Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
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Zukunft
Magazin
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     politische              für
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   Nr. 34 / Frü ildung
               hling 201
                        0
Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
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                                                       3 1 . J uli 201
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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
Thema: Zukunft

Es kommt, wie es kommt. Allerdings ist es mit der sprich-         fast alltagstauglich. Ob demografische Entwicklung, Klima-
wörtlichen Gelassenheit nicht weit her, wenn es um die Zu-        wandel oder Konsumtrends – die grundlegenden Entwick-
kunft geht. In unseren Gesellschaften ist die Prognose allge-     lungen der nächsten zehn Jahre sind kein Geheimnis. Wenn
genwärtig – das Verlangen zu wissen, was morgen sein wird,        der risikobewusste Teil des Finanzkapitals bereit ist, in den
ein Massenphänomen. Das geht von wissenschaftlichen               massiven Ausbau von Solarenergie zu investieren, kann die
Studien über die Trendforschung bis hin zu magischen Prak-        Energiewende nicht weit sein. Wenn ein konservativer Staats-
tiken, mit denen Millionen umgesetzt werden. Es ist ein           präsident nach Alternativen zum ökonomischen Wachstums-
Zeichen von Dynamik und der mit ihr verbundenen perma-            fetischismus suchen lässt, ist die zugrunde liegende Frage-
nenten Unsicherheit.                                              stellung im Mainstream angekommen. Auch demografische
   Die Zukunft ist mitten unter uns. Wer heute zur Schule         Entwicklungen, die in den nächsten Jahren wirksam werden,
geht oder seine Ausbildung macht, kann in ein paar Jahren         geben uns heute die Möglichkeit zu reagieren und die poli-
das Land regieren, Unternehmen führen, Entdeckungen               tische Debatte darüber zu führen. Und die Fortschritte der
machen oder die verfehlten Zukunftschancen öffentlich zur         Biotechnologie sind jetzt schon eine Herausforderung für un-
Debatte stellen. Vor 30 Jahren war Barack Obama nur ein           sere ethische Konstitution.
ehrgeiziger College-Student unter vielen, die ihre Zukunft            Der Blick in die Schatzkammern unseres kulturellen Ge-
noch vor sich hatten. Heute trägt er Verantwortung für die        dächtnisses zeigt aber auch die extreme Kurzsichtigkeit un-
Politik der Weltmacht USA und wird weltweit an deren              serer Gesellschaft. Die Festplatten, auf denen wir unsere in
Ergebnissen gemessen.                                             Echtzeit vernetzte mediale Allgegenwart organisieren, sind
   Wenn man wie fluter einen Streifzug durch die Zukünfte         nicht wirklich zukunftsfest. Jede Tontafel hält länger als ein
unternimmt, fällt dabei zweierlei auf: Wir wissen schon           USB-Stick. Die Überwindung dieser strukturellen Kurzatmig-
erstaunlich viel, aber der vorherrschende Zukunftshorizont        keit ist eine der entscheidenden Zukunftsaufgaben.
ist extrem kurz. Die Methoden der Erkundung naher
Zukunftsmöglichkeiten sind inzwischen sehr ausgefeilt und         Thorsten Schilling

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
Inhaltsüberblick
10
               Thema: Zukunft
               »Wir tun nicht, was wir wissen«_________________________ 05
               Interview mit einem Zukunftsforscher

               Ich sehe was, was du nicht siehst ______________________ 10
               Im Trendbüro, im Wettbüro und beim Wahrsager zu Besuch

               Auf ins Morgen-Land__________________________________ 14
               Was uns Studien über die Zukunft sagen

               »Das ist gelebter Buddhismus« ________________________ 18
               Wie im Gefängnis die Zeit vergeht
      20
               Das hat Größe_ ______________________________________ 19
               Muss denn alles immer wachsen? Nobelpreisträger sagen Nein

               So weit kommt’s noch_ _______________________________ 20
               Ein paar Sachen, die niemals Zukunft wurden

               »Wir sind unverwüstlich« ______________________________ 23
               Ein Mann, der auf einer sinkenden Insel lebt, erzählt

               Was kommt denn jetzt?_______________________________ 24
               Wieso der Tyrannosaurus mit dem Huhn verwandt ist und
               das Leben immer seinen Weg findet

               Jacke wie Hose ______________________________________ 26
               Jetzt schon an das Revival von morgen denken: das Schaubild

 26
               Wer soll das bezahlen? _______________________________ 28
               In München sitzt die größte Rückversicherung der Welt

               »Kein Job, keine Frau«_________________________________ 32
               Wenn Deutschland schrumpft, werden Jugendliche auf
               dem Land ganz schön alleine sein

               Utopie und Vision ____________________________________ 35
               Architekten haben schon immer für die Zukunft gebaut

      35
               »Ich will gar keine Prognose haben«____________________ 39
               Ein HIV-Kranker erzählt

               Was bleibt uns übrig?_________________________________ 40
               Die Gegenwart lässt sich nicht mehr dauerhaft speichern

               Kann man machen____________________________________ 43
               Welche Berufe im Jahr 2020 gefragt sind

               Bitte keinen Brillenträger______________________________ 46
               Kann man sich in Zukunft seinen Nachwuchs designen?

               Zukunft, die es nicht ins Heft geschafft hat _ ____________ 49
               Hoi Polloi zum Thema ________________________________ 50
               Impressum und Bildnachweise ________________________ 50

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

                           »Wir tun nicht, was
                              wir wissen«
              Der Soziologe und Zukunftsforscher Rolf Kreibich über den
               unumkehrbaren Weg in die nachhaltige Gesellschaft, die
           mangelnde Fähigkeit, aus der Finanzkrise zu lernen und den Grund,
             warum wir alte Zeiten aufwärmen, statt Neues auszuprobieren
                                                     Interview: Oliver Gehrs

Herr Prof. Dr. Kreibich, was ist Zu­       Zukunftsoptionen Entwicklungen auf-       aber, dass die globale Erwärmung je-
kunft überhaupt?                           zuzeigen. Dabei werden auch Störfak-      dem zu denken gibt und die Notwen-
Einfach ausgedrückt, alle Vorgänge         toren mit einbezogen. Etwa durch die      digkeit regenerativer Energien, neuer
und Prozesse, die auf der Zeitachse der    Wild-Card-Methode: eine ökonomi-          Stromspeichertechnologien und Nah­
kosmischen, natürlichen und gesell-        sche Wild Card wäre z. B. der Zusam-      wärmesysteme klar wird. Ich bin opti-
schaftlichen Entwicklung noch vor uns      menbruch des globalen Finanzsystems       mistisch, weil wir vor drei bis vier Jah-
liegen. Nun wissen wir heute sicher,       oder eine Ölpreiskrise.                   ren den Break-even erreicht haben
dass die Zukunft nicht vollständig be-                                               – also den Punkt, an dem die Entwick-
stimmbar ist. Gleichzeitig wissen wir      Zukunftsforscher reden gern von           lung hin zu einem technologischen und
auch, dass es nicht beliebig viele Zu-     Trends. Welche sehen Sie?                 volkswirtschaftlichen Fortschritt durch
künfte geben kann. Das hat aber zwei       Es kann keinen Zweifel geben, dass ein    Nachhaltigkeit unumkehrbar gewor-
wunderbare Konsequenzen: Erstens           Megatrend die wissenschaftlichen und      den ist. Wir sind auf dem Zukunfts-
gibt das die Möglichkeit, Zukünfte ak-     technologischen Innovationen der Zu-      kurs, und die großen Energieversorger,
tiv zu gestalten. Und zweitens folgt da-   kunft sein werden, ein anderer die Um-    die uns jahrelang die Beine weggeschla-
raus, dass wir trotz prinzipieller Unsi-   weltbelastungen und der Raubbau an        gen haben, sind auf dem Rückzug. Die
cherheit viel über die Zukunft wissen      den Naturressourcen. Die größte Auf-      Versuche, die dezentralen regenerativen
können, und tatsächlich auch wissen.       gabe des 21. Jahrhunderts besteht da-     Energien zu sabotieren oder die Atom-
Insbesondere für »Wenn-dann-Aussa-         rin, die hocheffizienten Zukunftstech-    kraft aufleben zu lassen, sind letzte
gen« gibt es eine Menge wissenschaft-      nologien nicht weiter in ökologisch       ­Zuckungen eines veralteten Denkens.
liches Zukunftswissen, so z. B. über die   und sozial zerstörerischer Weise, son-
demografische Entwicklung oder die         dern im Sinne einer nachhaltig zu-        Die Zukunft als technologischer
Folgen des Klimawandels.                   kunftsfähigen Entwicklung zu nutzen.      Marktführer könnte doch so einfach
                                           Dass das prinzipiell möglich ist, steht   sein: ein sauberes Land, das seine sau­
Kommt nicht aber sowieso immer et­         außer Frage.                              bere Technik in alle Welt exportiert.
was dazwischen?                                                                      Wo ist das Problem?
Deshalb versuchen wir für eine realis-     In Deutschland werden die Menschen        Das ist fast schon eine kuriose Situa-
tische Zukunftsgestaltung etwa durch       immer älter, es gibt zu wenig Nach­       tion. Noch bis vor wenigen Jahren hat
negative und positive Zukunftsszena-       wuchs und in vielen Bereichen einen       die Politik dieses Zukunftsfeld oft weg-
rien, Simulationsmodelle und durch         Reformstau. Wo sehen Sie denn bei         geschoben. Wenn Politiker – egal wel-
die Darstellung nicht nur wahrschein-      uns den Aufbruch?                         cher Partei – heute über Arbeitsplätze
licher Zukunftsbilder, sondern auch        Wir sind leider auf einem schlechteren    reden und über die Zukunft der Wirt-
prinzipiell möglicher und wünschbarer      Weg als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe   schaft, dann kommen sie immer nur

