Wilfried Datler, Markus Hochgerner, Christian Korunka, Henriette Löffler-Stastka & Gerhard Pawlowsky

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Disziplin, Profession und evidenzbasierte
Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im
Gesundheitssystem. Eine Bilanz

Wilfried Datler, Markus Hochgerner,
Christian Korunka, Henriette Löffler-
Stastka & Gerhard Pawlowsky

Psychotherapie Forum

ISSN 0943-1950

Psychotherapie Forum
DOI 10.1007/s00729-021-00167-4

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übersichtsarbeit

Psychotherapie Forum
https://doi.org/10.1007/s00729-021-00167-4

Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur
Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem. Eine
Bilanz
Wilfried Datler · Markus Hochgerner · Christian Korunka · Henriette Löffler-Stastka · Gerhard Pawlowsky

Angenommen: 27. Januar 2021
© Der/die Autor(en) 2021

Zusammenfassung 30 Jahre nach der Verabschie-                      Discipline, profession and evidence-based
dung des österreichischen Psychotherapiegesetzes                   practice: The position of psychotherapy in the
wird die Besonderheit der Psychotherapie im Gesund-                health care system. A balance
heitssystem mit Bezug auf nationale Gegebenheiten
und international vorliegende Forschungsergebnis-                  Summary 30 years after the implementation of the
se dargestellt. Dabei werden zentrale Qualitäts- und               Austrian Psychotherapy Act, the distinctions of psy-
Unterscheidungsmerkmale der Psychotherapie im                      chotherapy in the health system is presented with ref-
Verhältnis zur Klinischen Psychologie und zu wei-                  erence to national circumstances and international re-
teren Gesundheitsberufen unter Miteinbeziehung                     search results. In the following, essential quality and
von evidenzbasierter Forschungsliteratur vorgestellt.              distinguishing features of psychotherapy in relation to
Es wird deutlich gemacht, dass Psychotherapie das                  psychology/clinical psychology and other health pro-
bedeutsamste und weitreichendste Versorgungsan-                    fessions are presented on the basis of evidence-based
gebot zur interaktionellen Behandlung psychischer                  research literature. Psychotherapy is the most impor-
Erkrankungen darstellt. Zu den zentralen Merkma-                   tant and provides the most extensive range of services
len der Psychotherapie zählen die umfassenden, evi-                for the interactional treatment of mental illnesses. The
denzbasierten sowie wissenschaftstheoretisch und                   central features of psychotherapy include the compre-
methodisch in vier Clustern verankerten Konzepte                   hensive, evidence-based, and scientific theoretically
zur Erklärung, Diagnose und individuellen, prozess-                and methodologically anchored concepts for explana-
orientierten Behandlung von psychischen Erkran-                    tion, diagnosis and individual, process-oriented treat-
kungen sowie die im Vergleich zu ähnlichen Berufen                 ment of mental illnesses, as well as the significantly
deutlich höhere Qualität der Ausbildung.                           higher quality of training compared to similar occu-
                                                                   pations.
Schlüsselwörter Psychotherapie · Klinische
Psychologie · Psychiatrie und Psychotherapeutische                 Keywords Psychotherapy · Clinical Psychology ·
Medizin · Ausbildung · Kompetenz                                   Psychiatry and Psychotherapeutic Medicine ·
                                                                   Training · Competence

                                                                   Vorbemerkung

                                                                   Vor 30 Jahren wurde im österreichischen Parlament
Die Nennung der AutorInnen erfolgt in alphabetischer
                                                                   nach jahrzehntelangem Ringen das Psychotherapie-
Reihenfolge. Als korrespondierende Autorin fungiert
Henriette Löffler-Stastka.                                         gesetz verabschiedet (Kierein et al. 1991; Wißgott
                                                                   2009). Obgleich wesentliche Beiträge zur Entwick-
H. Löffler-Stastka (!)                                             lung der modernen Psychotherapie bereits im aus-
Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, und
Postgraduate Unit | Teaching Center, Medizinische
                                                                   gehenden 19. Jahrhundert in Wien erarbeitet worden
Universität Wien, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien,               waren, bedurfte es damit etwa eines Jahrhunderts,
Österreich                                                         ehe Psychotherapie als „eigenständiges Heilverfah-
henriette.loeffler-stastka@meduniwien.ac.at                        ren im Gesundheitsbereich für die Diagnostik und

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Behandlung von psychischen, psychosozialen oder                        Die angeführten Aspekte stehen notwendigerweise
auch psychosomatisch bedingten Leidenszuständen                     in einem engen Zusammenhang mit nationalen Gege-
und krankheitswertigen Störungen“ gesetzliche Aner-                 benheiten, sind zugleich aber auch in internationale
kennung fand (Bundesministerium 2019, S. 44). Psy-                  Diskurse (vgl. European Association for Psychothera-
chotherapeut oder Psychotherapeutin durften sich                    py 2013) eingebettet, die in den letzten Jahrzehnten
ab dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 1991 nur                 ebenfalls an Dynamik zugenommen haben. Es ist da-
mehr Personen nennen, die in die „Psychotherapeu-                   her 30 Jahre nach der Beschlussfassung über das öster-
tenliste“ eingetragen waren. Dafür ist seit dem Aus-                reichische Psychotherapiegesetz angebracht, auf eini-
laufen von Übergangsbestimmungen der Abschluss                      ge der oben genannten Aspekte näher einzugehen.
des psychotherapeutischen Propädeutikums und des
psychotherapeutische Fachspezifikums im Sinne des                   Zur evidenzbasierten Wirksamkeit
Psychotherapiegesetzes nötig.                                       psychotherapeutischer Behandlungen
    Die Umsetzung des Gesetzes, das 1991 in Kraft
trat, zog zahlreiche Entwicklungen nach sich. Diese                 Psychotherapie zeichnet sich durch ausgesprochen
betrafen etwa die Gestaltung der Aus- und Weiter-                   hohe Behandlungswirksamkeit aus (mittlere Effekt-
bildung, die Führung der Liste der eingetragenen                    stärken in den großen Metaanalysen zwischen 0,5
PsychotherapeutInnen, die Einrichtung des Psycho-                   und 0,7; z. B. Cooper et al. 2013; Cuijpers et al. 2020).
therapiebeirats, den Ausbau der psychotherapeuti-                   Im Vergleich ist Psychotherapie damit einer phar-
schen Versorgung Österreichs oder die wissenschaft-                 makologischen Behandlung zumindest ebenbürtig, ei-
liche Befassung mit Psychotherapie. Diskussionen                    nigen Metaanalysen zufolge, zum Teil sogar deutlich,
um die öffentliche Finanzierung der Psychotherapie                  überlegen (z. B. Cooper et al. 2013). Eine Kombination
intensivierten überdies Forderungen nach weiteren                   aus beiden Behandlungskonzepten ist oft besonders
wissenschaftlichen Nachweisen, welche die Wirksam-                  wirksam (Cuijpers et al. 2020). Die hohe Wirksamkeit
keit des Einsatzes psychotherapeutischer Methoden                   lässt sich für unterschiedliche Störungsbilder und
betreffen.                                                          für unterschiedliche Therapieverfahren zeigen (z. B.
    Parallel dazu kam es auch in zwei Nachbardiszipli-              Lambert 2013).
nen zu einer verstärkten Befassung mit Psychothera-                    Dabei zeichnet sich Psychotherapie besonders
pie und verwandten Tätigkeitsbereichen: Im Bereich                  durch eine langfristige und nachhaltige Behand-
der Psychologie wurden im Sinne des Psychologen-                    lungswirkung aus (Zimmermann et al. 2015), wo-
gesetzes postgraduale Ausbildungsgänge eingerichtet,                raus eine beachtenswerte Kosteneffizienz resultiert
in denen AbsolventInnen des Diplom- oder Master-                    (De Maat et al. 2013). Dies gilt auch für hochfre-
studiums der Psychologie zu Klinischen PsychologIn-                 quente, über einen längeren Zeitraum durchgeführte
nen qualifiziert werden (vgl. Psychologengesetz 2013).              Behandlungen. So konnte etwa in einer von der Me-
Und im Bereich der Medizin fanden drei Annäherun-                   dizinischen Universität Wien 2014 vorgelegten Meta-
gen an Psychotherapie statt: Psychotherapie erhielt                 Analyse, in welche die Auswertung von insgesamt
im grundständigen Studium der Medizin einen größe-                  7000 Behandlungen aus 13 Katamnesestudien, 9 qua-
ren Stellenwert (Firbas 2001). Über die Österreichische             si-experimentellen Studien und 4 randomisiert-kon-
Ärztekammer (ÖÄK) werden drei Weiterbildungsgän-                    trollierten Studien eingingen, gezeigt werden, dass
ge für ÄrztInnen angeboten, die mit der Verleihung                  hochfrequente Psychoanalyse ein wirksames Psycho-
der PSY-Diplome für psychosoziale Medizin (PSY1),                   therapieverfahren darstellt, das bei einem Großteil
psychosomatische Medizin (PSY2) und psychothera-                    der PatientInnen zu signifikanten und anhaltenden
peutische Medizin (PSY3) abschließen (ÖÄK, ÖGPPM                    Verbesserungen des Gesundheits- und Krankheitszu-
o.J.). Und der Facharzttitel „Psychiatrie“ wurde auf                standes führt. Belege aus randomisiert-kontrollierten
„Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin“ er-                  Therapiestudien zeigen in diesem Zusammenhang,
weitert und zog eine veränderte Ausbildungsordnung                  dass die Effekte der psychotherapeutischen Behand-
(ÖÄK 2018) nach sich.                                               lung (anders als in den Kontrollgruppen) auch nach
    Angesichts dieser Entwicklungen ist es angebracht,              Ende der Behandlung weiter zunehmen (vgl. Zimmer-
sich der Psychotherapie im Sinne des österreichischen               mann et al. 2015; De Maat et al. 2009).
Psychotherapiegesetzes zuzuwenden und im Wissen                        Aus differenzierten Meta-Analysen der verfügbaren
darum Bilanz zu ziehen, dass eine Neufassung des                    Kosten-Effektivitäts-Studien (De Maat et al. 2007,
Psychotherapiegesetzes zur Diskussion steht (vgl.                   2013) geht hervor, dass Psychotherapie zu einer nach-
Datler et al. 2021). Unter Einbeziehung internationa-               haltigen Senkung der Gesundheitskosten führt. Die-
ler Forschungsbefunde werden punktuelle Vergleiche                  se Reduktion entsteht durch die verminderte Inan-
mit ausgewählten Aspekten der Klinischen Psycholo-                  spruchnahme medizinischer Leistungen und einer
gie und der Psychotherapeutischen Medizin gezogen,                  geringeren Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen (vgl.
zu welcher die FachärztInnenausbildung (Brittlebank                 Seitz et al. 2019). Die Kosten für die psychothera-
et al. 2016; Union Europeenne des Medecins Specia-                  peutischen Behandlungen amortisieren sich nach
listes UEMS 2017/18) qualifiziert.                                  ca. 3 Jahren.

  Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .     K
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    Die neuere Wirkfaktorenforschung hat gezeigt, dass                alle vier Cluster nachgewiesen: Unter Bezugnahme
allgemeine Wirkfaktoren, wie die Person der Thera-                    auf die meisten psychiatrischen Erkrankungen refe-
peutIn und die therapeutische Beziehung (vgl. Nor-                    rieren Leichsenring et al. (2015) und Shedler (2010)
cross und Lambert 2019; Norcross und Wampold                          Belege für die Wirksamkeit psychoanalytisch-psy-
2019), eine besonders große und hilfreiche Bedeu-                     chodynamischer Psychotherapien (Cluster 1/PPT).
tung für den Therapieerfolg haben. Diese allgemei-                    Die theoretische Basis, auf der PPT seit den An-
nen Wirkfaktoren haben einen stärkeren Einfluss auf                   fängen bei Freud basiert, ist von umfassender Li-
den Therapieerfolg als spezifische Interventionstech-                 teratur gestützt (Westen 1998; Westen et al. 2004).
niken. Dies korrespondiert mit dem Umstand, dass                      Für die verhaltenstherapeutischen Methoden (Clus-
Psychotherapie seit jeher einen besonderen Schwer-                    ter 2/VT) fassen Cuijpers et al. (2008a, 2008b) Out-
punkt auf die Entwicklung dieser handlungsleitenden                   come Studien mit Bezug auf die häufigsten psychi-
Wirkfaktoren sowohl in der psychotherapeutischen                      atrischen Störungsbilder in Metaanalysen zusam-
Theorie als auch in der Ausbildung und in der thera-                  men. Nach Cain (2016) sowie Wampold und Imel
peutischen Praxis legt. Sie ist daher in ihrer Wirksam-               (2015) wurden ähnliche Ergebnisse wiederholt und
keit Zugängen weit überlegen, die ihren Schwerpunkt                   umfassend für den Bereich der Humanistischen
vorrangig und handlungsleitend auf spezifische In-                    Therapieverfahren (Cluster 3/HPT) nachgewiesen.
terventionstechniken legen, die im Anschluss an eine                  Lambert (2013) referiert ähnliche Ergebnisse für
vornehmlich ICD-basierte Diagnostik zum Einsatz                       systemische Therapiemethoden (Cluster 4/SPT).
kommen (wie dies beispielsweise in der klinischen                 !   Nachhaltigkeit: Leichsenring und Rabung (2011)
Psychologie der Fall ist).                                            haben bezüglich Cluster 1 (PPT) gezeigt, dass Psy-
    In der empirischen Psychotherapieforschung wer-                   chotherapie während und nach der Therapie lang-
den seit Jahrzehnten umfangreiche Studien durch-                      fristig wirkt, insbesondere in Hinblick auf Persön-
geführt, die eine nachhaltige Wirksamkeit der psy-                    lichkeitsveränderungen über das Therapieende hi-
chotherapeutischen Methoden bestätigt, die den vier                   naus (siehe dazu auch Fonagy und Kächele 2009;
psychotherapeutischen Grundströmungen respekti-                       Fonagy et al. 2015; Leuzinger-Bohleber et al. 2003,
ve Clustern zugeordnet werden können. Diesen Clus-                    2019; Zimmermann et al. 2015).
tern sind die psychoanalytisch/psychodynamischen                  !   Effektstärken: Manchen Untersuchungen zufol-
(PPT), verhaltenstheoretisch orientierten (VT), hu-                   ge erweisen sich psychotherapeutische Verfahren
manistischen (HPT) und systemischen (SPT) psycho-                     der Cluster 1 (PPT), 2 (VT) und 3 (HPT) als ähn-
therapeutischen Verfahren zuzurechnen, von denen                      lich wirksam wie andere Therapien (Steinert et al.
in Summe 23 in Österreich Anerkennung gefunden                        2017). Betrachtet man alleine die Effektstärken der
haben.                                                                therapeutischen Technik, ist der PPT-Prototyp wirk-
    Die relevanten empirischen Studien umfassen                       samer als der VT-Prototyp (Ablon und Jones 1998,
realitätsnahe Feldstudien mit großen Fallzahlen                       2005; Jones 2000; Zimmermann et al. 2015), der
(z. B. Stiles et al. 2008 für kognitive, humanistische und            HPT-Prototyp gleich effektiv (Steinert et al. 2017).
psychodynamische Behandlungsansätze), aber auch                   !   Naturalistische Studien: Stiles et al. (2008) ver-
zahlreiche Studien nach dem sogenannten „Gold                         gleicht psychotherapeutische Verfahren der Clus-
Standard“ (experimentelle Kontrollgruppendesigns,                     ter 1 (PPT), 2 (VT) und 3 (HPT) im Versorgungs-
Meta-Analysen z. B. Cuijpers et al. 2008a, 2008b, 2020).              kontext und beschreibt Gleichwertigkeit bezüglich
Die vier psychotherapeutischen Grundströmungen                        der Versorgungssituation. In der praxisorientierten
(Cluster) weisen dabei ähnlich hohe Effektstärken                     Forschung und den naturalistischen Studien (De
auf (Lambert 2013).                                                   Maat et al. 2007; Leichsenring 2004; Riess 2018)
    Zusätzlich zu der im „Handbook of Psychotherapy                   wird durchgängig ein hoher Anteil der Therapeu-
and Behavior Change“ (Lambert 2013) sehr umfas-                       tInnenvariable an der Outcomevarianz beschrieben
send dargestellten und nach den Wirkfaktoren ge-                      (17 % vs. 5 % in randomisierten kontrollierten Un-
gliederten Listung der empirischen Psychotherapie-                    tersuchungen [RCTs]). Auch tragen naturalistische
forschungsstudien aller therapeutischen Traditio-                     empirische Studien (z. B. auf Cluster 1 [PPT] oder
nen (PatientInnenfaktoren, TherapeutInnenvariable,                    3 [HPT] bezogen) zu einem besseren Verständnis
Therapeutische Beziehung, allgemeine/unspezifische                    für psychische Prozesse und ihre Entwicklung bei
Wirkfaktoren, Technik) werden im Folgenden For-                       (Blatt und Shichman 1983; Blatt 1995; Fonagy und
schungsergebnisse referiert, die fünf bedeutsame                      Target 1997; Löffler-Stastka et al. 2008, 2010, 2018;
und häufig thematisierte Dimensionen betreffen,                       Luyten und Blatt 2013; zu naturalistischen versus
wobei vor allem Ergebnisse aus empirischen Untersu-                   RCT-Studien siehe Fischer 2011, S. 121 ff.).
chungen mit berücksichtigt werden, die in Österreich              !   Kosteneffizienz: De Maat et al. (2007, 2013) fassen
durchgeführt oder unter Beteiligung österreichischer                  Kosteneffizienzstudien zusammen und argumen-
Forschungsgruppen realisiert wurden.                                  tieren v. a. mit der erwiesenen Nachhaltigkeit der
!   Outcome: In zahlreichen Outcome-Studien wurde                     psychotherapeutischen Behandlungen. Vergleiche
    die Wirksamkeit von Psychotherapie in Hinblick auf                mit pharmakologischen Behandlungen (Cuijpers
                                                                      et al. 2020) weisen der Psychotherapie eine deutlich

