Wir spielen wieder! Konzerte in der Wiener Staatsoper Abschied: Dominique Meyer im Gespräch Ausblick: Die Spielzeit 2020/2021 - PROLOG JUNI 2020 | ...
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P R O L O G J U N I 2 0 2 0 | N° 239 Die Wiener Staatsoper im Juni 2020 Wir spielen wieder! Konzerte in der Wiener Staatsoper Abschied: Dominique Meyer im Gespräch GENERALSPONSOREN Ausblick: Die Spielzeit 2020/2021
Die einzigartige Don Pasquale-Produktion der Staatsopern-AK-Tournee quer durch Österreich! Mit: Edita Gruberova, Luigi Alva, Oskar Czerwenka, Hans Helm Erhältlich im Arcadia Opera Shop, im ausgewählten Fachhandel und unter www.wiener-staatsoper.at
Inhalt Vorwort Dominique Meyer 2 Oper zum Lesen, Hören, Schauen Neuerscheinungen zum Saisonschluss 4 Es geht wieder los! Reichhaltiges Konzertprogramm im Juni 5 Mir ist die Ehre widerfahren … Abschied Dominique Meyer 6 Der Herr der Zahlen Kaufmännischer Geschäftsführer Thomas Platzer 12 Au revoir, Manuel Legris 14 Das Geheimnis des Kreativen Ein Zoom-Gespräch im Corona-Alltag 16 Balletturaufführungen an der Wiener Staatsoper 18 Ashley Taylor – Den Tanz im „Fokus“ 19 „Man muss sich das Publikum imaginieren“ Der Ö1-Klassik-Radio-Guru Michael Blees 20 Kunst in der Krise II 22 Ioan Holender zum 85. Geburtstag 25 Das Staatsopernorchester Geigerin Olesya Kurylyak 26 Ausblick auf die Spielzeit 2020/2021 28 Daten und Fakten 31 Spielplan 34 IMPRESSUM Wiener Staatsoper – Direktion Dominique Meyer Saison 2019/2020, Prolog Juni 2020 Redaktion: Andreas Láng, Oliver Láng, Oliver Peter Graber, Iris Frey Grafik: Irene Neubert, Veronika Grabietz Bildnachweise: Nicolas Meyer (Cover), Andreas Jakwerth (S. 1, 3, 5), Michael Pöhn (S. 6, 12, 16, 32), Ashley Taylor (S. 14, 19), Theatermuseum, Wien (S. 18), Lois Lammerhuber (S. 21), Florian Lechner (S. 25) S. 22-24: Nikolaus Karlinsky (Eröd), Brescia/Amisano © Teatro alla Scala (Stoyanova), Priska Ketterer (Staud), Marco Borggreve (Altinoglu), Nikolaus Karlinsky (Kirchschlager)
Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher, liebes Publikum! Diese zehn Jahre sind so schnell vergangen: 3.800 – Die wirtschaftlichen Ergebnisse waren gut: die Aufführungen, 122 Operntitel, 57 verschiedene Auslastungsrate ist gestiegen und erreichte sowohl Komponisten, ein erweitertes Ballettprogramm. in der Oper als auch im Ballett mehr als 99%, der In den letzten zehn Jahren ist vieles passiert: Kartenverkauf ist von 28 Millionen Euro im Jahr – Die Zahl der Neuproduktionen wurde von vier 2010 auf 37,5 Millionen Euro im Jahr 2019 gestie- auf sechs pro Jahr erhöht. gen, und wir werden trotz der Corona-Krise un- – Die Probenbedingungen wurden verbessert: von seren Nachfolgern 15 Millionen Euro an Reserven 90 auf 110 Orchesterproben, längere Probenzeiten hinterlassen. für Repertoireaufführungen, Bau einer neuen Pro- Vor allem hatten wir das Vergnügen, viele große bebühne im Arsenal. Dirigenten zu begrüßen (Christian Thielemann, – Mit der neuen Ernennung von „Ersten Solotän- Franz Welser-Möst, Simon Rattle, Zubin Mehta, zerinnen“ bzw. „Ersten Solotänzern“ und einer Semyon Bychkov, Daniel Harding, Gustavo Duda- besseren Organisation der Karriereentwicklung in- mel, Riccardo Muti (der uns nach Tokio begleitete nerhalb des Corps de ballet, konnte eine neue und und im Mai zurückkehren sollte), Peter Schnei- brillante Generation von Ersten Solisten entstehen. der, Evelino Pidò, Simone Young, Marco Armiliato, Die Programmgestaltung von Manuel Legris hat es Adam, Fischer, Valery Gergiev, …) sowie die besten ermöglicht, die meisten der großen Ballettklassiker Vertreter der jungen Generation (Andris Nelsons, in hochwertigen Produktionen wieder aufleben zu Tugan Sokhiev, Alain Altinoglu, Yannick Nézet-Sé- lassen, aber auch das Beste des zeitgenössischen guin, Tomáš Hanus, Tomáš Netopil, Antonello Ma- Schaffens zu begrüßen. Parallel dazu sind zahlrei- nacorda, Susanna Mälkki, Axel Kober, Jakub Hru°ša, che neue Sänger ins Ensemble bekommen. Viele Speranza Scappucci, Giampaolo Bisanti …) und von ihnen machen jetzt Weltkarriere. einige große Spezialisten der Alten Musik: Willi- – Sowohl die Opern- als auch Balletttourneen wur- am Christie, Marc Minkowski, Christophe Rousset, den vervielfacht. Ivor Bolton, Emmanuelle Haïm … – Neue Technologien wurde ins Haus gebracht: Es kamen zahlreiche Regisseure aus der ganzen Installation von Bildschirmen unter den Arkaden, Welt und aus den unterschiedlichen. Manchmal Entwicklung des Streamings, das für 350 Über- diskutiert – wie es sich gehört –, manchmal um- tragungen in High Definition sorgt und die erste stritten, manchmal geliebt. Es bleiben schöne Er- weltweite Ausstrahlung in 4K ermöglichte, Schaf- innerungen: Cardillac (Sven-Eric Bechtolf), Les fung des Untertitelsystems mit acht Sprachen via Troyens, Ariodante und Tristan und Isolde, (David der für jeden Zuschauer installierten Tablets, Digi- McVicar), Don Pasquale und Midsummer Night’s talisierung der Partituren, die nun den Versand des Dream (Irina Brook), Pelléas et Mélisande und gesamten Materials an die Sänger ohne Portokos- Fanciulla del West (Marco Arturo Marelli), der ten ermöglicht, Einsatz der Tablets von den Inspi- Janáček-Zyklus (André Engel, Peter Stein, Peter zienten, Modernisierung der Ton- und Videoinstal- Konwitschny, Otto Schenks Rückkehr – eine Stern- lation, Wechsel der Beleuchtung im Großen Haus stunde!), die schichte Ästhetik von Christof Loy in auf LED, usw. … Alceste. Ich würde auch gerne zwei Produktionen – Die historischen Teile des Hauses (Schwind-Log- erwähnen, die hier nicht gut angekommen sind, gia, Schwindfoyer, Eingangsbereich …) wurden re- die ich aber sehr mag: Le nozze di Figaro von stauriert und erscheinen wieder in ihrer ursprüng- Jean-Louis Martinoty (beste Produktion des Jahres lichen Pracht. in Paris, verrissen in Wien) und La traviata (Jean- 2 N° 239 www.wiener-staatso per.at
