im Anschluss an eine Lambert (2013) referiert ähnliche Ergebnisse für vornehmlich ICD-basierte Diagnostik zum Einsatz systemische Therapiemethoden (Cluster 4/SPT). kommen (wie dies beispielsweise in der klinischen ! Nachhaltigkeit: Leichsenring und Rabung (2011) Psychologie der Fall ist). haben bezüglich Cluster 1 (PPT) gezeigt, dass Psy- In der empirischen Psychotherapieforschung wer- chotherapie während und nach der Therapie lang- den seit Jahrzehnten umfangreiche Studien durch- fristig wirkt, insbesondere in Hinblick auf Persön- geführt, die eine nachhaltige Wirksamkeit der psy- lichkeitsveränderungen über das Therapieende hi- chotherapeutischen Methoden bestätigt, die den vier naus (siehe dazu auch Fonagy und Kächele 2009; psychotherapeutischen Grundströmungen respekti- Fonagy et al. 2015; Leuzinger-Bohleber et al. 2003, ve Clustern zugeordnet werden können. Diesen Clus- 2019; Zimmermann et al. 2015). tern sind die psychoanalytisch/psychodynamischen ! Effektstärken: Manchen Untersuchungen zufol- (PPT), verhaltenstheoretisch orientierten (VT), hu- ge erweisen sich psychotherapeutische Verfahren manistischen (HPT) und systemischen (SPT) psycho- der Cluster 1 (PPT), 2 (VT) und 3 (HPT) als ähn- therapeutischen Verfahren zuzurechnen, von denen lich wirksam wie andere Therapien (Steinert et al. in Summe 23 in Österreich Anerkennung gefunden 2017). Betrachtet man alleine die Effektstärken der haben. therapeutischen Technik, ist der PPT-Prototyp wirk- Die relevanten empirischen Studien umfassen samer als der VT-Prototyp (Ablon und Jones 1998, realitätsnahe Feldstudien mit großen Fallzahlen 2005; Jones 2000; Zimmermann et al. 2015), der (z. B. Stiles et al. 2008 für kognitive, humanistische und HPT-Prototyp gleich effektiv (Steinert et al. 2017). psychodynamische Behandlungsansätze), aber auch ! Naturalistische Studien: Stiles et al. (2008) ver- zahlreiche Studien nach dem sogenannten „Gold gleicht psychotherapeutische Verfahren der Clus- Standard“ (experimentelle Kontrollgruppendesigns, ter 1 (PPT), 2 (VT) und 3 (HPT) im Versorgungs- Meta-Analysen z. B. Cuijpers et al. 2008a, 2008b, 2020). kontext und beschreibt Gleichwertigkeit bezüglich Die vier psychotherapeutischen Grundströmungen der Versorgungssituation. In der praxisorientierten (Cluster) weisen dabei ähnlich hohe Effektstärken Forschung und den naturalistischen Studien (De auf (Lambert 2013). Maat et al. 2007; Leichsenring 2004; Riess 2018) Zusätzlich zu der im „Handbook of Psychotherapy wird durchgängig ein hoher Anteil der Therapeu- and Behavior Change“ (Lambert 2013) sehr umfas- tInnenvariable an der Outcomevarianz beschrieben send dargestellten und nach den Wirkfaktoren ge- (17 % vs. 5 % in randomisierten kontrollierten Un- gliederten Listung der empirischen Psychotherapie- tersuchungen [RCTs]). Auch tragen naturalistische forschungsstudien aller therapeutischen Traditio- empirische Studien (z. B. auf Cluster 1 [PPT] oder nen (PatientInnenfaktoren, TherapeutInnenvariable, 3 [HPT] bezogen) zu einem besseren Verständnis Therapeutische Beziehung, allgemeine/unspezifische für psychische Prozesse und ihre Entwicklung bei Wirkfaktoren, Technik) werden im Folgenden For- (Blatt und Shichman 1983; Blatt 1995; Fonagy und schungsergebnisse referiert, die fünf bedeutsame Target 1997; Löffler-Stastka et al. 2008, 2010, 2018; und häufig thematisierte Dimensionen betreffen, Luyten und Blatt 2013; zu naturalistischen versus wobei vor allem Ergebnisse aus empirischen Untersu- RCT-Studien siehe Fischer 2011, S. 121 ff.). chungen mit berücksichtigt werden, die in Österreich ! Kosteneffizienz: De Maat et al. (2007, 2013) fassen durchgeführt oder unter Beteiligung österreichischer Kosteneffizienzstudien zusammen und argumen- Forschungsgruppen realisiert wurden. tieren v. a. mit der erwiesenen Nachhaltigkeit der ! Outcome: In zahlreichen Outcome-Studien wurde psychotherapeutischen Behandlungen. Vergleiche die Wirksamkeit von Psychotherapie in Hinblick auf mit pharmakologischen Behandlungen (Cuijpers et al. 2020) weisen der Psychotherapie eine deutlich K Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit höhere Kosteneffizienz aus. Untersuchungen der chende Ausgangsbasis für die psychotherapeutische Sekundärkosten (Seitz et al. 2019) belegen ebenfalls Behandlung von PatientInnen mit z. B. mangelnder die Vorteile von Psychotherapie. oder/und schwankender Adhärenz/Compliance, mit aggressiv-manipulativer Tendenz, in oft chronisch kri- Seit mehr als drei Jahrzehnten werden empirische Stu- senhafter selbst- oder fremdschädigender Einengung, dien diskutiert, denen zufolge unterschiedliche psy- mit Antriebslosigkeit oder misstrauischer Grundhal- chotherapeutische Ansätze eine ähnliche Wirksam- tung. Bei einer Vielzahl von Krankheitsbildern, welche keit haben (Luborsky et al. 1975; Luborsky 1995). Eine die anhaltende Aktivierung von Ressourcen und moti- mögliche Erklärung dieser Untersuchungsergebnisse vierte Mitarbeit erfordert, kann dies von PatientInnen nimmt darauf Bezug, dass die meisten Effekte psy- im Rahmen der üblichen psychologischen Gesprächs- chotherapeutischer Behandlungen durch allgemeine führung nicht genügend und nicht andauernd genug (unspezifische) Faktoren und nicht durch bestimm- hergestellt