Wissenschaft erleben - Thünen-Institut

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Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Wissenschaft erleben
Greening: Ein grünes Deckmäntelchen  Fasern im Fokus  Der Hering im sozialen Netzwerk  Kyoto
und der Wald  »... einfach in die Ostsee geworfen« – Ein Gespräch über versenkte Kampfstoffmunition
 Freihandel: Bald mehr US-Rindfleisch in der EU?

2014 / 1
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Inhalt
                            Ausgabe 1/2014

                                    Greening: Ein grünes Deckmäntelchen
STANDPUNKT
                                    Von Peter Weingarten, Hiltrud Nieberg,
                                    Heiner Flessa & Hans-Joachim Weigel

                       1

INFO-SPLITTER                       · Rosskastanie hat viele Feinde                 · Ammoniak effizienter entsorgen
                                    · Alte Rassen – hier geht‘s um die Wurst         · Erreichbarkeit von Apotheken
                                    · Ein crasser Wurm                               · Freihandel: Bald mehr US-Rindfleisch in der EU?
                  2–3

FORSCHUNG                           Fasern im Fokus                                                   Kyoto und der Wald
                                    Thünen-Forscher entwickeln Methode                                Wälder in Deutschland speichern mehr
                                    zur Vermessung von Holzfasern                                     Kohlenstoff als vor 20 Jahren
                       4                                                        10
                                    Trinken, tanken oder in die                                       Der Hering im sozialen Netzwerk
                                    Chemiefabrik?                                                     Neuer Forschungsansatz soll Greifswalder
                                    Wie wichtig Bio-Ethanol für die chemische                         Bodden fischfreundlicher gestalten
                       6            Industrie werden könnte                     12

MENSCHEN & MEINUNGEN                »… einfach in die Ostsee geworfen«                                ThünenIntern
                                    Ein Gespräch über versenkte                                       Meldungen aus dem Hause
                                    Kampfstoffmunition
                       8                                                        17
                                    »Nicht jede Frau will
                                    Mechatroniker werden«
                                    Ein Gespräch zu den Zukunftsplänen
                       14           Jugendlicher im ländlichen Raum

PORTRAIT                            Und was bedeutet das für
                                    die Betriebe?
                                    Nutzung des Textbetriebsnetzes
                       16           im Thünen-Institut

RÜCKBLICK & AUSBLICK                · Holzhandel: Standards EU-weit einhalten       · Ökodaten für Baustoffe online
                                     · Neue Regeln für den Ökolandbau                · Was Korallenriffe leisten
                                     · Mutterbindung ist auch für Kälber wichtig     · Aquakultur: Deutschland schwimmt hinterher
                18 – 20
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                                     STANDPUNKT       1

                                        Von
                                       Hilt Peter
                                            r     W
                                     Fle ud Ni eing
                                        s      e        a
                                    We sa & H berg, rten,
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                                          l       -Jo einer
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                                                         im

Greening:
Ein grünes
Deckmäntelchen

Mehr als vier Jahre wurde über die Reform der Agrar-          5 %-Vorgabe für im Umweltinteresse zu nutzende           Hiltrud Nieberg (Betriebswirt-
politik ab 2014 europaweit debattiert, gestritten,            Ackerflächen entspricht zwar rund 550.000 Hektar.        schaft), Hans-Joachim Weigel
gerungen, verhandelt. Die grundsätzlichen Entschei-           Die bereits vorhandenen Landschaftselemente              (Biodiversität), Heiner Flessa
                                                                                                                       (Agrarklimaschutz) und Peter
dungen sind Ende vergangenen Jahres gefallen.                 (z. B. Hecken), Brachen, Zwischenfrüchte und Legu-
                                                                                                                       Weingarten (Ländliche Räume).
Seitdem wird sowohl auf EU-Ebene als auch in den              minosen, die mit unterschiedlicher Gewichtung als
Mitgliedstaaten an den Detailregelungen gefeilt. Bald         ökologische Vorrangflächen gelten, decken diesen
geht es in die Umsetzung.                                     Flächenbedarf aber schon heute weitgehend ab. Der
    Ein Novum dieser Agrarreform stellt die »Begrü-           zusätzliche Umweltnutzen in den Bereichen Biodi-
nung« der Direktzahlungen dar (Greening). Land-               versität, Gewässer- und Klimaschutz fällt also aller
wirte erhalten nur dann Direktzahlungen in voller             Wahrscheinlichkeit nach recht gering aus, dafür wird
Höhe, wenn sie Mindeststandards in Bezug auf die              aber der Aufwand für die Agrarverwaltungen für die
Kulturpflanzenvielfalt und die Erhaltung von Dauer-           rechtssichere Feststellung all dieser Vorgaben deut-
grünland erfüllen sowie mindestens 5 % ihrer Acker-           lich steigen. Auch auf Seiten der Landwirte steigt der
fläche im Umweltinteresse nutzen (ökologische                 Verwaltungsaufwand. Doch unzufrieden brauchen
Vorrangflächen). Insgesamt sind für Landwirte in              sie mit dem Verhandlungsergebnis nicht zu sein: Den
Deutschland bis 2020 jährlich rund 4,9 Mrd. Euro              meisten Landwirten entstehen durch das Greening
Direktzahlungen vorgesehen, davon rund 1,5 Mrd.               durchschnittliche Kosten von weniger als 30 Euro je
Euro als Greening-Prämie (ca. 200 Euro plus 90 Euro           Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche. Diese
für Greening-Maßnahmen je Hektar landwirtschaft-              sind damit deutlich geringer als der Teil der Direkt-
licher Fläche).                                               zahlungen, den sie für die Einhaltung der Greening-
    Viele Akteure hatten sich für eine Ökologisie-            Vorgaben bekommen (knapp 90 Euro je Hektar).
rung der Agrarpolitik stark gemacht. Umweltver-                    Das Greening ist im Laufe der Verhandlungen
bände sahen im Greening der Direktzahlungen                   zu einem grünen Deckmäntelchen mutiert. Damit
einen Kurswechsel in der Agrarpolitik. Erstmals               können die Direktzahlungen an die Landwirte auf
würden Direktzahlungen für Landwirte an sub-                  Dauer wohl kaum legitimiert werden. Mit den rund
stanzielle Gegenleistungen für mehr Umweltschutz              1,5 Mrd. Euro an Greening-Prämie ließe sich mit
geknüpft. Doch wie viel bringt das Greening, wie es           gezielteren Agrarumweltmaßnahmen, zum Beispiel
ab 2015 in Deutschland voraussichtlich umgesetzt              im Rahmen der 2. Säule der Gemeinsamen Agrar-
wird? Nicht viel, das können wir auf Basis unserer            politik (Programme zur ländlichen Entwicklung),
Untersuchungen sagen. Denn die meisten landwirt-              ein deutliches Mehr an Umweltleistungen erzielen.
schaftlichen Betriebe halten bereits jetzt die Vor-           Deshalb: Nach der Reform ist vor der Reform. Wir
gaben zur Anbaudiversifizierung ein und sind von              bleiben dran und werden für die Zeit nach 2020
dem Gebot der Grünlanderhaltung nicht über die                frühzeitig Optionen für eine effizientere Agrarpolitik
jetzigen Regelungen hinausgehend betroffen. Die               erarbeiten.                                         
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
2   INFO-SPLITTER

