Wissenschaft erleben - Thünen-Institut
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Wissenschaft erleben Greening: Ein grünes Deckmäntelchen Fasern im Fokus Der Hering im sozialen Netzwerk Kyoto und der Wald »... einfach in die Ostsee geworfen« – Ein Gespräch über versenkte Kampfstoffmunition Freihandel: Bald mehr US-Rindfleisch in der EU? 2014 / 1
Inhalt Ausgabe 1/2014 Greening: Ein grünes Deckmäntelchen STANDPUNKT Von Peter Weingarten, Hiltrud Nieberg, Heiner Flessa & Hans-Joachim Weigel 1 INFO-SPLITTER · Rosskastanie hat viele Feinde · Ammoniak effizienter entsorgen · Alte Rassen – hier geht‘s um die Wurst · Erreichbarkeit von Apotheken · Ein crasser Wurm · Freihandel: Bald mehr US-Rindfleisch in der EU? 2–3 FORSCHUNG Fasern im Fokus Kyoto und der Wald Thünen-Forscher entwickeln Methode Wälder in Deutschland speichern mehr zur Vermessung von Holzfasern Kohlenstoff als vor 20 Jahren 4 10 Trinken, tanken oder in die Der Hering im sozialen Netzwerk Chemiefabrik? Neuer Forschungsansatz soll Greifswalder Wie wichtig Bio-Ethanol für die chemische Bodden fischfreundlicher gestalten 6 Industrie werden könnte 12 MENSCHEN & MEINUNGEN »… einfach in die Ostsee geworfen« ThünenIntern Ein Gespräch über versenkte Meldungen aus dem Hause Kampfstoffmunition 8 17 »Nicht jede Frau will Mechatroniker werden« Ein Gespräch zu den Zukunftsplänen 14 Jugendlicher im ländlichen Raum PORTRAIT Und was bedeutet das für die Betriebe? Nutzung des Textbetriebsnetzes 16 im Thünen-Institut RÜCKBLICK & AUSBLICK · Holzhandel: Standards EU-weit einhalten · Ökodaten für Baustoffe online · Neue Regeln für den Ökolandbau · Was Korallenriffe leisten · Mutterbindung ist auch für Kälber wichtig · Aquakultur: Deutschland schwimmt hinterher 18 – 20
Wissenschaft erleben 2014 /1 STANDPUNKT 1 Von Hilt Peter r W Fle ud Ni eing s e a We sa & H berg, rten, ige ans H l -Jo einer ach im Greening: Ein grünes Deckmäntelchen Mehr als vier Jahre wurde über die Reform der Agrar- 5 %-Vorgabe für im Umweltinteresse zu nutzende Hiltrud Nieberg (Betriebswirt- politik ab 2014 europaweit debattiert, gestritten, Ackerflächen entspricht zwar rund 550.000 Hektar. schaft), Hans-Joachim Weigel gerungen, verhandelt. Die grundsätzlichen Entschei- Die bereits vorhandenen Landschaftselemente (Biodiversität), Heiner Flessa (Agrarklimaschutz) und Peter dungen sind Ende vergangenen Jahres gefallen. (z. B. Hecken), Brachen, Zwischenfrüchte und Legu- Weingarten (Ländliche Räume). Seitdem wird sowohl auf EU-Ebene als auch in den minosen, die mit unterschiedlicher Gewichtung als Mitgliedstaaten an den Detailregelungen gefeilt. Bald ökologische Vorrangflächen gelten, decken diesen geht es in die Umsetzung. Flächenbedarf aber schon heute weitgehend ab. Der Ein Novum dieser Agrarreform stellt die »Begrü- zusätzliche Umweltnutzen in den Bereichen Biodi- nung« der Direktzahlungen dar (Greening). Land- versität, Gewässer- und Klimaschutz fällt also aller wirte erhalten nur dann Direktzahlungen in voller Wahrscheinlichkeit nach recht gering aus, dafür wird Höhe, wenn sie Mindeststandards in Bezug auf die aber der Aufwand für die Agrarverwaltungen für die Kulturpflanzenvielfalt und die Erhaltung von Dauer- rechtssichere Feststellung all dieser Vorgaben deut- grünland erfüllen sowie mindestens 5 % ihrer Acker- lich steigen. Auch auf Seiten der Landwirte steigt der fläche im Umweltinteresse nutzen (ökologische Verwaltungsaufwand. Doch unzufrieden brauchen Vorrangflächen). Insgesamt sind für Landwirte in sie mit dem Verhandlungsergebnis nicht zu sein: Den Deutschland bis 2020 jährlich rund 4,9 Mrd. Euro meisten Landwirten entstehen durch das Greening Direktzahlungen vorgesehen, davon rund 1,5 Mrd. durchschnittliche Kosten von weniger als 30 Euro je Euro als Greening-Prämie (ca. 200 Euro plus 90 Euro Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche. Diese für Greening-Maßnahmen je Hektar landwirtschaft- sind damit deutlich geringer als der Teil der Direkt- licher Fläche). zahlungen, den sie für die Einhaltung der Greening- Viele Akteure hatten sich für eine Ökologisie- Vorgaben bekommen (knapp 90 Euro je Hektar). rung der Agrarpolitik stark gemacht. Umweltver- Das Greening ist im Laufe der Verhandlungen bände sahen im Greening der Direktzahlungen zu einem grünen Deckmäntelchen mutiert. Damit einen Kurswechsel in der Agrarpolitik. Erstmals können die Direktzahlungen an die Landwirte auf würden Direktzahlungen für Landwirte an sub- Dauer wohl kaum legitimiert werden. Mit den rund stanzielle Gegenleistungen für mehr Umweltschutz 1,5 Mrd. Euro an Greening-Prämie ließe sich mit geknüpft. Doch wie viel bringt das Greening, wie es gezielteren Agrarumweltmaßnahmen, zum Beispiel ab 2015 in Deutschland voraussichtlich umgesetzt im Rahmen der 2. Säule der Gemeinsamen Agrar- wird? Nicht viel, das können wir auf Basis unserer politik (Programme zur ländlichen Entwicklung), Untersuchungen sagen. Denn die meisten landwirt- ein deutliches Mehr an Umweltleistungen erzielen. schaftlichen Betriebe halten bereits jetzt die Vor- Deshalb: Nach der Reform ist vor der Reform. Wir gaben zur Anbaudiversifizierung ein und sind von bleiben dran und werden für die Zeit nach 2020 dem Gebot der Grünlanderhaltung nicht über die frühzeitig Optionen für eine effizientere Agrarpolitik jetzigen Regelungen hinausgehend betroffen. Die erarbeiten.