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

auf Umwelttechnologien. Deswegen ist
es schon grotesk, das immer noch zu
negieren. Vor einiger Zeit gab es einen
Artikel im »Handelsblatt«: »Wirt-
schaft pocht auf strengen Klima-
schutz.« So eine Schlagzeile hätte es vor
fünf Jahren nicht gegeben.

Das Erreichen der Klimaziele liegt
doch aber nicht nur an den Unter­
nehmen. Gibt es nicht noch zu viele
Bürger, die ihr Verhalten nicht
ändern?
Ich bin sicher, dass wir schon zwischen
2030 bis 2040 eine vollständige Ver-
sorgung mit regenerativen Energien
schaffen könnten, aber dafür müssen
alle weniger Strom verbrauchen. Nicht
nur die Industrie. Aber das ist ja durch-
aus möglich, weil die ganzen Geräte
dafür da sind.

Eine andere Aufgabe für die Zukunft
ist die Bekämpfung der Armut und des
Welthungers. Müsste man nicht vielen
Ländern der Dritten Welt die Schul­
den erlassen, um die Flüchtlingsströ­
me zu verhindern, die die Welt ja lang­
fristig viel mehr kosten – genau wie
die Kriege, die in diesen Regionen
ausbrechen.
Ja, das wäre in die Zukunft gedacht.
Aber stattdessen baut man lieber
­immer höhere Zäune. Das ist ein
 ­klassisches Beispiel für Realitäts­
  verweigerung.

Der Kampf gegen die Armut und die
Erderwärmung sind sehr große, lang­
fristige Ziele. Politiker werden aber
immer nur für relativ kurze Zeiträu­
me gewählt. Ist das nicht ein großes
Problem?
Absolut: Es gibt kaum Langfrist-Den-
ken und kaum Langfrist-Strategien.
Das ist in dieser Zeit des Klimawan-
dels, der Vernichtung von Boden, der
sozialen Verwerfungen zwischen Ers-
ter und Dritter Welt und der Globali-
sierung das Schlimmste. Bei diesen
Herkulesaufgaben ist es mit Kurzfrist-
Denken nicht mehr getan. Viele Firmen
gehen pleite, weil nur auf schnelle
Gewinne geschaut wurde, anstatt an
die Zukunft zu denken. Deswegen ist
ja unter anderem die deutsche Auto­
industrie in einem schrecklichen Zu-
stand.

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

                     Die Brücken auf dieser und der nächsten
                     Seite künden davon, dass die Zukunft nicht
                     immer planbar ist oder es manchmal schlicht
                     an vorausschauendem Denken mangelt.
                     Die Brücken, die nun einfach so da stehen,
                     werden genauso genannt: So-da-Brücken.
                     Diese hier wurde 1936 in Kalifornien gebaut
                     und sollte ursprünglich zwei Autostraßen
                     verbinden, die wenig später durch eine Flut
                     zerstört wurden. Heute muss man neun Meilen
                     zu Fuß gehen, um sie zu erreichen – was ja eh
                     umweltschonender ist

