Zukunft und wie es kommen kann Wie es kommt - Fluter
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Wie es ko und wie es mmt kommen k ann Zukunft Magazin der Bunde szentrale politische für B Nr. 34 / Frü ildung hling 201 0
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Thema: Zukunft Es kommt, wie es kommt. Allerdings ist es mit der sprich- fast alltagstauglich. Ob demografische Entwicklung, Klima- wörtlichen Gelassenheit nicht weit her, wenn es um die Zu- wandel oder Konsumtrends – die grundlegenden Entwick- kunft geht. In unseren Gesellschaften ist die Prognose allge- lungen der nächsten zehn Jahre sind kein Geheimnis. Wenn genwärtig – das Verlangen zu wissen, was morgen sein wird, der risikobewusste Teil des Finanzkapitals bereit ist, in den ein Massenphänomen. Das geht von wissenschaftlichen massiven Ausbau von Solarenergie zu investieren, kann die Studien über die Trendforschung bis hin zu magischen Prak- Energiewende nicht weit sein. Wenn ein konservativer Staats- tiken, mit denen Millionen umgesetzt werden. Es ist ein präsident nach Alternativen zum ökonomischen Wachstums- Zeichen von Dynamik und der mit ihr verbundenen perma- fetischismus suchen lässt, ist die zugrunde liegende Frage- nenten Unsicherheit. stellung im Mainstream angekommen. Auch demografische Die Zukunft ist mitten unter uns. Wer heute zur Schule Entwicklungen, die in den nächsten Jahren wirksam werden, geht oder seine Ausbildung macht, kann in ein paar Jahren geben uns heute die Möglichkeit zu reagieren und die poli- das Land regieren, Unternehmen führen, Entdeckungen tische Debatte darüber zu führen. Und die Fortschritte der machen oder die verfehlten Zukunftschancen öffentlich zur Biotechnologie sind jetzt schon eine Herausforderung für un- Debatte stellen. Vor 30 Jahren war Barack Obama nur ein sere ethische Konstitution. ehrgeiziger College-Student unter vielen, die ihre Zukunft Der Blick in die Schatzkammern unseres kulturellen Ge- noch vor sich hatten. Heute trägt er Verantwortung für die dächtnisses zeigt aber auch die extreme Kurzsichtigkeit un- Politik der Weltmacht USA und wird weltweit an deren serer Gesellschaft. Die Festplatten, auf denen wir unsere in Ergebnissen gemessen. Echtzeit vernetzte mediale Allgegenwart organisieren, sind Wenn man wie fluter einen Streifzug durch die Zukünfte nicht wirklich zukunftsfest. Jede Tontafel hält länger als ein unternimmt, fällt dabei zweierlei auf: Wir wissen schon USB-Stick. Die Überwindung dieser strukturellen Kurzatmig- erstaunlich viel, aber der vorherrschende Zukunftshorizont keit ist eine der entscheidenden Zukunftsaufgaben. ist extrem kurz. Die Methoden der Erkundung naher Zukunftsmöglichkeiten sind inzwischen sehr ausgefeilt und Thorsten Schilling Seite 3
Inhaltsüberblick 10 Thema: Zukunft »Wir tun nicht, was wir wissen«_________________________ 05 Interview mit einem Zukunftsforscher Ich sehe was, was du nicht siehst ______________________ 10 Im Trendbüro, im Wettbüro und beim Wahrsager zu Besuch Auf ins Morgen-Land__________________________________ 14 Was uns Studien über die Zukunft sagen »Das ist gelebter Buddhismus« ________________________ 18 Wie im Gefängnis die Zeit vergeht 20 Das hat Größe_ ______________________________________ 19 Muss denn alles immer wachsen? Nobelpreisträger sagen Nein So weit kommt’s noch_ _______________________________ 20 Ein paar Sachen, die niemals Zukunft wurden »Wir sind unverwüstlich« ______________________________ 23 Ein Mann, der auf einer sinkenden Insel lebt, erzählt Was kommt denn jetzt?_______________________________ 24 Wieso der Tyrannosaurus mit dem Huhn verwandt ist und das Leben immer seinen Weg findet Jacke wie Hose ______________________________________ 26 Jetzt schon an das Revival von morgen denken: das Schaubild 26 Wer soll das bezahlen? _______________________________ 28 In München sitzt die größte Rückversicherung der Welt »Kein Job, keine Frau«_________________________________ 32 Wenn Deutschland schrumpft, werden Jugendliche auf dem Land ganz schön alleine sein Utopie und Vision ____________________________________ 35 Architekten haben schon immer für die Zukunft gebaut 35 »Ich will gar keine Prognose haben«____________________ 39 Ein HIV-Kranker erzählt Was bleibt uns übrig?_________________________________ 40 Die Gegenwart lässt sich nicht mehr dauerhaft speichern Kann man machen____________________________________ 43 Welche Berufe im Jahr 2020 gefragt sind Bitte keinen Brillenträger______________________________ 46 Kann man sich in Zukunft seinen Nachwuchs designen? Zukunft, die es nicht ins Heft geschafft hat _ ____________ 49 Hoi Polloi zum Thema ________________________________ 50 Impressum und Bildnachweise ________________________ 50 Seite 4