VORWORT François Sivadier). Es gab oft Diskussionen und merer, Benedikt Kobel, Dan Paul Dumitrescu, So- unterschiedliche Meinungen. Aber es hat mich nie rin Coliban, Wolfgang Bankl, Clemens Unterreiner wirklich gestört, weil die Kriterien, nach denen und all die anderen. Ich bin für ihre Hilfe, ihre entschieden wird, ob es einem gefällt oder nicht, Treue zur Staatsoper und ihr Engagement unend- sehr unterschiedlich sind. Letztlich sind das Ge- lich dankbar. Ich möchte auch allen Mitarbeitern schmacksfragen. In diesen zehn Jahren haben uns des Theaters meinen Dank aussprechen, dem Or- alle großen Sängerinnen und Sänger der Welt ihre chester, das uns so viel Freude bereitet hat, dem Kunst angeboten. Ich will sie nicht beim Namen Chor, dessen Arbeit allzu oft unterschätztz wird nennen, es sind zu viele. Aber wir werden uns an (45 auswendig interpretierte Opern pro Saison in 6 ihre Auftritte erinnern: Anna Netrebko und Elı̄na Sprachen!), dem Ballett, das im Laufe der Jahre so Garanča in Anna Bolena, dieselbe Anna Netrebko große Fortschritte gemacht hat. Ich werde nie die in ihrer ersten Tatjana-Vorstellung oder als unver- Brüderlichkeit der Kollegen in der Technik verges- gessliche Leonora im Troubadour; an die zahlrei- sen, die Qualität ihrer Arbeit, ihr Engagement und chen Rollendebüts von Nina Stemme (in Elektra, ihre Bereitschaft alle Probleme zu lösen. La fanciulla del West, als Kundry und Färberin, Diesen Wunsch, alle Probleme zu lösen, habe ich …), an Piotr Beczała (sein allererster und unver- auch in jedem einzelnen Büro gefunden. Obwohl gesslicher Cavaradossi), an die Zugaben von Jonas meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Arbeit Kaufmann in der Tosca (!), an die von Beczała in überlastet waren, waren sie jederzeit engagiert. Ich derselben Tosca, oder die von Juan Diego Flórez werde ihre Unterstützung, ihre Loyalität und die im Liebestrank oder La Fille du régiment, an die schöne Zusammenarbeit nicht vergessen. Monologe der Marschallin von Renée Fleming Heute verabschiede ich mich auch von Ihnen, lie- oder Anja Harteros … So viele wunderbare Erin- be Freunde und liebes Publikum. Ich habe immer nerungen. Und dann war da noch das Aufblühen geglaubt, dass das Publikum ein wichtiger Bestand- so vieler neuer Sänger, wie Benjamin Bernheim, teil des Theaters ist. Dies gilt umso mehr hier in Lise Davidsen, Andreas Schager, Sonya Yoncheva, Wien. Wo sonst auf der Welt findet man noch eine Olga Peretyatko und viele andere, und schließ- solche Begeisterung, eine solche Freude, in die lich, was noch eine größere Freude war, die Pfle- Oper zu gehen und immer wieder zurückzukeh- ge und Entwicklung des festen Sängerensembles ren? Wo sonst findet man ein Theater, in dem der der Staatsoper. Ich habe es so gemacht, wie man Applaus so lange dauert, in dem die Künstler be- einen Garten pflegt, indem ich sorgfältig nach jun- kannt sind, anerkannt und mit so viel Wärme emp- gen Trieben gesucht habe, versucht habe, sie zum fangen werden? Dessen bin ich mir bewusst und es Wachsen zu bringen, und auch versucht habe, eine berührt mich sehr. Es war mir eine Ehre und eine Symbiose mit den älteren Trieben herzustellen. immense Freude, für eine solche Gemeinschaft, Ich freue mich zu sehen, dass viele von ihnen eine für ein solches Theater, für diese Stadt und dieses brillante internationale Karriere gemacht haben: Land zu arbeiten, die immer in meinem Herzen Adam Plachetka, Benjamin Bruns, Aida Garifullina, bleiben und denen ich treu bleiben werde. Natür- Anita Hartig, Valentina Narforniţă, Chen Reiss, Olga lich ist nicht alles perfekt gewesen und das ist mir Beszmertna, Maria Nazarova, Andrea Carroll usw. bewusst. Aber wir haben stets und immer unser Ebenfalls nennenswert sind die Sänger die uns Bestes gegeben. schon mehrere Jahre begleiten: Herwig Pecoraro, Nehmet meinen Dank! der verstorbene Alfred Šramek, Hans Peter Kam- Ihr Dominique Meyer www.wiener-staatsoper.at N° 239 3
OPER ZUM LESEN, HÖREN, SCHAUEN Zum Saisonschluss präsentiert die Wiener Staatsoper eine Reihe von Neuerscheinungen CHRONIK DER WIENER STAATSOPER 150 JAHRE HAUS AM RING A ls Nachtrag zum Jubiläumsjahr 2019 erscheint eine Chronik der Wiener Staatsoper, in der die Geschichte des Hauses am Ring erzählt wird. in den späten 1920er-Jahren Ähnliches, führte es aber nicht aus) sorgte für eine Öffnung des Hauses und bot dem Publikum auch außerhalb des Wie- In dem reich bebilderten Band werden Jahr für ner Einzugsgebiets die Möglichkeit, die Staatsoper Jahr die Ereignisse im und um das Haus aufbe- live zu erleben. Die Besetzung dieser Tournee- CHRONIK DER WIENER STAATSOPER reitet, wichtige Produktionen und Informationen produktion war hinreißend: unter anderem Edita zum Haus kommen ebenso zur Sprache wie das Gruberova, Luigi Alva, Oskar Czerwenka, Hans künstlerische Geschehen an sich, die Inszenie- Helm! Im Sommer erscheint erstmals eine DVD rungsgeschichte und das Wirken prominenter In- dieser Produktion – ein Stück federleicht servier- terpretinnen und Interpreten. Ein Band, der auf ter Operngeschichte! eine historische, spannende Reise in eines der wichtigsten Opernhäuser der Welt mitnimmt und Auch im Bereich der Kinderoper sind in den letzten zu Entdeckungen einlädt. Jahren eine Vielzahl an Produktionen auf DVD er- schienen. Diese Reihe wird nun durch gleich zwei Anlässlich des Direktionswechsels präsentiert die Neuerscheinungen von Uraufführungsproduktio MIR IST DIE EHRE Wiener Staatsoper das Buch Mir ist die Ehre nen fortgesetzt: Persinette und Was ist los bei den WIDERFAHREN… widerfahren …, in der die Dekade der Direktion Enakos? Das erstgenannte Werk kam im Dezem- Die Direktion Dominique Meyer Dominique Meyer beleuchtet wird. Neben Statisti- ber 2019 am Großen Haus zur Uraufführung: Ba- ken und Daten zu den vergangenen Jahren bietet sierend auf der bekannten Rapunzel-Geschichte der Band zahlreiche Essays und Interviews seiner erzählt der Komponist Albin Fries die Geschichte Weggefährten, die aus ihrem jeweils persönlichen des im Turm gefangenen Mäd- Blickwinkel die Direktion bzw. wichtige künstleri- chens neu, kleidet die Handlung sche Ereignisse ausleuchten. Nicht fehlen darf na- in ein spätromantisches Klangge- türlich ein umfangreicher Fototeil, der einen Streif- wand. Dazu gibt es eine animati- zug durch Aufführungen der letzten Jahre bietet. onsverspielte Inszenierung von Matthias von Stegmann, die mit- Legendär ist die von ORF aufge- tels Videotechnik für fantasievoll zeichnete Don Pasquale-Produk- wechsende Räume sorgt. tion aus 1977, die im Rahmen der AK-Tournee der Staatsoper Ein knappes Jahr zuvor, im Jän- quer durch Österreich entstan- ner 2019, kam in der AGRANA den ist: In zahlreichen Orten STUDIOBÜHNE | WALFISCH- zwischen Krems und Hollabrunn GASSE eine Uraufführung von traten Künstlerinnen und Künstler des Hauses in Elisabeth Naske heraus: Was ist einer liebenswert inszenierten Produktion dieser los bei den Enakos? In dieser Donizetti-Oper auf. Dabei kamen Volkshäuser, kurzweiligen Kinder oper wird Stadtsäle und Stadttheater als Spielorte ebenso die Geschichte eines kugelig-kuscheligen Volks er- zum Einsatz wie Kongresshäuser. Gesungen wurde zählt, das sich aus einer gleichgeschalteten Wohl- auf Deutsch. Dieses von Direktor Egon Seefehlner fühl-Gesellschaft in eine aufgeklärte, individuell initiierte Projekt (Clemens Krauss plante übrigens geprägte Gemeinschaft entwickelt. 4 N° 239 www.wiener-staatso per.at