InfoSplitter

                                                                Bild von Michael

Rosskastanie hat viele                                Alte Rassen – hier geht's um                         Ein crasser Wurm
Feinde                                                die Wurst
                                                                                                           Der parasitische Fadenwurm Anguillicola crassus
Um beurteilen zu können, ob geschädigte Bäu-          Gibt es eine Erhaltungschance für alte, bedrohte     (Bildmitte) befällt den Europäischen Aal wäh-
me die Verkehrssicherheit im städtischen Raum         Schweinerassen, wenn sie sich für die Herstel-       rend seiner kontinentalen Lebensphase und
beeinträchtigen, müssen typische Schadbilder          lung regionaler Spezialitäten nutzen lassen? Die-    schädigt seine Schwimmblase (links im Bild). Mit
und deren Verursacher bekannt sein. Neben             se Frage untersucht eine Arbeitsgruppe im Thü-       einer geschwächten Schwimmblase hat der Aal
abiotischen Schäden (Wassermangel, Anfahrts-          nen-Institut für Ökologischen Landbau im             schlechtere Chancen, die etwa 6000 km lange
schäden und ähnliches) sind holzabbauende Pil-        Rahmen des EU-Verbundprojekts »Low-Input-            Wanderung in seine Laichgründe zu meistern.
ze und Bakterien das Gros der Schadverursacher        Breeds«.                                             Im Thünen-Institut für Fischereiökologie wird da-
an Bäumen.                                                Im Fokus stehen langgereifte Rohwürste, zu       her der Wurmbefall des Europäischen Aals in
   Die Rotblühende Rosskastanie ist seit etwa         deren Herstellung sogenannte Schwere Schwei-         deutschen Flüssen überwacht. Gemeinsam mit
vier Jahren von einer Krankheit betroffen, die        ne (> 160 kg) verwendet werden, da diese die         der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft
sich durch zahlreiche Schadsymptome äußert:           notwendigen Fettmengen und -qualitäten (ker-         und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern wur-
ein weißfäuleähnlicher Holzabbau, schwarze            niger Speck) liefern. Im Gegensatz zu modernen       den zusätzliche Daten aus Küstengewässern der
Leckstellen an der Borke, Pilzfruchtkörper und        Hybridschweinen zeigen alte Schweinerassen,          Ostsee erhoben. Insgesamt wurden zwischen
Totäste. Molekularbiologische Untersuchungen          z. B. Sattelschweine, einen starken Fettansatz –     1996 und 2011 die Schwimmblasen von mehr als
am Zentrum Holzwirtschaft der Universität Ham-        negativ für die heutige Fleischproduktion, doch      17.000 Aalen untersucht.
burg in Kooperation mit dem Thünen-Institut für       vorteilhaft hinsichtlich kernigen Specks.                Thünen-Wissenschaftler stellten in deutschen
Holzforschung konnten eine komplexe Ursache               In Zusammenarbeit mit dem Max Rubner-Ins-        Binnengewässern anhaltend hohe Befallsraten
aufdecken: Für die Leckstellen wurden an der          titut in Kulmbach verglichen die Thünen-Wissen-      bei Aalen von 65 bis 83 % fest. Die meisten Aale
Borke das Bakterium Pseudomonas syringae pv.          schaftler die Eignung von Sattelschweinen, de-       sind also nach wie vor befallen. Aber es gibt auch
aesculi (PSA) und für den Holzabbau zwei Pilze        ren Kreuzungen mit einem Piétrain-Eber und           eine gute Nachricht, denn die Zahl der Würmer
(der Austernseitling und der Samtfußrübling) als      einer modernen Hybridherkunft für die Herstel-       pro Schwimmblase nahm in Elbe und Ems seit
Verursacher identifiziert. Beide Pilze sind bislang   lung langgereifter Rohwurst.                         1996 signifikant ab. Die untersuchten Fische hat-
nur als Wundparasiten oder Besiedler toten Hol-           Es zeigte sich, dass sich die Hybridtiere auf-   ten zwar nach wie vor stark geschädigte
zes bekannt, nicht aber als Verursacher einer ag-     grund der Fettquantität und -qualität am we-         Schwimmblasen – möglicherweise von früheren
gressiven Weißfäule mit parasitären Eigenschaf-       nigsten, die Sattelschweine dagegen am besten        Infektionen – waren aber weniger stark mit dem
ten. Der Samtfußrübling und PSA konnten               zur Rohwurstproduktion eigneten; letztere aller-     Parasiten befallen. Die Forscher halten daher
erstmals im Holz einer lebenden Rosskastanie          dings mit den höchsten Produktionskosten. Die        eine Verbesserung der Situation in den nächsten
nachgewiesen werden.                                  Kreuzungstiere hingegen zeichneten sich durch        Jahren für möglich.
   Um vor allem die Bruchsicherheit der betrof-       gute Produktqualität und mittlere Produktions-           Im Gegensatz zu den Flüssen sind die Befalls-
fenen Bäume verlässlich beurteilen zu können,         kosten aus. Die hierfür notwendige Reinzucht         raten bei Aalen aus Küstengewässern generell
werden nun weitere, durch die Deutsche Bun-           des Sattelschweins als Muttersau könnte einen        niedriger (10 bis 58 %). Das ist ein Indiz dafür,
desstiftung Umwelt geförderte Untersuchungen          Beitrag zur Erhaltung dieser Rasse leisten. Aller-   dass die Küstengewässer der Ostsee wertvolle
zu Eigenschafen der Pilzgesellschaft und des ab-      dings ist die Rohwurstproduktion nur ein Ni-         Habitate für die Produktion von Laichaalen mit
gebauten Holzes durchgeführt.                MO      schenmarkt, sodass andere Instrumente hinzu-         hoher Qualität darstellen.                    UK 
                                                      kommen müssen, um alte Rassen wirtschaftlich
KONTAKT: annika.mueller-navarra@                      profitabel zu nutzen.                      MW       KONTAKT: klaus.wysujack@ti.bund.de
           uni-hamburg.de
                                                      KONTAKT: friedrich.weissmann@ti.bund.de
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Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                                            INFO-SPLITTER     3

Ammoniak effizienter                                 Erreichbarkeit von                                    Freihandel: Bald mehr
entsorgen                                            Apotheken                                             US-Rindfleisch in der EU?
Die Tierhaltung in Deutschland verursacht er-        In einer alternden Gesellschaft wird die wohn-        Hormonfleisch, Chlorhähnchen, Genmais – die
hebliche Ammoniak-Emissionen, die zur Versau-        ortnahe Versorgung mit Arzneimitteln immer            in vielen Zeitungen und Blogs zu lesenden Be-
erung von Böden, einer verstärkten Nitratbelas-      wichtiger. Gleichzeitig geht gerade in ländlichen     fürchtungen im Zusammenhang mit dem mögli-
tung im Grundwasser und zur Verdrängung              Gebieten die Anzahl von Geschäften und ande-          chen Freihandelsabkommen zwischen den USA
schützenswerter Ökosysteme (Moore, Magerra-          ren Dienstleistern zurück. Informationen über         und der EU hören sich an wie aus dem Gruselka-
sen) beitragen.                                      die Erreichbarkeit wichtiger Infrastrukturen wie      binett. Glaubt man den Verhandlungsführern
    Mit Anlagen zur Abluftreinigung lassen sich 70   z. B. die Versorgungssituation im Apothekenbe-        der EU, werden geltende EU-Produktstandards
bis 95 % dieser Ammoniak-Emissionen vermei-          reich lagen bislang nicht vor. Das Thünen-Insti-      in der Landwirtschaft nicht angetastet.
den. Dabei fällt je nach gewähltem Verfahren         tut für Ländliche Räume hat daher die wohnort-            Für den Bereich Rindfleisch würde das bedeu-
stickstoffhaltiges Waschwasser an, das entweder      nahe Erreichbarkeit öffentlicher Apotheken            ten, dass auch zukünftig nur solches Fleisch, das
pflanzenbedarfsgerecht auf landwirtschaftlichen      untersucht. Dazu wurde mit Methoden der Geo-          ohne Hormone und andere Wachstumsförderer
Nutzflächen ausgebracht werden kann oder um-         informatik (GIS) über Deutschland ein Raster mit      produziert wird, von den USA in die EU gelangt.
weltverträglich beseitigt werden muss. Welcher       einer Kantenlänge von 250 m gelegt und dann           Es steht jedoch auch ein Abbau der Zölle zur Dis-
Verwertungsweg gewählt wird, hängt unter an-         über das Verkehrsnetz für jede Rasterzelle die Er-    kussion, die momentan bei Rindfleisch gut 40 %
derem von der Qualität des Waschwassers, der         reichbarkeit ermittelt. Das Ergebnis fasst die Kar-   betragen.
Viehdichte und den nötigen Transportwegen ab.        te zusammen. Gut erreichbar sind Apotheken in             Berechnungen des Thünen-Instituts zeigen,
    In einem gemeinsamen Projekt mit der Firma       den grün dargestellten Regionen, eher schlecht        dass ein Verzicht auf die in den USA verbreiteten
Big Dutchman International GmbH hat das Thü-         in den roten.                                         Wachstumsförderer die Tierleistungen verrin-
nen-Institut für Agrartechnologie für Anlagen            Insgesamt lässt sich festhalten: Im Durch-        gern und die Produktionskosten in den USA um
mit biologischer Abluftreinigungsstufe ein neu-      schnitt beträgt die Entfernung zur nächsten           ca. 10 % erhöhen würde. Berücksichtigt man au-
es Verfahren entwickelt, bei dem bis zu 50 % des     Apotheke 4 km; sie nimmt von den Städten              ßerdem die Transportkosten von den USA nach
Stickstoffs im Waschwasser unter Bildung von         (Ø 1,6 km) zu den ländlichen Räumen (Ø 6 km)          Europa, lägen die Kosten für US-Rindfleisch dicht
unbedenklichem molekularen Stickstoff um-            hin zu. Auf dem Land sind die Bürger zumeist auf      am europäischen Preis- und Kostenniveau. Es er-
weltverträglich entfernt werden. Dadurch wird        den Pkw angewiesen, wobei aber auch hier für          gibt sich also nur ein geringer Anreiz, mehr Rind-
auch nur etwa die Hälfte an Frischwasser benö-       die Mehrheit die Erreichbarkeit relativ gut ist.      fleisch als bisher in die EU zu exportieren.
tigt und es fällt entsprechend weniger Wasch-        Nur in wenigen Regionen Deutschlands müssen               Eine Analyse mit dem Handelsmodell GTAP
wasser an. Das Verfahren erlaubt zusätzlich, den     Patienten mehr als 15 km bis zur nächsten Apo-        kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Der Abbau
Bedarf an Säure, die zur Ammoniak-Auswa-             theke zurücklegen. Die detaillierten Ergebnisse       der bestehenden Einfuhrzölle für Rindfleisch
schung benötigt wird, um bis zu 50 % zu reduzie-     sind im Thünen Working Paper, Band 14, veröf-         hätte lediglich eine sehr geringe Zunahme der
ren. Für den Tierhalter fallen am Ende geringere     fentlicht.                                            US-Exporte in die EU sowie einen Rückgang der
Kosten für Säure sowie zur Lagerung und Aus-             Um ein umfassendes Bild der Versorgungssi-        deutschen Rindfleischproduktion um 0,5 % zur
bringung des Waschwassers an. Nach Abschluss         tuation in ländlichen Räumen zu gewinnen, wur-        Folge.                                        FI 
der Pilotphase auf einem Praxisbetrieb mit 1.320     den im Institut weitere Erreichbarkeitsanalysen
Mastschweinen sollen nun vermehrt Abluftreini-       auch für Supermärkte und Discounter sowie             KONTAKT: claus.deblitz@ti.bund.de
gungsanlagen mit dieser Technik ausgestattet         Straßentankstellen durchgeführt.               FI 
werden.                                      UP 
                                                     KONTAKT: stefan.neumeier@ti.bund.de
KONTAKT: jochen.hahne@ti.bund.de
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
4   FORSCHUNG