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  höhere Kosteneffizienz aus. Untersuchungen der                    chende Ausgangsbasis für die psychotherapeutische
  Sekundärkosten (Seitz et al. 2019) belegen ebenfalls              Behandlung von PatientInnen mit z. B. mangelnder
  die Vorteile von Psychotherapie.                                  oder/und schwankender Adhärenz/Compliance, mit
                                                                    aggressiv-manipulativer Tendenz, in oft chronisch kri-
Seit mehr als drei Jahrzehnten werden empirische Stu-               senhafter selbst- oder fremdschädigender Einengung,
dien diskutiert, denen zufolge unterschiedliche psy-                mit Antriebslosigkeit oder misstrauischer Grundhal-
chotherapeutische Ansätze eine ähnliche Wirksam-                    tung. Bei einer Vielzahl von Krankheitsbildern, welche
keit haben (Luborsky et al. 1975; Luborsky 1995). Eine              die anhaltende Aktivierung von Ressourcen und moti-
mögliche Erklärung dieser Untersuchungsergebnisse                   vierte Mitarbeit erfordert, kann dies von PatientInnen
nimmt darauf Bezug, dass die meisten Effekte psy-                   im Rahmen der üblichen psychologischen Gesprächs-
chotherapeutischer Behandlungen durch allgemeine                    führung nicht genügend und nicht andauernd genug
(unspezifische) Faktoren und nicht durch bestimm-                   hergestellt werden.
te Techniken (Cuijpers 1998) erzielt werden. Zu die-                   Vielmehr bedarf es hier neben der atheoretisch
sen Faktoren gehören verschiedene Aspekte der the-                  beschreibenden ICD-Diagnostik einer erweiternden
rapeutischen Beziehung zwischen TherapeutIn und                     und theoriegeleitet-verstehenden psychotherapeuti-
PatientIn (Lambert 2004; Norcross und Lambert 2019;                 schen Diagnostik (vgl. Hochgerner 2020a, 2020b),
Norcross und Wampold 2019).                                         welche die notwendigen Erklärungsmodelle zur Ent-
   Über die Bedeutung der therapeutischen Bezie-                    stehung und Aufrechterhaltung einer Erkrankung
hung für den Behandlungsverlauf besteht mittlerweile                als handlungsleitende Ausgangsbasis für klinisch-
ein therapieschulen-übergreifender Konsens (Krause                  diagnostisch begründete Interaktions- und Vorgangs-
1997; Margraf und Brengelmann 1992; Orlinsky und                    weisen bietet. Psychotherapie schließt Kurzberatung,
Howard 1986; Orlinsky et al. 1994; Rudolf 1991), wobei              wie sie in Gestalt von psychologischer Behandlung
zwischen Konzepten zur Erklärung der Wirksamkeit                    angeboten wird, mit ein, geht jedoch in ihrer Kern-
von Psychotherapie unterschieden wird, in denen vor                 kompetenz über Akutberatung und modularisierte
allem unspezifische oder aber spezifische Faktoren                  Behandlungsschritte zur Erreichung eng umrissener
als entscheidend für den Therapieerfolg ins Treffen                 Symptommilderung hinaus. Sie bietet hilfreiche, in
geführt werden (Butler und Strupp 1986). In den Kon-                jedem Einzelfall und jeder Behandlungsphase indivi-
zepten, in denen der Fokus auf unspezifische Ansätze                duell an die PatientIn angepasste Behandlungskon-
gelegt werden, ergibt sich die Bedeutsamkeit der Be-                zepte.
ziehung aus dem durch die Behandlungskonzeption                        Ebensolche präzise angepassten Behandlungskon-
definierten Rahmen und beinhaltet Variablen wie die                 zepte benötigen für die genaue Indikationsstellung,
Motivation und Fähigkeit der PatientIn, in diesem                   für Prognose- und Risikoabschätzung (Leitner et al.
Rahmen zweckvoll mitzuarbeiten, die Übereinstim-                    2014) eine umfassende Diagnostik und entsprechen-
mung von PatientIn und TherapeutIn hinsichtlich der                 de diagnostische Kompetenzen.
Ziele und Aufgaben, oder empathisches Verständnis
und Involviertheit des TherapeutIn. Diese Variablen                 Die hohe Qualität der psychotherapeutischen
stellen die Basis dar, auf der die jeweils spezifischen             Ausbildung
technischen Interventionen wirken. In diesem Kon-
text wird die „gute“ Beziehung als notwendige jedoch                Die psychotherapeutische Ausbildung, wie sie in Ös-
nicht hinreichende therapeutische Prozessvariable                   terreich auf der Grundlage des Psychotherapiegeset-
definiert.                                                          zes seit 1991 durchgeführt wird, hat im internationa-
   Zunehmend hat sich aber die Sichtweise durchge-                  len Vergleich eine besonders hohe Qualität, wie dies
setzt, dass sich – je nach Behandlungsansatz, Phase                 auch in der aktuellen internationalen „Spristad“-Stu-
im Therapieverlauf, TherapeutInneneigenschaften                     die bestätigt wird (Löffler-Stastka et al. 2019; Orlinsky
(Beutler et al. 2004) und krankheitsbedingten Patien-               et al. 2015).
tInnenmerkmalen – z. T. ganz unterschiedliche Qua-                     Zu den zentralen Qualitätsmerkmalen dieser ge-
litäten therapeutischer Beziehungen als günstig für                 setzlich geregelten und qualitätsgesicherten Ausbildung
Verlauf und Ergebnis erweisen (Biermann-Ratjen et al.               zählen
1995). Dieses erweiterte Konzept der Wirksamkeit der                !   der Umfang der Ausbildung im Ausmaß von min-
therapeutischen Beziehung erfordert eine stärker                        destens 250 bis 330 ECTS, abhängig vom methoden-
störungs- oder diagnosespezifische Erforschung der                      spezifischen Curriculum (BMG 2014; Hochgerner
Therapiebeziehung, welche die Beziehungsregeln ver-                     2020c),
schiedener PatientInnengruppen berücksichtigt. Dies                 !   der Aufbau auf einem Quellenberuf, der bei 70 %
wird in allen großen Therapieschulen, am stärksten in                   der eingetragenen PsychotherapeutInnen psycho-
den interpersonellen Theorien und manchen gegen-                        sozial ausgerichtet ist (Pawlowsky 2018); zugleich
wärtigen psychoanalytischen Konzepten realisiert.                       sind 73 % der PsychotherapeutInnen akademisch
   Eine ausschließlich ICD-basierte Behandlung (Ber-                    ausgebildet (Pawlowsky 2020, 2021),
kin und Rief 2012) mit interaktionellem Schwerpunkt
bietet daher die notwendige, jedoch nicht hinrei-