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft »Wir tun nicht, was wir wissen« Der Soziologe und Zukunftsforscher Rolf Kreibich über den unumkehrbaren Weg in die nachhaltige Gesellschaft, die mangelnde Fähigkeit, aus der Finanzkrise zu lernen und den Grund, warum wir alte Zeiten aufwärmen, statt Neues auszuprobieren Interview: Oliver Gehrs Herr Prof. Dr. Kreibich, was ist Zu Zukunftsoptionen Entwicklungen auf- aber, dass die globale Erwärmung je- kunft überhaupt? zuzeigen. Dabei werden auch Störfak- dem zu denken gibt und die Notwen- Einfach ausgedrückt, alle Vorgänge toren mit einbezogen. Etwa durch die digkeit regenerativer Energien, neuer und Prozesse, die auf der Zeitachse der Wild-Card-Methode: eine ökonomi- Stromspeichertechnologien und Nah kosmischen, natürlichen und gesell- sche Wild Card wäre z. B. der Zusam- wärmesysteme klar wird. Ich bin opti- schaftlichen Entwicklung noch vor uns menbruch des globalen Finanzsystems mistisch, weil wir vor drei bis vier Jah- liegen. Nun wissen wir heute sicher, oder eine Ölpreiskrise. ren den Break-even erreicht haben dass die Zukunft nicht vollständig be- – also den Punkt, an dem die Entwick- stimmbar ist. Gleichzeitig wissen wir Zukunftsforscher reden gern von lung hin zu einem technologischen und auch, dass es nicht beliebig viele Zu- Trends. Welche sehen Sie? volkswirtschaftlichen Fortschritt durch künfte geben kann. Das hat aber zwei Es kann keinen Zweifel geben, dass ein Nachhaltigkeit unumkehrbar gewor- wunderbare Konsequenzen: Erstens Megatrend die wissenschaftlichen und den ist. Wir sind auf dem Zukunfts- gibt das die Möglichkeit, Zukünfte ak- technologischen Innovationen der Zu- kurs, und die großen Energieversorger, tiv zu gestalten. Und zweitens folgt da- kunft sein werden, ein anderer die Um- die uns jahrelang die Beine weggeschla- raus, dass wir trotz prinzipieller Unsi- weltbelastungen und der Raubbau an gen haben, sind auf dem Rückzug. Die cherheit viel über die Zukunft wissen den Naturressourcen. Die größte Auf- Versuche, die dezentralen regenerativen können, und tatsächlich auch wissen. gabe des 21. Jahrhunderts besteht da- Energien zu sabotieren oder die Atom- Insbesondere für »Wenn-dann-Aussa- rin, die hocheffizienten Zukunftstech- kraft aufleben zu lassen, sind letzte gen« gibt es eine Menge wissenschaft- nologien nicht weiter in ökologisch Zuckungen eines veralteten Denkens. liches Zukunftswissen, so z. B. über die und sozial zerstörerischer Weise, son- demografische Entwicklung oder die dern im Sinne einer nachhaltig zu- Die Zukunft als technologischer Folgen des Klimawandels. kunftsfähigen Entwicklung zu nutzen. Marktführer könnte doch so einfach Dass das prinzipiell möglich ist, steht sein: ein sauberes Land, das seine sau Kommt nicht aber sowieso immer et außer Frage. bere Technik in alle Welt exportiert. was dazwischen? Wo ist das Problem? Deshalb versuchen wir für eine realis- In Deutschland werden die Menschen Das ist fast schon eine kuriose Situa- tische Zukunftsgestaltung etwa durch immer älter, es gibt zu wenig Nach tion. Noch bis vor wenigen Jahren hat negative und positive Zukunftsszena- wuchs und in vielen Bereichen einen die Politik dieses Zukunftsfeld oft weg- rien, Simulationsmodelle und durch Reformstau. Wo sehen Sie denn bei geschoben. Wenn Politiker – egal wel- die Darstellung nicht nur wahrschein- uns den Aufbruch? cher Partei – heute über Arbeitsplätze licher Zukunftsbilder, sondern auch Wir sind leider auf einem schlechteren reden und über die Zukunft der Wirt- prinzipiell möglicher und wünschbarer Weg als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe schaft, dann kommen sie immer nur Seite 5
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft auf Umwelttechnologien. Deswegen ist es schon grotesk, das immer noch zu negieren. Vor einiger Zeit gab es einen Artikel im »Handelsblatt«: »Wirt- schaft pocht auf strengen Klima- schutz.« So eine Schlagzeile hätte es vor fünf Jahren nicht gegeben. Das Erreichen der Klimaziele liegt doch aber nicht nur an den Unter nehmen. Gibt es nicht noch zu viele Bürger, die ihr Verhalten nicht ändern? Ich bin sicher, dass wir schon zwischen 2030 bis 2040 eine vollständige Ver- sorgung mit regenerativen Energien schaffen könnten, aber dafür müssen alle weniger Strom verbrauchen. Nicht nur die Industrie. Aber das ist ja durch- aus möglich, weil die ganzen Geräte dafür da sind. Eine andere Aufgabe für die Zukunft ist die Bekämpfung der Armut und des Welthungers. Müsste man nicht vielen Ländern der Dritten Welt die Schul den erlassen, um die Flüchtlingsströ me zu verhindern, die die Welt ja lang fristig viel mehr kosten – genau wie die Kriege, die in diesen Regionen ausbrechen. Ja, das wäre in die Zukunft gedacht. Aber stattdessen baut man lieber immer höhere Zäune. Das ist ein klassisches Beispiel für Realitäts verweigerung. Der Kampf gegen die Armut und die Erderwärmung sind sehr große, lang fristige Ziele. Politiker werden aber immer nur für relativ kurze Zeiträu me gewählt. Ist das nicht ein großes Problem? Absolut: Es gibt kaum Langfrist-Den- ken und kaum Langfrist-Strategien. Das ist in dieser Zeit des Klimawan- dels, der Vernichtung von Boden, der sozialen Verwerfungen zwischen Ers- ter und Dritter Welt und der Globali- sierung das Schlimmste. Bei diesen Herkulesaufgaben ist es mit Kurzfrist- Denken nicht mehr getan. Viele Firmen gehen pleite, weil nur auf schnelle Gewinne geschaut wurde, anstatt an die Zukunft zu denken. Deswegen ist ja unter anderem die deutsche Auto industrie in einem schrecklichen Zu- stand. Seite 6