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

Weil sie anstatt Hybridautos entwor­         Viele, die andere Berufe erfolgreich      ­ igantischen Anstieg von Spekulatio-
                                                                                       g
fen zu haben, auf immer größere Mo­          ausüben oder Unternehmer sind, fürch-     nen. Täglich wurden Tausende Milli-
toren und Karossen setzte?                   ten das schlechte Image der Politik.      arden Dollar virtuell durch die Welt ge-
Ja, da wurde an der gesellschaftlichen                                                 schoben. Die Kontrollen dafür gingen
Realität vorbeientwickelt. Die meisten       Lassen Sie uns über Jugendliche spre­     gegen null. Das waren Leute, die nur
Konzerne wollen unter dem Druck der          chen, schließlich machen doch die un­     an ihrem Computer saßen und riesige
Aktionäre nicht übermorgen und gar           sere Zukunft aus. Wie zukunftsfähig       Gehälter kassierten, mit denen sie sich
in fünf Jahren Gewinne machen, son-          sind sie denn?                            Autos, Häuser und Schiffe kauften,
dern sofort. Das führt zu kurzen Inno-       Leider hat sich das ausgeprägte egois-    ohne einen einzigen Dollar an Wert zu
vationszyklen, und meistens sind das         tische und konsumtive Verhalten von       schaffen. So etwas kann ja gar nicht
gar keine richtigen Innovationen. Statt      früher kaum geändert. Eher das Gegen-     funktionieren. Und die Banken haben
sparsame Motoren zu entwickeln, ha-          teil. Wir haben heute eine extrem ich-    dieses Spiel mitgespielt und sich Fi-
ben viele Autobauer kurzfristige Ge-         bezogene Jugend. Es gibt natürlich        nanzprodukte ausgedacht, die zu einer
winne gemacht – mit Autos, an denen          viele Ausnahmen, aber viele sind nicht    Kaskade von Krediten führten. Es war
vielleicht das Design eines Scheinwer-       mehr in der Lage, das Wichtige vom        eine reine Luftnummer.
fers neu war, anstatt mit Produkten, die     Unwichtigen zu unterscheiden und sich
die Ressourcen schonen. Man muss             in der Informationsflut im Internet zu-   Momentan bekommen manche Ban­
sich mal vorstellen: ein Geländewagen,       rechtzufinden. Dann schwimmt man          ker schon wieder riesige Bonuszahlun­
der zwei Tonnen wiegt, verbraucht bei        eben mit dem Strom und macht das          gen, nachdem ihre Institute mit staat­
der Produktion das 20-fache an Roh-          nach, was die anderen vormachen.          lichen Milliarden gerettet wurden. Ist
stoffen. Wir haben zu unserer großen                                                   die Welt nicht lernfähig?
Überraschung festgestellt, dass sogar        Gibt es deswegen so viele Revival-        Der Finanzsektor ist der einzige Wirt-
in kleineren, mittelständischen Unter-       Wellen? Dass also auf einmal viele Ju­    schaftsbereich, der ungeregelt ist. Man
nehmen nur in Rhythmen von drei bis          gendliche herumlaufen wie in den          muss sich mal vorstellen, wenn der
fünf Jahren gedacht wird. Aber eine Er-      80ern oder 90ern?                         Pharmasektor ungeregelt wäre. Da
findung in der Pharmazie oder im Ma-         Das hat sicher damit zu tun. Etwas, das   gäbe es wahrscheinlich einen Conter-
schinenbau braucht oft doppelt so            schon mal da war, nachzuahmen, ist        gan-Fall nach dem anderen. Oder die
lang, bis sie marktreif ist. Da reicht das   wesentlich bequemer als neue Welten       Chemiebranche oder die Atomwirt-
kurzfristige Denken nicht.                   zu entdecken.                             schaft. Es gäbe Katastrophen noch und
                                                                                       nöcher.
Manager denken an die Aktionäre,             Wie muss sich denn die Bildung än­
Politiker an die Wähler. Wo ist der          dern, um den Schülern die Zukunft         Bisher galt ein Land als gesund, wenn
Unterschied?                                 schmackhafter zu machen?                  die Wirtschaft wächst. Momentan tut
Was das kurzfristige Denken anbe-            An den Schulen wird viel zu wenig         sie das nicht. Ist ein immerwährendes
langt, ist der Unterschied nicht groß.       Wert auf soziale Kompetenzen gelegt,      Wachstum überhaupt realistisch und
Die Regierungsperiode ist vier Jahre         auf Mentalitätskompetenz und Kultur-      auch in Zukunft der richtige Grad­
lang. Zu Beginn gibt es langwierige Ko-      verständnis. Egal, um welchen Erdteil     messer für die Gesundheit einer
alitionsverhandlungen, im letzten Jahr       es geht: Die Menschen sind nicht auf      Volkswirtschaft?
denkt man schon wieder an Wahl-              internationale Verbindungen und           Es gibt nicht eine Größe auf der gan-
kampf. Da bleiben vielleicht drei Jahre      Netzwerke vorbereitet. Es wird zwar       zen Erde, die immer nur wächst. Das
zum Gestalten übrig.                         immer viel von Globalisierung geredet,    ist eine abstruse Geschichte. Ich war
                                             aber da steckt wenig dahinter. Man        Mitglied in der Deutschen Delegation
Wie kann man das ändern? Mit län­            braucht ein solides Fachwissen und die    bei der Rio-Konferenz 1992, bei der
geren Legislaturperioden?                    Fähigkeit zu vernetztem Denken – ein      zum ersten Mal Umwelt- und Wirt-
Man könnte natürlich auf fünf oder           Denken über den eigenen Fachbereich       schaftsfragen im globalen Rahmen er-
sechs Jahre verlängern, das wäre nicht       hinaus und vor allem Orientierung.        örtert wurden. Schon damals haben
schlecht. Aber vor allem würde ich mir                                                 wir den Begriff »Entwicklung« einge-
eine größere Unabhängigkeit bei Ent-         Die Globalisierung findet vor allem       führt. Die Erde entwickelt sich, aber
scheidungen wünschen. Weniger Grup-          im Internet statt. Es gibt so viele In­   sie wächst nicht ständig. Es geht nicht
penbildung oder Einbindung in Frak-          formationen wie noch nie zuvor, und       um schiere Größe, sondern um ein
tionen. Die Politiker müssten mehr           dennoch wird die Welt von einer ­Krise    Gleichgewicht zwischen Natur und
fachlichen Sachverstand haben und            wie dem Zusammenbruch der Banken          Mensch. Wir können uns die ganze
weniger Angst, bei einer Abwahl in ein       überrascht. Wie kann es sein, dass nie­   Menschheitsentwicklung anschauen:
schwarzes Loch zu fallen. Wir benöti-        mand so etwas kommen sieht?               Es hat immer Wachstum und Schrump-
gen ein größeres Spektrum an aktiven         Viele Menschen und Institutionen­         fung gegeben, aber wir sind aus dem
Menschen unterschiedlicher Diszipli-         wie etwa die Weltbank oder die            Gleichgewicht rausgesprungen. Wir
nen. Heute haben wir circa 150 Juris-        Bundesbank mussten wissen, dass die       müssen schauen, dass wir wieder
ten im Bundestag und 110 Lehrer.             Blase platzt. Wir hatten 2007 einen       ­hineinkommen. Dieser Wachstums­

                                                               Seite 8
Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

     Diese Brücke wurde 1917 im neusee-
     ländischen Dschungel gebaut, um den
     Soldaten, die aus dem Ersten Weltkrieg
     zurückkamen, den Weg zu neuem
     Land zu bahnen. Dumm nur, dass sich
     niemand im Urwald ansiedeln wollte.
     So war denn die Zukunft der Brücke
     eine völlig andere als vorgesehen:
     nämlich die als Touristenattraktion

fetischismus hat uns ja die ganze Zer-    individuellen Enthusiasmus nicht hät-        gibt in Deutschland über 3.000 Insti-
störung der Lebensräume eingebrockt       ten, dann wären wir schon an die Wand        tutionen, die sich wissenschaftlich mit
und dennoch beharren manche Leute         gefahren. Die eigentlichen Innovatio-        der Vergangenheit beschäftigen.            •
darauf. Dabei hat die Lebensqualität      nen in der Gesellschaft kommen fast
seit 1976 trotz Wachstum auch in den      nur aus diesem Bereich. Andererseits
Industrieländern abgenommen. Was          gibt es viele Menschen, denen die Zu-
wollen wir denn mit dem Wachstum?         kunft völlig egal ist. Wenn ich diese rie-
                                          sigen SUVs sehen, denke ich immer: Ja,                                   Wie der
                                                                                                                            Klima
Werden wir 2020 weiter sein?              sind wir denn in der Atacama-Wüste?                                         unseren schutz
                                                                                                                   verändern Alltag
Wir sind ja eigentlich schon ziemlich     Die verbrauchen zwischen 18 und 24                                                  könn
                                                                                                                       Schau a te?
weit. Aber wir tun nicht, was wir wis-    Liter Benzin, aber die Besitzer kaufen                                    fluter.de uf
                                                                                                                              nach
sen. Wir müssen die guten Ansätze wei-    ihre Lebensmittel beim Biosupermarkt.
terverfolgen. Die Erkenntnisse der        Da verliert man den Glauben an den
Nachhaltigkeitsforschung liegen auf       Verstand der Leute.
dem Tisch, in Berichten der UN stehen
hervorragende Perspektiven und Anwei-     Kann die Zukunftsforschung dazu
sungen zum Handeln – nur, umgesetzt       beitragen, die Gesellschaft mitzu­
werden vielleicht fünf Prozent davon.     gestalten?
                                          Unternehmen und Politiker erkennen
Wie wichtig ist der einzelne Bürger in    allmählich, wie wichtig der Blick in die
diesem Prozess?                           Zukunft ist. Wir können die Zukunft
Sehr. Aber wenn ich das Verhalten der     nicht voraussagen, aber wir wissen
Menschen betrachte, habe ich ein am-      mehr darüber, als viele Menschen glau-       Dr. Rolf Kreibich (71) ist Direktor des Instituts
bivalentes Gefühl. Wir haben gute An-     ben. Dennoch benötigen wir noch              für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in
sätze im Bereich des bürgerschaftlichen   mehr Akzeptanz. Es gibt vielleicht fünf      Berlin, das Politiker und Unternehmen berät. Mit
                                                                                       30 war er bereits Präsident der FU Berlin – also
Engagements, in Verbraucherorganisa-      oder sechs Institute wie uns, keines da-     stets früh dran. Auch, was die Zukunft anbelangt,
tionen oder NGOs. Wenn wir diesen         von wird öffentlich gefördert. Aber es       gehört Kreibich zu den anerkannten Vordenkern.