2 INFO-SPLITTER InfoSplitter Bild von Michael Rosskastanie hat viele Alte Rassen – hier geht's um Ein crasser Wurm Feinde die Wurst Der parasitische Fadenwurm Anguillicola crassus Um beurteilen zu können, ob geschädigte Bäu- Gibt es eine Erhaltungschance für alte, bedrohte (Bildmitte) befällt den Europäischen Aal wäh- me die Verkehrssicherheit im städtischen Raum Schweinerassen, wenn sie sich für die Herstel- rend seiner kontinentalen Lebensphase und beeinträchtigen, müssen typische Schadbilder lung regionaler Spezialitäten nutzen lassen? Die- schädigt seine Schwimmblase (links im Bild). Mit und deren Verursacher bekannt sein. Neben se Frage untersucht eine Arbeitsgruppe im Thü- einer geschwächten Schwimmblase hat der Aal abiotischen Schäden (Wassermangel, Anfahrts- nen-Institut für Ökologischen Landbau im schlechtere Chancen, die etwa 6000 km lange schäden und ähnliches) sind holzabbauende Pil- Rahmen des EU-Verbundprojekts »Low-Input- Wanderung in seine Laichgründe zu meistern. ze und Bakterien das Gros der Schadverursacher Breeds«. Im Thünen-Institut für Fischereiökologie wird da- an Bäumen. Im Fokus stehen langgereifte Rohwürste, zu her der Wurmbefall des Europäischen Aals in Die Rotblühende Rosskastanie ist seit etwa deren Herstellung sogenannte Schwere Schwei- deutschen Flüssen überwacht. Gemeinsam mit vier Jahren von einer Krankheit betroffen, die ne (> 160 kg) verwendet werden, da diese die der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft sich durch zahlreiche Schadsymptome äußert: notwendigen Fettmengen und -qualitäten (ker- und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern wur- ein weißfäuleähnlicher Holzabbau, schwarze niger Speck) liefern. Im Gegensatz zu modernen den zusätzliche Daten aus Küstengewässern der Leckstellen an der Borke, Pilzfruchtkörper und Hybridschweinen zeigen alte Schweinerassen, Ostsee erhoben. Insgesamt wurden zwischen Totäste. Molekularbiologische Untersuchungen z. B. Sattelschweine, einen starken Fettansatz – 1996 und 2011 die Schwimmblasen von mehr als am Zentrum Holzwirtschaft der Universität Ham- negativ für die heutige Fleischproduktion, doch 17.000 Aalen untersucht. burg in Kooperation mit dem Thünen-Institut für vorteilhaft hinsichtlich kernigen Specks. Thünen-Wissenschaftler stellten in deutschen Holzforschung konnten eine komplexe Ursache In Zusammenarbeit mit dem Max Rubner-Ins- Binnengewässern anhaltend hohe Befallsraten aufdecken: Für die Leckstellen wurden an der titut in Kulmbach verglichen die Thünen-Wissen- bei Aalen von 65 bis 83 % fest. Die meisten Aale Borke das Bakterium Pseudomonas syringae pv. schaftler die Eignung von Sattelschweinen, de- sind also nach wie vor befallen. Aber es gibt auch aesculi (PSA) und für den Holzabbau zwei Pilze ren Kreuzungen mit einem Piétrain-Eber und eine gute Nachricht, denn die Zahl der Würmer (der Austernseitling und der Samtfußrübling) als einer modernen Hybridherkunft für die Herstel- pro Schwimmblase nahm in Elbe und Ems seit Verursacher identifiziert. Beide Pilze sind bislang lung langgereifter Rohwurst. 1996 signifikant ab. Die untersuchten Fische hat- nur als Wundparasiten oder Besiedler toten Hol- Es zeigte sich, dass sich die Hybridtiere auf- ten zwar nach wie vor stark geschädigte zes bekannt, nicht aber als Verursacher einer ag- grund der Fettquantität und -qualität am we- Schwimmblasen – möglicherweise von früheren gressiven Weißfäule mit parasitären Eigenschaf- nigsten, die Sattelschweine dagegen am besten Infektionen – waren aber weniger stark mit dem ten. Der Samtfußrübling und PSA konnten zur Rohwurstproduktion eigneten; letztere aller- Parasiten befallen. Die Forscher halten daher erstmals im Holz einer lebenden Rosskastanie dings mit den höchsten Produktionskosten. Die eine Verbesserung der Situation in den nächsten nachgewiesen werden. Kreuzungstiere hingegen zeichneten sich durch Jahren für möglich. Um vor allem die Bruchsicherheit der betrof- gute Produktqualität und mittlere Produktions- Im Gegensatz zu den Flüssen sind die Befalls- fenen Bäume verlässlich beurteilen zu können, kosten aus. Die hierfür notwendige Reinzucht raten bei Aalen aus Küstengewässern generell werden nun weitere, durch die Deutsche Bun- des Sattelschweins als Muttersau könnte einen niedriger (10 bis 58 %). Das ist ein Indiz dafür, desstiftung Umwelt geförderte Untersuchungen Beitrag zur Erhaltung dieser Rasse leisten. Aller- dass die Küstengewässer der Ostsee wertvolle zu Eigenschafen der Pilzgesellschaft und des ab- dings ist die Rohwurstproduktion nur ein Ni- Habitate für die Produktion von Laichaalen mit gebauten Holzes durchgeführt. MO schenmarkt, sodass andere Instrumente hinzu- hoher Qualität darstellen. UK kommen müssen, um alte Rassen wirtschaftlich KONTAKT: annika.mueller-navarra@ profitabel zu nutzen. MW KONTAKT: klaus.wysujack@ti.bund.de uni-hamburg.de KONTAKT: friedrich.weissmann@ti.bund.de
Wissenschaft erleben 2014 /1 INFO-SPLITTER 3 Ammoniak effizienter Erreichbarkeit von Freihandel: Bald mehr entsorgen Apotheken US-Rindfleisch in der EU? Die Tierhaltung in Deutschland verursacht er- In einer alternden Gesellschaft wird die wohn- Hormonfleisch, Chlorhähnchen, Genmais – die hebliche Ammoniak-Emissionen, die zur Versau- ortnahe Versorgung mit Arzneimitteln immer in vielen Zeitungen und Blogs zu lesenden Be- erung von Böden, einer verstärkten Nitratbelas- wichtiger. Gleichzeitig geht gerade in ländlichen fürchtungen im Zusammenhang mit dem mögli- tung im Grundwasser und zur Verdrängung Gebieten die Anzahl von Geschäften und ande- chen Freihandelsabkommen zwischen den USA schützenswerter Ökosysteme (Moore, Magerra- ren Dienstleistern zurück. Informationen über und der EU hören sich an wie aus dem Gruselka- sen) beitragen. die Erreichbarkeit wichtiger Infrastrukturen wie binett. Glaubt man den Verhandlungsführern Mit Anlagen zur Abluftreinigung lassen sich 70 z. B. die Versorgungssituation im Apothekenbe- der EU, werden geltende EU-Produktstandards bis 95 % dieser Ammoniak-Emissionen vermei- reich lagen bislang nicht vor. Das Thünen-Insti- in der Landwirtschaft nicht angetastet. den. Dabei fällt je nach gewähltem Verfahren tut für Ländliche Räume hat daher die wohnort- Für den Bereich Rindfleisch würde das bedeu- stickstoffhaltiges Waschwasser an, das entweder nahe Erreichbarkeit öffentlicher Apotheken ten, dass auch zukünftig nur solches Fleisch, das pflanzenbedarfsgerecht auf landwirtschaftlichen untersucht. Dazu wurde mit Methoden der Geo- ohne Hormone und andere Wachstumsförderer Nutzflächen ausgebracht werden kann oder um- informatik (GIS) über Deutschland ein Raster mit produziert wird, von den USA in die EU gelangt. weltverträglich beseitigt werden muss. Welcher einer Kantenlänge von 250 m gelegt und dann Es steht jedoch auch ein Abbau der Zölle zur Dis- Verwertungsweg gewählt wird, hängt unter an- über das