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Die Brücken auf dieser und der nächsten Seite künden davon, dass die Zukunft nicht immer planbar ist oder es manchmal schlicht an vorausschauendem Denken mangelt. Die Brücken, die nun einfach so da stehen, werden genauso genannt: So-da-Brücken. Diese hier wurde 1936 in Kalifornien gebaut und sollte ursprünglich zwei Autostraßen verbinden, die wenig später durch eine Flut zerstört wurden. Heute muss man neun Meilen zu Fuß gehen, um sie zu erreichen – was ja eh umweltschonender ist Seite 7
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Weil sie anstatt Hybridautos entwor Viele, die andere Berufe erfolgreich igantischen Anstieg von Spekulatio- g fen zu haben, auf immer größere Mo ausüben oder Unternehmer sind, fürch- nen. Täglich wurden Tausende Milli- toren und Karossen setzte? ten das schlechte Image der Politik. arden Dollar virtuell durch die Welt ge- Ja, da wurde an der gesellschaftlichen schoben. Die Kontrollen dafür gingen Realität vorbeientwickelt. Die meisten Lassen Sie uns über Jugendliche spre gegen null. Das waren Leute, die nur Konzerne wollen unter dem Druck der chen, schließlich machen doch die un an ihrem Computer saßen und riesige Aktionäre nicht übermorgen und gar sere Zukunft aus. Wie zukunftsfähig Gehälter kassierten, mit denen sie sich in fünf Jahren Gewinne machen, son- sind sie denn? Autos, Häuser und Schiffe kauften, dern sofort. Das führt zu kurzen Inno- Leider hat sich das ausgeprägte egois- ohne einen einzigen Dollar an Wert zu vationszyklen, und meistens sind das tische und konsumtive Verhalten von schaffen. So etwas kann ja gar nicht gar keine richtigen Innovationen. Statt früher kaum geändert. Eher das Gegen- funktionieren. Und die Banken haben sparsame Motoren zu entwickeln, ha- teil. Wir haben heute eine extrem ich- dieses Spiel mitgespielt und sich Fi- ben viele Autobauer kurzfristige Ge- bezogene Jugend. Es gibt natürlich nanzprodukte ausgedacht, die zu einer winne gemacht – mit Autos, an denen viele Ausnahmen, aber viele sind nicht Kaskade von Krediten führten. Es war vielleicht das Design eines Scheinwer- mehr in der Lage, das Wichtige vom eine reine Luftnummer. fers neu war, anstatt mit Produkten, die Unwichtigen zu unterscheiden und sich die Ressourcen schonen. Man muss in der Informationsflut im Internet zu- Momentan bekommen manche Ban sich mal vorstellen: ein Geländewagen, rechtzufinden. Dann schwimmt man ker schon wieder riesige Bonuszahlun der zwei Tonnen wiegt, verbraucht bei eben mit dem Strom und macht das gen, nachdem ihre Institute mit staat der Produktion das 20-fache an Roh- nach, was die anderen vormachen. lichen Milliarden gerettet wurden. Ist stoffen. Wir haben zu unserer großen die Welt nicht lernfähig? Überraschung festgestellt, dass sogar Gibt es deswegen so viele Revival- Der Finanzsektor ist der einzige Wirt- in kleineren, mittelständischen Unter- Wellen? Dass also auf einmal viele Ju schaftsbereich, der ungeregelt ist. Man nehmen nur in Rhythmen von drei bis gendliche herumlaufen wie in den muss sich mal vorstellen, wenn der fünf Jahren gedacht wird. Aber eine Er- 80ern oder 90ern? Pharmasektor ungeregelt wäre. Da findung in der Pharmazie oder im Ma- Das hat sicher damit zu tun. Etwas, das gäbe es wahrscheinlich einen Conter- schinenbau braucht oft doppelt so schon mal da war, nachzuahmen, ist gan-Fall nach dem anderen. Oder die lang, bis sie marktreif ist. Da reicht das wesentlich bequemer als neue Welten Chemiebranche oder die Atomwirt- kurzfristige Denken nicht. zu entdecken. schaft. Es gäbe Katastrophen noch und nöcher. Manager denken an die Aktionäre, Wie muss sich denn die Bildung än Politiker an die Wähler. Wo ist der dern, um den Schülern die Zukunft Bisher galt ein Land als gesund, wenn Unterschied? schmackhafter zu machen? die Wirtschaft wächst. Momentan tut Was das kurzfristige Denken anbe- An den Schulen wird viel zu wenig sie das nicht. Ist ein immerwährendes langt, ist der Unterschied nicht groß. Wert auf soziale Kompetenzen gelegt, Wachstum überhaupt realistisch und Die Regierungsperiode ist vier Jahre auf Mentalitätskompetenz und Kultur- auch in Zukunft der richtige