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Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

      Ich sehe was,
    was du nicht siehst
        Trendforschung, Wettbüros, Wahrsager –
   sie alle verdienen am Bedürfnis nach Orientierung.
Wir haben die Vordenker der ­Branche besucht und sagen,
             wer davon überhaupt Zukunft hat
                        Text: Mikael Krogerus

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fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

     Station 1: Das Trendbüro               Fast alle großen Firmen haben Trend-       Herz: Aus ein paar Blogs große Trends
                                            agenturen angeheuert oder gleich ei-       abzulesen, scheint ungefähr so treffsi-
Der Zugang zur Zukunft ist gut gesi-        gene Szenario-Abteilungen installiert.     cher, wie im Ozean nach Teufelskärpf-
chert. Hinter einer Spezialtür mit Sicht-       Hinter der Trendforschung steht die    lingen zu fischen.
feld aus Sicherheitsglas liegt das Ham-     Theorie, dass sich Ideen wie Epidemien         Gebhardt ist da, berufsbedingt ver-
burger Trendbüro, Deutschlands              verbreiten. Diffusion nennt das die So-    mutlich, anderer Meinung: die Benen-
derzeit vielleicht zuverlässigste Adresse   ziologie. Eine der berühmtesten Diffu-     nung großer Entwicklungen sei zwar
für die Frage: Was passiert morgen?         sionsstudien ist die Beobachtung zur       kompliziert, aber nicht unmöglich. Um
Hier, mit Blick auf die Speicherstadt,      Entwicklung des Hybridmais in den          den Überblick zu bewahren, unter-
sitzt ein Haufen junger Menschen mit        1930ern. Die neue Maissorte war den        scheidet die postmoderne Trendfor-
aufregend gestylten Haaren vor Com-         alten deutlich überlegen. Trotzdem         schung zwischen Megatrends, die ir-
putern. Sie alle haben ein eigenes Spe-     dauerte es 20 Jahre, bis sie sich durch-   gendwann jeden noch so realitätsfernen
zialgebiet: Web 2.0, Mode, Design           setzte. Die Diffusionsforscher nannten     Waldorflehrer erreichen (wie die Digi-
oder auch Haustiere. Ihr Beruf: heraus-     jene Bauern, die schon 1928 den Mais-      talisierung), Produkttrends (wie »Cof-
finden, was die großen Trends der           anbau umstellten, »Innovatoren«, die       fee-to-go«), Konsumententrends (Pro-
nächsten drei, fünf, zehn Jahre sein        etwas größere Gruppe, die von ihnen        dukte im Internet zu kaufen) und
werden. Ihre Kunden: Audi, eBay,            den Mais übernahm, waren die »Early        reinen Moden, die flüchtig sind und
Otto, Google.                               Adopters«. Sie waren Meinungsführer        verschwinden, bevor die Mehrheit sie
    Trends prognostizieren bedeute          im Dorf, respektierte Leute, die die In-   überhaupt wahrnahm (Fensterglasbril-
nicht, die Zukunft zu kennen, erklärt       novatoren genau beobachteten und ih-       len). Man möchte natürlich das Trend-
die Geschäftsführerin Birgit Gebhardt,      nen dann folgten. Nach Jahren folgte       büro testen – so, wie man beim Wahr-
sondern das Verhalten jener Menschen        die »skeptische Masse«, jene, die nie      sager ja auch wieder umkehrt, wenn
zu analysieren, die heute schon das ma-     etwas verändern würden, bevor nicht        auf das Anklopfen die Frage kommt:
chen, was in drei, fünf oder zehn Jah-      auch die erfolgreichsten Bauern es vor-    »Wer ist da?« Deshalb: Frau Gebhardt,
ren jeder machen wird.                      gemacht hatten. Aber auch sie wurden       was ist der nächste Megatrend?
    Die jüngste Methode, um das zu er-      vom »Hybridmais-Virus« erfasst und             Die angenehm unaufgeregte 40-Jäh-
mitteln, heißt »Social Media Monito-        übertrugen ihn schließlich auf die         rige, die so gar nicht dem Klischee des
ring«: Je nach Fragestellung werden         Ewiggestrigen, die »Nachzügler«.           nerdigen Trendscouts entspricht, denkt
speziell ausgewählte Blogs, Foren und           Was aber können Trendforscher          kurz nach, dann sagt sie: »Der Einzelne
soziale Netzwerke durchforstet. Da-         vorhersagen? Bekannt ist die Hambur-       wird die Zielgruppe, N = 1.« In Zu-
hinter steht die Vermutung, dass Men-       ger Trendbastelstube vor allem dafür,      kunft werden Produkte nach den Wün-
schen im Internet ehrlicher sind als bei    dass sie gesellschaftliche Strömungen      schen des Einzelnen produziert. Und
Befragungen. Falls es also stimmt, dass     in smarte Worte kleidet, die jeder ver-    dann gibt es noch Gegentrends, ergänzt
moderne Leute heute wieder weniger          steht und die doch neu klingen. Die        Gebhardt. Deren Logik besteht darin,
zum Therapeuten rennen, sondern ihr         Top Drei der letzten zehn Jahre: »Ich-     dass man Dinge oft erst zu schätzen
Inneres lieber im Netz nach außen keh-      AG« (der Mensch wird sein ganzes Le-       weiß, wenn sie vorbei sind: »Alles, was
ren, so dürfte dies zumindest für die       ben dem beruflichen Erfolg unterord-       zu verschwinden droht, gewinnt an Be-
Trendforschung positive Effekte ha-         nen, 2000), »Eigenzeit« (wenige            deutung.« Ein schöner Satz. Der auch
ben.                                        werden mehr Überstunden machen,            der Trendforschung Hoffnung macht.
    Vor allem aber glauben die Trend-       und viele haben dadurch weniger zu
sucher, dass im Netz die sogenannten        tun, 2003), »Karma-Kapitalismus«
Lead-User unterwegs sind. Die Digital       (Spiritualität und Nachhaltigkeit wer-          Station 2: Das Wettbüro
Natives, die Vornesitzer und Alpha-         den ein neuer Markt, 2007).
tiere kultureller Entwicklungen. Die            Wenn man die jungen Leute betrach-     Eine auf den ersten Blick noch unseri-
Methodik stammt eigentlich aus der          tet, die in schlechter Haltung vor ihren   ösere Art der Vorhersage ist das Wet-
Wirtschaftsspionage und ist oft ertrag-     Riesenbildschirmen über Markenstra-        ten. Eines der interessantesten Wettbü-
reicher als eine klassische Medienana-      tegien brüten, soziale Netzwerke stu-      ros ist die Long Now Foundation in
lyse, sagt Gebhardt. In anderen Wor-        dieren oder Lavendel-Kaugummis aus         San Francisco (siehe auch den Text auf
ten: Trendanalysten vertrauen Bloggern      Japan probieren, muss man auch mal         Seite 40). In einer gelungenen Kombi-
mehr als Journalisten.                      grundsätzlich die Frage stellen, ob es     nation aus Spielerei und Ernst kann
    Die populäre Trendforschung ent-        nicht schon zu viele Aussagen, zu viele    man auf der Website longbets.org statt
stand sinnigerweise zeitgleich mit dem      Analysen, zu viele Kanäle gibt. Wer        auf DFB-Pokalergebnisse auf die Zu-
Aufkommen des 1980er-Jahre-Hedo-            kann da ehrlich behaupten, er habe         kunft wetten. Ein paar Beispielwetten:
nismus, und sie hat sich seither zu ei-     noch den Überblick? Sind nicht die ge-     Wetten, dass bis zum Jahr 2090 die
ner weitverzweigten Branche entwi-          flechtartigen Entwicklungen ­unserer       Hälfte der Menschheit ­ausgerottet sein
ckelt, mit etablierten Marken,              Gesellschaft mit ihren Hunderten sich      wird? Oder: Wetten, dass bis 2010
ausgeklügelten Verkaufsstrategien und       kreuzenden Erzählsträngen sowieso          mehr als 50 Prozent aller Bücher auf
komplizierten Analysewerkzeugen.            unbeschreibbar geworden? Hand aufs         digitalen Geräten gelesen werden?