werden. te Techniken (Cuijpers 1998) erzielt werden. Zu die- Vielmehr bedarf es hier neben der atheoretisch sen Faktoren gehören verschiedene Aspekte der the- beschreibenden ICD-Diagnostik einer erweiternden rapeutischen Beziehung zwischen TherapeutIn und und theoriegeleitet-verstehenden psychotherapeuti- PatientIn (Lambert 2004; Norcross und Lambert 2019; schen Diagnostik (vgl. Hochgerner 2020a, 2020b), Norcross und Wampold 2019). welche die notwendigen Erklärungsmodelle zur Ent- Über die Bedeutung der therapeutischen Bezie- stehung und Aufrechterhaltung einer Erkrankung hung für den Behandlungsverlauf besteht mittlerweile als handlungsleitende Ausgangsbasis für klinisch- ein therapieschulen-übergreifender Konsens (Krause diagnostisch begründete Interaktions- und Vorgangs- 1997; Margraf und Brengelmann 1992; Orlinsky und weisen bietet. Psychotherapie schließt Kurzberatung, Howard 1986; Orlinsky et al. 1994; Rudolf 1991), wobei wie sie in Gestalt von psychologischer Behandlung zwischen Konzepten zur Erklärung der Wirksamkeit angeboten wird, mit ein, geht jedoch in ihrer Kern- von Psychotherapie unterschieden wird, in denen vor kompetenz über Akutberatung und modularisierte allem unspezifische oder aber spezifische Faktoren Behandlungsschritte zur Erreichung eng umrissener als entscheidend für den Therapieerfolg ins Treffen Symptommilderung hinaus. Sie bietet hilfreiche, in geführt werden (Butler und Strupp 1986). In den Kon- jedem Einzelfall und jeder Behandlungsphase indivi- zepten, in denen der Fokus auf unspezifische Ansätze duell an die PatientIn angepasste Behandlungskon- gelegt werden, ergibt sich die Bedeutsamkeit der Be- zepte. ziehung aus dem durch die Behandlungskonzeption Ebensolche präzise angepassten Behandlungskon- definierten Rahmen und beinhaltet Variablen wie die zepte benötigen für die genaue Indikationsstellung, Motivation und Fähigkeit der PatientIn, in diesem für Prognose- und Risikoabschätzung (Leitner et al. Rahmen zweckvoll mitzuarbeiten, die Übereinstim- 2014) eine umfassende Diagnostik und entsprechen- mung von PatientIn und TherapeutIn hinsichtlich der de diagnostische Kompetenzen. Ziele und Aufgaben, oder empathisches Verständnis und Involviertheit des TherapeutIn. Diese Variablen Die hohe Qualität der psychotherapeutischen stellen die Basis dar, auf der die jeweils spezifischen Ausbildung technischen Interventionen wirken. In diesem Kon- text wird die „gute“ Beziehung als notwendige jedoch Die psychotherapeutische Ausbildung, wie sie in Ös- nicht hinreichende therapeutische Prozessvariable terreich auf der Grundlage des Psychotherapiegeset- definiert. zes seit 1991 durchgeführt wird, hat im internationa- Zunehmend hat sich aber die Sichtweise durchge- len Vergleich eine besonders hohe Qualität, wie dies setzt, dass sich – je nach Behandlungsansatz, Phase auch in der aktuellen internationalen „Spristad“-Stu- im Therapieverlauf, TherapeutInneneigenschaften die bestätigt wird (Löffler-Stastka et al. 2019; Orlinsky (Beutler et al. 2004) und krankheitsbedingten Patien- et al. 2015). tInnenmerkmalen – z. T. ganz unterschiedliche Qua- Zu den zentralen Qualitätsmerkmalen dieser ge- litäten therapeutischer Beziehungen als günstig für setzlich geregelten und qualitätsgesicherten Ausbildung Verlauf und Ergebnis erweisen (Biermann-Ratjen et al. zählen 1995). Dieses erweiterte Konzept der Wirksamkeit der ! der Umfang der Ausbildung im Ausmaß von min- therapeutischen Beziehung erfordert eine stärker destens 250 bis 330 ECTS, abhängig vom methoden- störungs- oder diagnosespezifische Erforschung der spezifischen Curriculum (BMG 2014; Hochgerner Therapiebeziehung, welche die Beziehungsregeln ver- 2020c), schiedener PatientInnengruppen berücksichtigt. Dies ! der Aufbau auf einem Quellenberuf, der bei 70 % wird in allen großen Therapieschulen, am stärksten in der eingetragenen PsychotherapeutInnen psycho- den interpersonellen Theorien und manchen gegen- sozial ausgerichtet ist (Pawlowsky 2018); zugleich wärtigen psychoanalytischen Konzepten realisiert. sind 73 % der PsychotherapeutInnen akademisch Eine ausschließlich ICD-basierte Behandlung (Ber- ausgebildet (Pawlowsky 2020, 2021), kin und Rief 2012) mit interaktionellem Schwerpunkt bietet daher die notwendige, jedoch nicht hinrei- Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . . K
übersichtsarbeit ! die klare wissenschaftstheoretische und handlungs- Ausbildung aufgenommen wurden, schließen die leitende Verankerung in einem der vier psychothe- Psychotherapieausbildung positiv ab (Pawlowsky rapeutischen Cluster, 2018). ! die Ausbildung in mehreren Ausbildungsteilen (Theorieseminare und praktische Ausbildung im Die für selbstselektive Entscheidungsprozesse erfor- Propädeutikum und Fachspezifikum) mit einer derliche reflexive Kompetenz ist zudem ein zentraler durchschnittlichen berufsbegleitenden Ausbildungs- psychotherapeutischer Wirkfaktor (die TherapeutIn- dauer von aktuell 8,9 Jahren (Pawlowsky 2018), nenvariable erklärt 15–20 % der Ergebnisvarianz), me- ! und die Orientierung an den vier gleichwertigen diiert die Interventionen (Taubner et al. 2015) und Elementen Theorie, Entwicklung therapeutischer ist durch Selbsterfahrung und Supervision beeinfluss- Identität (Selbsterfahrung