Grad lang. Zu Beginn gibt es langwierige Ko- verständnis. Egal, um welchen Erdteil messer für die Gesundheit einer alitionsverhandlungen, im letzten Jahr es geht: Die Menschen sind nicht auf Volkswirtschaft? denkt man schon wieder an Wahl- internationale Verbindungen und Es gibt nicht eine Größe auf der gan- kampf. Da bleiben vielleicht drei Jahre Netzwerke vorbereitet. Es wird zwar zen Erde, die immer nur wächst. Das zum Gestalten übrig. immer viel von Globalisierung geredet, ist eine abstruse Geschichte. Ich war aber da steckt wenig dahinter. Man Mitglied in der Deutschen Delegation Wie kann man das ändern? Mit län braucht ein solides Fachwissen und die bei der Rio-Konferenz 1992, bei der geren Legislaturperioden? Fähigkeit zu vernetztem Denken – ein zum ersten Mal Umwelt- und Wirt- Man könnte natürlich auf fünf oder Denken über den eigenen Fachbereich schaftsfragen im globalen Rahmen er- sechs Jahre verlängern, das wäre nicht hinaus und vor allem Orientierung. örtert wurden. Schon damals haben schlecht. Aber vor allem würde ich mir wir den Begriff »Entwicklung« einge- eine größere Unabhängigkeit bei Ent- Die Globalisierung findet vor allem führt. Die Erde entwickelt sich, aber scheidungen wünschen. Weniger Grup- im Internet statt. Es gibt so viele In sie wächst nicht ständig. Es geht nicht penbildung oder Einbindung in Frak- formationen wie noch nie zuvor, und um schiere Größe, sondern um ein tionen. Die Politiker müssten mehr dennoch wird die Welt von einer Krise Gleichgewicht zwischen Natur und fachlichen Sachverstand haben und wie dem Zusammenbruch der Banken Mensch. Wir können uns die ganze weniger Angst, bei einer Abwahl in ein überrascht. Wie kann es sein, dass nie Menschheitsentwicklung anschauen: schwarzes Loch zu fallen. Wir benöti- mand so etwas kommen sieht? Es hat immer Wachstum und Schrump- gen ein größeres Spektrum an aktiven Viele Menschen und Institutionen fung gegeben, aber wir sind aus dem Menschen unterschiedlicher Diszipli- wie etwa die Weltbank oder die Gleichgewicht rausgesprungen. Wir nen. Heute haben wir circa 150 Juris- Bundesbank mussten wissen, dass die müssen schauen, dass wir wieder ten im Bundestag und 110 Lehrer. Blase platzt. Wir hatten 2007 einen hineinkommen. Dieser Wachstums Seite 8
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Diese Brücke wurde 1917 im neusee- ländischen Dschungel gebaut, um den Soldaten, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen, den Weg zu neuem Land zu bahnen. Dumm nur, dass sich niemand im Urwald ansiedeln wollte. So war denn die Zukunft der Brücke eine völlig andere als vorgesehen: nämlich die als Touristenattraktion fetischismus hat uns ja die ganze Zer- individuellen Enthusiasmus nicht hät- gibt in Deutschland über 3.000 Insti- störung der Lebensräume eingebrockt ten, dann wären wir schon an die Wand tutionen, die sich wissenschaftlich mit und dennoch beharren manche Leute gefahren. Die eigentlichen Innovatio- der Vergangenheit beschäftigen. • darauf. Dabei hat die Lebensqualität nen in der Gesellschaft kommen fast seit 1976 trotz Wachstum auch in den nur aus diesem Bereich. Andererseits Industrieländern abgenommen. Was gibt es viele Menschen, denen die Zu- wollen wir denn mit dem Wachstum? kunft völlig egal ist. Wenn ich diese rie- sigen SUVs sehen, denke ich immer: Ja, Wie der Klima Werden wir 2020 weiter sein? sind wir denn in der Atacama-Wüste? unseren schutz verändern Alltag Wir sind ja eigentlich schon ziemlich Die verbrauchen zwischen 18 und 24 könn Schau a te? weit. Aber wir tun nicht, was wir wis- Liter Benzin, aber die Besitzer kaufen fluter.de uf nach sen. Wir müssen die guten Ansätze wei- ihre Lebensmittel beim Biosupermarkt. terverfolgen. Die Erkenntnisse der Da verliert man den Glauben an den Nachhaltigkeitsforschung liegen auf Verstand der Leute. dem Tisch, in Berichten der UN stehen hervorragende Perspektiven und Anwei- Kann die Zukunftsforschung dazu sungen zum Handeln – nur, umgesetzt beitragen, die Gesellschaft mitzu werden vielleicht fünf Prozent davon. gestalten? Unternehmen und Politiker erkennen Wie wichtig ist der einzelne Bürger in allmählich, wie wichtig der Blick in die diesem Prozess? Zukunft ist. Wir können die Zukunft Sehr. Aber wenn ich das Verhalten der nicht voraussagen, aber wir wissen Menschen betrachte, habe ich ein am- mehr darüber, als viele Menschen glau- Dr. Rolf Kreibich (71) ist Direktor des Instituts bivalentes Gefühl. Wir haben gute An- ben. Dennoch benötigen wir noch für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in sätze im Bereich des bürgerschaftlichen mehr Akzeptanz. Es gibt vielleicht fünf Berlin, das Politiker und Unternehmen berät. Mit 30 war er bereits Präsident der FU Berlin – also Engagements, in Verbraucherorganisa- oder sechs Institute wie uns, keines da- stets früh dran. Auch, was die Zukunft anbelangt, tionen oder NGOs. Wenn wir diesen von wird öffentlich gefördert. Aber es gehört Kreibich zu den anerkannten Vordenkern. Seite 9