                                                             Seite 11
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

                                                                                        Geburtstag, bis zur nächsten Legisla-
                                                                                        turperiode denken, sondern in großen
                                                                                        Bahnen. Zu diesem Zweck soll eine di-
                                                                                        gitale Bibliothek gegründet und die
                                                                                        »10.000-Jahre-Uhr« gebaut werden.
                                                                                        Diese Uhr erklärt der Erfinder Daniel
                                                                                        Hillis so: »Als ich ein Kind war, spra-
                                                                                        chen die Menschen vom Jahr 2000.
                                                                                        Sie sprachen 60 Jahre lang von ­diesem
                                                                                        Datum. Meine Zukunft schrumpfte
                                                                                        jedes Jahr um ein Jahr. Jetzt haben
                                                                                        wir dieses Datum überschritten und
                                                                                        die Menschen sprechen von gar kei-
                                                                                        nem Datum mehr. Ich möchte eine
                                                                                        große mechanische Uhr bauen, die
                                                                                        einmal pro Jahr tickt, einmal pro
                                                                                        Jahrhundert schlägt und deren Ku-
                                                                                        ckuck jedes Millennium einmal ruft.«
                                                                                        Man sollte das nicht zynisch abtun,
                                                                                        denn die Uhr gibt es inzwischen.
                                                                                        10.000 Jahre – können wir uns das
                                                                                        vorstellen? Und wenn ja, wird es
                                                                                        noch Menschen geben, um diese Uhr
                                                                                        in 10.000 Jahren zu bestaunen? Kön-
                                                                                        nen wir uns die Welt in 500 Jahren
                                                                                        vorstellen? Oder wenigstens in 50?
                                                                                        Die Uhr ist einfach eine andere Art,
                                                                                        die alte Max-Frisch-Frage zu stellen:
                                                                                        Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung
                                                                                        des Menschengeschlechts, wenn Sie
                                                                                        und alle Ihre Bekannten nicht mehr
                 Gib mir die Kugel: In Zeiten großer Umwälzungen                        sind, wirklich interessiert?
                       haben Wahrsager wieder Konjunktur                                   Man kann die Leute von Long
                                                                                        Now natürlich für Spinner halten,
                                                                                        man kann aber auch über einige der
Manche drehen auch ein ganz großes          gnose wird online publiziert. Jetzt kön-    eingereichten Wetten nachdenken:
Rad: Wetten, dass man im Jahr 2100          nen andere Mitglieder die Prognose          Kevin Kelly, Mitgründer der Initia-
keine klare Unterscheidung mehr ma-         herausfordern. Sie setzen mindestens        tive, wettet zum Beispiel, dass bis
chen kann zwischen Menschen und             200 Dollar (der US-Investor Warren          2060 weniger Menschen auf der Erde
Maschinen?                                  Buffett setzte 1 Million Dollar), schrei-   leben werden als heute. Seine Erklä-
    Das Wettbüro funktioniert so: ­Jeder,   ben eine Erklärung, warum sie nicht an      rung: Der Trend zur Kleinfamilie mit
der wettet, muss eine fundierte Erklä-      diese Prognose glauben und notieren,        weniger als drei Kindern wird sich
rung abgeben, wie seine Wette moti-         welcher Wohltätigkeitsorganisation          verstärken. Was passiert hier?
viert ist. Was zur Folge hat, dass nicht    das Geld im Erfolgsfall zugutekommen           Einerseits werden komplexe Wis-
irgendwelche Spinner mit Halbwissen         soll. So wird aus der Prognose eine         senschaftstheorien über unsere Zu-
prahlen, sondern Experten ihre zwar         Wette.                                      kunft auf gut leserliche Fünfzeiler he-
teilweise abstrusen, aber nie inhalts­         Long Bets ist ein kleiner Seitenarm      runtergekocht, andererseits wird
leeren Ideen vorstellen. Noch zwei Bei-     der gewaltigen Long Now Foundation,         angeregt zum aktiven Nachdenken
spiele:                                     einer NGO, die sich mithilfe finanz-        über unser Leben – und unsere Zu-
    Bis 2040 wird »Chi« als »Lebens-        starker Mäzene (unter anderem Jeff Be-      kunft. Interessant auch die Negativ-
kraft« von der Schulmedizin anerkannt       zos, dem Amazon-Gründer), einer am-         wetten: 2035 wird der Aralsee in Mit-
sein, oder: Bis 2063 wird es weltweit       bitionierten Aufgabe gewidmet hat:          telasien nicht mehr existieren. Oder:
nur noch signifikante Währungen ge-         unser Schneller/Billiger-Denken in ein      2015 wird der letzte Videoverleih zu-
ben. Dies sind Prognosen. Wer glaubt,       Langsamer/Besser-Denken zu wandeln.         machen. Auch gut: 2030 verschwindet
eine Prognose machen zu können, wird        Also eine Art Slow Food für den Geist.      die Computermaus und bis 2120 gibt
kostenlos ­Mitglied bei Long Bets,­         Was soll das? Es geht darum, unsere         es keine Steuern mehr. Mein absoluter
tippt seine Vorhersage ein und begrün-      Aufmerksamkeitsspanne zu verlän-            Favorit: Im Jahr 2100 wird es keinen
det sie in fünf bis zehn Zeilen. Die Pro-   gern. Nicht nur bis zum nächsten            Rassismus mehr geben.

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fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

    Station 3: Die Wahrsagerin

Wen nicht die Zukunft unserer Welt
quält, sondern die der eigenen Liebe,
der geht zu Wahrsagern. Vorsichtige
Schätzungen gehen davon aus, dass
Deutsche jährlich rund 500 Millionen
Euro bei Wahrsagern lassen. Nicht alle,
natürlich, sind gleich gut. Ich höre
Gerüchte von einer Frau mit ein-
drücklichen Referenzen: Sie habe die
Finanzkrise vorhergesehen, 9/11, beide
Irak-Kriege, den Tsunami. Große
Schauspieler zählt sie zu ihrem festen
Kundenkreis. Die Trendsetterin unter
den Wahrsagern wohnt in einer Bun-
galowsiedlung in Hamburg-Nor-
derstedt. Als ich klingle, öffnet eine
Frau vorsichtig die Tür und zwei ab-
grundtief dunkle Augen fixieren mich.
Ich möchte sofort alles bekennen: all
meine Sünden, auch die, die ich nie be-
gangen habe, und selbst jene, die ich
bloß gern begangen hätte. Die Frau
führt mich durch ein geschmacklos
eingerichtetes Wohnzimmer, im Hin-
tergrund lärmt ein Fernseher, ins Be-
handlungszimmer: Tisch, Stühle, ein
randvoller Aschenbecher, Schokola-
dentafeln (für die Nichtraucher?),
Taschentücher. Sie bittet mich, ein ab-
gegriffenes Kartenspiel zu mischen und
in drei Haufen zu teilen. Dann deckt
sie eine nach der anderen auf: Kreuz 7,                 Oh no! In zehn Jahren wird es keine Süßigkeiten mehr geben
Karo 4, Kreuzkönig – 21, denke ich –                                (So steht es zumindest in den Karten)
aber ein plötzliches »Oh!« reißt mich
aus meinen Blackjack-Überlegungen.
»Ein Mann steht Ihnen nahe«, sagt die         ich, ich hätte noch nie Geld verloren.    sportlicher Sohn (ich nicke wohlwol-
Dame geheimnisvoll, grinst und ent-           Außerdem sei ich nicht schwul, son-       lend) und – dies wird seine Lehrer inte-
blößt ihre Raucherzähne. »Aha«, sage          dern lebe in einer heteronormativen       ressieren – sollte er in der Schule Schwie-
ich und überlege, wen sie wohl meinen         Kleinfamilie. Ein wütender Blick, der     rigkeiten machen, dann nur, weil er
könne. Dann kommt eine 10 und dann            irgendwo tief hinter der mystischen       hochbegabt ist. Sie schließt mit einem
ein Bube. »Ein Mann ist in Sie ver-           Fassade eine große Unsicherheit ver-      verkaufsfördernden Hinweis (»Hat Ih-
liebt!« – Tatsächlich? – »Ja, Sie ziehen      rät, trifft mich. Wohl beim Gedanken-     rem Sohn schon einmal jemand die Kar-
Männer an.« Ich nicke gelassen. An-           lesen verlesen, denke ich. Als ahne sie   ten gelegt? Könnte sich lohnen«). Ich
schließend hakt sie ein paar Allgemein-       meinen stummen Kommentar, straft          besinne mich auf meine Instinkte und
plätze ab: »Sie sind an einem Wende-          sie mich mit einer detaillierten Be-      verabschiede mich hastig. Etwas miss-
punkt«, »Sie haben bereits schwere            schreibung von Unglücken, die mir         mutig schüttelt sie mir die Hand, bleibt
Erfahrungen hinter sich«, »Sie machen         zweifellos bevorstünden: Die Um-          in der Tür stehen. Lange noch spüre ich
sich Sorgen« – Aussagen also, die jeder       stände meiner Ehe seien denkbar un-       ihren dunklen Blick auf meinem Rü-
normal unglückliche Mensch mit einem          günstig, meine Tochter sei ständig        cken. Auf der Rückfahrt lasse ich mein
Ja beantwortet.                               krank und sollten wir je nach New         Handy im Taxi liegen und verpasse mei-
    Dann kommen Tarotkarten. Sie sagt:        York ziehen, würde das in einer Kata-     nen Zug.    •
Ich hätte noch nie richtig geliebt, mir at-   strophe enden, denn sie sehe in baldi-
testiert sie gute Instinkte, immerhin.        ger Zukunft einen Tsunami auf die
Ferner: Kürzlich hätte ich viel Geld ver-     Stadt zurollen. Dann lenkt sie ein: Was   Als Finne ist es Mikael Krogerus (33) gewohnt,
                                                                                        auf Zeichen in der Natur zu achten. So bedeutet
loren und ich solle mich vor Männern          eben noch mein heimlicher Geliebter       das Auftauchen von Walen in Finnland, dass fette
in Acht nehmen. Nach 30 Minuten sage          war (der Kreuzkönig), ist jetzt mein      Zeiten kommen. Eigentlich ziemlich logisch.