                Fasern im Fokus
                Thünen-Forscher entwickeln Methode zur Vermessung von Holzfasern

                Faserplatten sind sehr vielseitige Produkte und zählen weltweit zu den bedeu-
                tendsten Holzwerkstoffen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Eigenschaften des
                Ausgangsstoffes – der Holzfasern – bislang nur durch die subjektive Einschätzung er-
                fahrener Mitarbeiter in der industriellen Fertigung beurteilt werden konnten. Ein im
                Thünen-Institut neu entwickeltes Messsystem kann die Faserqualitäten nun objektiv
                und reproduzierbar analysieren.

                Die Bandbreite der Verwendung von Faserplatten            wünschenswert, weil die Faserproduktion ein
                reicht von Dämmmaterialien bis hin zu mittel- und         energieaufwendiger und damit kostenintensiver
                hochdichten Faserplatten (MDF/HDF) für die Möbel-         Prozess ist. Rund 40 % des Stromverbrauchs eines
                und Fußbodenherstellung. Diese Produkte müssen            MDF-Werkes entfallen auf den Betrieb des Refiners,
                verschiedene Anforderungen erfüllen und haben             der das Holz zu Fasern verarbeitet. Da sich verschie-
                daher auch unterschiedliche Eigenschaften. Durch          dene Konzepte für diesen Zweck als nicht geeignet
                die Wahl der eingesetzten Klebstoffe, der Pressbe-        herausstellten, haben sich Forscher des Thünen-
                dingungen und insbesondere der Faserstoffquali-           Instituts für Holzforschung zusammen mit mehre-
                tät können diese Eigenschaften gezielt eingestellt        ren Partnern das Ziel gesetzt, eine entsprechende
                werden: Dämmplatten haben vor allem eine geringe          Methode zu erarbeiten. In mehreren Projektschrit-
                Dichte, für ihre Herstellung werden besonders             ten ist ein Prototyp entwickelt worden, mit dem
                grobe Fasern benötigt; MDF hingegen hat eine hohe         automatisiert die Größen-Charakterisierung von
                Festigkeit und eine gleichmäßige Oberfläche, die          Faser-Stichproben analysiert werden kann.
                nur mit wesentlich feineren Fasern erreicht werden
                kann.                                                     Die Technik
                     Während die meisten Prozessgrößen und Pro-           Das Besondere hierbei ist ein innovativer Ansatz
                dukteigenschaften während der Produktion durch            zur Vereinzelung der Fasern, die bisher das Haupt-
                moderne Messtechnik überwacht werden, erfolgt             problem für die Vermessung von MDF-Fasern war:
                die Kontrolle der Faserstoffqualität bisher ausschließ-   Durch eine geschickte Kombination von Druckluft
                lich optisch und haptisch durch erfahrenes Personal.      und Ultraschall lassen sich die Partikel nun so sepa-
                Eine objektive Messmethode, die eine zuverlässige         rieren, dass eine anschließende Bildverarbeitung
                Vergleichbarkeit der Prüfung sicherstellt, ist bisher     möglich wird.
                nicht etabliert. Dies wäre aber vor allem deshalb             Das Gerät wird mit einer hinreichenden Menge
                                                                          Fasern, die meist agglomeriert und in Knäulen vorlie-
                                                                          gen, beschickt. Die Fasern werden im Gerät vereinzelt,
                                                                          auf einer rotierenden Glasplatte abgelegt und dann
                                                                          von einer Kamera im Durchlichtverfahren erfasst.
                                                                          Danach werden die Objekte wieder von der Glas-
                                                                          platte abgesaugt, um diese für den weiteren Mess-
                                                                          verlauf zu reinigen. Je Messdurchgang werden etwa
                                                                          0,5 g Fasermaterial vermessen, 650 Bilder zur Auswer-
                                                                          tung erzeugt und durch die Software die darin durch-
                                                                          schnittlich enthaltenen 200.000 Fasern vermessen.
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                              FORSCHUNG         5

                                                                                                              Links:
                                                                                                              Ein Blick in das im Thünen-Institut
                                                                                                              entwickelte Messsystem.

                                                                                                              Rechts:
                                                                                                              Unterschiedliche Häufigkeits-
                                                                                                              verteilungen der Faserlänge
                                                                                                              bei Variation des Refiner-
                                                                                                              Mahlspaltes (0,2 bis 0,6 mm).

    Aus diesen Messwerten können Kennzahlen           raum von 100 Tagen genutzt werden konnte. Die
ermittelt werden, die in einem »Fiber Fact Sheet«     unterschiedlichen Faserqualitäten für den Einsatz
zusammengestellt werden. Von besonderem Inte-         zur Herstellung der verschiedenen Produkte ließen
resse sind dabei zum Beispiel die Häufigkeitsver-     sich deutlich differenzieren. Es konnten Einflussfak-
teilung der Länge aller vermessenen Fasern, die       toren herausgearbeitet werden, die im industriellen
mittlere Faserlänge und der Grobpartikel-Anteil in    Produktionsprozess einen Effekt auf die Faserqua-
der Stichprobe.                                       lität hatten. Erstmals konnte mit einer Messtechnik
    Im Rahmen des Projekts wurden unterschied-        die Qualität der Holzfasern im Herstellungsprozess
lichste MDF-Fasern vermessen und ausgewertet, die     numerisch abgebildet werden. Damit eröffnet sich
unter definierten Parametern hergestellt wurden.      nun die Möglichkeit, Management-Optionen unab-
Die Daten zeigten klare Zusammenhänge und             hängig von Erfahrungswissen zu gestalten: Die
konnten die Produktionsparameter plausibel erklä-     Faserstoffqualitäten können nun im Hinblick auf         Die Projektpartner:
ren: So sind unter anderem die Auswirkungen der       ihre Anforderungen im Produkt oder Prozess gezielt      Universität Hamburg, Zentrum
                                                                                                              Holzwirtschaft;
Holzartenwahl, Refiner-Einstellungen und Kocher-      eingestellt werden. Auch ist eine Optimierung der
                                                                                                              Universität Hamburg,
bedingungen hinsichtlich der Größenverteilung         Zerfaserungsparameter möglich, um den Einsatz           Informatik – Arbeitsbereich
der so erzeugten Fasern klar erkennbar. Es konnte     elektrischer Energie bei gleichbleibender Faserqua-     Kognitive Systeme;
quantitativ nachgewiesen werden, in welcher Grö-      lität zu reduzieren.                                    Diplom-Ingenieur W. Bartz;
ßenordnung die Fasern bei abnehmendem Refiner-             Das Anwendungsspektrum dieser Technik ist          Fagus-GreCon Greten GmbH &
                                                                                                              Co. KG;
Scheibenabstand kürzer werden.                        noch erweiterbar. So waren zum Beispiel Versuche
                                                                                                              Glunz AG;
                                                      an Hanffasern sehr vielversprechend, sodass die         Andritz AG;
Im Industrieeinsatz                                   Forscher optimistisch sind, die Möglichkeiten ihrer     Institut für Holztechnologie
Im nächsten Schritt wurde das Gerät testweise in      Entwicklung anderen Forschungsgebieten zur Ver-         Dresden.
der Produktion eines MDF-Herstellers an einem         fügung stellen zu können.                      MO 
niedersächsischen Standort eingesetzt. Es zeigte                                                              Weitere Infos unter:
sich, dass das System störungsfrei über einen Zeit-   KONTAKT: martin.ohlmeyer@ti.bund.de                     www.ti.bund.de/fasern.html
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
6   FORSCHUNG

                Trinken, tanken oder in die
                Chemiefabrik?
                Wie wichtig Bio-Ethanol für die chemische Industrie werden könnte

                Schwindende fossile Ressourcen zwingen die industrielle organische Chemie, nach
                alternativen Rohstoffen zu suchen. Eine stärkere Verwendung von Biomasse ist die
                logische Konsequenz. Unsere Analyse zeigt, dass über Bio-Ethanol weltweit mehr als
                die Hälfte der organischen Chemieprodukte auf nachwachsende Rohstoffe umge-
                stellt werden könnte.