als reflexive und interak- bar (Nissen-Lie et al. 2013; Orlinsky et al. 2015). Sie tionelle Kompetenz), Supervision und eigenständi- ist aber auch durch Arbeits- und Umgebungsbedin- ge Arbeit. gungen veränderbar (Steinmair et al. 2020). Diese reflexive Kompetenz steht im Qualifikationsprofil und Die mehrfache und qualitätssichernde Selektion der den damit verknüpften Lernzielen in der Psycho- psychotherapeutischen AusbildungskandidatInnen therapieaus- und Weiterbildung an prioritärer Stelle über alle Ausbildungsschritte hinweg unterscheidet (European Association for Psychotherapy 2013). Auch sich weiters von den beiden anderen großen Zugän- die psychotherapeutische Medizin (als ärztliche Form gen zur Behandlung psychischer Erkrankungen (der psychotherapeutischer Kompetenz) hat im Vergleich ärztlichen Weiterbildung im Fach Psychiatrie und dazu andere (z. T. und je nach Setting überlappen- psychotherapeutische Medizin einerseits und der de) Aufgaben und braucht dementsprechend andere Weiterbildung in klinischer Psychologie andererseits): Ausbildungswege. ! Auf Grund der Zäsur zwischen dem Propädeuti- Die Ausbildungsforschung in der Psychotherapie kum und dem Fachspezifikum, der Aufnahmever- geht seit längerem der Frage nach, welche empirisch fahren in die fachspezifische Ausbildung, dem ho- gestützten Faktoren die Entwicklung von Psychothera- hen Ausmaß an vorgeschriebener Selbsterfahrung peutInnen fördern (American Psychological Associati- und der engmaschigen, sich über mehrere Jahre on 2006; Norcross 2002; Orlinsky et al. 2015). Wie die erstreckenden Verschränkung von psychotherapeu- Ausbildung inhaltlich und didaktisch gestaltet wer- tischer Praxis und Supervision kommt es zu um- den kann und welche Kompetenzen sich abbilden, be- fangreichen und mehrgliedrigen selbstselektiven schäftigten ForscherInnen in den letzten Jahren ver- Entscheidungsprozessen. stärkt (z. B. Duncan 2010; Kohl et al. 2009; Lorentzen ! Diese Entscheidungsprozesse kommen bereits früh et al. 2011; Orlinsky und Rønnestad 2005; Strauß und zum Tragen: Aktuell vorliegenden Zahlen zufolge Kohl 2009; Sudak und Goldberg 2012). beenden ca. 25 % der Personen, die das Propädeu- Wie sekundäre Sozialisationsfaktoren die Ent- tikum begonnen haben, ihre Ausbildung nach dem wicklung von Psychotherapeuten beeinflussen, ist ersten und allgemeinen Ausbildungsteil, dem Pro- hingegen wenig untersucht. In vielen Ländern – un- pädeutikum, ohne mit dem Fachspezifikum fortzu- ter anderem auch in Deutschland und der Schweiz – setzen (Pawlowsky 2018). absolvieren Psychotherapie-AusbildungskandidatIn- ! Personen, die für eine fachspezifische Ausbildung in nen vor der Therapieausbildung eine umfangreiche einer bestimmten Methode nicht geeignet erschei- berufliche Ausbildung, entweder als PsychologInnen nen, werden nach komplexen Auswahlprozessen oder MedizinerInnen (vgl. dazu die Stichprobe in zur fachspezifischen Ausbildung nicht zugelassen Lorentzen et al. 2011). Im Unterschied dazu ist der oder auf die Ausbildung in einem anderen Psy- Zugang zur Psychotherapieausbildung in Österreich chotherapieverfahren verwiesen. Manche erken- stark diversifiziert (vgl. auch Korunka und Hochgerner nen im Zuge der weiteren fachspezifischen Ausbil- 2021). Ab 1991 wurden mit dem Psychotherapiege- dung durch Selbstkonfrontation in Praktika, in der setz (Kierein et al. 1991) aufgrund von Angebots-, Supervision und in der vorgeschriebenen Selbster- Bedarfserhebungen und Entstigmatisierungsüberle- fahrung, dass die gewählte psychotherapeutische gungen Schritte unternommen, Psychotherapie einer Methode für sie nicht geeignet ist. größeren Öffentlichkeit von PatientInnen anzubieten ! In diesem selektiven Auswahlprozess wird beson- und einen niederschwelligeren Zugang zu schaffen. ders die persönliche Eignung für ein bestimmtes an- Damit ging einher, dass nicht nur ÄrztInnen, son- erkanntes Psychotherapieverfahren im Hinblick auf dern auch Angehörigen anderer Berufsgruppen der Persönlichkeit und fachspezifische Schwerpunkt- Zugang zur Psychotherapieausbildung und in wei- setzungen untersucht. Dies hat zur Folge, dass die terer Folge auch zur Ausübung der Psychotherapie ! qualitative Eignung der Personen mit dem Ab- sowie bei gegebener Qualifikation auch zur Wahr- schluss einer psychotherapeutischen Ausbildung nehmung lehrtherapeutischer Aufgaben gesetzlich besonders hoch ist. 98 % der fachspezifischen Aus- gesichert bleiben sollte (Wißgott 2009). Diese Ein- bildungskandidatInnen, die in eine fachspezifische beziehung weiterer Berufe in die Ausbildung betrifft insbesondere PsychologInnen, PädagogInnen, Sozi- K Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit alarbeiterInnen, Pflegekräfte oder TheologInnen und nen (Pawlowsky 2018; GÖG 2020) auf die auch nach somit Personengruppen, die auf Grund ihrer beruf- 30 Jahren Psychotherapiegesetz nicht hinreichend lichen Vorbildungen und Vorerfahrungen für eine eingelösten Aufgaben des Gesundheitssystems: Berufsausbildung zur PsychotherapeutIn potenziell ! Das vorhandene Angebot an kassenfinanzierten qualifiziert sind und in Österreich schon vor dem In- Plätzen für Psychotherapie stellt in Verbindung mit krafttreten des Psychotherapiegesetzes auf Grund ihrer den geltenden