Verkehrsnetz für jede Rasterzelle die Er- kussion, die momentan bei Rindfleisch gut 40 % derem von der Qualität des Waschwassers, der reichbarkeit ermittelt. Das Ergebnis fasst die Kar- betragen. Viehdichte und den nötigen Transportwegen ab. te zusammen. Gut erreichbar sind Apotheken in Berechnungen des Thünen-Instituts zeigen, In einem gemeinsamen Projekt mit der Firma den grün dargestellten Regionen, eher schlecht dass ein Verzicht auf die in den USA verbreiteten Big Dutchman International GmbH hat das Thü- in den roten. Wachstumsförderer die Tierleistungen verrin- nen-Institut für Agrartechnologie für Anlagen Insgesamt lässt sich festhalten: Im Durch- gern und die Produktionskosten in den USA um mit biologischer Abluftreinigungsstufe ein neu- schnitt beträgt die Entfernung zur nächsten ca. 10 % erhöhen würde. Berücksichtigt man au- es Verfahren entwickelt, bei dem bis zu 50 % des Apotheke 4 km; sie nimmt von den Städten ßerdem die Transportkosten von den USA nach Stickstoffs im Waschwasser unter Bildung von (Ø 1,6 km) zu den ländlichen Räumen (Ø 6 km) Europa, lägen die Kosten für US-Rindfleisch dicht unbedenklichem molekularen Stickstoff um- hin zu. Auf dem Land sind die Bürger zumeist auf am europäischen Preis- und Kostenniveau. Es er- weltverträglich entfernt werden. Dadurch wird den Pkw angewiesen, wobei aber auch hier für gibt sich also nur ein geringer Anreiz, mehr Rind- auch nur etwa die Hälfte an Frischwasser benö- die Mehrheit die Erreichbarkeit relativ gut ist. fleisch als bisher in die EU zu exportieren. tigt und es fällt entsprechend weniger Wasch- Nur in wenigen Regionen Deutschlands müssen Eine Analyse mit dem Handelsmodell GTAP wasser an. Das Verfahren erlaubt zusätzlich, den Patienten mehr als 15 km bis zur nächsten Apo- kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Der Abbau Bedarf an Säure, die zur Ammoniak-Auswa- theke zurücklegen. Die detaillierten Ergebnisse der bestehenden Einfuhrzölle für Rindfleisch schung benötigt wird, um bis zu 50 % zu reduzie- sind im Thünen Working Paper, Band 14, veröf- hätte lediglich eine sehr geringe Zunahme der ren. Für den Tierhalter fallen am Ende geringere fentlicht. US-Exporte in die EU sowie einen Rückgang der Kosten für Säure sowie zur Lagerung und Aus- Um ein umfassendes Bild der Versorgungssi- deutschen Rindfleischproduktion um 0,5 % zur bringung des Waschwassers an. Nach Abschluss tuation in ländlichen Räumen zu gewinnen, wur- Folge. FI der Pilotphase auf einem Praxisbetrieb mit 1.320 den im Institut weitere Erreichbarkeitsanalysen Mastschweinen sollen nun vermehrt Abluftreini- auch für Supermärkte und Discounter sowie KONTAKT: claus.deblitz@ti.bund.de gungsanlagen mit dieser Technik ausgestattet Straßentankstellen durchgeführt. FI werden. UP KONTAKT: stefan.neumeier@ti.bund.de KONTAKT: jochen.hahne@ti.bund.de
4 FORSCHUNG Fasern im Fokus Thünen-Forscher entwickeln Methode zur Vermessung von Holzfasern Faserplatten sind sehr vielseitige Produkte und zählen weltweit zu den bedeu- tendsten Holzwerkstoffen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Eigenschaften des Ausgangsstoffes – der Holzfasern – bislang nur durch die subjektive Einschätzung er- fahrener Mitarbeiter in der industriellen Fertigung beurteilt werden konnten. Ein im Thünen-Institut neu entwickeltes Messsystem kann die Faserqualitäten nun objektiv und reproduzierbar analysieren. Die Bandbreite der Verwendung von Faserplatten wünschenswert, weil die Faserproduktion ein reicht von Dämmmaterialien bis hin zu mittel- und energieaufwendiger und damit kostenintensiver hochdichten Faserplatten (MDF/HDF) für die Möbel- Prozess ist. Rund 40 % des Stromverbrauchs eines und Fußbodenherstellung. Diese Produkte müssen MDF-Werkes entfallen auf den Betrieb des Refiners, verschiedene Anforderungen erfüllen und haben der das Holz zu Fasern verarbeitet. Da sich verschie- daher auch unterschiedliche Eigenschaften. Durch dene Konzepte für diesen Zweck als nicht geeignet die Wahl der eingesetzten Klebstoffe, der Pressbe- herausstellten, haben sich Forscher des Thünen- dingungen und insbesondere der Faserstoffquali- Instituts für Holzforschung zusammen mit mehre- tät können diese Eigenschaften gezielt eingestellt ren Partnern das Ziel gesetzt, eine entsprechende werden: Dämmplatten haben vor allem eine geringe Methode zu erarbeiten. In mehreren Projektschrit- Dichte, für ihre Herstellung werden besonders ten ist ein Prototyp entwickelt worden, mit dem grobe Fasern benötigt; MDF hingegen hat eine hohe automatisiert die Größen-Charakterisierung von Festigkeit und eine gleichmäßige Oberfläche, die Faser-Stichproben analysiert werden kann. nur mit wesentlich feineren Fasern erreicht werden kann. Die Technik Während die meisten Prozessgrößen und Pro- Das Besondere hierbei ist ein innovativer Ansatz dukteigenschaften während der Produktion durch zur Vereinzelung der Fasern, die bisher das Haupt- moderne Messtechnik überwacht werden, erfolgt problem für die Vermessung von MDF-Fasern war: die Kontrolle der Faserstoffqualität bisher ausschließ- Durch eine geschickte Kombination von Druckluft lich optisch und haptisch durch erfahrenes Personal. und Ultraschall lassen sich die Partikel nun so sepa- Eine objektive Messmethode, die eine zuverlässige rieren, dass eine anschließende Bildverarbeitung Vergleichbarkeit der Prüfung sicherstellt, ist bisher möglich wird. nicht etabliert. Dies wäre aber vor allem deshalb Das Gerät wird mit einer hinreichenden Menge Fasern, die meist agglomeriert und in Knäulen vorlie- gen, beschickt. Die Fasern werden im Gerät vereinzelt, auf einer rotierenden Glasplatte abgelegt und dann von einer Kamera im Durchlichtverfahren erfasst. Danach werden die Objekte wieder von der Glas- platte abgesaugt, um diese für den weiteren Mess- verlauf zu reinigen. Je Messdurchgang werden etwa 0,5 g Fasermaterial vermessen, 650 Bilder zur Auswer- tung erzeugt und durch die Software die darin durch- schnittlich enthaltenen 200.000 Fasern vermessen.