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fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

                                            Auf ins Morgen-Land
               Wie werden wir Auto fahren? Wie kommunizieren? Welche Rohstoffe werden in
          zehn Jahren knapp sein und sieht man den Wald noch vor lauter Bäumen? fluter präsentiert
                             vier Studien und sagt, was und wer dahintersteckt
                                             Sammlung: Oliver Gehrs; Illustrationen: Ole Häntzschel

Die Glotze bleibt kalt –
die Zukunft der Kommunikation

»Vor zehn Jahren hätte niemand vorausge-
sagt, dass Menschen heute ihre Plattensamm-
lungen in der Hemdtasche mit sich herumtra-
gen.« Das sagt der Medienwissenschaftler
Lothar Mikos, und tatsächlich schreitet die
Weiterentwicklung im Bereich der Informa-
tions- und Telekommunikationstechniken
(ITK) besonders forsch voran. Der Münchner
Kreis – ein gemeinnütziger Zusammenschluss
von Informations- und Kommunikations-
experten hat zusammen mit drei Partnern ei-           Du sollst nicht müßig sein und deinen Schreibtisch verlassen:
nen Ausblick auf die Jahre bis 2030 heraus-           Schon 2015 wird die Mehrheit nicht mehr am Schreibtisch sitzen, um das Internet zu nutzen
gegeben. Den Rahmen für die Studie »Zukunft
und Zukunftsfähigkeit der Informations- und
Kommunikationstechnologien und Medien«
bereitete eine Beobachtung von Gordon                                    Zeitung
Moore, dem Mitbegründer der Chipfirma In-
tel. Der sagte vor gut 40 Jahren voraus, dass
sich die Dichte elektronischer Schaltungen
etwa alle zwölf bis 24 Monate verdoppeln
werde. Der Münchner Kreis geht davon aus,
dass das Internet im Jahr 2025 bereits mit 195
MBit pro Sekunde übertragen wird, fünf
Jahre später bereits doppelt so schnell (heute
ca. 54 MBit). Spätestens in zehn Jahren wer-
den laut Studie 95 % der Erwachsenen in
Deutschland das Internet regelmäßig nutzen
(Mitte 2009 waren es 69). Und 2024 werde
nicht mehr das Fernsehen, sondern das Inter-          Und siehe: Die Texte und Bilder werden wandern:
net das Unterhaltungsmedium Nummer eins               Vom Jahr 2024 an, wird es für drei Viertel der Rezipienten üblich sein, ein und denselben Inhalt über
in Deutschland sein. Zudem werde es vom               verschiedene Trägermedien zu nutzen – zum Beispiel Zeitungsartikel auf Handys, TV-Sendungen auf
Jahr 2024 an für drei Viertel der Mediennut-          dem Computer oder Internet über das Fernsehen
zer in Deutschland normal sein, ein und den-
selben Medieninhalt über verschiedene Trä-
ger zu nutzen. Außerdem: Ab dem Jahr 2015
werden in Deutschland mehr Menschen das
Internet regelmäßig über mobile Endgeräte
als über stationäre Computer nutzen.

Woher die das wissen wollen? Für diese Pro-
gnosen wurden weltweit Experten befragt –
im Rahmen einer Delphi-Studie. Der Name
leitet sich vom Orakel von Delphi ab. Bei der
Delphi-Methode werden Experten aus ver-
schiedenen Disziplinen mehrmals befragt – in
jeder Fragerunde haben sie die Möglichkeit,                             2009                                             2020
die Antworten der Experten aus den anderen
Fachbereichen in ihre Einschätzungen einflie-         User, vermehret euch:
                                                      Spätestens in zehn Jahren werden 95 % der Erwachsenen in Deutschland das Internet
ßen zu lassen.                                        regelmäßig nutzen (momentan 69 %). 2024 wird das Internet das Unterhaltungsmedium
                                                      Nummer eins in Deutschland sein (jetzt Fernsehen)

                                                                    Seite 14
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

  Der neue Autofahrer                                  geben, der beim Versuch, Karriere, Kinder-        der hohen Spritpreise schlichtweg nicht mehr
                                                       erziehung und Freizeit unter einen Hut zu         leisten können. Ganz generell sieht die Stu-
  Immer mehr Menschen sehen in einem schi-             bekommen, ein multifunktionales Vehikel           die ein globales Anwachsen der grünen Be-
  cken Smartphone ein größeres Statussymbol            benötigt. In größerem Ausmaß wird es auch         wegung voraus. Neue Antriebe wie Elektro-
  als in einem großen Auto. Nur in Brasilien,          den »High- Frequency-Commuter« geben,             motoren werde man in großen Zahlen von
  Russland, Indien und China – dem soge-               der zwischen Jobs, Wohnorten und Projek-          Kalkutta bis Berlin sehen. Ein weiteres Fazit
  nannten BRIC-Markt – taugt eine große Kar-           ten hin und her fährt und deswegen auf Car-       der industrienahen Beratungsfirma: Produk-
  re in Zukunft noch zum Angeben. Zu diesem            sharing und kurzfristige Mietwagenangebo-         te, welche am neuen grünen Denken vorbei-
  Ergebnis kommt zumindest die Unterneh-               te abfährt. »Wer spart, hungert bloß für die      entwickelt sind, werden kaum noch ver-
  mensberatung Arthur D. Little, die weltweit          Erben«, sagt sich wiederum der »Silver Dri-       marktbar sein.
  große Konzerne berät. Für die Studie »Zu-            ver« – ein Rentner, der auch im Alter noch
  kunft der Mobilität 2020« hat sie recht un-          mal Gas gibt und nach bandscheibenscho-           Woher die Unternehmensberatung das alles
  terschiedliche Typen ausgemacht, auf die sich        nenden Sportflitzern verlangt. Am beruhi-         weiß? Sie hat eine ganze Menge Interviews
  die Autoindustrie einrichten sollte. Unter ih-       gendsten für die Autokonzerne dürfte noch         geführt, u. a. mit Wissenschaftlern, Soziolo-
  nen der »Greenovator«, der in den westlichen         die Erkenntnis sein, dass die sogenannten         gen, Marktforschern und Autoentwicklern.
  Industrienationen im Jahr 2020 bereits 27            »Car Guys« oder »Sensation-Seekers« – Ty-         Zudem hat sie Umfragen ausgewertet über
  Prozent des gesamten Automobilmarktes                pen also, für die Autofahren einfach das          Kaufabsichten, gegenwärtige Konsumtrends
  ausmachen soll. Er möchte gern »intelligen-          Schönste ist – noch nicht ganz ausgestorben       und Schätzungen über die Entwicklung von
  te, nachhaltige, teilweise sogar asketische          sein werden. Das dürften im Jahr 2020 aller-      Einkommen und Populationen.
  Fahrzeugkonzepte«. Neben diesem grünen               dings wesentlich weniger sein als die »Low-
  Asketen wird es noch den »Family-Cruiser«            End-User«, die sich das Autofahren wegen

                                                                   2020

                                   Greenovators            Silver Surfers         High-Frequency-    Family    Low-End    Car
                                                                                    Comumters       Cruisers    Users     Guys
Ich will Spaß, ich geb kein Gas:
In Zukunft fährt der ökologisch denkende Autofahrer (»Greenovator«) vorneweg
und hängt den spritfressenden »Car Guy« weit ab