Bezuschussungsregeln eine mini- human- und gesundheitswissenschaftlich orientierten male Basisversorgung sicher. Darüber hinaus ist Qualifikationen psychotherapeutisch ausgebildet wor- in allen Bundesländern ein weiterer Versorgungs- den waren (Springer-Kremser et al. 2002). Darüber bedarf gegeben (Grabenhofer-Eggerth und Sator hinaus können auch Personen, die einen anderen 2019). beruflichen Hintergrund aufweisen, bei besonderer, ! Daraus folgt, dass ein gleicher und kassenfinanzier- speziell auszuweisender Eignung nach einem Prüfver- ter Zugang für alle ÖsterreicherInnen zur Psycho- fahren zum Erlernen des PsychotherapeutInnenberufs therapie nach wie vor nicht gegeben ist. Der Nach- zugelassen werden, um nach einer theoretischen und frage nach Psychotherapie als Sachleistung und praktischen Ausbildung, die im Durchschnitt knapp dem Bedarf an Psychotherapie kann aufgrund der neun Jahre lang dauert, ihre Kompetenzen und Er- Kontingentierung des Angebots an kassenfinan- fahrungen in die psychotherapeutische Versorgung zierten Psychotherapieplätzen nicht annähernd einbringen. Der Weg zum Erwerb ebendieser Kom- angemessen nachgekommen werden (Graben- petenzen ist in Tab. 1 dargestellt und mit ähnlichen hofer-Eggerth und Sator 2019). Dies schafft eine Berufsausbildungen verglichen. wesentliche und anhaltende Ungleichbehandlung Löffler-Stastka et al. (2018) geben einen Überblick psychisch Erkrankter gegenüber anderen Erkrank- über die aktuelle Ausbildungssituation mit derzeit ten im Versorgungssystem (Grabenhofer-Eggerth 23 in Österreich anerkannten Psychotherapieverfah- und Sator 2019). ren (Bundesministerium 2014) und 39 aktiven aus- ! Eine gleiche und angemessene Abgeltung für die bildungsberechtigten Institutionen. Die in Österreich psychotherapeutischen Leistungen aller Psychothe- vertretenen Psychotherapiemethoden, die gelehrt rapeutInnen im Gesundheitssystem ist nach wie vor werden, basieren nach ihrer Tradition, Schule und inexistent. Die Umsetzung einer adäquaten und be- Methodik im Wesentlichen auf vier unterschiedli- reits in der 51. ASVG-Novelle (1993) versprochenen chen theoretischen, insbesondere wissenschaftstheo- Integration psychotherapeutischer Dienste in aus- retischen, forschungsmethodologischen und anthro- reichender Stundenzahl in die stationäre Gesund- pologischen Prämissen, die den oben erwähnten heitsversorgung erfolgte noch nicht. psychotherapeutischen Clustern entsprechen (PPT, VT, HPT, SPT). Aufgrund der strukturellen Besonder- Die Benachteiligung psychisch Erkrankter wird in Ös- heit des Zugangs zur Psychotherapieausbildung bietet terreich ohne Unterbrechung nach 1945 fortgeschrie- die Breite der österreichischen Psychotherapieschu- ben. Seit 2020 sind die häufigsten Erkrankungen der len ein unverzichtbares Umfeld für die Beforschung ÖsterreicherInnen psychische Erkrankungen (GÖG der Relevanz des professionellen Basisberufs für die 2020). Zu den Aufgaben der Gesundheitsdienste ge- Entwicklung von PsychotherapeutInnen, deren Ein- hört auch ein diversifiziertes Angebot an Leistungen, stellungen und therapeutische Identitätsbildung. In um dem Gegenstandsbereich der Psychotherapie, einer länderübergreifenden Untersuchung zeigen sich den unterschiedlichen Problemlagen von PatientIn- Einflussfaktoren wie Haltung, Lebenszufriedenheit, nen und der Subjektivität des Menschen im Sinne des ökonomische Verhältnisse und Stress auf die Ent- § 1 des Psychotherapiegesetzes gerecht zu werden. wicklung von PsychotherapeutInnen als wesentlich Im Zuge der Weiterentwicklung des existierenden förderlich, ebenso die Diversität in der Ausbildung Versorgungssystems, das die erwähnten Mängel auf- oder eine Inklusion von Minderheiten in die Ausbil- weist, bedarf es der Berücksichtigung des Umstandes, dung (Löffler-Stastka et al. 2018, 2019). dass die reflexive Kompetenz von PsychotherapeutIn- nen (als bedeutsamen Faktor für die Wirksamkeit von Die Versorgungsleistung der Psycho- Psychotherapie) nur dann zum Tragen kommen kann, therapeutInnen wenn PsychotherapeutInnen eine angemessene Aus- bildungs- und Arbeitsumgebung vorfinden, die von Die Zahl der in die Berufsliste eingetragenen Perso- der öffentlichen Finanzierung von Psychotherapie mit nen mit derzeit 10.415 PsychotherapeutInnen (Stand abhängig ist. Darüber hinaus wird zu berücksichtigen 6/2020) verweist auf eine besonders hohe Motiviert- sein, dass bereits PsychotherapeutInnen in Ausbil- heit des Berufsstandes, da die Ausbildung mit einer dung unter Supervision in einem hohen Ausmaß Ver- Länge von im Schnitt 8,9 Jahren – im Gegensatz zu sorgungsleistungen erbringen: Unter Bezugnahme auf den anderen gesetzlich anerkannten Heilberufen – unterschiedliche Ausbildungsphasen bedarf es eines in keiner Weise staatlich finanziert ist. Zugleich ver- abgestuften Systems, in dem die Zulassung zur Aus- weist die durchschnittlich geringe Zahl an geleisteten übung psychotherapeutischer Tätigkeiten mit der öf- Therapiestunden freiberuflicher PsychotherapeutIn- fentlichen Finanzierung von Psychotherapie und der Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . . K