Wissenschaft erleben 2014 /1 FORSCHUNG 5 Links: Ein Blick in das im Thünen-Institut entwickelte Messsystem. Rechts: Unterschiedliche Häufigkeits- verteilungen der Faserlänge bei Variation des Refiner- Mahlspaltes (0,2 bis 0,6 mm). Aus diesen Messwerten können Kennzahlen raum von 100 Tagen genutzt werden konnte. Die ermittelt werden, die in einem »Fiber Fact Sheet« unterschiedlichen Faserqualitäten für den Einsatz zusammengestellt werden. Von besonderem Inte- zur Herstellung der verschiedenen Produkte ließen resse sind dabei zum Beispiel die Häufigkeitsver- sich deutlich differenzieren. Es konnten Einflussfak- teilung der Länge aller vermessenen Fasern, die toren herausgearbeitet werden, die im industriellen mittlere Faserlänge und der Grobpartikel-Anteil in Produktionsprozess einen Effekt auf die Faserqua- der Stichprobe. lität hatten. Erstmals konnte mit einer Messtechnik Im Rahmen des Projekts wurden unterschied- die Qualität der Holzfasern im Herstellungsprozess lichste MDF-Fasern vermessen und ausgewertet, die numerisch abgebildet werden. Damit eröffnet sich unter definierten Parametern hergestellt wurden. nun die Möglichkeit, Management-Optionen unab- Die Daten zeigten klare Zusammenhänge und hängig von Erfahrungswissen zu gestalten: Die konnten die Produktionsparameter plausibel erklä- Faserstoffqualitäten können nun im Hinblick auf Die Projektpartner: ren: So sind unter anderem die Auswirkungen der ihre Anforderungen im Produkt oder Prozess gezielt Universität Hamburg, Zentrum Holzwirtschaft; Holzartenwahl, Refiner-Einstellungen und Kocher- eingestellt werden. Auch ist eine Optimierung der Universität Hamburg, bedingungen hinsichtlich der Größenverteilung Zerfaserungsparameter möglich, um den Einsatz Informatik – Arbeitsbereich der so erzeugten Fasern klar erkennbar. Es konnte elektrischer Energie bei gleichbleibender Faserqua- Kognitive Systeme; quantitativ nachgewiesen werden, in welcher Grö- lität zu reduzieren. Diplom-Ingenieur W. Bartz; ßenordnung die Fasern bei abnehmendem Refiner- Das Anwendungsspektrum dieser Technik ist Fagus-GreCon Greten GmbH & Co. KG; Scheibenabstand kürzer werden. noch erweiterbar. So waren zum Beispiel Versuche Glunz AG; an Hanffasern sehr vielversprechend, sodass die Andritz AG; Im Industrieeinsatz Forscher optimistisch sind, die Möglichkeiten ihrer Institut für Holztechnologie Im nächsten Schritt wurde das Gerät testweise in Entwicklung anderen Forschungsgebieten zur Ver- Dresden. der Produktion eines MDF-Herstellers an einem fügung stellen zu können. MO niedersächsischen Standort eingesetzt. Es zeigte Weitere Infos unter: sich, dass das System störungsfrei über einen Zeit- KONTAKT: martin.ohlmeyer@ti.bund.de www.ti.bund.de/fasern.html
6 FORSCHUNG Trinken, tanken oder in die Chemiefabrik? Wie wichtig Bio-Ethanol für die chemische Industrie werden könnte Schwindende fossile Ressourcen zwingen die industrielle organische Chemie, nach alternativen Rohstoffen zu suchen. Eine stärkere Verwendung von Biomasse ist die logische Konsequenz. Unsere Analyse zeigt, dass über Bio-Ethanol weltweit mehr als die Hälfte der organischen Chemieprodukte auf nachwachsende Rohstoffe umge- stellt werden könnte. Ohne die vielen Tausend Produkte der chemischen kennen. Ausgangspunkte dieser Prozessketten sind Industrie ist das moderne Leben undenkbar. Kunst- nur wenige sogenannte Basischemikalien. Zu den stoffe, Arzneimittel, Farben und Lacke, Wasch- und wichtigsten gehören die C2-C4-Olefine Ethylen, Reinigungsmittel, um nur einige zu nennen, werden Propylen sowie Butene und Butadien. C2-C4 steht derzeit in hochintegrierten Prozessketten ganz über- für die Anzahl der Kohlenstoffatome in den Olefinen wiegend aus fossilen Rohstoffen, vor allem aus Erdöl, (Kohlenwasserstoffe mit Doppelbindung). Diese Ver- hergestellt. Dessen Verknappung und Verteuerung bindungen gilt es nun aus Biomasse herzustellen. treibt auch die chemische Industrie an, neue Roh- stoffquellen zu suchen. Da die allermeisten ihrer Pro- Plattformchemikalie Bio-Ethanol dukte organisch-chemischer Natur sind, das heißt auf Eine zentrale Bedeutung dafür kann Bio-Ethanol Kohlenstoff basieren, wird Biomasse als erneuerbare haben. Unsere Analyse der bestehenden oder sich Kohlenstoffquelle in Zukunft immer mehr an Bedeu- im Forschungsstadium befindlichen chemisch- tung gewinnen. katalytischen Prozessrouten zeigt, dass sich Ethylen, Propylen sowie Butene und Butadien sehr effizient Neue Produkte oder »Bewahrt das Bewährte«? und mit Selektivitäten von rund 85 bis 99 % aus Bio- Die bestehenden Prozess- und Wertschöpfungsket- Ethanol herstellen lassen. Zum Teil können bedeu- ten der petrochemischen Industrie sind ganz auf die tende Folgeprodukte, z. B. Acetaldehyd, Ethylacetat, bisher eingesetzten fossilen Rohstoffe abgestellt und Essigsäure oder Butanol, sogar noch besser direkt können nicht mit Biomasse als andersartig zusam- aus Ethanol hergestellt werden als durch weitere mengesetztem Rohstoff betrieben werden. Was tun? Konversion der Olefine; an der Erforschung solcher Sollten für die vielen Tausend Produkte jeweils neue Routen beteiligt sich auch das Thünen-Institut für Prozessketten und neuartige Produkte als Ersatz für Agrartechnologie. Rein mengenmäßig könnte über die bestehenden entwickelt werden? Neue, kost- diese Wege letztlich mehr als die Hälfte der orga- spielige Zulassungsverfahren müssten durchgeführt nischen Chemieprodukte auf Bio-Ethanol als Platt- werden. Und wie wären die Eigenschaften dieser form fußen. Eine durchaus überraschende Erkenntnis Produkte? Besser? Schlechter? Hätten sie Chancen – selbst den Herstellern von Bio-Ethanol scheint bis- am Markt? Viele Risiken, die einzugehen sich sicher lang nicht bewusst zu sein, dass ihr Produkt künftig nur für wenige neue Produkte lohnt. Für die meisten große Teile der Rohstoffbasis der chemischen Indus- muss ein anderer Weg gefunden werden. trie auf eine Biomasse-Basis stellen kann. Dieser andere, derzeit favorisierte Weg besteht darin, Verbindungen aus Biomasse zu produzieren, C2-C4 statt E10 die direkt in die bestehenden petrochemischen Die Herstellung von Ethanol boomt. In den vergan- Prozessketten eingespeist werden können und am genen zehn Jahren hat sich die Weltproduktion Ende dieselben Produkte liefern, wie wir sie heute von rund 25 Mio. Tonnen pro Jahr auf über 85 Mio.
Wissenschaft erleben 2014 /1 FORSCHUNG 7 Tonnen mehr als verdreifacht. Getrieben wurde rung benötigt werden, müssten dann rund 125 Mio. diese Entwicklung von der Nutzung als Treibstoff Hektar Ackerfläche zusätzlich in Kultur genommen (z. B. E 10 in Deutschland). Heute werden mehr als werden. Da bei der Produktion von Bio-Ethanol aber 80 % des Ethanols getankt und damit einfach ver- auch proteinreiches Futtermittel als Nebenprodukt brannt. Immer mehr setzt sich jedoch die Erkenntnis anfällt, liegt der zusätzliche Flächenbedarf netto durch, dass die unmittelbare energetische Nutzung unter 100 Millionen Hektar. landwirtschaftlicher Erzeugnisse vermutlich nur in Eine Expansion in dieser Größenordnung bedeu- Ausnahmefällen der richtige Weg ist. Zumeist wird tet für die Weltagrarwirtschaft eine Herausforde- es sinnvoller sein, die Agrarrohstoffe zunächst stoff- rung. In den vergangenen 50 Jahren wurde die lich zu nutzen, zum Beispiel indem daraus über Bio- Ackerfläche um weniger als 150 Mio. Hektar ausge- Ethanol die Kunststoffe Polyethylen, Polypropylen, dehnt, während sich die Flächenerträge ungefähr Gummi und vieles mehr hergestellt werden. Diese verdoppelt haben. Verschiedene Analysen zeigen, können dann am Ende ihres Lebenswegs immer dass im Weltmaßstab durchaus noch ackerbaulich noch zur Energieerzeugung verbrannt werden. nutzbare Flächenreserven vorhanden sind, ohne Eine