                Ohne die vielen Tausend Produkte der chemischen          kennen. Ausgangspunkte dieser Prozessketten sind
                Industrie ist das moderne Leben undenkbar. Kunst-        nur wenige sogenannte Basischemikalien. Zu den
                stoffe, Arzneimittel, Farben und Lacke, Wasch- und       wichtigsten gehören die C2-C4-Olefine Ethylen,
                Reinigungsmittel, um nur einige zu nennen, werden        Propylen sowie Butene und Butadien. C2-C4 steht
                derzeit in hochintegrierten Prozessketten ganz über-     für die Anzahl der Kohlenstoffatome in den Olefinen
                wiegend aus fossilen Rohstoffen, vor allem aus Erdöl,    (Kohlenwasserstoffe mit Doppelbindung). Diese Ver-
                hergestellt. Dessen Verknappung und Verteuerung          bindungen gilt es nun aus Biomasse herzustellen.
                treibt auch die chemische Industrie an, neue Roh-
                stoffquellen zu suchen. Da die allermeisten ihrer Pro-   Plattformchemikalie Bio-Ethanol
                dukte organisch-chemischer Natur sind, das heißt auf     Eine zentrale Bedeutung dafür kann Bio-Ethanol
                Kohlenstoff basieren, wird Biomasse als erneuerbare      haben. Unsere Analyse der bestehenden oder sich
                Kohlenstoffquelle in Zukunft immer mehr an Bedeu-        im Forschungsstadium befindlichen chemisch-
                tung gewinnen.                                           katalytischen Prozessrouten zeigt, dass sich Ethylen,
                                                                         Propylen sowie Butene und Butadien sehr effizient
                Neue Produkte oder »Bewahrt das Bewährte«?               und mit Selektivitäten von rund 85 bis 99 % aus Bio-
                Die bestehenden Prozess- und Wertschöpfungsket-          Ethanol herstellen lassen. Zum Teil können bedeu-
                ten der petrochemischen Industrie sind ganz auf die      tende Folgeprodukte, z. B. Acetaldehyd, Ethylacetat,
                bisher eingesetzten fossilen Rohstoffe abgestellt und    Essigsäure oder Butanol, sogar noch besser direkt
                können nicht mit Biomasse als andersartig zusam-         aus Ethanol hergestellt werden als durch weitere
                mengesetztem Rohstoff betrieben werden. Was tun?         Konversion der Olefine; an der Erforschung solcher
                Sollten für die vielen Tausend Produkte jeweils neue     Routen beteiligt sich auch das Thünen-Institut für
                Prozessketten und neuartige Produkte als Ersatz für      Agrartechnologie. Rein mengenmäßig könnte über
                die bestehenden entwickelt werden? Neue, kost-           diese Wege letztlich mehr als die Hälfte der orga-
                spielige Zulassungsverfahren müssten durchgeführt        nischen Chemieprodukte auf Bio-Ethanol als Platt-
                werden. Und wie wären die Eigenschaften dieser           form fußen. Eine durchaus überraschende Erkenntnis
                Produkte? Besser? Schlechter? Hätten sie Chancen         – selbst den Herstellern von Bio-Ethanol scheint bis-
                am Markt? Viele Risiken, die einzugehen sich sicher      lang nicht bewusst zu sein, dass ihr Produkt künftig
                nur für wenige neue Produkte lohnt. Für die meisten      große Teile der Rohstoffbasis der chemischen Indus-
                muss ein anderer Weg gefunden werden.                    trie auf eine Biomasse-Basis stellen kann.
                    Dieser andere, derzeit favorisierte Weg besteht
                darin, Verbindungen aus Biomasse zu produzieren,         C2-C4 statt E10
                die direkt in die bestehenden petrochemischen            Die Herstellung von Ethanol boomt. In den vergan-
                Prozessketten eingespeist werden können und am           genen zehn Jahren hat sich die Weltproduktion
                Ende dieselben Produkte liefern, wie wir sie heute       von rund 25 Mio. Tonnen pro Jahr auf über 85 Mio.
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                     FORSCHUNG   7

Tonnen mehr als verdreifacht. Getrieben wurde            rung benötigt werden, müssten dann rund 125 Mio.
diese Entwicklung von der Nutzung als Treibstoff         Hektar Ackerfläche zusätzlich in Kultur genommen
(z. B. E 10 in Deutschland). Heute werden mehr als       werden. Da bei der Produktion von Bio-Ethanol aber
80 % des Ethanols getankt und damit einfach ver-         auch proteinreiches Futtermittel als Nebenprodukt
brannt. Immer mehr setzt sich jedoch die Erkenntnis      anfällt, liegt der zusätzliche Flächenbedarf netto
durch, dass die unmittelbare energetische Nutzung        unter 100 Millionen Hektar.
landwirtschaftlicher Erzeugnisse vermutlich nur in           Eine Expansion in dieser Größenordnung bedeu-
Ausnahmefällen der richtige Weg ist. Zumeist wird        tet für die Weltagrarwirtschaft eine Herausforde-
es sinnvoller sein, die Agrarrohstoffe zunächst stoff-   rung. In den vergangenen 50 Jahren wurde die
lich zu nutzen, zum Beispiel indem daraus über Bio-      Ackerfläche um weniger als 150 Mio. Hektar ausge-
Ethanol die Kunststoffe Polyethylen, Polypropylen,       dehnt, während sich die Flächenerträge ungefähr
Gummi und vieles mehr hergestellt werden. Diese          verdoppelt haben. Verschiedene Analysen zeigen,
können dann am Ende ihres Lebenswegs immer               dass im Weltmaßstab durchaus noch ackerbaulich
noch zur Energieerzeugung verbrannt werden.              nutzbare Flächenreserven vorhanden sind, ohne
Eine solche sogenannte Kaskadennutzung ist auch          dass hierfür Wälder gerodet oder wertvolle Biotope
im Sinne des Klimaschutzes vorteilhafter als eine        zerstört werden müssten. Da diese Reserve aber
direkte Verbrennung.                                     begrenzt ist, sollte die Politik für die Biomassenut-
                                                         zung folgende Prioritäten setzen: 1. Nahrungsmittel,
Acker für Chemieprodukte                                 2. Chemieprodukte, 3. Energie und Treibstoffe. Die
Könnte die Weltagrarwirtschaft genügend Rohstoffe        Energieversorgung kann zukünftig weitgehend (eine
erzeugen, um die Weltproduktion der C2-C4-Ole-           Ausnahme ist z. B. Flugbenzin) durch Sonnen- und
fine auf Bio-Ethanol umstellen zu können? Derzeit        Windenergie erfolgen, die ausreichend zur Verfü-
wird Bio-Ethanol aus Agrarprodukten hergestellt,         gung stehen. Dagegen würden bereits rund 40 Mio.
die unterschiedliche Erträge liefern: In Nordame-        Hektar Ackerfläche benötigt, um nur 1 % des Welt-
rika aus Mais, in Südamerika aus Zuckerrohr und in       energiebedarfs zu erzeugen. Die Potenziale der Welt-
Europa aus Getreide oder Zuckerrüben. Bei diesem         agrarwirtschaft werden also keinesfalls ausreichen,
Mix kann mit einem konservativ angesetzten „mitt-        um neben Nahrungsmitteln und Chemieprodukten,
leren Weltertrag“ von rund 4.500 Litern Bio-Ethanol      die auf Biomasse als erneuerbare Kohlenstoffquelle
pro Hektar gerechnet werden. Unter der Annahme,          angewiesen sind, auch noch die Energieversorgung
dass die künftigen Ertragssteigerungen auf den           zu übernehmen.                                   FI 
bereits genutzten Ackerflächen (ca. 1,5 Mrd. Hektar)
für die Ernährung der wachsenden Weltbevölke-            KONTAKT: ulf.pruesse@ti.bund.de
Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
8   MENSCHEN & MEINUNGEN

                                »… einfach in die Ostsee geworfen«
                                Ein Gespräch über versenkte Kampfstoffmunition

                                In der Ostsee wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geschätzte 65.000 Tonnen
                                chemische Kampfstoffmunition versenkt, vor allem vor Bornholm. Die Metallkörper
                                korrodieren langsam und setzen die Kampfstoffe frei. Die Frage nach ihren möglichen
                                ökologischen Auswirkungen wurde im gerade abgeschlossenen internationalen For-
                                schungsprojekt CHEMSEA untersucht. Thomas Lang leitete die Arbeiten im Thünen-
                                Institut und war mit dem Forschungsschiff Walther Herwig III mehrfach im Versen-
                                kungsgebiet unterwegs.