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übersichtsarbeit

!   die klare wissenschaftstheoretische und handlungs-               Ausbildung aufgenommen wurden, schließen die
    leitende Verankerung in einem der vier psychothe-                Psychotherapieausbildung positiv ab (Pawlowsky
    rapeutischen Cluster,                                            2018).
!   die Ausbildung in mehreren Ausbildungsteilen
    (Theorieseminare und praktische Ausbildung im                 Die für selbstselektive Entscheidungsprozesse erfor-
    Propädeutikum und Fachspezifikum) mit einer                   derliche reflexive Kompetenz ist zudem ein zentraler
    durchschnittlichen berufsbegleitenden Ausbildungs-            psychotherapeutischer Wirkfaktor (die TherapeutIn-
    dauer von aktuell 8,9 Jahren (Pawlowsky 2018),                nenvariable erklärt 15–20 % der Ergebnisvarianz), me-
!   und die Orientierung an den vier gleichwertigen               diiert die Interventionen (Taubner et al. 2015) und
    Elementen Theorie, Entwicklung therapeutischer                ist durch Selbsterfahrung und Supervision beeinfluss-
    Identität (Selbsterfahrung als reflexive und interak-         bar (Nissen-Lie et al. 2013; Orlinsky et al. 2015). Sie
    tionelle Kompetenz), Supervision und eigenständi-             ist aber auch durch Arbeits- und Umgebungsbedin-
    ge Arbeit.                                                    gungen veränderbar (Steinmair et al. 2020). Diese
                                                                  reflexive Kompetenz steht im Qualifikationsprofil und
Die mehrfache und qualitätssichernde Selektion der                den damit verknüpften Lernzielen in der Psycho-
psychotherapeutischen     AusbildungskandidatInnen                therapieaus- und Weiterbildung an prioritärer Stelle
über alle Ausbildungsschritte hinweg unterscheidet                (European Association for Psychotherapy 2013). Auch
sich weiters von den beiden anderen großen Zugän-                 die psychotherapeutische Medizin (als ärztliche Form
gen zur Behandlung psychischer Erkrankungen (der                  psychotherapeutischer Kompetenz) hat im Vergleich
ärztlichen Weiterbildung im Fach Psychiatrie und                  dazu andere (z. T. und je nach Setting überlappen-
psychotherapeutische Medizin einerseits und der                   de) Aufgaben und braucht dementsprechend andere
Weiterbildung in klinischer Psychologie andererseits):            Ausbildungswege.
!   Auf Grund der Zäsur zwischen dem Propädeuti-                     Die Ausbildungsforschung in der Psychotherapie
    kum und dem Fachspezifikum, der Aufnahmever-                  geht seit längerem der Frage nach, welche empirisch
    fahren in die fachspezifische Ausbildung, dem ho-             gestützten Faktoren die Entwicklung von Psychothera-
    hen Ausmaß an vorgeschriebener Selbsterfahrung                peutInnen fördern (American Psychological Associati-
    und der engmaschigen, sich über mehrere Jahre                 on 2006; Norcross 2002; Orlinsky et al. 2015). Wie die
    erstreckenden Verschränkung von psychotherapeu-               Ausbildung inhaltlich und didaktisch gestaltet wer-
    tischer Praxis und Supervision kommt es zu um-                den kann und welche Kompetenzen sich abbilden, be-
    fangreichen und mehrgliedrigen selbstselektiven               schäftigten ForscherInnen in den letzten Jahren ver-
    Entscheidungsprozessen.                                       stärkt (z. B. Duncan 2010; Kohl et al. 2009; Lorentzen
!   Diese Entscheidungsprozesse kommen bereits früh               et al. 2011; Orlinsky und Rønnestad 2005; Strauß und
    zum Tragen: Aktuell vorliegenden Zahlen zufolge               Kohl 2009; Sudak und Goldberg 2012).
    beenden ca. 25 % der Personen, die das Propädeu-                 Wie sekundäre Sozialisationsfaktoren die Ent-
    tikum begonnen haben, ihre Ausbildung nach dem                wicklung von Psychotherapeuten beeinflussen, ist
    ersten und allgemeinen Ausbildungsteil, dem Pro-              hingegen wenig untersucht. In vielen Ländern – un-
    pädeutikum, ohne mit dem Fachspezifikum fortzu-               ter anderem auch in Deutschland und der Schweiz –
    setzen (Pawlowsky 2018).                                      absolvieren Psychotherapie-AusbildungskandidatIn-
!   Personen, die für eine fachspezifische Ausbildung in          nen vor der Therapieausbildung eine umfangreiche
    einer bestimmten Methode nicht geeignet erschei-              berufliche Ausbildung, entweder als PsychologInnen
    nen, werden nach komplexen Auswahlprozessen                   oder MedizinerInnen (vgl. dazu die Stichprobe in
    zur fachspezifischen Ausbildung nicht zugelassen              Lorentzen et al. 2011). Im Unterschied dazu ist der
    oder auf die Ausbildung in einem anderen Psy-                 Zugang zur Psychotherapieausbildung in Österreich
    chotherapieverfahren verwiesen. Manche erken-                 stark diversifiziert (vgl. auch Korunka und Hochgerner
    nen im Zuge der weiteren fachspezifischen Ausbil-             2021). Ab 1991 wurden mit dem Psychotherapiege-
    dung durch Selbstkonfrontation in Praktika, in der            setz (Kierein et al. 1991) aufgrund von Angebots-,
    Supervision und in der vorgeschriebenen Selbster-             Bedarfserhebungen und Entstigmatisierungsüberle-
    fahrung, dass die gewählte psychotherapeutische               gungen Schritte unternommen, Psychotherapie einer
    Methode für sie nicht geeignet ist.                           größeren Öffentlichkeit von PatientInnen anzubieten
!   In diesem selektiven Auswahlprozess wird beson-               und einen niederschwelligeren Zugang zu schaffen.
    ders die persönliche Eignung für ein bestimmtes an-           Damit ging einher, dass nicht nur ÄrztInnen, son-
    erkanntes Psychotherapieverfahren im Hinblick auf             dern auch Angehörigen anderer Berufsgruppen der
    Persönlichkeit und fachspezifische Schwerpunkt-               Zugang zur Psychotherapieausbildung und in wei-
    setzungen untersucht. Dies hat zur Folge, dass die            terer Folge auch zur Ausübung der Psychotherapie
!   qualitative Eignung der Personen mit dem Ab-                  sowie bei gegebener Qualifikation auch zur Wahr-
    schluss einer psychotherapeutischen Ausbildung                nehmung lehrtherapeutischer Aufgaben gesetzlich
    besonders hoch ist. 98 % der fachspezifischen Aus-            gesichert bleiben sollte (Wißgott 2009). Diese Ein-
    bildungskandidatInnen, die in eine fachspezifische            beziehung weiterer Berufe in die Ausbildung betrifft
                                                                  insbesondere PsychologInnen, PädagogInnen, Sozi-