OPER ES GEHT WIEDER LOS! Die Wiener Staatsoper präsentiert im Juni ein reichhaltiges Konzertprogramm W ochenlang musste der Theaterbetrieb auf- grund der Corona-Krise auch in Österreich pausieren, ab nun können Vorstellungen – unter PROGRAMM 8. Juni Liederabend Günther Groissböck bestimmten Auflagen – wieder stattfinden. Zwar 9. Juni Ensemblekonzert nur vor einem sehr kleinen Publikum von maxi- 10. Juni Kammermusik mal 100 Personen, doch immerhin erklingt endlich der Wiener Philharmoniker wieder Musik in der Staatsoper, endlich erwacht das Haus am Ring wieder zum Leben. Schwer zu 11. Juni Liederabend KS Tomasz Konieczny entscheiden, wem der Kulturbetrieb mehr gefehlt 12. Juni Ensemblekonzert hat, den Zuschauern oder den Künstlerinnen und 15. Juni Liederabend KS Camilla Nylund Künstlern, die zum Schweigen verurteilt waren … Entsprechend groß ist hier auch die Begeisterung, 16. Juni Ensemblekonzert wieder vor den Vorhang treten und gemeinsam 18. Juni Liederabend KS Michael Schade musizieren zu können. 19. Juni Ensemblekonzert Geplant sind eine Reihe von klavierbegleiteten Lie- 20. Juni Liederabend KS Juan Diego Flórez der- und Arienabenden vor dem Eisernen Vorhang, 22. Juni Ensemblekonzert die einerseits von internationalen Gästen, ande- 24. Juni Ensemblekonzert rerseits von Ensemblemitgliedern des Hauses ge- staltet werden. Zusätzlich spielen die Wiener Phil- 25. Juni Liederabend harmoniker Kammermusik (dieses Konzert war KS Krassimira Stoyanova ursprünglich im Mahler-Saal geplant, finden nun 28. Juni Galakonzert des jungen Ensembles aber im Großen Haus statt). Als Abschluss wird am 28. Juni das geplante Galakonzert des jungen Ensembles stattfinden. Dabei treten all jene Sän- Alle Konzerte bis auf das Galakonzert finden um gerinnen und Sänger auf, die in der Direktion von 19.30 Uhr statt; das Galakonzert beginnt um 19.00 Uhr. Dominique Meyer eine besondere Rolle spielten Das genaue Programm der Abende sowie Besetzun- und – zumindest zeitweilig – im Ensemble waren: gen finden Sie unter www.wiener-staatsoper.at. ein musikalischer Rückblick, der mit Orchester Karten sind ab dem 3. Juni an den Kassen sowie stattfindet. online erhältlich. www.wiener-staatsoper.at N° 239 5
MIR IST DIE EHRE WIDERFAHREN … Dominique Meyer Z ehn Jahre lang war Dominique Meyer Direktor der Wiener Staatsoper, ab Sommer 2020 über- nimmt Bogdan Roščić die Leitung des Hauses am Ring, Meyer wechselt als Generalintendant an die Mailänder Scala. Im Abschiedsinterview blickt er auf seine Dekade zurück. 6 N° 239 www.wiener-staatso per.at
INTERVIEW Wann immer eine neue Funktion, vor allem eine und die Opern von Janáček führten dazu, dass Leitungsfunktion, angetreten wird, existieren Er- die Besucherzahlen, was das Zeitgenössische be- wartungshaltungen, Ideen, Vorstellungen. Wenn trifft, gut waren. Schließlich die Ensemble-Pfle- Sie nun Ihre Überlegungen zur Wiener Staatsoper ge, die enorm wichtig ist: Mein Fehler war, dass aus dem Jahr Ihrer Bestellung mit jenen von heute ich anfangs sagte, dass wir ein Mozart-Ensemble vergleichen: Wo liegen die Überlappungen? entwickeln werden. Da dachten viele, dass das Dominique Meyer: Deckungsgleich ist die An- von heute auf morgen passiert. Aber natürlich sicht, dass es damals einen Bedarf an besseren braucht so etwas viel Zeit. Probebedingungen gab. Das war ein Projekt, das wir sofort in Angriff nahmen und es wurde im Lau- Der verstorbene Musikkritiker Franz Endler mein- fe der Jahre vieles verbessert. Bis hin zur Errich- te einst, dass ein Kritiker ein Jäger ist, der die Guten tung einer neuen Probebühne im Arsenal oder zu hegt – und die Schwachen mitunter abschießt. Was veränderten Kollektivverträgen. Dazu kam, dass ist ein Direktor? Ein Gärtner? Ein Familienvater? etliches aus dem Repertoire sowohl szenisch als Dominique Meyer: Ich fand es stets am Span- auch musikalisch als auch technisch neu aufbe- nendsten, ein Potenzial zu entdecken. Wenn Sie reitet wurde. Ich erwähne stellvertretend nur die einem Sänger beim Vorsingen zuhören, wissen Rückkehr von Otto Schenk, der manche seiner Sie ja nicht viel über ihn: Ob er verlässlich ist, Produktionen aufgefrischt hat. Eine zweite Idee, intelligent, fleißig, kollegial? Man hört nur eine die mir damals wie heute wesentlich schien und Stimme. Wenn man ihn engagiert, muss man ihn scheint, ist die Fortentwicklung der Technologie oder sie in der Entwicklung begleiten, ich habe im Haus. Das hat mit kleinen Dingen angefangen viele Stunden in meinem Büro mit Gesprächen – mit den großen Bildschirmen statt den Foto- verbracht: Manchen geht einiges zu schnell, ande- kästen unter den Arkaden, dann kam das Strea- ren zu langsam, manche haben Angst, haben eine ming-System, es folgten die neuen Untertitel-Tab- falsche Selbstsicht, dann wieder gesundheitliche lets, die inzwischen die Libretti in acht Sprachen oder persönliche Probleme. Es sind oft junge anbieten, später die neue Beleuchtung des Saales Leute, die von der Hochschule kommen, mitun- mit LED-Licht, zuletzt die Digitalisierung von No- ter unerfahren sind. Ganz ähnlich ist es übrigens Sendetermine ten. Am Rande sei der zweifache Relaunch der bei Tänzerinnen und Tänzern, wie oft sitzt man als zu und mit Webseite erwähnt, die Einführung neuer sozi- Direktor um acht Uhr in der Früh im Büro, um ein- Dominique Meyer: aler Medien wie Instagram und Facebook. Drit- fach zu sprechen. Ein bisschen also eine Pater Fa- tens: Es kam zur Erweiterung des Repertoires, milias-Situation. Man ist Gärtner, Familienvater, Di- 28. Juni, 15.05 | Ö1 einerseits in Richtung Barock, andererseits in die plomat, Psychologe, Krankenschwester, Betreuer. 10 Jahre Moderne. In diesem Punkt würde ich heute aller- Staatsopern-Direktion dings anders vorgehen. Ich wollte zuerst das 20. Wie gelingt es in diesem ungewöhnlichen Betrieb, Dominique Meyer – Jahrhundert ergänzen und erneuern (z.B. Cardil- in dem jeden Tag eine unvorhergesehene Sache Ein Rückblick lac, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, dem passiert, sich gut vorzubereiten und abzusichern? mit Michael Blees Janáček-Zyklus) und mich dann den zeitgenössi- Dominique Meyer: Das ist eine Sache der Zeit schen Opern zuwenden. Schnell kam der Vor- und der Erfahrung. Am Anfang meiner Karriere 28. Juni, 9.30 | ORF 2 wurf, dass die Staatsoper keine zeitgenössische war für mich jede Absage eine mittlere Katastro- Ein Blick zurück Musik spielt. Das war zwar ohnehin für die zweite phe, aber dann begriff ich, dass man das anders mit Liebe Hälfte meiner Amtszeit geplant, aber würde ich sehen muss: Es gibt hier eine tolle Mannschaft, Dominique Meyer an heute neu anfangen, kämen die zeitgenössischen ein wunderbares Betriebsbüro, eine außeror- der Wiener Staatsoper Opern gleich zu Beginn. Obwohl dieses Annä- dentliche Situation, dass vieles durch das Ensem- hern an die Gegenwart auch einen Vorteil hat- ble gecovert ist. Für die Rollen, die keine Zweit- 30. Juni, 11.00 | radio- te: Wir konnten manchen an der Hand nehmen besetzung am Haus haben, muss man jene im klassik und nach und nach an die zeitgenössische Mu- Auge behalten, die notfalls einspringen könnten. Mélange mit sik heranführen. Das Ergebnis jedenfalls ist gut: Meistens sind diese spontanen Umbesetzungssi- Dominique Meyer Klassiker der Moderne wie Wozzeck oder Lulu tuationen schnell und ohne großen Nervenver- Der Abschied www.wiener-staatsoper.at N° 239 7