übersichtsarbeit Schaffung adäquater Ausbildungs- und Arbeitsumge- lich selben Untersuchungsgegenstand der Phäno- bungen (etwa in Gestalt von psychotherapeutischen mene abweichenden psychischen Erlebens und Ver- Lehr- und Versorgungsambulanzen) verschränkt wird. haltens zeigt einerseits die Verwobenheit der drei unterschiedlichen heilberuflichen Sichtweisen und Psychotherapie ist eine eigenständige Disziplin zugleich die Deutungshoheit der Psychotherapie als eigene Form der Humanwissenschaft und eigenstän- Der historisch gleiche Entstehungszeitraum von na- diges Heilungsverfahren im interaktionellen Zugang turwissenschaftlich beschreibender Psychiatrie, kli- zur leidenden Person. nisch-messender Psychologie und verstehend-inter- Psychotherapie als Leitwissenschaft ist in der in- aktioneller Psychotherapie mit dem vorwissenschaft- teraktionellen Heilung psychischer Störungen derzeit Tab. 1 Zum Vergleich zwischen Psychotherapie, klinischer Psychologie und psychotherapeutischer Medizin. (Stundenan- gaben stellen die Mindestanforderung dar) Psychotherapie Psychotherapeutische Medizin Klinische Psychologie Ausbildung: Selbsterfah- 250 h 1. Abschnitt/Propädeutikum: 50 h und im 150 h schulen-/methodenspezifisch im Hauptfach, 76 h rung 2. Abschnitt/Fachspezifikum: 200 h schulen-/ 1–2 Jahre methodenspezifisch, 2–4 Jahre Ausbildung: Supervision 170 h: 220 h: 120 h 20 h Propädeutikum und 150 h Fachspezifikum davon 120 h schulen-/methodenspezifisch schulen-/methodenspezifisch Ausbildung: Theorie 1065 h 600 h schulen-/methodenspezifisch 340 h 1. Abschnitt/Propädeutikum 765 h methoden- übergreifend und 2. Abschnitt Fachspezifikum: 300 h schulen-/methodenspezifisch Ausbildung: Gesamtum- 3115 h incl. Praktika in 8–9 Jahren nach einem 1870 h in 6 Jahren nach dem Medizinstudium 536 h in 2–3 Jahren nach dem fang gesetzlichen Quellenberuf bzw. individueller Psychologiestudium Eignungsprüfung Quellenberufe Abgeschlossener (meist akademischer) human- Ärzte mit abgeschlossenem Lehrgang „Psycho- Abgeschlossenes Psychologie- wissenschaftlicher Quellenberuf entsprechend somatische Medizin“, sowie FA Psychiatrie; studium dem Selbstverständnis der Psychotherapie Voraussetzung: positive Beurteilung im Aufnah- meverfahren Selektion in der Ausbil- Insbes. Fremdselektionsmechanismen durch Insbes. Fremdselektionsmechanismen durch Insbes. Fremdselektionsme- dung als Qualitätssiche- Grundberuf und positive Beurteilung im Aufnah- Grundberuf, positive Beurteilung im Aufnahmever- chanismen durch Grundberuf rungskriterium meverfahren in das Fachspezifikum. fahren für psychotherapeutische Medizin Zusätzlich hohe Selbstselektionsmechanismen: rund 60 % der BeginnerInnen der propädeuti- schen Ausbildung schließen auch erfolgreich ein Fachspezifikum ab Praxisumfang 600 Behandlungsstunden unter Supervision plus 600 h Ärztliche Tätigkeit unter psychotherapeu- Praxiszeit 2098 h, keine defi- 1030 h Praktika: tischen Gesichtspunkten + weitere 600 Behand- nierten Behandlungsstunden 1. Abschnitt: 480 h lungsstunden methodenspezifisch (mind. 6 Fälle, 2. Abschnitt: 550 h (mind. 150 h im klinischen davon mind. 3 über 40 h) Bereich) Diagnostik Grundzüge der psychiatrischen und psycholo- Psychiatrische Diagnostik, integrativ entlang Psychologische Diagnostik gischen Diagnostik, zusätzlich behandlungs- des somato-, sozio- und psychotherapeutischen (mit einem besonderen Fokus relevante und schulen-/methodenspezifische Ansatzes auf klinisch-psychologische psychotherapeutische Diagnostik (inkl. Bezie- Diagnostik) und Grundzüge der hungs- und Prozessdiagnostik) psychiatrischen Diagnostik Theoretische Grundlagen Klare wissenschaftstheoretische Verankerung Methodenspezifisch (Hauptfach 150 h eine Tradi- Eklektisch auf der Grundlage in einem Menschenbild und in der jeweiligen tion, Zusatzfach 40 h andere Tradition, 2 Ergän- verschiedenster psychologi- Psychotherapietheorie zungsfächer je 20 h) scher Theorien Behandlungskonzepte Fundiert methodenspezifisch und evidenzbasiert Methodenspezifisch mit dem Schwerpunkt eines Eklektisch und evidenzbasiert Prozess- und beziehungs-orientiert Hauptfaches; Integration von Zusatzfach; In der Regel interventionsba- 2 Ergänzungsfächer; alle entsprechend den 4 siert grundlegenden psychotherapeutischen Tradi- tionen, aber in verschiedenen Settingvarianten evidenzbasiert Breite der Behandlung Breit Breit Spezifisch Zielgruppen der Behand- Alle klinischen Störungsbilder, Persönlichkeits- Alle Psychiatrischen und Psychosomatischen Spezifische Zielgruppen, z. B. lung entwicklung, etc. Störungsbilder Neuropsychologie, Gerontopsy- chologie, Teilleistungsstörun- gen etc. Klinische Evidenz Hoch für die vier therapeutischen Cluster auf der Nach den Kriterien der Evidenz-Basierten-Medizin Meist spezifisch interventi- Basis spezifischer und allgemeiner Wirkfaktoren onsbasiert; in der Regel nicht auf der Basis der allgemeinen Wirkfaktoren K Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit in den oben genannten vier Grundströmungen reprä- und Pritz 2007; Slunetzko 2009; Fischer 2011; Lam- sentiert – ein weiteres Merkmal und Spezifikum der bert 2013), Psychotherapie. Sie wird damit in ihrer Vielfalt an Zu- ! Kommunikationsstrukturen, zu denen insbeson- gängen der immer weiter zunehmenden Komplexität dere wissenschaftliche Journale, langjährig tätige und Diversität menschlichen Erlebens und Verhaltens wissenschaftliche Institute und