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Ich sehe was, was du nicht siehst Trendforschung, Wettbüros, Wahrsager – sie alle verdienen am Bedürfnis nach Orientierung. Wir haben die Vordenker der Branche besucht und sagen, wer davon überhaupt Zukunft hat Text: Mikael Krogerus Seite 10
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Station 1: Das Trendbüro Fast alle großen Firmen haben Trend- Herz: Aus ein paar Blogs große Trends agenturen angeheuert oder gleich ei- abzulesen, scheint ungefähr so treffsi- Der Zugang zur Zukunft ist gut gesi- gene Szenario-Abteilungen installiert. cher, wie im Ozean nach Teufelskärpf- chert. Hinter einer Spezialtür mit Sicht- Hinter der Trendforschung steht die lingen zu fischen. feld aus Sicherheitsglas liegt das Ham- Theorie, dass sich Ideen wie Epidemien Gebhardt ist da, berufsbedingt ver- burger Trendbüro, Deutschlands verbreiten. Diffusion nennt das die So- mutlich, anderer Meinung: die Benen- derzeit vielleicht zuverlässigste Adresse ziologie. Eine der berühmtesten Diffu- nung großer Entwicklungen sei zwar für die Frage: Was passiert morgen? sionsstudien ist die Beobachtung zur kompliziert, aber nicht unmöglich. Um Hier, mit Blick auf die Speicherstadt, Entwicklung des Hybridmais in den den Überblick zu bewahren, unter- sitzt ein Haufen junger Menschen mit 1930ern. Die neue Maissorte war den scheidet die postmoderne Trendfor- aufregend gestylten Haaren vor Com- alten deutlich überlegen. Trotzdem schung zwischen Megatrends, die ir- putern. Sie alle haben ein eigenes Spe- dauerte es 20 Jahre, bis sie sich durch- gendwann jeden noch so realitätsfernen zialgebiet: Web 2.0, Mode, Design setzte. Die Diffusionsforscher nannten Waldorflehrer erreichen (wie die Digi- oder auch Haustiere. Ihr Beruf: heraus- jene Bauern, die schon 1928 den Mais- talisierung), Produkttrends (wie »Cof- finden, was die großen Trends der anbau umstellten, »Innovatoren«, die fee-to-go«), Konsumententrends (Pro- nächsten drei, fünf, zehn Jahre sein etwas größere Gruppe, die von ihnen dukte im Internet zu kaufen) und werden. Ihre Kunden: Audi, eBay, den Mais übernahm, waren die »Early reinen Moden, die flüchtig sind und Otto, Google. Adopters«. Sie waren Meinungsführer verschwinden, bevor die Mehrheit sie Trends prognostizieren bedeute im Dorf, respektierte Leute, die die In- überhaupt wahrnahm (Fensterglasbril- nicht, die Zukunft zu kennen, erklärt novatoren genau beobachteten und ih- len). Man möchte natürlich das Trend- die Geschäftsführerin Birgit Gebhardt, nen dann folgten. Nach Jahren folgte büro testen – so, wie man beim Wahr- sondern das Verhalten jener Menschen die »skeptische Masse«, jene, die nie sager ja auch wieder umkehrt, wenn zu analysieren, die heute schon das ma- etwas verändern würden, bevor nicht auf das Anklopfen die Frage kommt: chen, was in drei, fünf oder zehn Jah- auch die erfolgreichsten Bauern es vor- »Wer ist da?« Deshalb: Frau Gebhardt, ren jeder machen wird. gemacht hatten. Aber auch sie wurden was ist der nächste Megatrend? Die jüngste Methode, um das zu er- vom »Hybridmais-Virus« erfasst und Die angenehm unaufgeregte 40-Jäh- mitteln, heißt »Social Media Monito- übertrugen ihn schließlich auf die rige, die so gar nicht dem Klischee des ring«: Je nach Fragestellung werden Ewiggestrigen, die »Nachzügler«. nerdigen Trendscouts entspricht, denkt speziell ausgewählte Blogs, Foren und Was aber können Trendforscher kurz nach, dann sagt sie: »Der Einzelne soziale Netzwerke durchforstet. Da- vorhersagen? Bekannt ist die Hambur- wird die Zielgruppe, N = 1.« In Zu- hinter steht die Vermutung, dass Men- ger Trendbastelstube vor allem dafür, kunft werden Produkte nach den Wün- schen im Internet ehrlicher sind als bei dass sie gesellschaftliche Strömungen schen des Einzelnen produziert. Und Befragungen. Falls es also stimmt, dass in smarte Worte kleidet, die jeder ver- dann gibt es noch Gegentrends, ergänzt moderne Leute heute wieder weniger steht und die doch neu klingen. Die Gebhardt. Deren Logik besteht darin, zum Therapeuten rennen, sondern ihr Top Drei der letzten zehn Jahre: »Ich- dass man Dinge oft erst zu schätzen Inneres lieber im Netz nach außen keh- AG« (der Mensch wird sein ganzes Le- weiß, wenn sie vorbei sind: »Alles, was ren, so dürfte dies zumindest für die ben dem beruflichen Erfolg unterord- zu verschwinden droht, gewinnt an Be- Trendforschung positive Effekte ha- nen, 2000), »Eigenzeit« (wenige deutung.