solche sogenannte Kaskadennutzung ist auch dass hierfür Wälder gerodet oder wertvolle Biotope im Sinne des Klimaschutzes vorteilhafter als eine zerstört werden müssten. Da diese Reserve aber direkte Verbrennung. begrenzt ist, sollte die Politik für die Biomassenut- zung folgende Prioritäten setzen: 1. Nahrungsmittel, Acker für Chemieprodukte 2. Chemieprodukte, 3. Energie und Treibstoffe. Die Könnte die Weltagrarwirtschaft genügend Rohstoffe Energieversorgung kann zukünftig weitgehend (eine erzeugen, um die Weltproduktion der C2-C4-Ole- Ausnahme ist z. B. Flugbenzin) durch Sonnen- und fine auf Bio-Ethanol umstellen zu können? Derzeit Windenergie erfolgen, die ausreichend zur Verfü- wird Bio-Ethanol aus Agrarprodukten hergestellt, gung stehen. Dagegen würden bereits rund 40 Mio. die unterschiedliche Erträge liefern: In Nordame- Hektar Ackerfläche benötigt, um nur 1 % des Welt- rika aus Mais, in Südamerika aus Zuckerrohr und in energiebedarfs zu erzeugen. Die Potenziale der Welt- Europa aus Getreide oder Zuckerrüben. Bei diesem agrarwirtschaft werden also keinesfalls ausreichen, Mix kann mit einem konservativ angesetzten „mitt- um neben Nahrungsmitteln und Chemieprodukten, leren Weltertrag“ von rund 4.500 Litern Bio-Ethanol die auf Biomasse als erneuerbare Kohlenstoffquelle pro Hektar gerechnet werden. Unter der Annahme, angewiesen sind, auch noch die Energieversorgung dass die künftigen Ertragssteigerungen auf den zu übernehmen. FI bereits genutzten Ackerflächen (ca. 1,5 Mrd. Hektar) für die Ernährung der wachsenden Weltbevölke- KONTAKT: ulf.pruesse@ti.bund.de
8 MENSCHEN & MEINUNGEN »… einfach in die Ostsee geworfen« Ein Gespräch über versenkte Kampfstoffmunition In der Ostsee wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geschätzte 65.000 Tonnen chemische Kampfstoffmunition versenkt, vor allem vor Bornholm. Die Metallkörper korrodieren langsam und setzen die Kampfstoffe frei. Die Frage nach ihren möglichen ökologischen Auswirkungen wurde im gerade abgeschlossenen internationalen For- schungsprojekt CHEMSEA untersucht. Thomas Lang leitete die Arbeiten im Thünen- Institut und war mit dem Forschungsschiff Walther Herwig III mehrfach im Versen- kungsgebiet unterwegs. Worum ging es im Projekt CHEMSEA genau? derungen innerer Organe, die unter dem Mikroskop Es ging darum zu untersuchen, wo sich versenkte untersucht werden. Kampfstoffmunition befindet, welche Art von Muni- tion es ist und welche ökologischen Risiken von ihr Was reizt Sie an einem solchen Forschungspro- ausgehen. Der größte Teil der Munition wurde nach jekt? dem Zweiten Weltkrieg versenkt, um die Munition Wir kennen die Fische in der Ostsee natürlich sehr loszuwerden. Damals erschien es als eine gute Idee, gut aus unserem regelmäßigen Überwachungs- sie einfach in die Ostsee zu werfen. programm. Für uns war dieses Projekt interessant, weil das Thema Munition im Meer zurzeit wissen- Wie ist der Zustand des Materials heute? schaftlich und in der Öffentlichkeit in aller Munde Die Munition und andere Behälter, in denen die ist. Nicht zuletzt deshalb, weil das Meer heute viel Kampfstoffe versenkt wurden, sind natürlich korro- stärker genutzt wird als früher – etwa durch den Bau diert nach so vielen Jahren. Wir wissen, dass auch von Windkraftanlagen. Und das Bewusstsein, dass schon Substanzen freigesetzt worden sind. Aus man in einem Gebiet fischt, in dem zehntausende diesem Grund wurde hier gezielt geforscht. Tonnen giftiger Substanzen verklappt wurden, das erhöht natürlich schon die Anspannung. Sind die Kampfstoffe nicht schon längst zerfallen? Einige sind im Laufe der Zeit tatsächlich chemisch Sind die Fische im Versenkungsgebiet kränker? abgebaut worden, andere Substanzen sind dage- Wir und unsere Projektpartner haben in der Tat fest- gen ziemlich langlebig – arsenhaltige Kampfstoffe stellen können, dass die Dorsche aus dem Haupt- zum Beispiel, deren Abbauprodukte wir in Fischen versenkungsgebiet östlich von Bornholm einen nachweisen konnten. Senfgas ist ebenfalls langle- schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als big: Es gab Vorfälle, wo Fischer Senfgasklumpen Fische aus Vergleichsgebieten. Korrespondierend mit ihren Grundschleppnetzen erfasst haben und dazu haben finnische Kollegen dort chemische es dadurch zu schwerwiegenden Verletzungen der Kampfstoffe sowohl in Fischen als auch im Boden Besatzungsmitglieder kam. nachgewiesen. Welche Rolle hatte das Thünen-Institut? Was glauben Sie: Ist die Munition die Ursache für Wir sind im Thünen-Institut für Fischereiökologie die die veränderte Gesundheit der Fische? Experten für Fischkrankheiten – und das war auch Als Wissenschaftler stützt man seine Schlussfolge- unsere Hauptaufgabe im Projekt. Wir haben Dor- rungen nicht auf das, was man glaubt. Für uns war sche auf verschiedene Krankheiten untersucht: Dazu es zunächst wichtig festzustellen, ob es überhaupt Versenkte Kampfstoffmunition gehören solche, die wir mit bloßem Auge bereits an Unterschiede im Gesundheitszustand der Fische in in der Ostsee. Bord erkennen können, aber auch krankhafte Verän- den Versenkungsgebieten im Vergleich mit anderen
Wissenschaft erleben 2014 /1 MENSCHEN & MEINUNGEN 9 Thomas Lang untersuchte im Rahmen des europäischen CHEMSEA-Projekts die Auswirkungen versenkter Kampfstoffmunition. Gebieten gibt. Wir haben einige Faktoren gleichzeitig Bau solcher Anlagen ist die konventionelle Muni- beobachtet: erhöhte Mengen von Kampfstoffen und tion, also Spreng- und Brandbomben. Von denen einen schlechteren Gesundheitszustand. Wir haben liegen nach Schätzungen etwa 1,6 Millionen Tonnen festgestellt, dass die Fische offensichtlich solche in deutschen Küstengewässern. Das bedeutet: Wenn Substanzen aufnehmen, wenn auch in sehr gerin- Windkraftanlagen oder Pipelines im Meer gebaut gen Mengen. Es ist möglich, dass die Kampfstoffe die werden sollen, muss zunächst geprüft werden, Widerstandskraft der Fische schwächen und wir aus ob dort Munition liegt, die dann gegebenenfalls diesem Grund erhöhte Krankheitsraten finden. gesprengt oder geborgen wird. Wie stehen Sie zu einer möglichen Sanierung der Wie schätzen Sie das aktuelle Risiko ein, das von munitionsbelasteten Gebiete? der versenkten Munition für die Fische ausgeht? Das muss im Einzelfall entschieden werden. Es gibt Wir sind der Meinung, dass aufgrund unserer Befunde Regionen, wo eine Bergung kritisch ist, weil neben und dem sich verschlechternden Zustand der ver- enormen Kosten ökologische Risiken entstehen, senkten Munition ein Überwachungsprogramm wenn man große Mengen korrodierter Munition installiert werden müsste, um in regelmäßigen bergen will. Aber es gibt sicher auch andere Fälle. Abständen zu überprüfen, inwieweit Substanzen frei- Bei einigen Ostseeanrainern gibt es Bestrebungen, gesetzt werden und ob sie den Gesundheitszustand einen Teil der Munition zu bergen. der Fische beeinträchtigen. Mit dem Thema Über- wachung beschäftigen wir uns in einem derzeit lau- Stellt die versenkte Munition eine Gefahr dar fenden Folgeprojekt. Von Bord der Walther Herwig beim Bau von Windkraftanlagen? III aus werden wir Unterwasserroboter einsetzen, um Der größte Teil der chemischen Kampfstoffmunition Munition aufzufinden und Proben zu nehmen. wurde bewusst in sehr tiefen Regionen der Ostsee versenkt. Dort werden niemals Windkraftanlagen Herr Lang, vielen Dank für das Gespräch. UK gebaut werden. Ein viel größeres Problem für den