Vereinigungen so- hinreichend gerecht: Sie reagiert in komplexer und wie regelmäßig stattfindende Kongresse, Tagungen adäquater Weise unter Einbeziehung sozialer, ökono- und Symposien zählen, mischer und ökologischer Momente auf individuelle ! Selektions- und Reproduktionsprozesse (Ausbil- und gesellschaftliche Entwicklungen und hat damit ei- dungsprozesse), für die primär LehrtherapeutIn- ne nachhaltige Bedeutung, die weit über die Heilbe- nen und somit VertreterInnen der Disziplinen Ver- handlung einzelner Symptombilder hinausgeht. Dies antwortung tragen (vgl. LehrtherapeutInnen-Richt- kommt auch darin zum Ausdruck, dass Psychothera- linie 2011); pie als Disziplin die Befassung mit diesen Momen- ! wissenschaftliche Diskurse, die der Selbstreflexi- ten in ihre Theoriebildungen miteinbezieht (vgl. Kadi on der Disziplin dienen und insbesondere von den et al. 2012). Besonderheiten der Disziplin und ihrer Geschich- Zeichnete sich in den 1990er-Jahren deutlich ab, te handeln (vgl. Norcross et al. 2011; Schmidbauer dass sich Psychotherapie auf dem Weg zu einer eigen- 2012). ständigen Disziplin befindet, so ist zweieinhalb Jahr- zehnte später festzuhalten, dass Psychotherapie in- In der Disziplin der Psychotherapie gelten Werte und zwischen wesentliche Merkmale einer eigenständigen Normen des wissenschaftlichen Arbeitens, die auch Disziplin nach Datler und Felt (1996) erfüllt: in anderen Disziplinen als verbindlich angesehen wer- Innerhalb eines langjährigen international existie- den (Felt et al. 1995). Und PsychotherapeutInnen wer- renden Netzwerkes wird unter Einsatz von wissen- den inzwischen nahezu durchgängig als ExpertInnen schaftlich anerkannten Methoden permanent an ei- für das Wissen um Psychotherapie, für die Weiterent- nem breiten Spektrum an Themen gearbeitet, in deren wicklung der Disziplin und für die gesellschaftlich re- Zentrum die psychotherapeutische Praxis und damit levante Nutzung des psychotherapeutischen Wissens verbundene Theorien stehen (vgl. Wampold und Imel insbesondere in den Bereichen der psychotherapeu- 2015). tischen Praxis (Behandlung), Versorgung und Prophy- Diese Theorien handeln insbesondere von laxe begriffen. ! der Theorie des psychotherapeutischen Prozesses, ! den Indikationen zur Psychotherapie, Die Binnenstrukturen der Disziplin der ! von psychotherapeutischen Wirkfaktoren und dem Psychotherapie „Outcome“ psychotherapeutischer Praxis, ! von den Entstehungsbedingungen und Entstehungs- Die Disziplin der Psychotherapie weist in mehrfacher prozessen der Problem- und Leidenszustände, die Hinsicht Binnenstrukturen auf. Im Bereich der Psy- zur Indikation von Psychotherapie führen, mit be- chotherapieforschung existieren etwa Strukturen der sonderen Akzenten auf die Theorie der Spezifität qualitativen und quantitativen Psychotherapiefor- und Genese psychischer Erkrankungen, ihrer Be- schung in Verbindung mit dem Einsatz von Mixed handlung und ihrer Prophylaxe, Methods in Korrespondenz mit Konzeptforschung, ! von anthropologischen, persönlichkeits-, interakti- Einzelfallforschung und Untersuchungen mit großen ons- und sozialisationstheoretischen Grundlagen, Stichproben (Fischer 2011, S. 107 ff.). ! von professionstheoretischen Themen, die auch Eine andere Binnenstruktur verdeutlicht unter- Fragen der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und schiedliche Strömungen der Psychotherapie, die den Weiterbildung betreffen, bereits mehrfach genannten vier Clustern zugeord- ! vom Spektrum wissenschaftlicher Methoden, die net werden können (PPT, VT, HPT, SPT). All diesen in der Psychotherapieforschung zum Einsatz kom- Strömungen ist die Auffassung gemeinsam, dass es in men, psychotherapeutischen Prozessen nötig ist, auch zu ! sowie von der Beziehung zwischen der Disziplin der den tieferen, persönlichkeitsbestimmenden Schich- Psychotherapie und anderen wissenschaftlichen ten der Problemlagen von psychotherapiebedürftigen Disziplinen wie Medizin, Psychologie, Erziehungs- Menschen zu kommen, die erst dann erfasst und hilf- und Bildungswissenschaft, Soziologie, Philosophie reich bearbeitet werden können, wenn sie innerhalb oder Theologie. der therapeutischen Beziehung spürbar, erkannt und verstanden werden. Deshalb zeichnet sich die psycho- Innerhalb der Disziplin der Psychotherapie existieren therapeutische Ausbildung durch den hohen Anteil ! gemeinsam geteilte Wissensbestände, die in Lexi- an psychotherapeutischer Eigenerfahrung als Vor- ka, Handbüchern und Lehrbüchern dargestellt sind, aussetzung für diese unverzichtbare Dimension des die zum Teil clusterspezifisch, zum Teil aber auch psychotherapeutischen Arbeitens aus. clusterübergreifend konzipiert sind (z. B. Stumm Obgleich dieser Aspekt innerhalb der psychothe- rapeutischen Cluster etwas unterschiedlich gewichtet Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . . K