« Ein schöner Satz. Der auch ben. werden mehr Überstunden machen, der Trendforschung Hoffnung macht. Vor allem aber glauben die Trend- und viele haben dadurch weniger zu sucher, dass im Netz die sogenannten tun, 2003), »Karma-Kapitalismus« Lead-User unterwegs sind. Die Digital (Spiritualität und Nachhaltigkeit wer- Station 2: Das Wettbüro Natives, die Vornesitzer und Alpha- den ein neuer Markt, 2007). tiere kultureller Entwicklungen. Die Wenn man die jungen Leute betrach- Eine auf den ersten Blick noch unseri- Methodik stammt eigentlich aus der tet, die in schlechter Haltung vor ihren ösere Art der Vorhersage ist das Wet- Wirtschaftsspionage und ist oft ertrag- Riesenbildschirmen über Markenstra- ten. Eines der interessantesten Wettbü- reicher als eine klassische Medienana- tegien brüten, soziale Netzwerke stu- ros ist die Long Now Foundation in lyse, sagt Gebhardt. In anderen Wor- dieren oder Lavendel-Kaugummis aus San Francisco (siehe auch den Text auf ten: Trendanalysten vertrauen Bloggern Japan probieren, muss man auch mal Seite 40). In einer gelungenen Kombi- mehr als Journalisten. grundsätzlich die Frage stellen, ob es nation aus Spielerei und Ernst kann Die populäre Trendforschung ent- nicht schon zu viele Aussagen, zu viele man auf der Website longbets.org statt stand sinnigerweise zeitgleich mit dem Analysen, zu viele Kanäle gibt. Wer auf DFB-Pokalergebnisse auf die Zu- Aufkommen des 1980er-Jahre-Hedo- kann da ehrlich behaupten, er habe kunft wetten. Ein paar Beispielwetten: nismus, und sie hat sich seither zu ei- noch den Überblick? Sind nicht die ge- Wetten, dass bis zum Jahr 2090 die ner weitverzweigten Branche entwi- flechtartigen Entwicklungen unserer Hälfte der Menschheit ausgerottet sein ckelt, mit etablierten Marken, Gesellschaft mit ihren Hunderten sich wird? Oder: Wetten, dass bis 2010 ausgeklügelten Verkaufsstrategien und kreuzenden Erzählsträngen sowieso mehr als 50 Prozent aller Bücher auf komplizierten Analysewerkzeugen. unbeschreibbar geworden? Hand aufs digitalen Geräten gelesen werden? Seite 11
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Geburtstag, bis zur nächsten Legisla- turperiode denken, sondern in großen Bahnen. Zu diesem Zweck soll eine di- gitale Bibliothek gegründet und die »10.000-Jahre-Uhr« gebaut werden. Diese Uhr erklärt der Erfinder Daniel Hillis so: »Als ich ein Kind war, spra- chen die Menschen vom Jahr 2000. Sie sprachen 60 Jahre lang von diesem Datum. Meine Zukunft schrumpfte jedes Jahr um ein Jahr. Jetzt haben wir dieses Datum überschritten und die Menschen sprechen von gar kei- nem Datum mehr. Ich möchte eine große mechanische Uhr bauen, die einmal pro Jahr tickt, einmal pro Jahrhundert schlägt und deren Ku- ckuck jedes Millennium einmal ruft.« Man sollte das nicht zynisch abtun, denn die Uhr gibt es inzwischen. 10.000 Jahre – können wir uns das vorstellen? Und wenn ja, wird es noch Menschen geben, um diese Uhr in 10.000 Jahren zu bestaunen? Kön- nen wir uns die Welt in 500 Jahren vorstellen? Oder wenigstens in 50? Die Uhr ist einfach eine andere Art, die alte Max-Frisch-Frage zu stellen: Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr Gib mir die Kugel: In Zeiten großer Umwälzungen sind, wirklich interessiert? haben Wahrsager wieder Konjunktur Man kann die Leute von Long Now natürlich für Spinner halten, man kann aber auch über einige der Manche drehen auch ein ganz großes gnose wird online publiziert. Jetzt kön- eingereichten Wetten nachdenken: Rad: Wetten, dass man im Jahr 2100 nen andere Mitglieder die Prognose Kevin Kelly, Mitgründer der Initia- keine klare Unterscheidung mehr ma- herausfordern. Sie setzen mindestens tive, wettet zum Beispiel, dass bis chen kann zwischen Menschen und 200 Dollar (der US-Investor Warren 2060 weniger Menschen auf der Erde Maschinen? Buffett setzte 1 Million Dollar), schrei- leben werden als heute. Seine Erklä- Das Wettbüro funktioniert so: Jeder, ben eine Erklärung, warum sie nicht an rung: Der Trend zur Kleinfamilie mit der wettet, muss eine fundierte Erklä- diese Prognose glauben und notieren, weniger als drei Kindern wird sich rung abgeben, wie seine Wette moti- welcher Wohltätigkeitsorganisation verstärken. Was passiert hier? viert ist. Was zur Folge hat, dass nicht das Geld im Erfolgsfall zugutekommen Einerseits werden komplexe Wis- irgendwelche Spinner mit Halbwissen soll. So wird aus der Prognose eine senschaftstheorien über unsere Zu- prahlen, sondern Experten ihre zwar Wette. kunft auf gut leserliche Fünfzeiler he- teilweise abstrusen, aber nie inhalts Long Bets ist ein kleiner Seitenarm runtergekocht, andererseits wird leeren Ideen vorstellen. Noch zwei Bei- der gewaltigen Long Now Foundation, angeregt zum aktiven Nachdenken spiele: einer NGO, die sich mithilfe finanz- über unser Leben – und unsere Zu- Bis 2040 wird »Chi« als »Lebens- starker Mäzene (unter anderem Jeff Be- kunft. Interessant auch die Negativ- kraft« von der Schulmedizin anerkannt zos, dem Amazon-Gründer), einer am- wetten: 2035 wird der Aralsee in Mit- sein, oder: Bis 2063 wird es weltweit