schleiß gelaufen. Das ist auch das Schöne an der eine Besetzung, die ein bestimmtes Werk gera- Staatsoper, dass man hier in Ruhe arbeiten kann. dezu fordert. Dann gibt es Grundbausteine des Repertoires, Mozart, Strauss, Wagner. Das ist Zur Frage des Verkaufen-Müssens: Wie „populis- aber noch nicht alles: Wenn man die Geschichte tisch“ soll man als Staatsoperm-Direktor sein, wie des Wiener Repertoires studiert, sieht man, dass weit hat man seinem Publikum entgegenzukom- die Staatsoper in Wahrheit eine sehr italienische men? Oper ist, viel italienischer als deutsch. Es gibt Dominique Meyer: Ich gehöre zu jenen, die Re- kein vergleichbares Haus in Italien, an dem so spekt vor dem Publikum haben. Ich kannte das viele entsprechende Stücke zu erleben sind wie Publikum in Lausanne, in Paris – und ich kenne hier. All das muss in einen Spielplan einfließen, es in Wien. Viele Zuseher sogar persönlich. Nicht und bevor ich hierherkam, studierte ich das sehr wenige von jenen, die in die Vorstellung gehen, genau. Natürlich gönnt man sich auch Wünsche, sind gebildet und haben großes Wissen. Man doch in erster Linie hat man als Direktor eine sollte nie so eingebildet sein und sagen: Das sind Verantwortung, und weder das Haus, noch das Leute, die glauben zu wissen, aber letztlich kei- Publikum sind ein Spielzeug. Die Staatsoper ist ne Ahnung haben. Denn das stimmt nicht. Ganz eine österreichische Nationalinstitution, für die im Gegenteil! Das Publikum kennt sich aus! Di- man arbeiten darf. rektoren müssen freilich Kenntnisse haben, die darüber hinausgehen, das ist klar. Weil sie vieles Wer ist eigentlich der nächste Partner des Opern- gehört haben, weil sie reisen und sich den gan- direktors? Gibt es einen? Oder ist man als Direktor zen Tag mit Fachfragen beschäftigen. Ich habe einsam? mein ganzes Wissen aus Leidenschaft gewon- Dominique Meyer: Ich habe mich jedenfalls nie nen, viel gehört, viel erlebt. Ich habe Konzerte, einsam gefühlt. Der nächste Partner war für mich Opern programmiert und ich kenne das Reper- Thomas Platzer, der kaufmännische Leiter. Und toire. Manchmal kann es also die Aufgabe des Di- die Menschen, die jeden Tag mit mir gearbeitet rektors sein, die Zuschauer in eine Richtung zu haben, Studienleiter, Oberspielleiterin, Betriebs- führen, an die sie vielleicht nicht gedacht haben. direktorin. Oder in der Momentaufnahme: Der Man kann ihnen etwas zeigen, was sie vielleicht nächste Partner ist immer der, der mir hilft, das nicht kennen. Was ich aber nicht glaube ist, dass nächste Problem zu lösen. Was mich aber immer ein Direktor einen besseren Geschmack als das begeistert hat war, dass man in einem Haus wie Publikum hat. Denn, seien wir ehrlich: Sehr vie- der Staatsoper mit so vielen unterschiedlichen les ist eine persönliche Vorliebe, die nicht nur Menschen zu tun hat, und sie alle die Begeis- von Mensch zu Mensch, sondern auch von Land terung teilen. Alle gehörten zu diesem Kosmos zu Land sehr verschieden sein kann. Staatsoper, und es ist schön, sie alle zu kennen. Einer ihrer Vorgänger, Egon Seefehlner, meinte, Das Repertoire umfasste in den letzten zehn Jah- dass man als Direktor einfach nur jene Stücke ren, die Kinderoper eingerechnet, über 120 Werke. als Premiere ansetzen muss, die man selber gerne Inwiefern verfolgten Sie damit eine bewusste Stra- hat. Und schon steht der Spielplan. tegie der Verbreiterung des Angebots? Dominique Meyer: Das finde ich nicht. Ich habe Dominique Meyer: Manchmal entsteht der Ein- viele Stücke gespielt, die ich persönlich gar nicht druck, dass das Repertoire der Wiener Staatsoper so sehr mag. An der Wiener Staatsoper geht es eine gegebene Größe ist, eine Einheit, die ir- ja um das Interesse des Hauses: Man muss un- gendwann vom Himmel gefallen ist. Wenn man terschiedliche Stücke planen, die einen aus- sich aber ein wenig mit der historischen Dimen- gewogenen Spielplan ergeben, dazu kommen sion beschäftigt, dann merkt man, dass dem gar die technischen Gegebenheiten des Hauses, nicht so ist. Es gab Moden. Es gab Tendenzen. die Kollektivverträge. Manche Stücke füllen Es gab Lücken. Das Repertoire ist etwas Lebendi- die Kassen, andere nicht. Manchmal ergibt sich ges, Sich-Entwickelndes, das manchmal in diese, 8 N° 239 www.wiener-staatso per.at
INTERVIEW dann wieder in jene Richtung verläuft, mitunter Also keine schlechten Erfahrungen? wächst oder auch schrumpft. Mir war es wichtig, Dominique Meyer: Es gibt drei Kreise. Num- jedes Jahr zumindest eine Oper zu bringen, die mer eins: das Haus. Da war alles wunderbar, hier am Haus noch nicht erklungen ist – alleine die Liebe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon dieses Vorhaben verändert die Struktur zum Musiktheater, das Engagement, die Fähig- des Repertoires. Dazu kamen einige Stücke, die keiten zur Zusammenarbeit, die Begeisterung, lange nicht mehr gespielt worden waren, aber für die Kompetenz… Ich fühlte mich immer wohl ein solchen Haus sehr wichtig sind. Und schließ- und war glücklich. Nummer zwei: das Publikum. lich Werke, die man vielleicht nicht regelmäßig Auch da machte ich gute Erfahrungen. Anfangs spielen kann, aber dann und wann an einem dachte ich, vielleicht heißt es: „Der Franzose“ so außerordentlichen Haus auftauchen sollten, oder „Der Ausländer“. Das habe ich in zehn Jah- zum Beispiel Les Troyens oder Věc Makropulos. ren genau fünfmal gehört – und davon zweimal von derselben Person, das war also absolut kein Die Funktion des Wiener Operndirektors ist kli- Thema. Das ist ein Vorurteil, dass die Wiener so scheebelastet. Man spricht immer wieder von Stol- sind. Ich wurde sehr positiv empfangen, gut be- persteinen in Form von Intrigen und Neid. Dieses handelt. Aber es gibt eine dritte Ebene, das sind Klischee war Ihnen bekannt, bevor Sie antraten? „Fachleute“, die rund um die Oper kreisen, und Dominique Meyer: Man warnte mich in höchs- manche von ihnen glauben, sich alles erlauben tem Maße. Viele Dirigenten zum Beispiel sagten: zu dürfen, sie glauben, dass ihr Geschmack der „Geh nicht!