übersichtsarbeit wird, unterscheidet sich die psychotherapeutische Punkten aber auch in Diskursen zu finden, die außer- Ausbildung in dieser qualitativ unverzichtbaren Di- halb dieser Disziplinen geführt wurden bzw. spezifi- mension in allen Clustern von den Ausbildungspro- schen Disziplinen nicht eindeutig zugeordnet werden zessen in angrenzenden Disziplinen. Dort wird diesen können. Ein markantes Beispiel geben dafür die An- Aspekten in deutlich geringerem Ausmaß und nur fänge der Psychoanalyse ab, aus der heraus sich das situativ Rechnung getragen, weshalb in dieser Hin- Cluster der psychoanalytisch-psychodynamischen sicht auch andere Anforderungen an ärztliche oder Psychotherapie (PPT) entwickelte: klinisch-psychologische Ausbildungen und Praxisfor- Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanaly- men zu stellen sind: se, war habilitierter Mediziner und kam als solcher Die therapeutische Begegnung bildet als inter- mit den Vorläufern und Anfängen der Psychothera- aktionelle Situation den Rahmen zur Analyse und pie insbesondere in Wien und in Frankreich in den heilender Bearbeitung leidvollen Erlebens und Ver- 1880er-Jahren in Berührung. Als wissenschaftlich in- haltens und steht damit im Zentrum jeder Psychothe- teressierter und wissenschaftlich tätiger Arzt leiste- rapie. Damit wandelt sich auch die Aufgabe der Diag- te er mit der Begründung der Psychoanalyse Bahn- nostik krankheitswertiger Zustandsbilder: Psychothe- brechendes auf dem Gebiet der Psychotherapie. Die rapeutische Diagnostik steht als eigenständige und Entstehung der Psychoanalyse war aber nur zum Teil intersubjektiv begründete verstehende Beziehungs- auf die wissenschaftliche Befassung mit Psychothera- diagnostik neben der psychiatrisch-erklärenden und pie innerhalb der Medizin zurückzuführen. Von grö- psychologisch-experimentell messenden Diagnostik ßerem Gewicht war vielmehr der Umstand, dass sich als jeweils nosologisch-kategoriale Formen der Krank- zunächst in Wien und bald darauf international ein heitsfeststellung (Hochgerner 2020a, 2020b; Höfner Netzwerk von wissenschaftlich arbeitenden Psycho- und Hochgerner 2020). Sie ermöglicht grundsätzlich analytikerInnen etablierte, das außerhalb der univer- und aktuell im psychotherapeutischen Prozess Aus- sitär verankerten Disziplinen wie Medizin, Psycholo- kunft über mögliche Entstehungszusammenhänge gie oder Pädagogik existierte. und Formen der Aufrechterhaltung leidvoller Symp- Für die Etablierung und Verbreitung der Psycho- tomatik und setzt diese in Relation zur Persönlichkeit. analyse war es zwar nicht unerheblich, dass diesem Diagnostik wird in dieser Weise, begleitend zum psychoanalytischen Netzwerk auch MedizinerInnen therapeutischen Prozess, integraler, kontinuierlicher sowie PsychologInnen, PädagogInnen, TheologInnen Bestandteil der Psychotherapie und ist in der Indi- und VertreterInnen verschiedener anderer Geistes- kationsstellung zur Psychotherapie als prozessuale wissenschaften angehörten, die zum Teil in die aka- „Theragnostik“ ein qualitativ wesentlich vertiefender demischen Strukturen dieser Disziplinen (etwa als Zugang zum psychischen Erleben und Verhalten. Di- ProfessorInnen oder AssistentInnen) eingebunden agnostik geht damit weit über die Erfassung und Zu- waren. Die Orte, an denen psychoanalytisch-psycho- schreibung von Krankheitsbildern, wie sie in gängigen therapeutische Praxis geleistet wurde, und die Institu- psychiatrischen oder klinisch-psychologischen Syste- tionen, in denen die wissenschaftliche Diskurse über matiken gelistet und beschrieben werden, hinaus: Sie psychoanalytische Theorien und Konzepte geführt ist handlungsleitend in der Entwicklung und Ziel- wurden, lagen zumeist aber außerhalb universitärer findung hilfreicher therapeutischer Haltungen und Strukturen und konnten den bestehenden Disziplinen individualisierter Vorgangsweisen, fördert wesentlich auch gar nicht eindeutig zugeordnet werden, zumal die Motivation zur Mitarbeit von PatientInnen und ist die Entstehung und Verbreitung der Psychoanalyse somit für die Arbeitsbündnisse innerhalb der jeweils von maßgeblichen VertreterInnen der seinerzeit eta- spezifischen therapeutischen Beziehung wesentlich. blierten Disziplinen kritisch gesehen und zum Teil Deshalb beginnen sich psychotherapeutische Pro- sogar bekämpft wurden. Historischen Analysen ist zesse nicht erst nach der psychotherapeutischen Di- zu entnehmen, wie vielschichtig und spannungsreich agnostik zu entwickeln, sondern bereits mit dem sich von Beginn an das Verhältnis zwischen der Psy- Erstkontakt und dem Einsetzen psychotherapeutisch- choanalyse und jenen Disziplinen dargestellt hat, diagnostischer Aktivitäten, denen im oben erwähnten die heute zu den wichtigsten psychotherapeutischen Sinn ein „theragnostischer“ Anspruch inhärent ist. Nachbardisziplinen zählen (siehe etwa zum Verhält- nis zur Medizin Böker 2006; Hierdeis und Scherer Psychotherapie und ihre Beziehung zu 2018; zur Psychologie Elliger 1986; Nitzschke 1989; Nachbardisziplinen zur akademischen Pädagogik Wininger 2011; oder zu Philosophie, Theologie und Soziologie Cremerius 1981; Wissenschaftliche Disziplinen haben ihre Wurzeln zu- Scheidt 1986). meist in anderen Disziplinen. Prozesse der Herauslö- Auch das Wirken vieler anderer – aus unterschied- sung aus diesen Disziplinen und Prozesse der Diffe- lichen Disziplinen kommenden – historischer Persön- renzierung von diesen Disziplinen führen dazu, dass lichkeiten, die der Entwicklung der Psychotherapie eigenständige Disziplinen entstehen. wesentliche Impulse gaben, kann man ablesen, dass Die Wurzeln der Psychotherapie sind in diesem Psychotherapie nicht