                                Worum ging es im Projekt CHEMSEA genau?                 derungen innerer Organe, die unter dem Mikroskop
                                Es ging darum zu untersuchen, wo sich versenkte         untersucht werden.
                                Kampfstoffmunition befindet, welche Art von Muni-
                                tion es ist und welche ökologischen Risiken von ihr     Was reizt Sie an einem solchen Forschungspro-
                                ausgehen. Der größte Teil der Munition wurde nach       jekt?
                                dem Zweiten Weltkrieg versenkt, um die Munition         Wir kennen die Fische in der Ostsee natürlich sehr
                                loszuwerden. Damals erschien es als eine gute Idee,     gut aus unserem regelmäßigen Überwachungs-
                                sie einfach in die Ostsee zu werfen.                    programm. Für uns war dieses Projekt interessant,
                                                                                        weil das Thema Munition im Meer zurzeit wissen-
                                Wie ist der Zustand des Materials heute?                schaftlich und in der Öffentlichkeit in aller Munde
                                Die Munition und andere Behälter, in denen die          ist. Nicht zuletzt deshalb, weil das Meer heute viel
                                Kampfstoffe versenkt wurden, sind natürlich korro-      stärker genutzt wird als früher – etwa durch den Bau
                                diert nach so vielen Jahren. Wir wissen, dass auch      von Windkraftanlagen. Und das Bewusstsein, dass
                                schon Substanzen freigesetzt worden sind. Aus           man in einem Gebiet fischt, in dem zehntausende
                                diesem Grund wurde hier gezielt geforscht.              Tonnen giftiger Substanzen verklappt wurden, das
                                                                                        erhöht natürlich schon die Anspannung.
                                Sind die Kampfstoffe nicht schon längst zerfallen?
                                Einige sind im Laufe der Zeit tatsächlich chemisch      Sind die Fische im Versenkungsgebiet kränker?
                                abgebaut worden, andere Substanzen sind dage-           Wir und unsere Projektpartner haben in der Tat fest-
                                gen ziemlich langlebig – arsenhaltige Kampfstoffe       stellen können, dass die Dorsche aus dem Haupt-
                                zum Beispiel, deren Abbauprodukte wir in Fischen        versenkungsgebiet östlich von Bornholm einen
                                nachweisen konnten. Senfgas ist ebenfalls langle-       schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als
                                big: Es gab Vorfälle, wo Fischer Senfgasklumpen         Fische aus Vergleichsgebieten. Korrespondierend
                                mit ihren Grundschleppnetzen erfasst haben und          dazu haben finnische Kollegen dort chemische
                                es dadurch zu schwerwiegenden Verletzungen der          Kampfstoffe sowohl in Fischen als auch im Boden
                                Besatzungsmitglieder kam.                               nachgewiesen.

                                Welche Rolle hatte das Thünen-Institut?                 Was glauben Sie: Ist die Munition die Ursache für
                                Wir sind im Thünen-Institut für Fischereiökologie die   die veränderte Gesundheit der Fische?
                                Experten für Fischkrankheiten – und das war auch        Als Wissenschaftler stützt man seine Schlussfolge-
                                unsere Hauptaufgabe im Projekt. Wir haben Dor-          rungen nicht auf das, was man glaubt. Für uns war
                                sche auf verschiedene Krankheiten untersucht: Dazu      es zunächst wichtig festzustellen, ob es überhaupt
Versenkte Kampfstoffmunition    gehören solche, die wir mit bloßem Auge bereits an      Unterschiede im Gesundheitszustand der Fische in
               in der Ostsee.   Bord erkennen können, aber auch krankhafte Verän-       den Versenkungsgebieten im Vergleich mit anderen
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                  MENSCHEN & MEINUNGEN       9

                                                                                                                Thomas Lang untersuchte im
                                                                                                                Rahmen des europäischen
                                                                                                                CHEMSEA-Projekts die
                                                                                                                Auswirkungen versenkter
                                                                                                                Kampfstoffmunition.

Gebieten gibt. Wir haben einige Faktoren gleichzeitig   Bau solcher Anlagen ist die konventionelle Muni-
beobachtet: erhöhte Mengen von Kampfstoffen und         tion, also Spreng- und Brandbomben. Von denen
einen schlechteren Gesundheitszustand. Wir haben        liegen nach Schätzungen etwa 1,6 Millionen Tonnen
festgestellt, dass die Fische offensichtlich solche     in deutschen Küstengewässern. Das bedeutet: Wenn
Substanzen aufnehmen, wenn auch in sehr gerin-          Windkraftanlagen oder Pipelines im Meer gebaut
gen Mengen. Es ist möglich, dass die Kampfstoffe die    werden sollen, muss zunächst geprüft werden,
Widerstandskraft der Fische schwächen und wir aus       ob dort Munition liegt, die dann gegebenenfalls
diesem Grund erhöhte Krankheitsraten finden.            gesprengt oder geborgen wird.

Wie stehen Sie zu einer möglichen Sanierung der         Wie schätzen Sie das aktuelle Risiko ein, das von
munitionsbelasteten Gebiete?                            der versenkten Munition für die Fische ausgeht?
Das muss im Einzelfall entschieden werden. Es gibt      Wir sind der Meinung, dass aufgrund unserer Befunde
Regionen, wo eine Bergung kritisch ist, weil neben      und dem sich verschlechternden Zustand der ver-
enormen Kosten ökologische Risiken entstehen,           senkten Munition ein Überwachungsprogramm
wenn man große Mengen korrodierter Munition             installiert werden müsste, um in regelmäßigen
bergen will. Aber es gibt sicher auch andere Fälle.     Abständen zu überprüfen, inwieweit Substanzen frei-
Bei einigen Ostseeanrainern gibt es Bestrebungen,       gesetzt werden und ob sie den Gesundheitszustand
einen Teil der Munition zu bergen.                      der Fische beeinträchtigen. Mit dem Thema Über-
                                                        wachung beschäftigen wir uns in einem derzeit lau-
Stellt die versenkte Munition eine Gefahr dar           fenden Folgeprojekt. Von Bord der Walther Herwig
beim Bau von Windkraftanlagen?                          III aus werden wir Unterwasserroboter einsetzen, um
Der größte Teil der chemischen Kampfstoffmunition       Munition aufzufinden und Proben zu nehmen.
wurde bewusst in sehr tiefen Regionen der Ostsee
versenkt. Dort werden niemals Windkraftanlagen          Herr Lang, vielen Dank für das Gespräch.      UK 
gebaut werden. Ein viel größeres Problem für den
10     FORSCHUNG

                                 Kyoto und der Wald
                                 Wälder in Deutschland speichern mehr Kohlenstoff als vor 20 Jahren

                                 Wälder bedecken weltweit rund ein Drittel der Landoberfläche; sie können bedeu-
                                 tende Mengen Kohlenstoff speichern. Daher spielen sie auch in der Treibhausgas-
                                 Berichterstattung (Kyoto-Protokoll) eine wichtige Rolle. Die unter Mitwirkung des
                                 Thünen-Instituts durchgeführten Inventuren liefern Daten, mit denen sich die Spei-
                                 cherleistung der Wälder abschätzen lässt. Allein in Deutschland wurden 2012 umge-
                                 rechnet rund 50 Mio. Tonnen CO2 gespeichert. Diese Speicherleistung kann sich die
                                 Bundesrepublik im Emissionshandel anrechnen lassen.

                                                                                            Mikroorganismen wandeln einen Teil dieser Bio-
                                                                                            masse durch Stoffwechselaktivitäten in verschiedene
                                                                                            C-Verbindungen um. Die Höhe der Kohlenstoffspei-
                                                                                            cherung im Boden wird somit durch die Nettobilanz
                                                                                            bestimmt, die sich aus dem Eintrag organischen
                                                                                            Materials in den Boden und deren mikrobieller Um-
                                                                                            und Abbaurate ergibt. In der oberirdischen Biomasse
                                                                                            bestimmen der Zuwachs der Bäume, die Auffor-
                                                                                            stungen von Wäldern, das Totholz sowie die Nutzung
                                                                                            der Bäume die Kohlenstoffspeicherung.