10 FORSCHUNG Kyoto und der Wald Wälder in Deutschland speichern mehr Kohlenstoff als vor 20 Jahren Wälder bedecken weltweit rund ein Drittel der Landoberfläche; sie können bedeu- tende Mengen Kohlenstoff speichern. Daher spielen sie auch in der Treibhausgas- Berichterstattung (Kyoto-Protokoll) eine wichtige Rolle. Die unter Mitwirkung des Thünen-Instituts durchgeführten Inventuren liefern Daten, mit denen sich die Spei- cherleistung der Wälder abschätzen lässt. Allein in Deutschland wurden 2012 umge- rechnet rund 50 Mio. Tonnen CO2 gespeichert. Diese Speicherleistung kann sich die Bundesrepublik im Emissionshandel anrechnen lassen. Mikroorganismen wandeln einen Teil dieser Bio- masse durch Stoffwechselaktivitäten in verschiedene C-Verbindungen um. Die Höhe der Kohlenstoffspei- cherung im Boden wird somit durch die Nettobilanz bestimmt, die sich aus dem Eintrag organischen Materials in den Boden und deren mikrobieller Um- und Abbaurate ergibt. In der oberirdischen Biomasse bestimmen der Zuwachs der Bäume, die Auffor- stungen von Wäldern, das Totholz sowie die Nutzung der Bäume die Kohlenstoffspeicherung. Verteilung der Kohlenstoffvorräte Die auf der Basis der Bundeswaldinventur ermit- Durch die Bundeswaldinventu- Als Vertragsstaat der Klimarahmenkonvention der telten C-Vorräte, die sich auf die gesamte Wald- ren und Bodenzustandserhe- Vereinten Nationen (UNFCCC) ist Deutschland seit fläche Deutschlands beziehen, ergeben für die bungen (Foto) gewinnen wir Wissen über den Wald als 1994 dazu verpflichtet, Inventare zu nationalen oberirdische Biomasse einen Kohlenstoffvorrat von Kohlenstoffspeicher. Treibhausgasemissionen zu erstellen und regelmä- ca. 993 Mio. Tonnen, für die unterirdische Biomasse ßig fortzuschreiben. Der Zustand und die zeitliche von ca. 156 Mio. Tonnen und für Totholz von ca. 20 Entwicklung der Kohlenstoffpools Biomasse, Boden, Mio. Tonnen. Bei näherer Betrachtung lässt sich ein Streu (Humusauflage) und Totholz sind Bestandteile leichter Anstieg der C-Vorräte im Totholz seit der des Inventars und sollen für den Zeitraum 1990 bis Inventur 2002 beobachten. Höher fällt die Zunahme 2012 berichtet werden. Hierzu werden Daten vor der Kohlenstoffvorräte bei dem größten Pool, der allem aus Inventuren herangezogen, die vom Thü- Biomasse, aus. nen-Institut für Waldökosysteme koordiniert und Mit der Auswertung der Bodenzustandserhe- ausgewertet werden. Für die Biomasse und das Tot- bung (Stichjahr 2006) lassen sich die Kohlenstoff- holz stehen nunmehr drei Bundeswaldinventuren vorräte in der Humusauflage und in den oberen (BWI) und für den Waldboden und die Streu zwei 30 cm des Mineralbodens auf ca. 850 Mio. Tonnen Bodenzustandserhebungen (BZE) zur Verfügung. beziffern (Moorstandorte werden nicht berücksich- Wälder zeichnen sich dadurch aus, dass der Koh- tigt). Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass allein lenstoff längerfristig im Holz gespeichert wird. Zusätz- in der Humusauflage ca. 191 Mio. Tonnen Kohlen- lich wird dem Waldboden durch den Streufall und stoff gespeichert sind. Dieser relativ labile Kohlen- durch den unterirdischen Eintrag von Wurzelstreu stoffpool ist im Zeitraum zwischen den Inventuren oder Wurzeldepositionen Kohlenstoff zugeführt. konstant geblieben. Allerdings variieren die zeit-
Wissenschaft erleben 2014 /1 FORSCHUNG 11 * Für den Boden auf das Jahr 2012 hochgerechnet, für den Bestand gemessen. lichen Veränderungen der Kohlenstoffvorräte in durch die stoffliche Nutzung von Holz wird ein Teil der Humusauflage unter verschiedenen Baumarten des Kohlenstoffs von den Bäumen auf die Produkte beträchtlich. So stieg der Kohlenstoffpool unter übertragen – die Produkte fungieren also ebenso wie Fichtenbeständen an, während er unter Laubwäl- der Wald als Speicher. Auch die energetische Nut- dern abnahm. Die Ursachen hierfür sind vielschich- zung des nachwachsenden Rohstoffes ersetzt fossile tig und bedürfen weiterer Forschung. Energieträger (Substitutionswirkung). Nach ersten Die Kohlenstoffvorräte in den oberen 30 cm Berechnungen konnten von 2005 bis 2009 durch die des Mineralbodens zeigen ein anderes Bild: Dieser stoffliche Holzverwendung jährlich durchschnitt- Pool ist mit ca. 659 Mio. Tonnen nicht nur deutlich lich 56,7 Mio. Tonnen und durch die energetische größer als der der Humusauflage, er hat sich auch Nutzung ca. 30,1 Mio. Tonnen an Treibhausgasen seit der ersten Inventur um 64 Mio. Tonnen erhöht. substituiert werden. Das Potenzial der Wälder als Auch hier zeigt sich ein heterogenes Bild bei landes- Kohlenstoffsenke ist demnach also größer als bislang weiter Betrachtung. In Norddeutschland waren die in der Berichterstattung angegeben. Veränderungen besonders hoch, in weiten Teilen Süddeutschlands hingegen nur unbedeutend. Bedeutung für den Klimawandel Die Ergebnisse zeigen, dass Wälder eine entschei- Die Bodenzustandserhebung ist eine systematische Wälder und Holzprodukte als Kohlenstoffsenken dende Rolle im globalen Klimageschehen spie- Stichprobe in einem Raster von Der Wald in Deutschland ist seit Beginn der Bericht- len: Sie binden Kohlenstoff und können somit den 8 x 8 km. Die Erhebungen erstattung im Jahr 1990 jedes Jahr eine Kohlenstoff- anthropogen verstärkten Treibhauseffekt abmil- fanden bundesweit in den senke. Das heißt, es wird mehr Kohlenstoff gebunden dern. Mit der Kenntnis über die zeitliche Entwick- Jahren zwischen 1987 und 1993 als beispielsweise durch die Holzernte freigesetzt lung der Kohlenstoffpools lassen sich waldbauliche (BZE I) sowie zwischen 2006 wird. Die jährliche Kohlenstoffbindung inklusive Frei- Handlungsziele ableiten, um den Wald weiterhin als und 2008 (BZE II) jeweils auf ca. setzung beträgt aktuell ca. 52 Mio. Tonnen. Kohlenstoffspeicher zu bewahren bzw. dessen Sen- 1.800 Waldstandorten statt. In die jährliche Treibhausgas-Berichterstattung kenfunktion noch zu vergrößern, ohne die Holzpro- Die Bundeswaldinventur floss bis 2012 nur die Kohlenstoffbindung ein – die duktion zu vernachlässigen. NW wurde 2012 das dritte Mal stoffliche Nutzung von Holz und ihr Beitrag zur jähr- durchgeführt, dabei wurden lichen CO2-Bilanz wurden nicht berücksichtigt. Dem KONTAKT: erik.grueneberg@ti.bund.de, rund 60.000 Waldpunkte und wird aber mittlerweile Rechnung getragen, denn wolfgang.stuemer@ti.bund.de 400.000 Bäume aufgenommen.