bitionierten Aufgabe gewidmet hat: telasien nicht mehr existieren. Oder: nur noch signifikante Währungen ge- unser Schneller/Billiger-Denken in ein 2015 wird der letzte Videoverleih zu- ben. Dies sind Prognosen. Wer glaubt, Langsamer/Besser-Denken zu wandeln. machen. Auch gut: 2030 verschwindet eine Prognose machen zu können, wird Also eine Art Slow Food für den Geist. die Computermaus und bis 2120 gibt kostenlos Mitglied bei Long Bets, Was soll das? Es geht darum, unsere es keine Steuern mehr. Mein absoluter tippt seine Vorhersage ein und begrün- Aufmerksamkeitsspanne zu verlän- Favorit: Im Jahr 2100 wird es keinen det sie in fünf bis zehn Zeilen. Die Pro- gern. Nicht nur bis zum nächsten Rassismus mehr geben. Seite 12
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Station 3: Die Wahrsagerin Wen nicht die Zukunft unserer Welt quält, sondern die der eigenen Liebe, der geht zu Wahrsagern. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass Deutsche jährlich rund 500 Millionen Euro bei Wahrsagern lassen. Nicht alle, natürlich, sind gleich gut. Ich höre Gerüchte von einer Frau mit ein- drücklichen Referenzen: Sie habe die Finanzkrise vorhergesehen, 9/11, beide Irak-Kriege, den Tsunami. Große Schauspieler zählt sie zu ihrem festen Kundenkreis. Die Trendsetterin unter den Wahrsagern wohnt in einer Bun- galowsiedlung in Hamburg-Nor- derstedt. Als ich klingle, öffnet eine Frau vorsichtig die Tür und zwei ab- grundtief dunkle Augen fixieren mich. Ich möchte sofort alles bekennen: all meine Sünden, auch die, die ich nie be- gangen habe, und selbst jene, die ich bloß gern begangen hätte. Die Frau führt mich durch ein geschmacklos eingerichtetes Wohnzimmer, im Hin- tergrund lärmt ein Fernseher, ins Be- handlungszimmer: Tisch, Stühle, ein randvoller Aschenbecher, Schokola- dentafeln (für die Nichtraucher?), Taschentücher. Sie bittet mich, ein ab- gegriffenes Kartenspiel zu mischen und in drei Haufen zu teilen. Dann deckt sie eine nach der anderen auf: Kreuz 7, Oh no! In zehn Jahren wird es keine Süßigkeiten mehr geben Karo 4, Kreuzkönig – 21, denke ich – (So steht es zumindest in den Karten) aber ein plötzliches »Oh!« reißt mich aus meinen Blackjack-Überlegungen. »Ein Mann steht Ihnen nahe«, sagt die ich, ich hätte noch nie Geld verloren. sportlicher Sohn (ich nicke wohlwol- Dame geheimnisvoll, grinst und ent- Außerdem sei ich nicht schwul, son- lend) und – dies wird seine Lehrer inte- blößt ihre Raucherzähne. »Aha«, sage dern lebe in einer heteronormativen ressieren – sollte er in der Schule Schwie- ich und überlege, wen sie wohl meinen Kleinfamilie. Ein wütender Blick, der rigkeiten machen, dann nur, weil er könne. Dann kommt eine 10 und dann irgendwo tief hinter der mystischen hochbegabt ist. Sie schließt mit einem ein Bube. »Ein Mann ist in Sie ver- Fassade eine große Unsicherheit ver- verkaufsfördernden Hinweis (»Hat Ih- liebt!« – Tatsächlich? – »Ja, Sie ziehen rät, trifft mich. Wohl beim Gedanken- rem Sohn schon einmal jemand die Kar- Männer an.« Ich nicke gelassen. An- lesen verlesen, denke ich. Als ahne sie ten gelegt? Könnte sich lohnen«). Ich schließend hakt sie ein paar Allgemein- meinen stummen Kommentar, straft besinne mich auf meine Instinkte und plätze ab: »Sie sind an einem Wende- sie mich mit einer detaillierten Be- verabschiede mich hastig. Etwas miss- punkt«, »Sie haben bereits schwere schreibung von Unglücken, die mir mutig schüttelt sie mir die Hand, bleibt Erfahrungen hinter sich«, »Sie machen zweifellos bevorstünden: Die Um- in der Tür stehen. Lange noch spüre ich sich Sorgen« – Aussagen also, die jeder stände meiner Ehe seien denkbar un- ihren dunklen Blick auf meinem Rü- normal unglückliche Mensch mit einem günstig, meine Tochter sei ständig cken. Auf der Rückfahrt lasse ich mein Ja beantwortet. krank und sollten wir je nach New Handy im Taxi liegen und verpasse mei- Dann kommen Tarotkarten. Sie sagt: York ziehen, würde das in einer Kata- nen Zug. • Ich hätte noch nie richtig geliebt, mir at- strophe enden, denn sie sehe in baldi- testiert sie gute Instinkte, immerhin. ger Zukunft einen Tsunami auf die Ferner: Kürzlich hätte ich viel Geld ver- Stadt zurollen. Dann lenkt sie ein: Was Als Finne ist es Mikael Krogerus (33) gewohnt, auf Zeichen in der Natur zu achten. So bedeutet loren und ich solle mich vor Männern eben noch mein heimlicher Geliebter das Auftauchen von Walen in Finnland, dass fette in Acht nehmen. Nach 30 Minuten sage war (der Kreuzkönig), ist jetzt mein Zeiten kommen. Eigentlich ziemlich logisch. Seite 13