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alarbeiterInnen, Pflegekräfte oder TheologInnen und                 nen (Pawlowsky 2018; GÖG 2020) auf die auch nach
somit Personengruppen, die auf Grund ihrer beruf-                   30 Jahren Psychotherapiegesetz nicht hinreichend
lichen Vorbildungen und Vorerfahrungen für eine                     eingelösten Aufgaben des Gesundheitssystems:
Berufsausbildung zur PsychotherapeutIn potenziell                   !   Das vorhandene Angebot an kassenfinanzierten
qualifiziert sind und in Österreich schon vor dem In-                   Plätzen für Psychotherapie stellt in Verbindung mit
krafttreten des Psychotherapiegesetzes auf Grund ihrer                  den geltenden Bezuschussungsregeln eine mini-
human- und gesundheitswissenschaftlich orientierten                     male Basisversorgung sicher. Darüber hinaus ist
Qualifikationen psychotherapeutisch ausgebildet wor-                    in allen Bundesländern ein weiterer Versorgungs-
den waren (Springer-Kremser et al. 2002). Darüber                       bedarf gegeben (Grabenhofer-Eggerth und Sator
hinaus können auch Personen, die einen anderen                          2019).
beruflichen Hintergrund aufweisen, bei besonderer,                  !   Daraus folgt, dass ein gleicher und kassenfinanzier-
speziell auszuweisender Eignung nach einem Prüfver-                     ter Zugang für alle ÖsterreicherInnen zur Psycho-
fahren zum Erlernen des PsychotherapeutInnenberufs                      therapie nach wie vor nicht gegeben ist. Der Nach-
zugelassen werden, um nach einer theoretischen und                      frage nach Psychotherapie als Sachleistung und
praktischen Ausbildung, die im Durchschnitt knapp                       dem Bedarf an Psychotherapie kann aufgrund der
neun Jahre lang dauert, ihre Kompetenzen und Er-                        Kontingentierung des Angebots an kassenfinan-
fahrungen in die psychotherapeutische Versorgung                        zierten Psychotherapieplätzen nicht annähernd
einbringen. Der Weg zum Erwerb ebendieser Kom-                          angemessen nachgekommen werden (Graben-
petenzen ist in Tab. 1 dargestellt und mit ähnlichen                    hofer-Eggerth und Sator 2019). Dies schafft eine
Berufsausbildungen verglichen.                                          wesentliche und anhaltende Ungleichbehandlung
   Löffler-Stastka et al. (2018) geben einen Überblick                  psychisch Erkrankter gegenüber anderen Erkrank-
über die aktuelle Ausbildungssituation mit derzeit                      ten im Versorgungssystem (Grabenhofer-Eggerth
23 in Österreich anerkannten Psychotherapieverfah-                      und Sator 2019).
ren (Bundesministerium 2014) und 39 aktiven aus-                    !   Eine gleiche und angemessene Abgeltung für die
bildungsberechtigten Institutionen. Die in Österreich                   psychotherapeutischen Leistungen aller Psychothe-
vertretenen Psychotherapiemethoden, die gelehrt                         rapeutInnen im Gesundheitssystem ist nach wie vor
werden, basieren nach ihrer Tradition, Schule und                       inexistent. Die Umsetzung einer adäquaten und be-
Methodik im Wesentlichen auf vier unterschiedli-                        reits in der 51. ASVG-Novelle (1993) versprochenen
chen theoretischen, insbesondere wissenschaftstheo-                     Integration psychotherapeutischer Dienste in aus-
retischen, forschungsmethodologischen und anthro-                       reichender Stundenzahl in die stationäre Gesund-
pologischen Prämissen, die den oben erwähnten                           heitsversorgung erfolgte noch nicht.
psychotherapeutischen Clustern entsprechen (PPT,
VT, HPT, SPT). Aufgrund der strukturellen Besonder-                 Die Benachteiligung psychisch Erkrankter wird in Ös-
heit des Zugangs zur Psychotherapieausbildung bietet                terreich ohne Unterbrechung nach 1945 fortgeschrie-
die Breite der österreichischen Psychotherapieschu-                 ben. Seit 2020 sind die häufigsten Erkrankungen der
len ein unverzichtbares Umfeld für die Beforschung                  ÖsterreicherInnen psychische Erkrankungen (GÖG
der Relevanz des professionellen Basisberufs für die                2020). Zu den Aufgaben der Gesundheitsdienste ge-
Entwicklung von PsychotherapeutInnen, deren Ein-                    hört auch ein diversifiziertes Angebot an Leistungen,
stellungen und therapeutische Identitätsbildung. In                 um dem Gegenstandsbereich der Psychotherapie,
einer länderübergreifenden Untersuchung zeigen sich                 den unterschiedlichen Problemlagen von PatientIn-
Einflussfaktoren wie Haltung, Lebenszufriedenheit,                  nen und der Subjektivität des Menschen im Sinne des
ökonomische Verhältnisse und Stress auf die Ent-                    § 1 des Psychotherapiegesetzes gerecht zu werden.
wicklung von PsychotherapeutInnen als wesentlich                       Im Zuge der Weiterentwicklung des existierenden
förderlich, ebenso die Diversität in der Ausbildung                 Versorgungssystems, das die erwähnten Mängel auf-
oder eine Inklusion von Minderheiten in die Ausbil-                 weist, bedarf es der Berücksichtigung des Umstandes,
dung (Löffler-Stastka et al. 2018, 2019).                           dass die reflexive Kompetenz von PsychotherapeutIn-
                                                                    nen (als bedeutsamen Faktor für die Wirksamkeit von
Die Versorgungsleistung der Psycho-                                 Psychotherapie) nur dann zum Tragen kommen kann,
therapeutInnen                                                      wenn PsychotherapeutInnen eine angemessene Aus-
                                                                    bildungs- und Arbeitsumgebung vorfinden, die von
Die Zahl der in die Berufsliste eingetragenen Perso-                der öffentlichen Finanzierung von Psychotherapie mit
nen mit derzeit 10.415 PsychotherapeutInnen (Stand                  abhängig ist. Darüber hinaus wird zu berücksichtigen
6/2020) verweist auf eine besonders hohe Motiviert-                 sein, dass bereits PsychotherapeutInnen in Ausbil-
heit des Berufsstandes, da die Ausbildung mit einer                 dung unter Supervision in einem hohen Ausmaß Ver-
Länge von im Schnitt 8,9 Jahren – im Gegensatz zu                   sorgungsleistungen erbringen: Unter Bezugnahme auf
den anderen gesetzlich anerkannten Heilberufen –                    unterschiedliche Ausbildungsphasen bedarf es eines
in keiner Weise staatlich finanziert ist. Zugleich ver-             abgestuften Systems, in dem die Zulassung zur Aus-
weist die durchschnittlich geringe Zahl an geleisteten              übung psychotherapeutischer Tätigkeiten mit der öf-
Therapiestunden freiberuflicher PsychotherapeutIn-                  fentlichen Finanzierung von Psychotherapie und der

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Schaffung adäquater Ausbildungs- und Arbeitsumge-                                   lich selben Untersuchungsgegenstand der Phäno-
bungen (etwa in Gestalt von psychotherapeutischen                                   mene abweichenden psychischen Erlebens und Ver-
Lehr- und Versorgungsambulanzen) verschränkt wird.                                  haltens zeigt einerseits die Verwobenheit der drei
                                                                                    unterschiedlichen heilberuflichen Sichtweisen und
Psychotherapie ist eine eigenständige Disziplin                                     zugleich die Deutungshoheit der Psychotherapie als
                                                                                    eigene Form der Humanwissenschaft und eigenstän-
Der historisch gleiche Entstehungszeitraum von na-                                  diges Heilungsverfahren im interaktionellen Zugang
turwissenschaftlich beschreibender Psychiatrie, kli-                                zur leidenden Person.
nisch-messender Psychologie und verstehend-inter-                                      Psychotherapie als Leitwissenschaft ist in der in-
aktioneller Psychotherapie mit dem vorwissenschaft-                                 teraktionellen Heilung psychischer Störungen derzeit