“ Und alle Fragen, die man mir an- beste und einzig wahre ist, und sie glauben, eine fangs gestellt hat, gingen in diese Richtung. Kol- Entscheidungsgewalt zu besitzen. Diese Leute legen blickten mich mitleidig an, so wie einen, sitzen bei Abendessen, in Klubs und halten sich der an einer tödlichen Krankheit leidet. Da dach- für Meinungsmacher, verfolgen aber rein persön- te ich mir: „ Jetzt musst du Abstand gewinnen liche Ziele. Und da wird wirklich intrigiert. Wobei und dich mit konkreten Zahlen beschäftigen, um ich denke, dass der Einfluss dieser Gruppe we- aus dieser seltsamen Stimmung und den Vorher- niger und weniger wird, auch wenn sie es nicht sagen wieder heraus zu finden“. Freilich, wenn wahrhaben wollen. Also, unterm Strich muss ich man aus dem Ausland nach Wien kommt, merkt sagen, dass man es als Operndirektor in Wien man sofort, dass hier vieles anders ist als in ande- sehr sehr gut hat. Es gibt eine Liebe des Publi- ren großen Städten. Ein Beispiel: Als ich in Paris kums zum Haus, eine Liebe der Künstlerinnen Direktor war, veranstaltete ich jedes Jahr eine und Künstler zum Haus, es gibt offene Herzen Pressekonferenz und gab zwei Interviews – das und offene Ohren. Wenn man bedenkt, wie hef- war’s! Mehr nicht! Denn in Paris hofft die Presse, tig in der Vergangenheit Operndirektoren atta- dass ein Direktor nichts sagt, weil die Zeitungen ckiert wurden, bis hin zu ihrem Tod, dann muss ohnehin zu wenig Platz haben. In Wien hofft die man sagen: Dieses Gift ist heute kaum mehr da. Presse, dass ein Direktor sich zu Wort meldet – Mit mir wurde jedenfalls gut umgegangen. zu den unterschiedlichsten Themen. Man kann auch nicht unerkannt spazieren gehen, sondern Premieren bereitet ein Haus sechs Wochen vor, wird angesprochen – kein Tag in den letzten das Repertoire kann nicht so ausführlich geprobt zehn Jahren, an denen das nicht passiert wäre. werden. Wie gingen Sie damit um, dass nicht jeder Die Leute sind immer freundlich, immer inter- Abend eine Premiere sein kann? essiert, aber man steht unter Beobachtung. Das Dominique Meyer: Mein Credo war stets, dass ist etwas, an das ich mich erst gewöhnen musste. die Leistung, die man dem Zuschauer, der Geld Nun aber etwas ganz Wichtiges: Das hat nichts an der Kassa lässt, bietet, immer stimmen muss. mit der Person zu tun, sondern nur mit dem Amt Sagen wir, die Staatsoper spielt sechs Opernpre- des Operndirektors. Die Menschen waren nicht mieren, dann bleiben immer noch ungefähr 220 an Dominique Meyer interessiert, sondern am Abende Repertoire. Die müssen gut sein – und Direktor. Das darf man nicht verwechseln. sie sind es auch, denn das Haus ist hier sehr www.wiener-staatsoper.at N° 239 9
stark! Die große Mehrheit der Repertoirevorstel- bessern, politische Meinungen verbreiten kann? lungen ist viel besser als an anderen Häusern. Dominique Meyer: Ja, natürlich! Theater kann Ich habe hier Salome, den Ring, Elektra und das! Es gibt stets eine Interaktion zwischen Ge- anderes auf einem Niveau gehört, das man an- sellschaft und den Institutionen, die auf den derswo kaum hört, nicht einmal bei Premieren. Menschen, auf die Menschen einwirken. Das ist Und das nicht nur bei Strauss und Wagner. Wenn ein Grundaspekt des Theaters. Wobei man natür- man am Abend in die Loge geht und eine gut lich nicht einfach naiv sagen kann: Kultur macht aufgestellte Besetzung den Barbier von Sevilla einen Menschen prinzipiell besser. Dafür gibt spielt, kann man Großartiges erleben. Selbst wir, es zu viele Gegenbeispiele, die zeigen, wie sehr die viel gehört haben, sitzen da und sind, wie je- Kunst missbraucht wurde. Auch die Nazis sind in der andere Opernliebhaber, einfach verzaubert. die Oper gegangen. Und dann wiederum wurde Es kann natürlich vieles schiefgehen, das ist klar. Kultur als Selbstdarstellung verwendet, die Ge- Aber auch eine Premiere kann Schwächen ha- schichte ist voll von diesen Beispielen. Es kommt ben, alleine schon, weil der Druck, der sich an also auch auf den Einsatz von Kunst an. Ich bin einem solchen Abend aufbaut, so groß ist. aber überzeugt, dass eine gebildete Gesellschaft eine bessere ist, und die Oper an einem Kreu- Nach welchen Kriterien haben Sie Inszenierun- zungspunkt so vieler Genres und Gebiete liegt, gen und Regisseure ausgewählt? ja geradezu die zentrale Kreuzung ist. Daher Dominique Meyer: Meine Idee war immer, dass kann Musiktheater den Geist für so vieles öffnen die Inszenierungsarbeit international ist. Es soll und kann so inspirierend und befruchtend sein. nicht nur eine Sicht auf die Oper geben. Ich woll- Das Interesse für Geschichte, für Gesellschaft, te Regisseure aus vielen Ländern, viele Stile, ich für Politik, für Psychologie, für Mythologie, für wollte es bewusst mischen. Für mich muss der Kunstgeschichte, für so viel anderes – all das Horizont der Wiener Staatsoper sein: London, kann die Oper wecken. Manchmal beleuchtet Berlin, Paris, Mailand, New York. ein Stück die Geschichte, manchmal beleuchtet ein Stück die Gegenwart, aber immer beleuchtet Darf man sich als Direktor Zweifel erlauben? In sie uns und unser Zusammenleben. Daraus kann puncto Barockoper haben zum Beispiel viele ge- man, wenn man guten Willens ist, etwas lernen. sagt: Das wird nicht funktionieren! Gab es einen Ich möchte freilich gerne, dass die Kultur die Moment des Zweifels? Der Letzte, der hier Barock Welt verbessert – wir sind aber immer wieder ge- gespielt hat, war Karajan, aber mit großem, ro- zwungen, die Grenzen der Wunscherfüllung zu mantischem Orchester. erkennen. Dominique Meyer: Ich habe oft Zweifel – aber nicht in diesem Punkt, denn da hatte ich zu viel Letzte Frage: Wenn Sie sich von Ihren verstorbenen Erfahrung, um nicht zu wissen, dass es klappen Vorgängern einen Direktor als Gesprächspartner wird. Denn wo liegt der Unterschied, ob Frau wünschen dürften – wer wäre es? Und worüber Harteros ein Mozart-Rezitativ mit Cembalo-Be- würden Sie sprechen? gleitung singt oder eines von Händel? Akustisch Dominique Meyer: In meinem Zimmer hängen ist es das gleiche! Ich holte ein Barockensemble, zwei Bilder: eines von Richard Strauss und ei- das nicht zu klein ist und einen Dirigenten – Marc nes von Gustav Mahler. Ersteren schätze ich als Minkowski – der es deftig mag. Und ich setzte ein Komponisten, seinen Spielplanideen, wie er sie Stück an, dass zumindest als Name gut bekannt Karl Böhm übermittelt hat, möchte ich allerdings ist: Alcina. Dazu international wichtige Sängerin- nicht folgen. Zweiteren schätze ich als Kompo- nen und Sänger. Seien wir ehrlich – eine Alcina nisten und als Direktor, mit ihm würde ich mich mit Anja Harteros: da kann nicht viel schiefgehen. gerne unterhalten. Und worüber? Das bleibt un- ser Amtsgeheimnis! Empfinden Sie Theater als eine große, gesell- Láng-Láng schaftspolitische Werte-Maschine, die die Welt ver- 10 N° 239 www.wiener-staatsoper.at