12 FORSCHUNG Der Hering im sozialen Netzwerk Neuer Forschungsansatz soll Greifswalder Bodden fischfreundlicher gestalten Um die »Kinderstube des Herings«, das Laichgebiet im Greifswalder Bodden, auf Dauer zu sichern, rücken Fischereibiologen und Politikwissenschaftler näher zusam- men. In einem Forschungsprojekt untersucht das Thünen-Institut für Ostseefischerei die Strukturen politischer Entscheidungsprozesse im Küstenzonenmanagement. Der Heringsbestand in der westlichen Ostsee hat sucht worden. Das Management des Herings hat ein Nachwuchsproblem. Das Gewicht der laichrei- sich bislang ausschließlich auf die Auswirkungen der fen Tiere insgesamt hat zwischen 2006 und 2011 Fischerei konzentriert. Die schlechte Nachwuchspro- deutlich abgenommen – als Folge einer schwachen duktion des Herings deutet aber darauf hin, dass Nachwuchsproduktion seit 2004. Deswegen muss- dieser Ansatz nicht ausreicht und gegebenenfalls um ten die Fangmengen in den vergangenen sechs ein Gebietsmanagement erweitert werden sollte, das Jahren immer weiter reduziert werden. nicht nur die Gewässer, sondern die gesamte Region Um den Schutz und die Nutzung der Küsten- umfasst. Mit ihrer Untersuchung wollten die Thünen- zonen des Greifswalder Boddens zu verbessern Wissenschaftler deshalb alle Akteure im Greifswalder und damit die Laich- und Aufwuchsgebiete des Bodden ausfindig machen und ihren Einfluss auf das Heringsbestands in der westlichen Ostsee auf Laich- und Aufwuchsgebiet des Herings aufzeichnen. Dauer zu sichern, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Thünen-Instituts für Ost- Welche Akteure sind einflussreich? seefischerei im Rahmen des Forschungsprojekts Wie versuchen die verschiedenen Akteure, ihre HERRING einen interdisziplinären Ansatz gewählt: Interessen in den politischen Entscheidungspro- Neben den ökologischen Bedingungen untersu- zess einzubringen und wo verlaufen dabei Konflikt- chen sie auch die politisch-institutionellen Gege- linien? Auf der Basis von 35 qualitativen Interviews benheiten, die den Schutz und die Nutzung des ermittelten die Wissenschaftler in einer Netzwerk- Küstenraums beeinflussen. analyse die Interaktions- und Kommunikations- In den vergangenen Jahren ist der Nutzungsdruck muster der Akteure aus Fischerei, Naturschutz, auf den Greifswalder Bodden gestiegen: Neben der Landwirtschaft, Raumplanung und Wissenschaft. Fischerei konkurrieren auch Naturschutz, Tourismus, Wer arbeitet mit wem zusammen? Welche Kon- Industrie, Energieversorgung und Landwirtschaft takte werden gemieden? Wie häufig sind die beste- um Raum und Ressourcen. Deren mittelbare und henden Kontakte? Solche Fragen zum Netzwerk unmittelbare Auswirkungen auf das Laich- und Auf- beantworteten die Akteure in den Interviews; wuchsgebiet des Herings sind bislang kaum unter- gleichzeitig bewerteten sie ihren eigenen Einfluss und den Einfluss der anderen. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung: Die Fischerei selbst schätzt sich als wenig einflussreich ein und fühlt sich in politischen Entscheidungen zusehends marginalisiert. Gleichzeitig wird sie von anderen Akteuren als wenig einflussreich einge- Seit 2004 beobachten die schätzt. Auch der Einfluss der Fischereiwissenschaft Wissenschaftler eine schwächere Produktion von ist – als Schnittstelle zur Politik und trotz der hohen Heringslarven im Greifswalder Bedeutung für Managemententscheidungen – in Bodden. diesem Gebiet erkennbar schwach ausgeprägt. Fast
Wissenschaft erleben 2014 /1 FORSCHUNG 13 alle Akteure haben den Eindruck, dass der Industrie, negative Auswirkungen auf das Laichgebiet besit- der Energieversorgung und der Landwirtschaft eine zen. Eine andere Möglichkeit wäre es, im Sinne der höhere politische Priorität eingeräumt wird als der Vorsorge sämtliche Stressfaktoren zu vermeiden, Fischerei oder dem Naturschutz. zum Beispiel die hauptsächlich von der Landwirt- Die Vorstellungen zum Schutz von Küstenzo- schaft verursachten Nährstoffeinträge im Laichge- nen auf der einen Seite und zur Nutzung aqua- biet zu reduzieren. tischer Ressourcen auf der anderen Seite gehen Der Dialog zwischen den einzelnen Akteuren ist weit auseinander. Die meisten Akteure sehen kaum derzeit gekennzeichnet von Polemik und Pauschali- eine Notwendigkeit dafür, den Küstenraum und sierungen. Nur im Dialog lassen sich aber Lösungen die Laichgebiete des Greifswalder Boddens stär- finden, die allen Beteiligten nutzen. Um die bishe- ker als bisher zu schützen. Bemerkenswert ist vor rigen Ergebnisse mit allen Akteuren zu diskutieren, allem, dass die Fischerei einen stärkeren Schutz der hatte das Thünen-Institut deshalb zu Workshops Küstenräume entschieden ablehnt – zu groß ist die eingeladen. Sie sollten helfen, die harten Konfronta- Sorge, dass weitere naturschutzrechtliche Auflagen tionslinien aufzubrechen und einer Kompromisslö- das Fortbestehen der Küstenfischerei insgesamt sung näher zu kommen. Dabei zeigte sich, dass die gefährden können. Positionen noch weit auseinanderliegen und es wei- terer Gespräche am Runden Tisch bedarf. Ansätze für eine bessere Managementpraxis Für das Thünen-Institut als Politikberater sind Darüber hinaus lässt sich kein einheitliches Ver- diese Erkenntnisse vielfältig nutzbar. Netzwerkana- ständnis darüber erkennen, was eigentlich ein lysen bieten die Grundlage für eine realistischere angemessener Schutz beziehungsweise was eine Politikfolgenabschätzung. Sie tragen zu einem angemessene Nutzung der Küstenräume bedeutet tieferen Verständnis der Interessengruppen bei und und wie dabei die unterschiedlichen Interessen auf- helfen, Empfehlungen besser auf die Empfänger einander abgestimmt werden können. Eine Lösung abzustimmen und damit die Schnittstelle zwischen könnte es sein, den Greifswalder Bodden als Vor- Wissenschaft und Politik zu verbessern. UK & UH ranggebiet auszuweisen. Das würde alle anderen Nutzungsarten einschränken, sofern sie erkennbar KONTAKT: friederike.lempe@ti.bund.de
14 MENSCHEN & MEINUNGEN »Nicht jede Frau will Mechatroniker werden« Ein Gespräch zu den Zukunftsplänen Jugendlicher im ländlichen Raum Was führt die Jugend in die Fremde, was hält sie daheim? Danach haben Heinrich Becker und Andrea Moser vom Thünen-Institut für Ländliche Räume geforscht. Dazu haben sie an Schulen in sechs verschiedenen Regionen Deutschlands insgesamt 2.662 Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren zu ihrer Lebenssituation und ihren Zukunftsplänen befragt – und Überraschendes zutage gefördert. Laut Ihrer Studie sind Jugendliche in ländlichen Die Studie wollte also strukturschwache und Räumen mit ihrem Leben sehr zufrieden. Woran strukturstarke Räume in Ost- und Westdeutschland machen Sie das fest? vergleichen. Sind die Ergebnisse denn wie erwartet HB: An den eigenen Aussagen der Jugendlichen ausgefallen? zu ihrer derzeitigen Lebenssituation und an ihren HB: Unsere Grundthese ist zusammengebrochen. hohen Zufriedenheiten mit ihren Freundschaften Wir hatten angenommen, dass die wirtschaftliche und an dem guten Verhältnis zu den Eltern. Situation der Regionen zur Grundwahrnehmung der Jugendlichen beiträgt und sich in ihren Vor- Kein Generationskonflikt mehr? stellungen zum Gehen oder Bleiben niederschlägt. HB: Nein, und das wissen Jugendforscher schon seit Nach der Befragung kann man das so nicht aufrecht- Längerem, dass von generellen Generationskonflikten erhalten. Am deutlichsten wird es bei den jungen keine Rede mehr sein kann. Wenn, so unsere Überle- Frauen. In fünf der sechs Untersuchungsorte über- gung, könnten sich Konflikte eventuell daran entzün- legen 60 Prozent der jungen Frauen wegzugehen. den, dass die Kinder weg wollen. Die Jugendlichen, die Diese Überlegungen sind völlig unabhängig von * Die Shell-Jugendstudie überlegen wegzugehen, betonten, dass sie die Unter- der wirtschaftlichen Situation in den jeweiligen erscheint seit 1953 und will stützung ihrer Eltern haben. Eltern tun alles für das Orten. Einige dieser Regionen haben mit deutlichen konkrete gesellschaftspoliti- Wohl ihres Kindes und machen sich auch Gedanken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, in ande- sche Denk- und Diskusssions- anstöße bieten. 2010 wurde sie darüber, wo dieses am besten zu erreichen ist – mög- ren herrscht Vollbeschäftigung. Vollbeschäftigung zum 16. Mal herausgegeben. licherweise eben nicht immer vor Ort. Das gilt ange- ist aber nur ein Faktor. Die jungen Frauen haben Das Deutsche Jugendinstitut sichts eines unzureichenden Angebots an Lehr- und uns gesagt: Unsere Berufswahl orientiert sich nicht wurde 1963 gegründet und Ausbildungsstellen insbesondere für junge Frauen. daran, was es hier vor Ort gibt. führt Forschungen zu Kindern, Jugendlichen und Familien an der Schnittstelle zwischen Die letzte Shell-Jugendstudie und Studien des Woran orientieren sich die Berufswünsche? Wissenschaft, Politik und Deutschen Jugendinstituts* stellten deutliche HB: An der Frage »Was passt zu mir?« und an den Fachpraxis durch. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutsch- Möglichkeiten, die mit dem allgemeinen Wunsch land fest, Ihre Studie nicht. Woran liegt das? der Jugendlichen nach guter Bildung einherge- Die Untersuchungsregionen AM: Die Unterschiede sind wenigstens nicht so ein- hen. Der eine versteht darunter ein Hochschulstu- der Thünen-Jugendstudie: deutig und ausgeprägt. Das liegt vor allem an der dium, der andere einen guten Realschulabschluss. Friedland (MV) Auswahl der Orte in Ostdeutschland. Ausgehend Ein anderer wichtiger Faktor ist die Antwort auf Krummhörn (NI) von der Hypothese, dass die wirtschaftliche Situa- die Frage »Wo will ich leben?«. Viele der befragten Grimma (SN) Furth (BY) tion Abwanderung befördert, hatten wir Regionen Jugendlichen können sich ein Leben in ihrem Hei- Königsee (TH) mit vergleichbaren Strukturen in West- und Ost- matort nicht vorstellen – nicht für die nahe Zukunft Meßkirch (BW) deutschland ausgewählt. und auch nicht langfristig.