                                                                                            Verteilung der Kohlenstoffvorräte
                                                                                            Die auf der Basis der Bundeswaldinventur ermit-
Durch die Bundeswaldinventu-     Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention der            telten C-Vorräte, die sich auf die gesamte Wald-
 ren und Bodenzustandserhe-
                                 Vereinten Nationen (UNFCCC) ist Deutschland seit           fläche Deutschlands beziehen, ergeben für die
  bungen (Foto) gewinnen wir
     Wissen über den Wald als    1994 dazu verpflichtet, Inventare zu nationalen            oberirdische Biomasse einen Kohlenstoffvorrat von
          Kohlenstoffspeicher.   Treibhausgasemissionen zu erstellen und regelmä-           ca. 993 Mio. Tonnen, für die unterirdische Biomasse
                                 ßig fortzuschreiben. Der Zustand und die zeitliche         von ca. 156 Mio. Tonnen und für Totholz von ca. 20
                                 Entwicklung der Kohlenstoffpools Biomasse, Boden,          Mio. Tonnen. Bei näherer Betrachtung lässt sich ein
                                 Streu (Humusauflage) und Totholz sind Bestandteile         leichter Anstieg der C-Vorräte im Totholz seit der
                                 des Inventars und sollen für den Zeitraum 1990 bis         Inventur 2002 beobachten. Höher fällt die Zunahme
                                 2012 berichtet werden. Hierzu werden Daten vor             der Kohlenstoffvorräte bei dem größten Pool, der
                                 allem aus Inventuren herangezogen, die vom Thü-            Biomasse, aus.
                                 nen-Institut für Waldökosysteme koordiniert und                Mit der Auswertung der Bodenzustandserhe-
                                 ausgewertet werden. Für die Biomasse und das Tot-          bung (Stichjahr 2006) lassen sich die Kohlenstoff-
                                 holz stehen nunmehr drei Bundeswaldinventuren              vorräte in der Humusauflage und in den oberen
                                 (BWI) und für den Waldboden und die Streu zwei             30 cm des Mineralbodens auf ca. 850 Mio. Tonnen
                                 Bodenzustandserhebungen (BZE) zur Verfügung.               beziffern (Moorstandorte werden nicht berücksich-
                                     Wälder zeichnen sich dadurch aus, dass der Koh-        tigt). Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass allein
                                 lenstoff längerfristig im Holz gespeichert wird. Zusätz-   in der Humusauflage ca. 191 Mio. Tonnen Kohlen-
                                 lich wird dem Waldboden durch den Streufall und            stoff gespeichert sind. Dieser relativ labile Kohlen-
                                 durch den unterirdischen Eintrag von Wurzelstreu           stoffpool ist im Zeitraum zwischen den Inventuren
                                 oder Wurzeldepositionen Kohlenstoff zugeführt.             konstant geblieben. Allerdings variieren die zeit-
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                             FORSCHUNG         11

                                                                                                                * Für den Boden auf das Jahr
                                                                                                                2012 hochgerechnet, für den
                                                                                                                Bestand gemessen.

lichen Veränderungen der Kohlenstoffvorräte in           durch die stoffliche Nutzung von Holz wird ein Teil
der Humusauflage unter verschiedenen Baumarten           des Kohlenstoffs von den Bäumen auf die Produkte
beträchtlich. So stieg der Kohlenstoffpool unter         übertragen – die Produkte fungieren also ebenso wie
Fichtenbeständen an, während er unter Laubwäl-           der Wald als Speicher. Auch die energetische Nut-
dern abnahm. Die Ursachen hierfür sind vielschich-       zung des nachwachsenden Rohstoffes ersetzt fossile
tig und bedürfen weiterer Forschung.                     Energieträger (Substitutionswirkung). Nach ersten
    Die Kohlenstoffvorräte in den oberen 30 cm           Berechnungen konnten von 2005 bis 2009 durch die
des Mineralbodens zeigen ein anderes Bild: Dieser        stoffliche Holzverwendung jährlich durchschnitt-
Pool ist mit ca. 659 Mio. Tonnen nicht nur deutlich      lich 56,7 Mio. Tonnen und durch die energetische
größer als der der Humusauflage, er hat sich auch        Nutzung ca. 30,1 Mio. Tonnen an Treibhausgasen
seit der ersten Inventur um 64 Mio. Tonnen erhöht.       substituiert werden. Das Potenzial der Wälder als
Auch hier zeigt sich ein heterogenes Bild bei landes-    Kohlenstoffsenke ist demnach also größer als bislang
weiter Betrachtung. In Norddeutschland waren die         in der Berichterstattung angegeben.
Veränderungen besonders hoch, in weiten Teilen
Süddeutschlands hingegen nur unbedeutend.                Bedeutung für den Klimawandel
                                                         Die Ergebnisse zeigen, dass Wälder eine entschei-      Die Bodenzustandserhebung
                                                                                                                ist eine systematische
Wälder und Holzprodukte als Kohlenstoffsenken            dende Rolle im globalen Klimageschehen spie-
                                                                                                                Stichprobe in einem Raster von
Der Wald in Deutschland ist seit Beginn der Bericht-     len: Sie binden Kohlenstoff und können somit den
                                                                                                                8 x 8 km. Die Erhebungen
erstattung im Jahr 1990 jedes Jahr eine Kohlenstoff-     anthropogen verstärkten Treibhauseffekt abmil-         fanden bundesweit in den
senke. Das heißt, es wird mehr Kohlenstoff gebunden      dern. Mit der Kenntnis über die zeitliche Entwick-     Jahren zwischen 1987 und 1993
als beispielsweise durch die Holzernte freigesetzt       lung der Kohlenstoffpools lassen sich waldbauliche     (BZE I) sowie zwischen 2006
wird. Die jährliche Kohlenstoffbindung inklusive Frei-   Handlungsziele ableiten, um den Wald weiterhin als     und 2008 (BZE II) jeweils auf ca.
setzung beträgt aktuell ca. 52 Mio. Tonnen.              Kohlenstoffspeicher zu bewahren bzw. dessen Sen-       1.800 Waldstandorten statt.

    In die jährliche Treibhausgas-Berichterstattung      kenfunktion noch zu vergrößern, ohne die Holzpro-
                                                                                                                Die Bundeswaldinventur
floss bis 2012 nur die Kohlenstoffbindung ein – die      duktion zu vernachlässigen.                  NW 
                                                                                                                wurde 2012 das dritte Mal
stoffliche Nutzung von Holz und ihr Beitrag zur jähr-                                                           durchgeführt, dabei wurden
lichen CO2-Bilanz wurden nicht berücksichtigt. Dem       KONTAKT: erik.grueneberg@ti.bund.de,                   rund 60.000 Waldpunkte und
wird aber mittlerweile Rechnung getragen, denn                     wolfgang.stuemer@ti.bund.de                  400.000 Bäume aufgenommen.
12    FORSCHUNG

                                 Der Hering im sozialen Netzwerk
                                 Neuer Forschungsansatz soll Greifswalder Bodden fischfreundlicher gestalten

                                 Um die »Kinderstube des Herings«, das Laichgebiet im Greifswalder Bodden, auf
                                 Dauer zu sichern, rücken Fischereibiologen und Politikwissenschaftler näher zusam-
                                 men. In einem Forschungsprojekt untersucht das Thünen-Institut für Ostseefischerei
                                 die Strukturen politischer Entscheidungsprozesse im Küstenzonenmanagement.