OPER EIN WENIG OPERNSTATISTIK … I n der Direktionsdekade Dominique Meyers wur- den, inklusive Kinderoper, 57 Komponistinnen und Komponisten gespielt, es erklangen 122 un- Der Freischütz (Weber), 11. Juni 2018 Les Troyens (Berlioz), 14. Oktober 2018 Lucia di Lammermoor (Donizetti), 9. Februar 2019 terschiedliche Opernwerke. Es gab 53 Opernpre- Die Frau ohne Schatten (Strauss), 25. Mai 2019 mieren, darunter zwölf Erstaufführungen an der Otello (Verdi), 20. Juni 2019 Wiener Staatsoper, eine konzertante Premiere und A Midsummer Night’s Dream (Britten), 2. Okt. 2019 zwei Uraufführungen. Dazu zehn Kinderopern- premieren – alles Ur- bzw. Erstaufführungen – an ERSTAUFFÜHRUNGEN unterschiedlichen Spielstätten, unter anderem im AN DER WIENER STAATSOPER Großen Haus. Der meistgespielte Opernkompo- Alcina (Händel), 14. November 2010 nist war Giuseppe Verdi mit knapp 400 Abenden, Anna Bolena (Donizetti), 2. April 2011 die meistgespielte Oper war Tosca von Giacomo Aus einem Totenhaus (Janáček), 11. Dez. 2011 Puccini mit über 80 Aufführungen. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (Weill), 24. Jänner 2012 OPERNPREMIEREN Adriana Lecouvreur (Cilèa), 16. Februar 2014 Lucrezia Borgia (Donizetti), konzertant, 2. Okt. 2010 Das schlaue Füchslein (Janáček), 18. Juni 2014 Cardillac (Hindemith), 17. Oktober 2010 The Tempest (Adès), 14. Juni 2015 Don Giovanni (Mozart), 11. Dezember 2010 Věc Makropulos (Janáček), 13. Dezember 2015 Le nozze di Figaro (Mozart), 16. Februar 2011 Tri sestri (Eötvös), 6. März 2016 Kátja Kabanová (Janáček), 17. Juni 2011 Ariodante (Händel), 24. Februar 2018 La traviata (Verdi), 9. Oktober 2011 Orest (Trojahn), 31. März 2019 La clemenza di Tito (Mozart), 17. Mai 2012 Fidelio Urfassung (Beethoven), 1. Februar 2020 Don Carlo (Verdi), 16. Juni 2012 Alceste (Gluck), 12. November 2012 URAUFFÜHRUNGEN IM GROSSEN HAUS Ariadne auf Naxos (Strauss), 19. Dezember 2012 Fatima (Doderer), 23. Dezember 2015 (Kinderoper) La cenerentola (Rossini), 26. Jänner 2013 Die Weiden (Staud/Grünbein), 8. Dezember 2018 Tristan und Isolde (Wagner), 13. Juni 2013 Orlando (Neuwirth), 8. Dezember 2019 La fanciulla del West (Puccini), 5. Oktober 2013 Persinette (Fries), 21. Dezember 2019 (Kinderoper) Die Zauberflöte (Mozart), 17. November 2013 Rusalka (Dvořák), 26. Jänner 2014 KINDEROPERNPREMIEREN (A1-Kinderopernzelt / Lohengrin (Wagner), 12. April 2014 AGRANA STUDIOBÜHNE WALFISCHGASSE) Idomeneo (Mozart), 5. Oktober 2014 Die Feen (Floros / Wagner), 3. März 2012 Chowanschtschina (Mussorgski), 15. Nov. 2014 (Erstaufführung) Rigoletto (Verdi), 20. Dezember 2014 Pollicino (Henze), 28. April 2013 Elektra (Strauss), 29. März 2015 (Erstaufführung) Don Pasquale (Donizetti), 26. April 2015 Das Städtchen Drumherum (Naske), 26. Okt. 2013 Macbeth (Verdi), 4. Oktober 2015 (Uraufführung) Hänsel und Gretel (Humperdinck), 19. Nov. 2015 Undine (Lortzing / Schulze), 18. April 2015 Turandot (Puccini), 28. April 2016 (Erstaufführung) Armide (Gluck), 16. Oktober 2016 Patchwork (Schulze), 29. Jänner 2017 Falstaff (Verdi), 4. Dezember 2016 (Uraufführung) Il trovatore (Verdi), 5. Februar 2017 Cinderella (Deutscher), 28. Jänner 2018 Parsifal (Wagner), 30. März 2017 (Erstaufführung) Pelléas et Mélisande (Debussy), 18. Juni 2017 Die arabische Prinzessin (Arriaga), 12. Nov. 2018 Der Spieler (Prokofjew), 4. Oktober 2017 (Erstaufführung) Lulu, 3. Akt (Berg), 3. Dezember 2017 Was ist los bei den Enakos? (Naske), 26. Jänner 2019 Dantons Tod (Einem), 24. März 2018 (Uraufführung) Samson et Dalila (Saint-Saëns), 12. Mai 2018 www.wiener-staatsoper.at N° 239 11
Thomas Platzer DER HERR DER ZAHLEN I m Jahr 1981 trat Thomas Platzer in die Öster reichischen Bundestheater ein, seit fast 21 Jah- ren ist er der kaufmännische Leiter der Wiener gibt es immer beide Aspekte: das Geld und die künstlerische Qualität. Im Idealfall stimmt bei- des und die Seelen freuen sich gleichermaßen. Staatsoper. Mit Ende der Direktion Dominique Meyer tritt er in den Ruhestand – Zeit für einen Blick Viele Künstler wurden in ihren Beruf gleichsam hinter die wirtschaftlichen Kulissen des Hauses. hineingeboren und fühlten sich der Musik von Anfang an verbunden. War es bei Ihnen bezüglich Wenn Sie sich als kaufmännischer Direktor in des Wirtschaftlichen, des Zahlenwesens ebenso? eine beliebige Vorstellung setzen: Können Sie den Thomas Platzer: Schwierige Frage. In meiner Ju- Abend genießen? Oder läuft bei Ihnen automa- gend fand ich Mathematik stets sehr spannend. tisch ein Taxameter mit, der die Kosten anzeigt? Das Tüfteln an komplexen Fragestellungen, das Thomas Platzer: Ich gebe zu, dass es mir in den Lösen von Wahrscheinlichkeitsrechnungen oder ersten beiden Jahren als kaufmännischer Leiter komplizierten Gleichungen mit mehreren Unbe- der Staatsoper genauso gegangen ist und ich in kannten zog mich eindeutig an. Insofern würde Gedanken immer bei den Kosten war. Ich sah ich sagen, dass es schon so etwas wie eine Vor- nicht Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, liebe für die Welt der Zahlen gibt. Das hat sich sondern nur das Geld herumlaufen. Besonders quer durch mein Leben gezogen. Als zum Beispiel in puncto Kostüme: Da rechnete ich laufend mit, das Computerzeitalter anbrach, eröffnete sich für so und so lange sieht man das Kostüm, so und mich ein neues, herausforderndes Feld, das ich so viel hat es gekostet. Das ist natürlich so etwas zum Teil im Selbststudium beackerte. Ich weiß wie eine Berufskrankheit. Aber es legte sich zum noch, wie ich mir ein umfangreiches Excel-Buch Glück schnell und seit langem genieße ich Vor- kaufte und es auf der Suche nach Anwendungs- stellungen ebenso wie jeder andere. Wenn ich zu- möglichkeiten für meinen Beruf durcharbeitete. sätzlich weiß, dass die wirtschaftliche Auslastung stimmt – dann freue ich mich natürlich doppelt. Weil Sie das Selbststudium erwähnten: Was am Beruf des kaufmännischen Geschäftsführers eines Welche Freude überwiegt in einem solchen Fall? Opernhauses ist tatsächlich lehrbar, was kann Jene über einen künstlerischen oder den finanzi- man nur aus der Erfahrung erwerben? ellen Erfolg? Thomas Platzer: Ich denke, ich bin diesbezüg- Thomas Platzer: Da wohnen zwei Seelen in mei- lich ein Unikat und werde es auch bleiben, denn ner Brust, denn für einen kaufmännischen Leiter mein Werdegang ist ja nicht alltäglich. Ich traf 12 N° 239 www.wiener-staatsoper.at
INTERVIEW am Beginn meiner Laufbahn auf einen echten meiner knapp 21 Jahre mit ihrer Auslastung ver- Visionär, den damaligen Leiter der Hauptab- zeichnet ist, man kann also auf Knopfdruck nach- teilung Rechnungswesen, Erich Lutz, der mich schauen, wie der Abend X, der Abend Y oder alle neun Jahre vor seiner Pensionierung auswählte Aufführungen eines Titels wirtschaftlich ausgese- und meinte: „Sie üben ab nun hintereinander hen haben. Daraus lässt sich viel herauslesen. alle Positionen in allen Sachabteilungen aus und werden danach mein Nachfolger“. Das war eine Aber wovon hängt die Auslastung ab? Gibt es Stü- wunderbare Sache. Denn so lernte ich genau, cke, die sich von selbst verkaufen? was wo wie zu tun ist und kenne vieles aus ers- Thomas Platzer: Natürlich gibt es Operntitel, ter Hand. Das kann kein Studium vermitteln, so- wie die Zauberflöte oder Traviata, die praktisch viel Praxis gibt es nur – in der Praxis und vieles immer gut gehen. Viele erstaunt es, dass Richard kann man sich nur selbst mit eiserner Disziplin Strauss – bis auf den Rosenkavalier – eher schwie- beibringen. Natürlich, es braucht eine Anleitung, rig im Verkauf ist. In solchen Fällen wirkt sich die aber den Kurs „Kaufmännische Leitung Wiener Besetzung sehr stark aus, wenn man zugkräftige Staatsoper“ – den kann es nie geben. Namen hat, läuft auch Capriccio gut. Natürlich kann es eine Rolle spielen, wie oft man einen Meistens gibt es einen Bereich, für den man beson- Abend spielt. Viermal eine gute und beliebte Pro- ders brennt. In Ihrem Fall ist es der Kartenvertrieb? duktion