Wissenschaft erleben 2014 /1 MENSCHEN & MEINUNGEN 15 Trotz aller Zufriedenheit ... Werden die Jugendlichen in ein paar Jahren noch HB: Ja, die Zufriedenheit der Jugendlichen bezieht einmal befragt, um festzustellen, ob sie tatsäch- sich auf die Ist-Situation, nicht auf die Zukunft. Die lich in die nächste Großstadt gezogen sind? Jugendlichen begreifen ihr Leben als einen Prozess AM: In ein paar Jahren dieselben Personen zu fragen, mit Veränderungen und Entwicklungen. Sie wissen: ob sie ihre Absichten auch tatsächlich vollzogen Im Leben gibt es Wendepunkte. haben, wäre spannend, aber solche Untersuchungen sind angesichts der anonymen Befragungen nicht Erstaunlicherweise neigen junge Frauen – unab- ohne weiteres durchzuführen. hängig von den Regionen – stärker zum Wandern. AM: Das hat auch mit den Berufsvorstellungen und Zu welchem Ergebnis über die heutige Orientie- den Möglichkeiten vor Ort zu tun: Nicht jede Frau will rung der Jugendlichen kommen Sie? Mechatroniker werden. Bei den jungen Frauen sind AM: Abwanderungsorientierungen sind nicht die angestrebten Bildungsabschlüsse höher. Daran alleine abhängig von den regionalen Bedingungen, schließt sich etwa der Wunsch nach einem Studium sondern sehr stark von den gesellschaftlichen Mög- an, und dafür geht man eben weiter weg. Dazu passt lichkeiten. Die Jugendlichen orientieren sich in Rich- auch die Vorstellung der Jugendlichen, in die Stadt tung Stadt, auch wenn sie vor Ort zufrieden sind. zu ziehen, da die Großstadt ihren Lebensplänen am Dieses Ergebnis enttäuscht die Hoffnungen von nächsten kommt. Kommunalpolitikern, die sich Ansatzpunkte erhoff- ten, um Jugendliche zum Bleiben zu bewegen. Die Studie sagt nicht, wie viele abwandern. HB: Richtig, wir haben nur die Orientierung der Frau Moser und Herr Becker, herzlichen Dank für Jugendlichen zu einem bestimmten Zeitpunkt das Gespräch. UH & IS gemessen.
16 PORTRAIT Und was bedeutet das für die Betriebe? Das Testbetriebsnetz – ein Schlüsselelement zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft und für die Politikfolgenabschätzung Wann immer über Änderungen der politischen Rah- rungsabschlüsse von etwa 11.300 Betrieben erfasst. menbedingungen für land-, forst- oder fischereiwirt- Im Testbetriebsnetz Forst liefert eine Stichprobe von schaftliche Betriebe diskutiert wird, kommen früher rund 350 Betrieben Informationen zur wirtschaftlichen oder später die Fragen: »Und was bedeutet das für Lage der 3.800 Betriebe des Staats-, Körperschafts- die Betriebe und deren wirtschaftliche Lage? Gibt und Privatwaldes ab 200 Hektar Waldfläche. Das es einen Beschäftigungseffekt, und wie ändert sich Testbetriebsnetz zur Kleinen Hochsee- und Küstenfi- die Einkommensverteilung?« Für die Beantwortung scherei umfasst etwa 140 Betriebe mit Frischfisch- und solcher Fragen ist das Thünen-Institut zuständig. Krabbenkuttern. Damit enthält es etwa 40 % der Fahr- Wir erarbeiten quantitative Einschätzungen für eine zeuge der betreffenden Fischereisegmente. möglichst repräsentative Stichprobe aller Betriebe. Die Testbetriebsdaten verwenden wir nicht nur Hierdurch können wir den nationalen Agrar-, Forst- für die Analyse der wirtschaftlichen Lage und für und Fischereisektor in seiner ganzen Vielgestaltig- Politikfolgenabschätzungen, sondern auch für wei- keit zutreffend abbilden. tere Zwecke: Seit rund 15 Jahren nutzen wir für diese Analysen • Das Thünen-Institut für Internationale Waldwirt- das Informationsnetz land-, forst- und fischereiwirt- schaft und Forstökonomie nutzt sie zur Erstellung schaftlicher Buchführungsbetriebe (kurz: Testbe- der jährlichen Forstwirtschaftlichen Gesamt- triebsnetz), das bereits in den 1960er-Jahren durch rechnung (FGR), die eine der Grundlagen für die das Bundesagrarministerium aufgebaut wurde. In Waldgesamtrechnung (WGR) als Teil der Umwelt- diesem Netz werden die Jahresabschlüsse von reprä- ökonomischen Gesamtrechnung Deutschlands sentativ ausgewählten Betrieben auf freiwilliger Basis (UGR) ist. erhoben und analysiert. Ursprünglich stand das Ziel • Die Thünen-Institute für Seefischerei und für im Vordergrund, eine Faktengrundlage für die Ein- Betriebswirtschaft fungieren als nationale Ver- kommenspolitik sowie den jährlichen Agrarbericht bindungsstelle zur EU; sie bereiten die deutschen der Bundesregierung zu schaffen. Seit den 1990er- Daten für die EU-Berichterstattung auf und wirken Jahren gewann die Datennutzung für andere Politik- auf EU-Ebene an der methodischen Weiterent- folgenabschätzungen immer mehr an Bedeutung. wicklung der Berichtssysteme mit. So können wir mithilfe des Testbetriebsnetzes • Außerdem werden die Daten genutzt, um die aufzeigen, wie viele Betriebe von einer politischen betriebswirtschaftliche Forschung voranzubrin- Maßnahme betroffen sind bzw. wären. Auch lassen gen, auch in Kooperation mit Universitäten und sich die Bestimmungsgründe von Betriebs- und selbstverständlich unter Beachtung der strengen Einkommensentwicklungen untersuchen sowie der Anforderungen des Datenschutzes. FI Einfluss von Fördermaßnahmen auf regionaler und sektoraler Ebene beziffern. KONTAKT: heiko.hansen@ti.bund.de (BW), Für den Bereich Landwirtschaft (einschließlich bjoern.seintsch@ti.bund.de (WF), Gartenbau und Dauerkulturen) werden Buchfüh- joerg.berkenhagen@ti.bund.de (SF)
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