                                 Der Heringsbestand in der westlichen Ostsee hat       sucht worden. Das Management des Herings hat
                                 ein Nachwuchsproblem. Das Gewicht der laichrei-       sich bislang ausschließlich auf die Auswirkungen der
                                 fen Tiere insgesamt hat zwischen 2006 und 2011        Fischerei konzentriert. Die schlechte Nachwuchspro-
                                 deutlich abgenommen – als Folge einer schwachen       duktion des Herings deutet aber darauf hin, dass
                                 Nachwuchsproduktion seit 2004. Deswegen muss-         dieser Ansatz nicht ausreicht und gegebenenfalls um
                                 ten die Fangmengen in den vergangenen sechs           ein Gebietsmanagement erweitert werden sollte, das
                                 Jahren immer weiter reduziert werden.                 nicht nur die Gewässer, sondern die gesamte Region
                                     Um den Schutz und die Nutzung der Küsten-         umfasst. Mit ihrer Untersuchung wollten die Thünen-
                                 zonen des Greifswalder Boddens zu verbessern          Wissenschaftler deshalb alle Akteure im Greifswalder
                                 und damit die Laich- und Aufwuchsgebiete des          Bodden ausfindig machen und ihren Einfluss auf das
                                 Heringsbestands in der westlichen Ostsee auf          Laich- und Aufwuchsgebiet des Herings aufzeichnen.
                                 Dauer zu sichern, haben Wissenschaftlerinnen
                                 und Wissenschaftler des Thünen-Instituts für Ost-     Welche Akteure sind einflussreich?
                                 seefischerei im Rahmen des Forschungsprojekts         Wie versuchen die verschiedenen Akteure, ihre
                                 HERRING einen interdisziplinären Ansatz gewählt:      Interessen in den politischen Entscheidungspro-
                                 Neben den ökologischen Bedingungen untersu-           zess einzubringen und wo verlaufen dabei Konflikt-
                                 chen sie auch die politisch-institutionellen Gege-    linien? Auf der Basis von 35 qualitativen Interviews
                                 benheiten, die den Schutz und die Nutzung des         ermittelten die Wissenschaftler in einer Netzwerk-
                                 Küstenraums beeinflussen.                             analyse die Interaktions- und Kommunikations-
                                     In den vergangenen Jahren ist der Nutzungsdruck   muster der Akteure aus Fischerei, Naturschutz,
                                 auf den Greifswalder Bodden gestiegen: Neben der      Landwirtschaft, Raumplanung und Wissenschaft.
                                 Fischerei konkurrieren auch Naturschutz, Tourismus,   Wer arbeitet mit wem zusammen? Welche Kon-
                                 Industrie, Energieversorgung und Landwirtschaft       takte werden gemieden? Wie häufig sind die beste-
                                 um Raum und Ressourcen. Deren mittelbare und          henden Kontakte? Solche Fragen zum Netzwerk
                                 unmittelbare Auswirkungen auf das Laich- und Auf-     beantworteten die Akteure in den Interviews;
                                 wuchsgebiet des Herings sind bislang kaum unter-      gleichzeitig bewerteten sie ihren eigenen Einfluss
                                                                                       und den Einfluss der anderen.
                                                                                            Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung: Die
                                                                                       Fischerei selbst schätzt sich als wenig einflussreich
                                                                                       ein und fühlt sich in politischen Entscheidungen
                                                                                       zusehends marginalisiert. Gleichzeitig wird sie von
                                                                                       anderen Akteuren als wenig einflussreich einge-
    Seit 2004 beobachten die
                                                                                       schätzt. Auch der Einfluss der Fischereiwissenschaft
          Wissenschaftler eine
  schwächere Produktion von
                                                                                       ist – als Schnittstelle zur Politik und trotz der hohen
Heringslarven im Greifswalder                                                          Bedeutung für Managemententscheidungen – in
                     Bodden.                                                           diesem Gebiet erkennbar schwach ausgeprägt. Fast
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                    FORSCHUNG   13

alle Akteure haben den Eindruck, dass der Industrie,   negative Auswirkungen auf das Laichgebiet besit-
der Energieversorgung und der Landwirtschaft eine      zen. Eine andere Möglichkeit wäre es, im Sinne der
höhere politische Priorität eingeräumt wird als der    Vorsorge sämtliche Stressfaktoren zu vermeiden,
Fischerei oder dem Naturschutz.                        zum Beispiel die hauptsächlich von der Landwirt-
     Die Vorstellungen zum Schutz von Küstenzo-        schaft verursachten Nährstoffeinträge im Laichge-
nen auf der einen Seite und zur Nutzung aqua-          biet zu reduzieren.
tischer Ressourcen auf der anderen Seite gehen             Der Dialog zwischen den einzelnen Akteuren ist
weit auseinander. Die meisten Akteure sehen kaum       derzeit gekennzeichnet von Polemik und Pauschali-
eine Notwendigkeit dafür, den Küstenraum und           sierungen. Nur im Dialog lassen sich aber Lösungen
die Laichgebiete des Greifswalder Boddens stär-        finden, die allen Beteiligten nutzen. Um die bishe-
ker als bisher zu schützen. Bemerkenswert ist vor      rigen Ergebnisse mit allen Akteuren zu diskutieren,
allem, dass die Fischerei einen stärkeren Schutz der   hatte das Thünen-Institut deshalb zu Workshops
Küstenräume entschieden ablehnt – zu groß ist die      eingeladen. Sie sollten helfen, die harten Konfronta-
Sorge, dass weitere naturschutzrechtliche Auflagen     tionslinien aufzubrechen und einer Kompromisslö-
das Fortbestehen der Küstenfischerei insgesamt         sung näher zu kommen. Dabei zeigte sich, dass die
gefährden können.                                      Positionen noch weit auseinanderliegen und es wei-
                                                       terer Gespräche am Runden Tisch bedarf.
Ansätze für eine bessere Managementpraxis                  Für das Thünen-Institut als Politikberater sind
Darüber hinaus lässt sich kein einheitliches Ver-      diese Erkenntnisse vielfältig nutzbar. Netzwerkana-
ständnis darüber erkennen, was eigentlich ein          lysen bieten die Grundlage für eine realistischere
angemessener Schutz beziehungsweise was eine           Politikfolgenabschätzung. Sie tragen zu einem
angemessene Nutzung der Küstenräume bedeutet           tieferen Verständnis der Interessengruppen bei und
und wie dabei die unterschiedlichen Interessen auf-    helfen, Empfehlungen besser auf die Empfänger
einander abgestimmt werden können. Eine Lösung         abzustimmen und damit die Schnittstelle zwischen
könnte es sein, den Greifswalder Bodden als Vor-       Wissenschaft und Politik zu verbessern.      UK & UH 
ranggebiet auszuweisen. Das würde alle anderen
Nutzungsarten einschränken, sofern sie erkennbar       KONTAKT: friederike.lempe@ti.bund.de
14     MENSCHEN & MEINUNGEN

                                     »Nicht jede Frau will
                                     Mechatroniker werden«
                                     Ein Gespräch zu den Zukunftsplänen Jugendlicher im ländlichen Raum

                                     Was führt die Jugend in die Fremde, was hält sie daheim? Danach haben Heinrich
                                     Becker und Andrea Moser vom Thünen-Institut für Ländliche Räume geforscht. Dazu
                                     haben sie an Schulen in sechs verschiedenen Regionen Deutschlands insgesamt
                                     2.662 Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren zu ihrer Lebenssituation und ihren
                                     Zukunftsplänen befragt – und Überraschendes zutage gefördert.

                                     Laut Ihrer Studie sind Jugendliche in ländlichen         Die Studie wollte also strukturschwache und
                                     Räumen mit ihrem Leben sehr zufrieden. Woran             strukturstarke Räume in Ost- und Westdeutschland
                                     machen Sie das fest?                                     vergleichen. Sind die Ergebnisse denn wie erwartet
                                     HB: An den eigenen Aussagen der Jugendlichen             ausgefallen?
                                     zu ihrer derzeitigen Lebenssituation und an ihren        HB: Unsere Grundthese ist zusammengebrochen.
                                     hohen Zufriedenheiten mit ihren Freundschaften           Wir hatten angenommen, dass die wirtschaftliche
                                     und an dem guten Verhältnis zu den Eltern.               Situation der Regionen zur Grundwahrnehmung
                                                                                              der Jugendlichen beiträgt und sich in ihren Vor-
                                     Kein Generationskonflikt mehr?                           stellungen zum Gehen oder Bleiben niederschlägt.
                                     HB: Nein, und das wissen Jugendforscher schon seit       Nach der Befragung kann man das so nicht aufrecht-
                                     Längerem, dass von generellen Generationskonflikten      erhalten. Am deutlichsten wird es bei den jungen
                                     keine Rede mehr sein kann. Wenn, so unsere Überle-       Frauen. In fünf der sechs Untersuchungsorte über-
                                     gung, könnten sich Konflikte eventuell daran entzün-     legen 60 Prozent der jungen Frauen wegzugehen.
                                     den, dass die Kinder weg wollen. Die Jugendlichen, die   Diese Überlegungen sind völlig unabhängig von
       * Die Shell-Jugendstudie      überlegen wegzugehen, betonten, dass sie die Unter-      der wirtschaftlichen Situation in den jeweiligen
      erscheint seit 1953 und will   stützung ihrer Eltern haben. Eltern tun alles für das    Orten. Einige dieser Regionen haben mit deutlichen
     konkrete gesellschaftspoliti-
                                     Wohl ihres Kindes und machen sich auch Gedanken          wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, in ande-
   sche Denk- und Diskusssions-
anstöße bieten. 2010 wurde sie
                                     darüber, wo dieses am besten zu erreichen ist – mög-     ren herrscht Vollbeschäftigung. Vollbeschäftigung
    zum 16. Mal herausgegeben.       licherweise eben nicht immer vor Ort. Das gilt ange-     ist aber nur ein Faktor. Die jungen Frauen haben
 Das Deutsche Jugendinstitut         sichts eines unzureichenden Angebots an Lehr- und        uns gesagt: Unsere Berufswahl orientiert sich nicht
      wurde 1963 gegründet und       Ausbildungsstellen insbesondere für junge Frauen.        daran, was es hier vor Ort gibt.
 führt Forschungen zu Kindern,
  Jugendlichen und Familien an
       der Schnittstelle zwischen
                                     Die letzte Shell-Jugendstudie und Studien des            Woran orientieren sich die Berufswünsche?
         Wissenschaft, Politik und   Deutschen Jugendinstituts* stellten deutliche            HB: An der Frage »Was passt zu mir?« und an den
                Fachpraxis durch.    Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutsch-              Möglichkeiten, die mit dem allgemeinen Wunsch
                                     land fest, Ihre Studie nicht. Woran liegt das?           der Jugendlichen nach guter Bildung einherge-
 Die Untersuchungsregionen           AM: Die Unterschiede sind wenigstens nicht so ein-       hen. Der eine versteht darunter ein Hochschulstu-
    der Thünen-Jugendstudie:         deutig und ausgeprägt. Das liegt vor allem an der        dium, der andere einen guten Realschulabschluss.
              Friedland (MV)
                                     Auswahl der Orte in Ostdeutschland. Ausgehend            Ein anderer wichtiger Faktor ist die Antwort auf
             Krummhörn (NI)
                                     von der Hypothese, dass die wirtschaftliche Situa-       die Frage »Wo will ich leben?«. Viele der befragten
                Grimma (SN)
                   Furth (BY)        tion Abwanderung befördert, hatten wir Regionen          Jugendlichen können sich ein Leben in ihrem Hei-
               Königsee (TH)         mit vergleichbaren Strukturen in West- und Ost-          matort nicht vorstellen – nicht für die nahe Zukunft
              Meßkirch (BW)          deutschland ausgewählt.                                  und auch nicht langfristig.
Wissenschaft erleben 2014 /1                                                                                MENSCHEN & MEINUNGEN   15