Tab. 1 Zum Vergleich zwischen Psychotherapie, klinischer Psychologie und psychotherapeutischer Medizin. (Stundenan-
gaben stellen die Mindestanforderung dar)
                           Psychotherapie                                   Psychotherapeutische Medizin                       Klinische Psychologie
Ausbildung: Selbsterfah- 250 h 1. Abschnitt/Propädeutikum: 50 h und im      150 h schulen-/methodenspezifisch im Hauptfach, 76 h
rung                     2. Abschnitt/Fachspezifikum: 200 h schulen-/       1–2 Jahre
                         methodenspezifisch, 2–4 Jahre
Ausbildung: Supervision    170 h:                                           220 h:                                             120 h
                           20 h Propädeutikum und 150 h Fachspezifikum      davon 120 h schulen-/methodenspezifisch
                           schulen-/methodenspezifisch
Ausbildung: Theorie        1065 h                                           600 h schulen-/methodenspezifisch                  340 h
                           1. Abschnitt/Propädeutikum 765 h methoden-
                           übergreifend und 2. Abschnitt Fachspezifikum:
                           300 h schulen-/methodenspezifisch
Ausbildung: Gesamtum-      3115 h incl. Praktika in 8–9 Jahren nach einem   1870 h in 6 Jahren nach dem Medizinstudium         536 h in 2–3 Jahren nach dem
fang                       gesetzlichen Quellenberuf bzw. individueller                                                        Psychologiestudium
                           Eignungsprüfung
Quellenberufe              Abgeschlossener (meist akademischer) human-      Ärzte mit abgeschlossenem Lehrgang „Psycho-        Abgeschlossenes Psychologie-
                           wissenschaftlicher Quellenberuf entsprechend     somatische Medizin“, sowie FA Psychiatrie;         studium
                           dem Selbstverständnis der Psychotherapie         Voraussetzung: positive Beurteilung im Aufnah-
                                                                            meverfahren
Selektion in der Ausbil-   Insbes. Fremdselektionsmechanismen durch        Insbes. Fremdselektionsmechanismen durch        Insbes. Fremdselektionsme-
dung als Qualitätssiche-   Grundberuf und positive Beurteilung im Aufnah- Grundberuf, positive Beurteilung im Aufnahmever- chanismen durch Grundberuf
rungskriterium             meverfahren in das Fachspezifikum.              fahren für psychotherapeutische Medizin
                           Zusätzlich hohe Selbstselektionsmechanismen:
                           rund 60 % der BeginnerInnen der propädeuti-
                           schen Ausbildung schließen auch erfolgreich ein
                           Fachspezifikum ab
Praxisumfang               600 Behandlungsstunden unter Supervision plus    600 h Ärztliche Tätigkeit unter psychotherapeu-    Praxiszeit 2098 h, keine defi-
                           1030 h Praktika:                                 tischen Gesichtspunkten + weitere 600 Behand-      nierten Behandlungsstunden
                           1. Abschnitt: 480 h                              lungsstunden methodenspezifisch (mind. 6 Fälle,
                           2. Abschnitt: 550 h (mind. 150 h im klinischen   davon mind. 3 über 40 h)
                           Bereich)
Diagnostik                 Grundzüge der psychiatrischen und psycholo-      Psychiatrische Diagnostik, integrativ entlang      Psychologische Diagnostik
                           gischen Diagnostik, zusätzlich behandlungs-      des somato-, sozio- und psychotherapeutischen      (mit einem besonderen Fokus
                           relevante und schulen-/methodenspezifische       Ansatzes                                           auf klinisch-psychologische
                           psychotherapeutische Diagnostik (inkl. Bezie-                                                       Diagnostik) und Grundzüge der
                           hungs- und Prozessdiagnostik)                                                                       psychiatrischen Diagnostik
Theoretische Grundlagen Klare wissenschaftstheoretische Verankerung         Methodenspezifisch (Hauptfach 150 h eine Tradi-    Eklektisch auf der Grundlage
                        in einem Menschenbild und in der jeweiligen         tion, Zusatzfach 40 h andere Tradition, 2 Ergän-   verschiedenster psychologi-
                        Psychotherapietheorie                               zungsfächer je 20 h)                               scher Theorien
Behandlungskonzepte        Fundiert methodenspezifisch und evidenzbasiert Methodenspezifisch mit dem Schwerpunkt eines         Eklektisch und evidenzbasiert
                           Prozess- und beziehungs-orientiert             Hauptfaches; Integration von Zusatzfach;             In der Regel interventionsba-
                                                                          2 Ergänzungsfächer; alle entsprechend den 4          siert
                                                                          grundlegenden psychotherapeutischen Tradi-
                                                                          tionen, aber in verschiedenen Settingvarianten
                                                                          evidenzbasiert
Breite der Behandlung      Breit                                            Breit                                              Spezifisch
Zielgruppen der Behand- Alle klinischen Störungsbilder, Persönlichkeits-    Alle Psychiatrischen und Psychosomatischen         Spezifische Zielgruppen, z. B.
lung                    entwicklung, etc.                                   Störungsbilder                                     Neuropsychologie, Gerontopsy-
                                                                                                                               chologie, Teilleistungsstörun-
                                                                                                                               gen etc.
Klinische Evidenz          Hoch für die vier therapeutischen Cluster auf der Nach den Kriterien der Evidenz-Basierten-Medizin Meist spezifisch interventi-
                           Basis spezifischer und allgemeiner Wirkfaktoren                                                    onsbasiert; in der Regel nicht
                                                                                                                              auf der Basis der allgemeinen
                                                                                                                              Wirkfaktoren

K                          Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit

in den oben genannten vier Grundströmungen reprä-                         und Pritz 2007; Slunetzko 2009; Fischer 2011; Lam-
sentiert – ein weiteres Merkmal und Spezifikum der                        bert 2013),
Psychotherapie. Sie wird damit in ihrer Vielfalt an Zu-               !   Kommunikationsstrukturen, zu denen insbeson-
gängen der immer weiter zunehmenden Komplexität                           dere wissenschaftliche Journale, langjährig tätige
und Diversität menschlichen Erlebens und Verhaltens                       wissenschaftliche Institute und Vereinigungen so-
hinreichend gerecht: Sie reagiert in komplexer und                        wie regelmäßig stattfindende Kongresse, Tagungen
adäquater Weise unter Einbeziehung sozialer, ökono-                       und Symposien zählen,
mischer und ökologischer Momente auf individuelle                     !   Selektions- und Reproduktionsprozesse (Ausbil-
und gesellschaftliche Entwicklungen und hat damit ei-                     dungsprozesse), für die primär LehrtherapeutIn-
ne nachhaltige Bedeutung, die weit über die Heilbe-                       nen und somit VertreterInnen der Disziplinen Ver-
handlung einzelner Symptombilder hinausgeht. Dies                         antwortung tragen (vgl. LehrtherapeutInnen-Richt-
kommt auch darin zum Ausdruck, dass Psychothera-                          linie 2011);
pie als Disziplin die Befassung mit diesen Momen-                     !   wissenschaftliche Diskurse, die der Selbstreflexi-
ten in ihre Theoriebildungen miteinbezieht (vgl. Kadi                     on der Disziplin dienen und insbesondere von den
et al. 2012).                                                             Besonderheiten der Disziplin und ihrer Geschich-
   Zeichnete sich in den 1990er-Jahren deutlich ab,                       te handeln (vgl. Norcross et al. 2011; Schmidbauer
dass sich Psychotherapie auf dem Weg zu einer eigen-                      2012).
ständigen Disziplin befindet, so ist zweieinhalb Jahr-
zehnte später festzuhalten, dass Psychotherapie in-                   In der Disziplin der Psychotherapie gelten Werte und
zwischen wesentliche Merkmale einer eigenständigen                    Normen des wissenschaftlichen Arbeitens, die auch
Disziplin nach Datler und Felt (1996) erfüllt:                        in anderen Disziplinen als verbindlich angesehen wer-
   Innerhalb eines langjährigen international existie-                den (Felt et al. 1995). Und PsychotherapeutInnen wer-
renden Netzwerkes wird unter Einsatz von wissen-                      den inzwischen nahezu durchgängig als ExpertInnen
schaftlich anerkannten Methoden permanent an ei-                      für das Wissen um Psychotherapie, für die Weiterent-
nem breiten Spektrum an Themen gearbeitet, in deren                   wicklung der Disziplin und für die gesellschaftlich re-
Zentrum die psychotherapeutische Praxis und damit                     levante Nutzung des psychotherapeutischen Wissens
verbundene Theorien stehen (vgl. Wampold und Imel                     insbesondere in den Bereichen der psychotherapeu-
2015).                                                                tischen Praxis (Behandlung), Versorgung und Prophy-
   Diese Theorien handeln insbesondere von                            laxe begriffen.
!   der Theorie des psychotherapeutischen Prozesses,
!   den Indikationen zur Psychotherapie,                              Die Binnenstrukturen der Disziplin der
!   von psychotherapeutischen Wirkfaktoren und dem                    Psychotherapie
    „Outcome“ psychotherapeutischer Praxis,
!   von den Entstehungsbedingungen und Entstehungs-                   Die Disziplin der Psychotherapie weist in mehrfacher
    prozessen der Problem- und Leidenszustände, die                   Hinsicht Binnenstrukturen auf. Im Bereich der Psy-
    zur Indikation von Psychotherapie führen, mit be-                 chotherapieforschung existieren etwa Strukturen der
    sonderen Akzenten auf die Theorie der Spezifität                  qualitativen und quantitativen Psychotherapiefor-
    und Genese psychischer Erkrankungen, ihrer Be-                    schung in Verbindung mit dem Einsatz von Mixed
    handlung und ihrer Prophylaxe,                                    Methods in Korrespondenz mit Konzeptforschung,
!   von anthropologischen, persönlichkeits-, interakti-               Einzelfallforschung und Untersuchungen mit großen
    ons- und sozialisationstheoretischen Grundlagen,                  Stichproben (Fischer 2011, S. 107 ff.).
!   von professionstheoretischen Themen, die auch                        Eine andere Binnenstruktur verdeutlicht unter-
    Fragen der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und                  schiedliche Strömungen der Psychotherapie, die den
    Weiterbildung betreffen,                                          bereits mehrfach genannten vier Clustern zugeord-
!   vom Spektrum wissenschaftlicher Methoden, die                     net werden können (PPT, VT, HPT, SPT). All diesen
    in der Psychotherapieforschung zum Einsatz kom-                   Strömungen ist die Auffassung gemeinsam, dass es in
    men,                                                              psychotherapeutischen Prozessen nötig ist, auch zu
!   sowie von der Beziehung zwischen der Disziplin der                den tieferen, persönlichkeitsbestimmenden Schich-
    Psychotherapie und anderen wissenschaftlichen                     ten der Problemlagen von psychotherapiebedürftigen
    Disziplinen wie Medizin, Psychologie, Erziehungs-                 Menschen zu kommen, die erst dann erfasst und hilf-
    und Bildungswissenschaft, Soziologie, Philosophie                 reich bearbeitet werden können, wenn sie innerhalb
    oder Theologie.                                                   der therapeutischen Beziehung spürbar, erkannt und
                                                                      verstanden werden. Deshalb zeichnet sich die psycho-
Innerhalb der Disziplin der Psychotherapie existieren                 therapeutische Ausbildung durch den hohen Anteil
!   gemeinsam geteilte Wissensbestände, die in Lexi-                  an psychotherapeutischer Eigenerfahrung als Vor-
    ka, Handbüchern und Lehrbüchern dargestellt sind,                 aussetzung für diese unverzichtbare Dimension des
    die zum Teil clusterspezifisch, zum Teil aber auch                psychotherapeutischen Arbeitens aus.
    clusterübergreifend konzipiert sind (z. B. Stumm                     Obgleich dieser Aspekt innerhalb der psychothe-
                                                                      rapeutischen Cluster etwas unterschiedlich gewichtet

    Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .    K
übersichtsarbeit

wird, unterscheidet sich die psychotherapeutische                Punkten aber auch in Diskursen zu finden, die außer-
Ausbildung in dieser qualitativ unverzichtbaren Di-              halb dieser Disziplinen geführt wurden bzw. spezifi-
mension in allen Clustern von den Ausbildungspro-                schen Disziplinen nicht eindeutig zugeordnet werden
zessen in angrenzenden Disziplinen. Dort wird diesen             können. Ein markantes Beispiel geben dafür die An-
Aspekten in deutlich geringerem Ausmaß und nur                   fänge der Psychoanalyse ab, aus der heraus sich das
situativ Rechnung getragen, weshalb in dieser Hin-               Cluster der psychoanalytisch-psychodynamischen
sicht auch andere Anforderungen an ärztliche oder                Psychotherapie (PPT) entwickelte:
klinisch-psychologische Ausbildungen und Praxisfor-                 Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanaly-
men zu stellen sind:                                             se, war habilitierter Mediziner und kam als solcher
   Die therapeutische Begegnung bildet als inter-                mit den Vorläufern und Anfängen der Psychothera-
aktionelle Situation den Rahmen zur Analyse und                  pie insbesondere in Wien und in Frankreich in den
heilender Bearbeitung leidvollen Erlebens und Ver-               1880er-Jahren in Berührung. Als wissenschaftlich in-
haltens und steht damit im Zentrum jeder Psychothe-              teressierter und wissenschaftlich tätiger Arzt leiste-
rapie. Damit wandelt sich auch die Aufgabe der Diag-             te er mit der Begründung der Psychoanalyse Bahn-
nostik krankheitswertiger Zustandsbilder: Psychothe-             brechendes auf dem Gebiet der Psychotherapie. Die
rapeutische Diagnostik steht als eigenständige und               Entstehung der Psychoanalyse war aber nur zum Teil
intersubjektiv begründete verstehende Beziehungs-                auf die wissenschaftliche Befassung mit Psychothera-
diagnostik neben der psychiatrisch-erklärenden und               pie innerhalb der Medizin zurückzuführen. Von grö-
psychologisch-experimentell messenden Diagnostik                 ßerem Gewicht war vielmehr der Umstand, dass sich
als jeweils nosologisch-kategoriale Formen der Krank-            zunächst in Wien und bald darauf international ein
heitsfeststellung (Hochgerner 2020a, 2020b; Höfner               Netzwerk von wissenschaftlich arbeitenden Psycho-
und Hochgerner 2020). Sie ermöglicht grundsätzlich               analytikerInnen etablierte, das außerhalb der univer-
und aktuell im psychotherapeutischen Prozess Aus-                sitär verankerten Disziplinen wie Medizin, Psycholo-
kunft über mögliche Entstehungszusammenhänge                     gie oder Pädagogik existierte.
und Formen der Aufrechterhaltung leidvoller Symp-                   Für die Etablierung und Verbreitung der Psycho-
tomatik und setzt diese in Relation zur Persönlichkeit.          analyse war es zwar nicht unerheblich, dass diesem
Diagnostik wird in dieser Weise, begleitend zum                  psychoanalytischen Netzwerk auch MedizinerInnen
therapeutischen Prozess, integraler, kontinuierlicher            sowie PsychologInnen, PädagogInnen, TheologInnen
Bestandteil der Psychotherapie und ist in der Indi-              und VertreterInnen verschiedener anderer Geistes-
kationsstellung zur Psychotherapie als prozessuale               wissenschaften angehörten, die zum Teil in die aka-
„Theragnostik“ ein qualitativ wesentlich vertiefender            demischen Strukturen dieser Disziplinen (etwa als
Zugang zum psychischen Erleben und Verhalten. Di-                ProfessorInnen oder AssistentInnen) eingebunden
agnostik geht damit weit über die Erfassung und Zu-              waren. Die Orte, an denen psychoanalytisch-psycho-
schreibung von Krankheitsbildern, wie sie in gängigen            therapeutische Praxis geleistet wurde, und die Institu-
psychiatrischen oder klinisch-psychologischen Syste-             tionen, in denen die wissenschaftliche Diskurse über
matiken gelistet und beschrieben werden, hinaus: Sie             psychoanalytische Theorien und Konzepte geführt
ist handlungsleitend in der Entwicklung und Ziel-                wurden, lagen zumeist aber außerhalb universitärer
findung hilfreicher therapeutischer Haltungen und                Strukturen und konnten den bestehenden Disziplinen
individualisierter Vorgangsweisen, fördert wesentlich            auch gar nicht eindeutig zugeordnet werden, zumal
die Motivation zur Mitarbeit von PatientInnen und ist            die Entstehung und Verbreitung der Psychoanalyse
somit für die Arbeitsbündnisse innerhalb der jeweils             von maßgeblichen VertreterInnen der seinerzeit eta-
spezifischen therapeutischen Beziehung wesentlich.               blierten Disziplinen kritisch gesehen und zum Teil
Deshalb beginnen sich psychotherapeutische Pro-                  sogar bekämpft wurden. Historischen Analysen ist
zesse nicht erst nach der psychotherapeutischen Di-              zu entnehmen, wie vielschichtig und spannungsreich
agnostik zu entwickeln, sondern bereits mit dem                  sich von Beginn an das Verhältnis zwischen der Psy-
Erstkontakt und dem Einsetzen psychotherapeutisch-               choanalyse und jenen Disziplinen dargestellt hat,
diagnostischer Aktivitäten, denen im oben erwähnten              die heute zu den wichtigsten psychotherapeutischen
Sinn ein „theragnostischer“ Anspruch inhärent ist.               Nachbardisziplinen zählen (siehe etwa zum Verhält-
                                                                 nis zur Medizin Böker 2006; Hierdeis und Scherer
Psychotherapie und ihre Beziehung zu                             2018; zur Psychologie Elliger 1986; Nitzschke 1989;
Nachbardisziplinen                                               zur akademischen Pädagogik Wininger 2011; oder zu
                                                                 Philosophie, Theologie und Soziologie Cremerius 1981;
Wissenschaftliche Disziplinen haben ihre Wurzeln zu-             Scheidt 1986).
meist in anderen Disziplinen. Prozesse der Herauslö-                Auch das Wirken vieler anderer – aus unterschied-
sung aus diesen Disziplinen und Prozesse der Diffe-              lichen Disziplinen kommenden – historischer Persön-
renzierung von diesen Disziplinen führen dazu, dass              lichkeiten, die der Entwicklung der Psychotherapie
eigenständige Disziplinen entstehen.                             wesentliche Impulse gaben, kann man ablesen, dass
   Die Wurzeln der Psychotherapie sind in diesem                 Psychotherapie nicht als Teilgebiet einer Disziplin,
Sinn in verschiedenen Disziplinen, in wesentlichen