                                                                               Seite 15
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

  Eine Menge Holz – der Wald                             Noch gehört der Wald vielen: Insgesamt              Der (Nutz-)Wald wächst
  wird immer wichtiger                                   verteilt sich der private und öffentliche           Holz hat Konjunktur – seine energetische und
                                                         Waldbesitz auf 1,5 Millionen Eigentümer.            stoffliche Nutzung wird weiter zunehmen
  Oftmals sind die Ergebnisse von Studien                Doch das könnte sich bald ändern, wenn
  nicht eindeutig, stattdessen werden unter-             etwa verschuldete Kommunen kein Geld
  schiedliche Szenarien durchgespielt. Ein               mehr für die teure Waldpflege haben. Hin-
  klassisches Beispiel für solch eine Untersu-           zu kämen neue Akteure wie Unternehmen
  chung ist die Studie »Zukünfte und Visio-              aus der chemischen Industrie, der Biotech-
  nen Wald 2100«, für die sich im Auftrag                nologie, der Energiewirtschaft oder auch
  des Bundesministeriums für Bildung und                 Investmentfonds. Wenn der Wald aber auf
  Forschung Wissenschaftler verschiedenster              diese Weise aufgekauft wird, so warnt die
  Disziplinen von Forst- und Wirtschaftswis-             Studie – dann bestehe die Herausforderung
  senschaften bis hin zur Umweltethik zusam-             für den Staat darin, die sich verschärfenden
  mengeschlossen haben. Im Zentrum der                   Nutzungskonflikte durch kluge Vermitt-
  Untersuchung stand die wachsende Bedeu-                lung zu moderieren. Damit der Wald nicht
  tung des Rohstoffes Holz vor allem als                 nur als Ressourcenspender, sondern auch             Ertrag heute: 60 Millionen Kubikmeter
  nachwachsender Energieträger in einer                  als ökologischer Rückzugsraum erhalten
  sogenannten biobasierten Wirtschaft. In                bleibt.
  den kommenden 100 Jahren werde der
  Wald laut Studie »zum Ort des Konflikts«               Wie kommt’s, dass die Forscher den Wald
  im Spannungsfeld zwischen Umweltschutz,                vor lauter Bäumen noch sehen? Im Projekt-
  wirtschaftlicher Nutzug und dem Bedürfnis              team arbeiteten Wissenschaftler/-innen aus
  der Menschen nach Erholung.                            den Forst-, Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial-
  Derzeit werden rund 60 Mio. Kubikmeter                 und Regionalwissenschaften, aus der Zu-
  Holz in deutschen Wäldern geschlagen,                  kunftsforschung und Umweltethik zusam-
  potenziell wären in den nächsten 20 Jahren             men mit Praktikern der Holz- und
  durch Aufforstung und höheren Einschlag                Forstwirtschaft. Das Team stützte sich auf
  sogar etwa 79 Mio. Kubikmeter jährlich                 Untersuchungen zu zukunftsrelevanten
  nutzbar. Der Forderung der Holzindustrie               Problemfeldern wie Globalisierung, Klima-
  und Energiewirtschaft nach erhöhtem                    wandel oder demografischer Wandel und
  Holzeinschlag wurde bereits nachge-                    schaute, was davon für die Zukunft des
  kommen.                                                Waldes relevant ist.                                Potenzial in Zukunft: 79 Millionen Kubikmeter

Wem gehört der Wald?
Heute ist die Waldwirtschaft durch viele Besitzer geprägt.
In Zukunft könnte die Zahl derer, die Zugriff auf den Wald haben,
abnehmen, weil sich große Konzerne für die Flächen
                                                                           Papier-     Holz-    Energie- Chemie- Investment-    Bio-     Staat        Einzel-
interessieren. Aufgabe des Staates wird es sein, den Bürgern
                                                                          wirtschaft wirtschaft wirtschaft industrie fonds   Technologie             personen
den Wald als Stätte der Erholung zu erhalten

Akteure von heute

Akteure von morgen

                                                                              Seite 16
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

Gallium ist das neue Gold –
seltene Rohstoffe werden knapp

Eisen, Aluminium und Kupfer – mit diesen
Metallen hat man früher das große Geschäft
gemacht. Doch der eigentliche Run findet
heute auf ganz andere Metalle statt: Gallium,
das u.a. aus dem Erz Bauxit gewonnen wird,
Neodym, das vor allem in China vorkommt,
Indium, das so selten wie Silber ist und in Ost-
sibirien gefunden wurde, Germanium aus
Kupfer- oder Zinkerz oder Scandium. Diese
seltenen Rohstoffe werden dringend für die
Industrien von morgen benötigt. Im Elektro-
fahrzeugbau, der Lasertechnik, in Handys
und Flachbildschirmen sowie für Beschich-
tungen von Solarzellen – der Bedarf, den die
Zukunftstechnologien an hauchdünn auftrag-
baren und mit besonderen Leiteigenschaften
ausgestatteten Metallen haben, wird in den
nächsten Jahren rasant ansteigen. Und zwar
womöglich mehr, als von den Hightechroh-
stoffen verfügbar ist. Das Bundesministerium
für Wirtschaft hat eine Studie in Auftrag ge-
geben, die untersucht hat, in welchem Um-
fang die Edelmetalle im Jahr 2030 benötigt
werden. Fazit: Bei manchen Rohstoffen, etwa
dem für die Dünnschichtfotovoltaik benötig-
ten Gallium, steigt der Bedarf auf das Sechs-
fache der derzeitigen Weltproduktion. Bei
Neodym, das in Elektroautos und der Laser-
technik verwendet wird, immerhin noch auf
das 3,8-fache. Dennoch, so die Autoren der
Studie – darunter Experten vom Fraunhofer-
Institut für System- und Innovationsfor-
schung – gibt es ausreichend Zeit, den Roh-
stoffbedarf in 20 Jahren sicherzustellen. Viele
technologische Entwicklungen haben nämlich
einen längeren Vorlauf als die Umsetzung
neuer Bergbauprojekte oder anderer Gewin-
nungsmethoden.

Wie man den Bedarf in 20 Jahren errechnet?
Die Zukunftsstudie war vor allem eine Rechen-
aufgabe: Aus den derzeitigen Entwicklungs-
zyklen neuer Technologien, dem spezifischen
Rohstoffbedarf und der Verbreitung der Kon-
sum- und Industriegüter, in denen die seltenen
Metalle Verwendung finden, wurden Fakto-
ren für Gleichungen errechnet. Das Daten-
fundament dafür wurde durch Auswertung
von Fachdatenbanken und zahlreichen Inter-
views gelegt.

                                                                                    Dezeitige
                                                                                    Produktion
                                                                                    Bedarf

                                                              Da kommt mir doch das Gallium hoch:
                                                              Von den u. a. für Mikrochips und Solarzellen benötigten Metallen werden
                                                              manche in Zukunft knapp. Hier gilt es, frühzeitig in die Tiefe zu gehen

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fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

                             »Das ist gelebter Buddhismus«
                                     Hat man im Gefängnis überhaupt eine Zukunft?
                                                   Interview: Fabian Dietrich