wie Cardillac ist kein Problem, achtmal Thomas Platzer: Nein, es ist und bleibt das Bud- wird rein auslastungstechnisch zu viel sein. Es get im Gesamten. Eine komplexe Materie! Es war kann natürlich Ausnahmen geben, La Fille du immer schon mein Steckenpferd, das Budget régiment etwa lief 2007 zehnmal hintereinander punktgenau zu berechnen und abzubilden. Wo- ausverkauft oder die Entführung aus dem Serail bei der Kartenvertrieb seine spannenden Seiten im Jahr 2006 ebenso zehnmal ausverkauft – aber hat: Wie bekomme ich selbst unter schwierigen das hatte auch mit dem Mozartjahr zu tun. Es gibt Umständen eine gute Auslastung hin? Werke, die weniger bekannt sind, wie zum Bei- spiel La Juive und vom Publikum dennoch sehr Zum Beispiel? gut angenommen wurden. Es sind einfach zahl- Thomas Platzer: Am Aschermittwoch, wenn alle reiche Faktoren, die eine Auslastung bestimmen. zum Heringsschmaus gehen und nicht ins Thea- ter kommen. An diesem Tag ist die Nachfrage Muss der kaufmännische Leiter aufgrund der Vor- nach Opernkarten nachweislich geringer. sicht, zu der er gesetzlich verpflichtet ist, im Kultur- betrieb immer ein wenig der Spielverderber sein? Hätten Sie rein aus Ihrer Erfahrung bei einem be- Thomas Platzer: Ich hatte als Geschäftsführer liebigen Spielplanentwurf Dominique Meyers auf nur zwei Direktoren, Ioan Holender und Domi- den ersten Blick sagen können: Dieses oder jenes nique Meyer, und beide waren auch aus kauf- Projekt – das wird auslastungstechnisch schwierig? männischer Sicht sehr gut! Weil sie beide nicht Thomas Platzer: Um ehrlich zu sein: Da Domi- nur künstlerisch, sondern auch wirtschaftlich nique Meyer immer einen sehr guten Spielplan dachten und darauf achteten, dass das Geld gemacht und die wirtschaftliche Situation mitge- nicht einfach so ausgegeben wird. Und weil sie dacht hat, waren solche Warnungen nicht nötig. Spielpläne erstellten, die entsprechend zugkräf- Natürlich gibt es Abende, die besser gehen und an- tig waren. Und die Ergebnisse gaben ihnen recht! dere, die etwas zäher im Verkauf sind. Das gleicht sich im Laufe einer Spielzeit aus. Vieles kann ich In Ihren gut 20 Jahren haben Sie – geschätzt – aus meiner Erfahrung im Vornherein abschätzen, zwölf Millionen Karten verkauft… aber den Ehrgeiz, die jeweilige Auslastung einer Thomas Platzer: … was vor allem eines zeigt: Das zukünftigen Vorstellung präzise vorhersagen zu Publikum in Wien ist fantastisch! Interessiert, treu können, habe ich nicht. Es gibt da etwas Besseres: und begeisterungsfähig. Einfach fantastisch! Ich besitze eine Tabelle, in der jede Aufführung Das Gespräch führte Oliver Láng www.wiener-staatsoper.at N° 239 13
AU REVOIR, MANUEL LEGRIS G eboren in Paris, erhielt Manuel Legris an der Ballettschule der dortigen Oper seine Aus- bildung und wurde im Anschluss 1980 an das Bal- selbst als Tänzer mitwirkte, wurde rasch zu einer „Wiener Tradition“. Aus der choreographischen Feder Nurejews zeig- lett der Pariser Oper engagiert. Sechs Jahre später te das Wiener Staatsballett unter der Leitung von wurde er vom damaligen Ballettdirektor der Pariser Legris Don Quixote (Premiere am 28. Februar Oper, Rudolf Nurejew, zum Danseur Étoile ernannt. 2011), Der Nussknacker (P.: 7. Oktober 2012), Legris tanzte die großen Partien des klassischen und Schwanensee (P.: 16. März 2014) und Raymonda modernen Repertoires und trat in zahlreichen Ur- (Wiederaufnahme am 22. Dezember 2016) sowie aufführungen hervor. Weltweit absolvierte er Gast- Ausschnitte (zum Teil gesamte Akte) aus sieben spiele mit den renommiertesten Ballettkompanien weiteren Balletten bzw. Fassungsvarianten der hier sowie mit seinem eigenen Ensemble „Manuel Legris bereits genannten Abendfüller. et ses Étoiles“. Im Mai 2009 gab er seine Abschieds- Onegin (Choreographie: John Cranko), Marie An- vorstellung als Danseur Étoile der Pariser Oper, toinette (2 Fassungen, Ch.: Patrick de Bana), Die seither ist er als Gastsolist an diesem Haus sowie Fledermaus (Ch.: Roland Petit), Max und Moritz an anderen Bühnen in Europa, Asien und Amerika (Ch.: Ferenc Barbay, Michael Kropf), Le Concours aufgetreten. Häufig führte ihn sein Weg nach Wien, (Ch.: Maurice Béjart), Ballett: Carmen (Ch.: Davide wo er am 27. Jänner 1985 in der Rolle des Béranger Bombana), Giselle (Ch.: Elena Tschernischova), in Rudolf Nurejews Raymonda debütierte. La Sylphide (Ch.: Pierre Lacotte), Dornröschen Ein Vierteljahrhundert später sollte das Haus am (Ch.: Peter Wright), Anna Karenina (Ch.: Boris Ring komplett zu seinem Lebensmittelpunkt wer- Eifman), Romeo und Julia (Ch.: Cranko), Blaubarts Manuel Legris den: Mit 1. September 2010 übernahm Manuel Geheimnis (Ch.: Stephan Thoss), Manon (Ch.: Ken- Legris die Direktion des nunmehr unter dem Na- neth MacMillan), Ein Sommernachtstraum (Ch.: men „Wiener Staatsballett“ firmierenden Ensembles Jorma Elo), Ein Reigen (Ch.: Ashley Page), Mayer- sowie die künstlerischere Leitung der Ballettakade- ling (Ch.: MacMillan), Giselle Rouge (Ch.: Eifman), mie der Wiener Staatsoper. La Fille mal gardée (Ch.: Frederick Ashton), In seiner ersten Spielzeit als Direktor des Wiener Die Schneekönigin (Ch.: Michael Corder), Staatsballetts präsentierte er die ungewöhnlich Cendrillon (Ch.: Thierry Malandain), Roméo et hohe Anzahl von insgesamt acht Premieren in bei- Juliette (Ch.: Bombana), Peer Gynt (Ch.: Edward den Häusern – Wiener Staatsoper und Volksoper Clug), Coppélia (Ch.: Lacotte) und Peter Pan (Ch.: Wien. Von Beginn an verriet seine Auswahl dabei Vesna Orlic) unterstreichen – alle in diesem Artikel spezifische Schwerpunkte, die das Jahrzehnt seiner vorgenommenen Reihungen erfolgen chrono Wiener Amtszeit ebenso durchgehend wie charak- logisch und mit verkürzten Angaben zur Choreog- teristisch prägen sollten: ein besonderes Interesse raphie – die von Manuel Legris geübte Pflege des an der Neoklassik, das sich v.a. in zahlreichen, den abendfüllenden Handlungsballetts. Choreographen George Balanchine, Jerome Rob- Dabei steuerte er in Wien auch eigene choreogra- bins und John Neumeier gewidmeten Produktio- phische Beiträge zur Gattung bei: Am 20. März 2016 nen manifestierte, die Pflege der Ballettfassungen gelangte seine erste abendfüllende Choreographie Le wie des Erbes von Rudolf Nurejew sowie des abend- Corsaire in der Wiener Staatsoper zur Uraufführung, füllenden Handlungsballetts im Allgemeinen, eine am 10. November 2018 folgte ebendort – als Ko- grundsätzliche Orientierung am Modell „Ballett der produktion mit dem Teatro alla Scala – Sylvia. An Pariser Oper“ und die Vergabe von Auftragschoreo- kürzeren Choreographien von Manuel Legris waren – graphien. ebenfalls als Uraufführungen – Donizetti Pas de deux Besonders die seinem Mentor gewidmete Nurejew (P.: 29. Jänner 2011, Volksoper Wien), Ausschnitte Gala, die jährlich den Saisonschluss in der Wiener aus Die Bajadere (P.: 27. April 2013, Volksoper Wien) Staatsoper bildete und bei der Manuel Legris 2011, sowie die 2018 in Japan uraufgeführte Zusammen- 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, 2018 und 2019 auch stellung Nureyev Celebration zu sehen. 14 N° 239 www.wiener-staatsoper.at