K                  Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .
übersichtsarbeit

die bereits seit längerer Zeit besteht, begriffen werden            stitutionalisierte Verankerung überall dort, wo die ge-
kann:                                                               setzliche Regelung der psychotherapeutischen Aus-
   Alfred Adler war Arzt und bis 1911 Mitglied in                   und Weiterbildung sicherstellt, dass das plurale Ver-
Freuds multidisziplinär zusammengesetzten Mitt-                     hältnis der Psychotherapie auf hohem Wissenschafts-
woch-Gesellschaft, ehe er sich von Freud trennte                    und Ausbildungsniveau zu anderen Disziplinen be-
und die Individualpsychologie begründete, die nicht                 fördert und weiterentwickelt wird. Dies verhindert
zuletzt dadurch weite Verbreitung fand, dass sie im                 Begehrlichkeiten, durch Umformung und letztlich
„Roten Wien“ in pädagogischen Institutionen gelehrt                 Zerstörung der Psychotherapie als umfassende und
und auch mit therapeutischem Anspruch praktiziert                   eigenständige Disziplin und Wissenschaft einzelne
wurde.                                                              konstituierende Merkmale aus dem zentralen Wirk-
   Jakob L. Moreno, der Philosophie und Medizin                     zusammenhang zu reißen und bloß als Teildisziplin
studiert hatte, entfaltete in den 1920er-Jahren den                 anderer Gesundheitsberufe auszuweisen. Die viel-
interaktionell-begegnungsorientierten, sozialwissen-                schichtige und zunehmende forschungs-, heilungs-
schaftlich begründeten Ansatz der humanistischen                    und gesellschaftliche Relevanz der Psychotherapie
Psychotherapie, der Psychotherapie in Gruppen eta-                  wäre dann durch die Beförderung von Eindimensio-
blierte und wesentlichen Einfluss auf die amerikani-                nalität minimiert.
sche Sozialpsychologie, Pädagogik und Beratungskul-
tur („Counseling“) hatte.                                           Conclusion
   Victor Frankl entwickelte nach seinen Studien der
Medizin und Philosophie ab den 1920er-Jahren seinen                 Aus der Beschäftigung mit der aktuellen Literatur aus
Logotherapeutischen Therapieansatz, der als „3. Wie-                der Psychotherapieforschung (Lambert 2013) können
ner Schule der Tiefenpsychologie“ gilt.                             folgende Thesen abgeleitet werden:
   Carl Rogers begründete in den 1940er-Jahren in
den USA den personzentrierten Ansatz und damit ei-                  Psychotherapie – Unverzichtbar für die Behandlung
ne zentrale Schule der humanistischen Psychothera-                  psychischer Erkrankungen
pie, die sich unter anderem auch als kritische Ge-
genposition zur damaligen akademischen Psychologie                  Psychotherapie ist evidenzbasiert und effizient
verstand.                                                           !   Psychotherapie hat eine hohe und nachhaltige Be-
   Albert Ellis und Aaron Beck entwickelten als Re-                     handlungswirksamkeit,
präsentanten der Psychologie und Psychiatrie von                    !   ist durch die empirische Psychotherapieforschung
den 1950er-Jahren an den Ansatz der Rational-Emoti-                     für alle vier in Österreich anerkannten Ausrichtun-
ven Psychotherapie und trugen damit wesentlich zur                      gen (Methodencluster) wirksam ausgewiesen und
„kognitiven Wende“ in der Verhaltenstherapie bei.                   !   ihr Erfolg ist einer psychopharmakologischen Be-
   Virginia Satyr entwickelte ab den 1950er-Jahren als                  handlung vergleichbar.
Sozialarbeiterin in der Familienhilfe mit der Begrün-               !   Durch die langfristige Behandlungswirkung folgt ei-
dung der „Familientherapie“ spezielle Formen des Zu-                    ne
gangs zur Mehrpersonenpsychotherapie in sozialen                    !   beachtenswerte Kosteneffizienz, die eine
Netzwerken.                                                         !   nachhaltige Senkung der Gesundheitskosten be-
   Dass PsychotherapeutInnen seit den Anfängen                          deutet.
der modernen Psychotherapie mit Medizin und Psy-                    !   PsychotherapeutInnen entwickeln für jede/n Pati-
chologie, darüber hinaus aber auch mit weiteren                         entIn einen notwendigen und eigenen Zugang und
Disziplinen der Geistes-, Human- und Sozialwissen-                      individuell hilfreichen Therapieplan.
schaften samt den damit verbundenen Praxisfeldern
vertraut waren, hatte zur Folge, dass fachlich breit                Kernbereiche der Psychotherapie
gefächerte Expertisen in das Feld der Psychotherapie                Im Fokus der Psychotherapie steht die Subjektivität
eingebracht wurden. Psychotherapie entspricht da-                   des individuellen Erlebens von PatientInnen, in de-
mit der bio-psycho-sozialen Realität des Individuums                nen die psychischen und psychosomatischen Sympto-
und dem mehrperspektivischen Krankheitsbegriff der                  me, Krankheits- und Leidenszustände von PatientIn-
WHO besser als vorrangig naturwissenschaftlich re-                  nen gründen.
spektive einheitswissenschaftlich orientierte Zugänge
zum leidenden Menschen. Umgekehrt flossen psy-                      Psychotherapie
chotherapeutische Erkenntnisse auch in die Diskurse                 !   Die Psychotherapie greift das subjektive Leiden
anderer Disziplinen (siehe oben) und in die damit                       und/oder die Störung der/s PatientIn auf und bear-
verbundenen Praxisfelder zurück, einschließlich jener                   beitet umfassend und prozessorientiert alle Bedeu-
Felder, die für Sozialkritik und Sozialreformen von                     tungen und Aspekte der jeweiligen Problematik und
großer Bedeutung sind.                                                  ist ressourcenorientiert.
   Diese Anregungs- und Austauschprozesse gewin-                    !   Psychotherapie beruht auf einer klaren theoreti-
nen mit der Etablierung der Psychotherapie als Dis-                     schen Verankerung und einer Haltung (einem Men-
ziplin an Intensität und Qualität und finden ihre in-

  Disziplin, Profession und evidenzbasierte Praxis: Zur Stellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem.. . .    K
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