Trotz aller Zufriedenheit ...                            Werden die Jugendlichen in ein paar Jahren noch
HB: Ja, die Zufriedenheit der Jugendlichen bezieht       einmal befragt, um festzustellen, ob sie tatsäch-
sich auf die Ist-Situation, nicht auf die Zukunft. Die   lich in die nächste Großstadt gezogen sind?
Jugendlichen begreifen ihr Leben als einen Prozess       AM: In ein paar Jahren dieselben Personen zu fragen,
mit Veränderungen und Entwicklungen. Sie wissen:         ob sie ihre Absichten auch tatsächlich vollzogen
Im Leben gibt es Wendepunkte.                            haben, wäre spannend, aber solche Untersuchungen
                                                         sind angesichts der anonymen Befragungen nicht
Erstaunlicherweise neigen junge Frauen – unab-           ohne weiteres durchzuführen.
hängig von den Regionen – stärker zum Wandern.
AM: Das hat auch mit den Berufsvorstellungen und         Zu welchem Ergebnis über die heutige Orientie-
den Möglichkeiten vor Ort zu tun: Nicht jede Frau will   rung der Jugendlichen kommen Sie?
Mechatroniker werden. Bei den jungen Frauen sind         AM: Abwanderungsorientierungen sind nicht
die angestrebten Bildungsabschlüsse höher. Daran         alleine abhängig von den regionalen Bedingungen,
schließt sich etwa der Wunsch nach einem Studium         sondern sehr stark von den gesellschaftlichen Mög-
an, und dafür geht man eben weiter weg. Dazu passt       lichkeiten. Die Jugendlichen orientieren sich in Rich-
auch die Vorstellung der Jugendlichen, in die Stadt      tung Stadt, auch wenn sie vor Ort zufrieden sind.
zu ziehen, da die Großstadt ihren Lebensplänen am        Dieses Ergebnis enttäuscht die Hoffnungen von
nächsten kommt.                                          Kommunalpolitikern, die sich Ansatzpunkte erhoff-
                                                         ten, um Jugendliche zum Bleiben zu bewegen.
Die Studie sagt nicht, wie viele abwandern.
HB: Richtig, wir haben nur die Orientierung der          Frau Moser und Herr Becker, herzlichen Dank für
Jugendlichen zu einem bestimmten Zeitpunkt               das Gespräch.                            UH & IS 
gemessen.
16   PORTRAIT

                Und was bedeutet das für die Betriebe?
                Das Testbetriebsnetz – ein Schlüsselelement zur Beurteilung der wirtschaftlichen
                Lage der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft und für die Politikfolgenabschätzung

                Wann immer über Änderungen der politischen Rah-          rungsabschlüsse von etwa 11.300 Betrieben erfasst.
                menbedingungen für land-, forst- oder fischereiwirt-     Im Testbetriebsnetz Forst liefert eine Stichprobe von
                schaftliche Betriebe diskutiert wird, kommen früher      rund 350 Betrieben Informationen zur wirtschaftlichen
                oder später die Fragen: »Und was bedeutet das für        Lage der 3.800 Betriebe des Staats-, Körperschafts-
                die Betriebe und deren wirtschaftliche Lage? Gibt        und Privatwaldes ab 200 Hektar Waldfläche. Das
                es einen Beschäftigungseffekt, und wie ändert sich       Testbetriebsnetz zur Kleinen Hochsee- und Küstenfi-
                die Einkommensverteilung?« Für die Beantwortung          scherei umfasst etwa 140 Betriebe mit Frischfisch- und
                solcher Fragen ist das Thünen-Institut zuständig.        Krabbenkuttern. Damit enthält es etwa 40 % der Fahr-
                Wir erarbeiten quantitative Einschätzungen für eine      zeuge der betreffenden Fischereisegmente.
                möglichst repräsentative Stichprobe aller Betriebe.          Die Testbetriebsdaten verwenden wir nicht nur
                Hierdurch können wir den nationalen Agrar-, Forst-       für die Analyse der wirtschaftlichen Lage und für
                und Fischereisektor in seiner ganzen Vielgestaltig-      Politikfolgenabschätzungen, sondern auch für wei-
                keit zutreffend abbilden.                                tere Zwecke:
                    Seit rund 15 Jahren nutzen wir für diese Analysen    • Das Thünen-Institut für Internationale Waldwirt-
                das Informationsnetz land-, forst- und fischereiwirt-      schaft und Forstökonomie nutzt sie zur Erstellung
                schaftlicher Buchführungsbetriebe (kurz: Testbe-           der jährlichen Forstwirtschaftlichen Gesamt-
                triebsnetz), das bereits in den 1960er-Jahren durch        rechnung (FGR), die eine der Grundlagen für die
                das Bundesagrarministerium aufgebaut wurde. In             Waldgesamtrechnung (WGR) als Teil der Umwelt-
                diesem Netz werden die Jahresabschlüsse von reprä-         ökonomischen Gesamtrechnung Deutschlands
                sentativ ausgewählten Betrieben auf freiwilliger Basis     (UGR) ist.
                erhoben und analysiert. Ursprünglich stand das Ziel      • Die Thünen-Institute für Seefischerei und für
                im Vordergrund, eine Faktengrundlage für die Ein-          Betriebswirtschaft fungieren als nationale Ver-
                kommenspolitik sowie den jährlichen Agrarbericht           bindungsstelle zur EU; sie bereiten die deutschen
                der Bundesregierung zu schaffen. Seit den 1990er-          Daten für die EU-Berichterstattung auf und wirken
                Jahren gewann die Datennutzung für andere Politik-         auf EU-Ebene an der methodischen Weiterent-
                folgenabschätzungen immer mehr an Bedeutung.               wicklung der Berichtssysteme mit.
                    So können wir mithilfe des Testbetriebsnetzes        • Außerdem werden die Daten genutzt, um die
                aufzeigen, wie viele Betriebe von einer politischen        betriebswirtschaftliche Forschung voranzubrin-
                Maßnahme betroffen sind bzw. wären. Auch lassen            gen, auch in Kooperation mit Universitäten und
                sich die Bestimmungsgründe von Betriebs- und               selbstverständlich unter Beachtung der strengen
                Einkommensentwicklungen untersuchen sowie der              Anforderungen des Datenschutzes.                 FI 
                Einfluss von Fördermaßnahmen auf regionaler und
                sektoraler Ebene beziffern.                              KONTAKT: heiko.hansen@ti.bund.de (BW),
                    Für den Bereich Landwirtschaft (einschließlich                 bjoern.seintsch@ti.bund.de (WF),
                Gartenbau und Dauerkulturen) werden Buchfüh-                       joerg.berkenhagen@ti.bund.de (SF)
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