Wie vergeht denn die Zeit hier im Ge­                                             Denken Sie an die Zukunft? Was wer­
fängnis, vergeht die anders?                                                      den Sie in zehn Jahren machen?
Harry: Alles dauert länger. Und doch                                              Malte: Ich denke schon an die Zukunft,
vergeht die Zeit für jemanden, der hier                                           weil ich ja auch noch ein bisschen
sitzt, zügiger als draußen. Die Jahre                                             Hoffnung habe. Ich habe ja auch stu-
purzeln relativ schnell. Wir kriegen                                              diert. Und ich habe das Glück, dass die
hier drin nicht mit, wie das Leben drau-                                          sozialen Kontakte nicht ganz wegge-
ßen weiterpulsiert. Wir leben in einem                                            brochen sind. Ich kann wieder arbei-
Stillstand und wir gewöhnen uns an                                                ten, ich kann bei einer Freundin, die
ihn. Wenn wir hier drinnen an einer                                               eine Marktforschungsagentur hat, wie-
Tür eine Dreiviertelstunde warten müs-                                            der anfangen.
sen, dann wissen wir: Das dauert so                                               Harry: Ich habe mir das abgewöhnt.
lange, wie regen uns da drüber nicht                                              Ich lebe nur noch in der Gegenwart.
auf, wo Sie wahrscheinlich schon hib-                                             Diese buddhistische Auffassung, jeden
belig werden, wenn der Aufzug nach                                                Tag im Jetzt zu leben, das können Sie
drei Minuten nicht kommt.                                                         hier tatsächlich praktizieren. Sie den-
                                                                                  ken nicht mehr an das Gestern und die
Wie haben Sie sich Ihre Zukunft vor­                                              Vergangenheit, weil das wahnsinnig
gestellt, bevor Sie verurteilt wurden?                                            wehtut. Wenn Sie hier in der Anstalt
Harry: Ich gehörte zur ganz normalen                                              spazieren gehen und Sie hatten früher
Gruppe der mittelständischen Unter-                                               mal einen Garten, und dann kriegen
nehmer, mit den gleichen Bedürfnissen,                                            Sie mit, wie die Tulpen blühen, dann
mit den gleichen Wünschen wie jeder                                               tut das weh, weil Sie an Ihre alte,
andere auch. Glückliche Familie, Kin-                                             schöne Zeit erinnert werden. Sie wol-
der, Haus, Auto. Mit 55 bis 60 in den                                             len auch nicht an die Zukunft denken,
Ruhestand gehen. Darauf habe ich hin-                                             weil Sie wissen: Das ist alles Spinnerei.
gearbeitet.                                                                       Wenn Sie rauskommen, wartet keiner
Malte: Reich wollte ich nicht sein, nur                                           auf Sie. Sie haben keinen Job. Sie müs-
unabhängig und sorglos. Ein Leben mit                                             sen sich um eine Wohnung kümmern.
Tendenz zum Meer, Richtung Süden.                                                 Es wird wahnsinnig Probleme geben.
                                                                                  Da wollen Sie nicht dran denken.
Nach wie vielen Jahren Haft kann
man sich von der Außenwelt lösen?
Harry: Das ist schwer. Sie können nicht                                           Harry* (53) ist wegen Mordes zu lebenslanger Haft
                                                                                  (mindestens 15 Jahre) verurteilt und hat schon
so einfach loslassen, was sie verloren
                                                                                  neun Jahre abgesessen
haben. Da kommt bei vielen eine in-
nere Wut auf. Man kann das nicht so                                               Malte* (50) wollte mit einem Segelboot Drogen aus
                                                                                  der Karibik nach Spanien schmuggeln, wurde
einfach wegstecken. Manche brauchen                                               erwischt und zu zehn Jahren verurteilt, von denen
vier, fünf Jahre, um sich davon geistig                                           er noch fünf vor sich hat
zu trennen.                                                                       * Namen von der Redaktion geändert.

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fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft

Das hat Größe
Nobelpreisträger raten dazu, die Stärke eines Landes
in Zukunft mehr am Wohlergehen der Menschen, als an der
wirtschaftlichen Produktivität zu messen. Zum Glück
Text: Sascha Lehnartz

Ziemlich genau ein Jahr nach dem Zusammen-                   g­ roßen Desastern wie etwa dem Tsunami in Süd-
bruch der Investmentbank »Lehman Brothers«                    ostasien folgt meist eine Welle staatlicher und in-
nahm der französische Staatspräsident Nicolas                 ternationaler Hilfen, wodurch das Wirtschafts-
­Sarkozy in der altehrwürdigen Pariser Sorbonne               wachstum sprunghaft ansteigt. Das Wohlbefinden
 ein Papier in Empfang, dessen Titel wenig revolu-            der betroffenen Menschen aber eher nicht.
 tionär klingt: »Bericht der Kommission über die                   Ein anderer Nachteil an den traditionellen Be-
 Messung der wirtschaftlichen Leistungskraft und              rechnungsmethoden: Sie ignorieren die immer
 des sozialen Fortschritts.« Doch das 300-Seiten-             wichtiger werdende Frage der Nachhaltigkeit. So
 Werk hat es in sich. Wenn seine Schlussfolgerun-             schlägt sich etwa der Bau von Autobahnen, Kraft-
 gen weltweit umgesetzt werden, wird sich der Blick           werken oder Staudämmen in der Statistik bloß un-
 auf den Zusammenhang zwischen Wirtschafts-                   differenziert als »Wachstum« nieder, die lang­
 wachstum und dem tatsächlichen Wohlstand der                 fristigen Folgekosten durch Umweltschäden
 Menschen grundlegend ändern. Das »Bruttoin-                  tauchen kaum auf. Und jede Form von »Arbeit«,
 landsprodukt« (BIP), also die Gesamtheit aller in-           die nicht auf dem Markt entgolten wird – Kindes-
 nerhalb eines ­Jahres hergestellten Waren und er-            erziehung, Pflege von Verwandten, ehrenamtliche
 brachten Dienstleistungen einer Volkswirtschaft              Tätigkeiten, wird durch das BIP überhaupt nicht
 hätte dann als maßgeblicher Indikator für das                erfasst – ist aber für das Wohlergehen einer Gesell-
 Wohlergehen einer Gesellschaft ausgedient.                   schaft ungeheuer wichtig. »Die Zeit ist reif dafür,
      Weil Sarkozy dem »Kult« dieser Zahl entkom-             dass sich unser Messsystem mehr mit dem Wohl-
 men will, beauftragte er drei der prominentesten             ergehen der Menschen als mit wirtschaftlicher Pro-
 Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart, eine al-           duktivität befasst« – so das Fazit von Stiglitz, Sen
 ternative Messmethode zu entwickeln: Die beiden              und Fitoussi.
 Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (Columbia Uni-                   Im Gegensatz zu traditionellen Wirtschaftswis-
 versity) und Amartya Sen (Harvard) sowie den                 senschaften hat die ökonomische Glücksforschung
 Chef des französischen Wirtschaftsforschungsins-             immer wieder darauf hingewiesen, dass ab einem
 tituts »Observatoire Français des Conjonctures               bestimmten ökonomischen Mindestniveau die
 Economiques« (OFCE) Jean-Paul Fitoussi. Der                  ­Zufriedenheit und Lebensqualität der Menschen
 zentrale Gedanke, den 30 Experten unter Leitung               nicht mehr automatisch mit dem wirtschaftlichen
 der drei Starökonomen entwickelten: Künftig soll              Wachstum ansteigt. Frankreichs Präsident Sarkozy
 der Reichtum einer Nation dadurch bestimmt wer-               hat das französische nationale Statistikinstitut IN-
 den, dass man erheblich genauer als bisher das                SEE bereits angewiesen, die Vorschläge der Stig-
 ­reale »Wohlbefinden« der Bevölkerung misst und               litz-Sen-Fitoussi-Kommission auf ihre Umsetzbar-
  nicht allein die wirtschaftliche Leistungskraft der          keit hin zu überprüfen. Dennoch wird auch die
  Volkswirtschaft. Anstelle des Bruttoinlandspro-              INSEE weiterhin das Bruttoinlandsprodukt be-
  duktes (BIP) soll künftig ein aussagekräftigeres             rechnen, da dies nach wie vor die Größe ist, nach
  »Nettoinlandsprodukt« (NIP) berechnet werden.                der Wohlstand international bemessen wird.
  Das Problem mit dem BIP ist nämlich, dass es zwar                Für eine fundamentale Änderung muss sich die
  Auskunft darüber geben kann, ob eine Volkswirt-              neue Sicht auf das Glück einer Gesellschaft aber
  schaft statistisch gesund ist, über das Wohlbefin-           erst einmal international durchsetzen. In Deutsch-
  den eines Volkes sagt es jedoch wenig aus. Ein               land immerhin hat Sarkozys Vorstoß eine lebhafte
  ­klassisches Beispiel für die Blindheit der Wirt-            Diskussion ausgelöst. Ein Anfang, Wachstum nicht
   schaftsstatistik sind Naturkatastrophen. Nach               als Selbstzweck zu sehen, ist auch hier gemacht.

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