als Teilgebiet einer Disziplin, Sinn in verschiedenen Disziplinen, in wesentlichen K Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit die bereits seit längerer Zeit besteht, begriffen werden stitutionalisierte Verankerung überall dort, wo die ge- kann: setzliche Regelung der psychotherapeutischen Aus- Alfred Adler war Arzt und bis 1911 Mitglied in und Weiterbildung sicherstellt, dass das plurale Ver- Freuds multidisziplinär zusammengesetzten Mitt- hältnis der Psychotherapie auf hohem Wissenschafts- woch-Gesellschaft, ehe er sich von Freud trennte und Ausbildungsniveau zu anderen Disziplinen be- und die Individualpsychologie begründete, die nicht fördert und weiterentwickelt wird. Dies verhindert zuletzt dadurch weite Verbreitung fand, dass sie im Begehrlichkeiten, durch Umformung und letztlich „Roten Wien“ in pädagogischen Institutionen gelehrt Zerstörung der Psychotherapie als umfassende und und auch mit therapeutischem Anspruch praktiziert eigenständige Disziplin und Wissenschaft einzelne wurde. konstituierende Merkmale aus dem zentralen Wirk- Jakob L. Moreno, der Philosophie und Medizin zusammenhang zu reißen und bloß als Teildisziplin studiert hatte, entfaltete in den 1920er-Jahren den anderer Gesundheitsberufe auszuweisen. Die viel- interaktionell-begegnungsorientierten, sozialwissen- schichtige und zunehmende forschungs-, heilungs- schaftlich begründeten Ansatz der humanistischen und gesellschaftliche Relevanz der Psychotherapie Psychotherapie, der Psychotherapie in Gruppen eta- wäre dann durch die Beförderung von Eindimensio- blierte und wesentlichen Einfluss auf die amerikani- nalität minimiert. sche Sozialpsychologie, Pädagogik und Beratungskul- tur („Counseling“) hatte. Conclusion Victor Frankl entwickelte nach seinen Studien der Medizin und Philosophie ab den 1920er-Jahren seinen Aus der Beschäftigung mit der aktuellen Literatur aus Logotherapeutischen Therapieansatz, der als „3. Wie- der Psychotherapieforschung (Lambert 2013) können ner Schule der Tiefenpsychologie“ gilt. folgende Thesen abgeleitet werden: Carl Rogers begründete in den 1940er-Jahren in den USA den personzentrierten Ansatz und damit ei- Psychotherapie – Unverzichtbar für die Behandlung ne zentrale Schule der humanistischen Psychothera- psychischer Erkrankungen pie, die sich unter anderem auch als kritische Ge- genposition zur damaligen akademischen Psychologie Psychotherapie ist evidenzbasiert und effizient verstand. ! Psychotherapie hat eine hohe und nachhaltige Be- Albert Ellis und Aaron Beck entwickelten als Re- handlungswirksamkeit, präsentanten der Psychologie und Psychiatrie von ! ist durch die empirische Psychotherapieforschung den 1950er-Jahren an den Ansatz der Rational-Emoti- für alle vier in Österreich anerkannten Ausrichtun- ven Psychotherapie und trugen damit wesentlich zur gen (Methodencluster) wirksam ausgewiesen und „kognitiven Wende“ in der Verhaltenstherapie bei. ! ihr Erfolg ist einer psychopharmakologischen Be- Virginia Satyr entwickelte ab den 1950er-Jahren als handlung vergleichbar. Sozialarbeiterin in der Familienhilfe mit der Begrün- ! Durch die langfristige Behandlungswirkung folgt ei- dung der „Familientherapie“ spezielle Formen des Zu- ne gangs zur Mehrpersonenpsychotherapie in sozialen ! beachtenswerte Kosteneffizienz, die eine Netzwerken. ! nachhaltige Senkung der Gesundheitskosten be- Dass PsychotherapeutInnen seit den Anfängen deutet. der modernen Psychotherapie mit Medizin und Psy- ! PsychotherapeutInnen entwickeln für jede/n Pati- chologie, darüber hinaus aber auch mit weiteren entIn einen notwendigen und eigenen Zugang und Disziplinen der Geistes-, Human- und Sozialwissen- individuell hilfreichen Therapieplan. schaften samt den damit verbundenen Praxisfeldern vertraut waren, hatte zur Folge, dass fachlich breit Kernbereiche der Psychotherapie gefächerte Expertisen in das Feld der Psychotherapie Im Fokus der Psychotherapie steht die Subjektivität eingebracht wurden. Psychotherapie entspricht da- des individuellen Erlebens von PatientInnen, in de- mit der bio-psycho-sozialen Realität des Individuums nen die psychischen und psychosomatischen Sympto- und dem mehrperspektivischen Krankheitsbegriff der me, Krankheits- und Leidenszustände von PatientIn- WHO besser als vorrangig naturwissenschaftlich re- nen gründen. spektive einheitswissenschaftlich orientierte Zugänge zum leidenden Menschen. Umgekehrt flossen psy- Psychotherapie chotherapeutische Erkenntnisse auch in die Diskurse ! Die Psychotherapie greift das subjektive Leiden anderer Disziplinen (siehe oben) und in die damit und/oder die Störung der/s PatientIn auf und bear- verbundenen Praxisfelder zurück, einschließlich jener beitet umfassend und prozessorientiert alle Bedeu- Felder, die für Sozialkritik und Sozialreformen von tungen und Aspekte der jeweiligen Problematik und großer Bedeutung sind. ist ressourcenorientiert. Diese Anregungs- und Austauschprozesse gewin- ! Psychotherapie beruht auf einer klaren theoreti- nen mit der Etablierung der Psychotherapie als Dis- schen Verankerung und einer Haltung (einem Men- ziplin an Intensität und Qualität und finden ihre in- Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . . K
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