BALLETT Bereits genannte Werke eingerechnet, kam es wäh- liche Entlein (Ch.: Kaydanovskiy), Tausendund- rend seiner Direktionszeit zu 28 choreographi- eine Nacht (Ch.: Orlic), The Second Detail (Ch.: schen Uraufführungen von de Bana, Legris, Boris Forsythe), Contra Clockwise Witness (Ch.: Horec- Nebyla, András Lukács, Orlic, Susanne Kirnbauer, na), Études (Ch.: Lander), Vaslaw (Ch.: Neumeier), Andrey Kaydanovskiy, Eno Peci, Natalia Horecna, Allegro Brillante (Ch.: Balanchine), Vier letzte Lie- Page, Daniel Proietto, Bombana und Pontus Lid- der (Ch.: van Dantzig), Mozart à 2 und Don Juan berg in der Wiener Staatsoper und Volksoper Wien (beide Ch.: Malandain), Verklungene Feste und bzw. auf Gastspielen – drei weitere konnten wegen Josephs Legende (beide Ch.: Neumeier, die Josephs der Covid-19 bedingten Schließung nicht mehr re- Legende dabei in der Hamburger Neufassung von alisiert werden. Dazu kommen Uraufführungen bei 2008), Adagio Hammerklavier (Ch.: van Manen), den Eröffnungen des Wiener Opernballs, der Neu- Cacti (Ch.: Ekman), Fool’s Paradise (Ch.: Wheel- jahrskonzerte der Wiener Philharmoniker und den don), The Four Seasons (Ch.: Robbins), Symphonie Veranstaltungen der Ballettakademie in der Wiener in C (Ch.: Balanchine), Murmuration (Ch.: Liang), Staatsoper wie andernorts, deren künstlerische Lei- Blanc (Ch.: Proietto), Le Pavillon d’Armide und tung Manuel Legris schließlich nur bis zum Ende Le Sacre (beide Ch.: Neumeier), Petruschka der Spielzeit 2018/2019 innehatte. (Ch.: Peci), Movements to Stravinsky (Ch.: Lukács), Von 42 ChoreographInnen kamen erstmals Werke Der Feuervogel (Ch.: Kaydanovskiy), Concerto zur Aufführung beim Wiener Staatsballett: Twyla (Ch.: MacMillan), EDEN|EDEN (Ch.: McGregor), Tharp, de Bana, Jiří Bubeníček, Paul Lightfoot und Marguerite and Armand (Ch.: Ashton), Artifact Sol León, Marco Goecke, Legris, Lacotte, Arthur Suite (Ch.: Forsythe), Trois Gnossiennes (Ch.: van Saint-Léon, Jacques Garnier, José Martínez, Nils Manen), Psalmensymphonie (Ch.: Kylián), Between Christe, Serge Lifar, Orlic, Thoss, David Dawson, Dogs and Wolves (Ch.: Lidberg) und White Dark- Helen Pickett, Jean-Christophe Maillot, Kirnbauer, ness (Ch.: Duato) über die Bühne. Kaydanovskiy, Peci, Agrippina Waganowa, Horec- Als besondere „Klammer“ seines Wirkens in Wien na, Page, Malandain, Alexander Ekman, Attila Bakó, sei das Ballett Jewels von Balanchine genannt, des- Trevor Hayden, Joseph Lazzini, Bigonzetti, Christo- sen Teil Rubies am 24. Oktober 2010 bei der ers- pher Wheeldon, Corder, Philippe Kratz, Edwaard ten Premiere seiner Direktionszeit in der Wiener Liang, Angelin Preljocaj, Proietto, Liam Scarlett, Staatsoper zu sehen war und das am 2. November Wayne McGregor, Clug, Pjotr Gussew, Pontus Lid- 2019 ebendort die letzte abendfüllende Premiere berg und Nacho Duato. seiner Amtszeit bildete. An einaktigen Werken gingen unter Legris The- Gastspiele führten das Wiener Staatsballett unter ma und Variationen (Ch.: Balanchine), Variati- der Leitung von Manuel Legris nach Versailles und onen über ein Thema von Haydn (Ch.: Tharp), Monte Carlo (2011), Japan (2012 und 2018), Bel- The Vertiginous Thrill of Exactitude (Ch.: For- grad und Paris (2013), in den Oman (2014), nach sythe), Le Souffle de l’esprit (Ch.: Bubeníček), Tampere und Granada (2015), St. Petersburg (2015, Glow – Stop (Ch.: Elo), Skew-Whiff (Ch.: Lightfoot, 2016 und 2019), Madrid (2017) und Brünn (2018). León), Bella Figura (Ch.: Kylián), Glass Pieces, Darüber hinaus entstanden DVD- bzw. Blu-ray-Pro- In the Night und The Concert (alle drei Ch.: Robbins), duktionen von Der Nussknacker, Schwanensee, Stravinsky Violin Concerto (Ch.: Balanchine), Don Quixote und Le Corsaire; Peer Gynt und Syl- Suite en Blanc (Ch.: Lifar), Before Nightfall via wurden für das TV aufgezeichnet. (Ch.: Christe), L’Arlésienne (Ch.: Petit), Nachmittag 2018 zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper er- eines Fauns (Ch.: Nebyla), Bolero (Ch.: Lukács), nannt, ist Manuel Legris seit Februar dieses Jahres Carmina Burana (Ch.: Orlic), Bach Suite III (Ch.: designierter Ballettdirektor der Mailänder Scala – Neumeier), A Million Kisses to my Skin (Ch.: Daw- mit Ende der Spielzeit 2019/2020 endet seine Funk- son), Eventide (Ch.: Pickett), Windspiele (Ch.: de tionsperiode im Haus am Ring. Bana), Vers un Pays Sage (Ch.: Maillot), Das häss- Oliver Peter Graber www.wiener-staatsoper.at N° 239 15
DAS GEHEIMNIS DES KREATIVEN Ein Zoom-Gespräch im Corona-Alltag KS Wolfgang Bankl als übernachtiger, alkoholisierter Graf Waldner in Sven- D er 18. Mai 2020 stellte in der jüngeren Chro- nik der Wiener Staatsoper gewissermaßen ei- nen Markstein dar: Ab diesem Tag durften wieder – Eric Bechtolfs Arabella-Inszenierung freilich mit dem notwendigen Sicherheitsabstand – zumindest Proben, genauer Einzelstimmproben abgehalten werden. In den Corona-Wochen da- vor hatte man im unwirklich leer gewordenen Staatsoperngebäude kaum jemanden antreffen können, am allerwenigsten Künstler. Gespräche beispielsweise mit Sängern waren daher, sollten sie von Angesicht zu Angesicht stattfinden, nur über eine der mittlerweile ungeheuer populär gewordenen Videokonferenz-Optionen wie Sky- pe oder Zoom möglich. Ein netter Nebeneffekt dieser Kommunikationsform war jedoch die Mög- lichkeit, einen Blick in das Wohn- oder Arbeitszim- mer des Gegenübers zu erhaschen. So konnte ich etwa während einer Plauderei mit Kammersänger Wolfgang Bankl eine große Abbildung von Johann Sebastian Bach im Hintergrund ausmachen. Nicht unbedingt der typische Komponist, den man als Säulenheiligen im Heim eines beliebten Opernsän- gers vermuten würde. Oder doch? Nun, für Wolf- gang Bankl ist Bach schlicht und einfach der Größ- te unter den Größten, der Gottvater der Musik sozusagen, der erklärte Liebling seit dem Beginn seines Gesangsstudiums, einer der ob seiner ge- nial-raffinierten Harmonie-Wunderwelten und de- ren Auflösungen jeden Hörer und Interpreten vor Ehrfurcht zunächst stumm werden lässt. Dass Bach keine Oper geschrieben hat, stört Bankl daher kein bisschen. Ein anderes Komponisten-Porträt war, zumindest in dem durch den Zoom-Blick erfass- baren Raumausschnitt zwar nicht auszumachen, aber Bankl nannte mit Mozart sehr bald einen wei- teren seiner lebenslangen Favoriten. Nicht nur, dass das berühmte Menuett aus dem Schluss des ersten Don Giovanni-Aktes in Form der Kennme- lodie der Salzburger Festspielübertragungen seine früheste Erinnerung an klassische Musik darstellt, es ist vor allem dieses „keine einzige Note, keine einzige Phrase hätte man besser hinkriegen kön- nen, als sie von Mozart jeweils gesetzt wurde“, die 16 N° 239 www.wiener-staatsoper.at
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