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Auf ins Morgen-Land Wie werden wir Auto fahren? Wie kommunizieren? Welche Rohstoffe werden in zehn Jahren knapp sein und sieht man den Wald noch vor lauter Bäumen? fluter präsentiert vier Studien und sagt, was und wer dahintersteckt Sammlung: Oliver Gehrs; Illustrationen: Ole Häntzschel Die Glotze bleibt kalt – die Zukunft der Kommunikation »Vor zehn Jahren hätte niemand vorausge- sagt, dass Menschen heute ihre Plattensamm- lungen in der Hemdtasche mit sich herumtra- gen.« Das sagt der Medienwissenschaftler Lothar Mikos, und tatsächlich schreitet die Weiterentwicklung im Bereich der Informa- tions- und Telekommunikationstechniken (ITK) besonders forsch voran. Der Münchner Kreis – ein gemeinnütziger Zusammenschluss von Informations- und Kommunikations- experten hat zusammen mit drei Partnern ei- Du sollst nicht müßig sein und deinen Schreibtisch verlassen: nen Ausblick auf die Jahre bis 2030 heraus- Schon 2015 wird die Mehrheit nicht mehr am Schreibtisch sitzen, um das Internet zu nutzen gegeben. Den Rahmen für die Studie »Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien« bereitete eine Beobachtung von Gordon Zeitung Moore, dem Mitbegründer der Chipfirma In- tel. Der sagte vor gut 40 Jahren voraus, dass sich die Dichte elektronischer Schaltungen etwa alle zwölf bis 24 Monate verdoppeln werde. Der Münchner Kreis geht davon aus, dass das Internet im Jahr 2025 bereits mit 195 MBit pro Sekunde übertragen wird, fünf Jahre später bereits doppelt so schnell (heute ca. 54 MBit). Spätestens in zehn Jahren wer- den laut Studie 95 % der Erwachsenen in Deutschland das Internet regelmäßig nutzen (Mitte 2009 waren es 69). Und 2024 werde nicht mehr das Fernsehen, sondern das Inter- Und siehe: Die Texte und Bilder werden wandern: net das Unterhaltungsmedium Nummer eins Vom Jahr 2024 an, wird es für drei Viertel der Rezipienten üblich sein, ein und denselben Inhalt über in Deutschland sein. Zudem werde es vom verschiedene Trägermedien zu nutzen – zum Beispiel Zeitungsartikel auf Handys, TV-Sendungen auf Jahr 2024 an für drei Viertel der Mediennut- dem Computer oder Internet über das Fernsehen zer in Deutschland normal sein, ein und den- selben Medieninhalt über verschiedene Trä- ger zu nutzen. Außerdem: Ab dem Jahr 2015 werden in Deutschland mehr Menschen das Internet regelmäßig über mobile Endgeräte als über stationäre Computer nutzen. Woher die das wissen wollen? Für diese Pro- gnosen wurden weltweit Experten befragt – im Rahmen einer Delphi-Studie. Der Name leitet sich vom Orakel von Delphi ab. Bei der Delphi-Methode werden Experten aus ver- schiedenen Disziplinen mehrmals befragt – in jeder Fragerunde haben sie die Möglichkeit, 2009 2020 die Antworten der Experten aus den anderen Fachbereichen in ihre Einschätzungen einflie- User, vermehret euch: Spätestens in zehn Jahren werden 95 % der Erwachsenen in Deutschland das Internet ßen zu lassen. regelmäßig nutzen (momentan 69 %). 2024 wird das Internet das Unterhaltungsmedium Nummer eins in Deutschland sein (jetzt Fernsehen) Seite 14
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Der neue Autofahrer geben, der beim Versuch, Karriere, Kinder- der hohen Spritpreise schlichtweg nicht mehr erziehung und Freizeit unter einen Hut zu leisten können. Ganz generell sieht die Stu- Immer mehr Menschen sehen in einem schi- bekommen, ein multifunktionales Vehikel die ein globales Anwachsen der grünen Be- cken Smartphone ein größeres Statussymbol benötigt. In größerem Ausmaß wird es auch wegung voraus. Neue Antriebe wie Elektro- als in einem großen Auto. Nur in Brasilien, den »High- Frequency-Commuter« geben, motoren werde man in großen Zahlen von Russland, Indien und China – dem soge- der zwischen Jobs, Wohnorten und Projek- Kalkutta bis Berlin sehen. Ein weiteres Fazit nannten BRIC-Markt – taugt eine große Kar- ten hin und her fährt und deswegen auf Car- der industrienahen Beratungsfirma: Produk- re in Zukunft noch zum Angeben. Zu diesem sharing und kurzfristige Mietwagenangebo- te, welche am neuen grünen Denken vorbei- Ergebnis kommt zumindest die Unterneh- te abfährt. »Wer spart, hungert bloß für die entwickelt sind, werden kaum noch ver- mensberatung Arthur D. Little, die weltweit Erben«, sagt sich wiederum der »Silver Dri- marktbar sein. große Konzerne berät. Für die Studie »Zu- ver« – ein Rentner, der auch im Alter noch kunft der Mobilität 2020« hat sie recht un- mal Gas gibt und nach bandscheibenscho- Woher die Unternehmensberatung das alles terschiedliche Typen ausgemacht, auf die sich nenden Sportflitzern verlangt. Am beruhi- weiß? Sie hat eine ganze Menge Interviews die Autoindustrie einrichten sollte. Unter ih- gendsten für die Autokonzerne dürfte noch geführt, u. a. mit Wissenschaftlern, Soziolo- nen der »Greenovator«, der in den westlichen die Erkenntnis sein, dass die sogenannten gen, Marktforschern und Autoentwicklern. Industrienationen im Jahr 2020 bereits 27 »Car Guys« oder »Sensation-Seekers« – Ty- Zudem hat sie Umfragen ausgewertet über Prozent des gesamten Automobilmarktes pen also, für die Autofahren einfach das Kaufabsichten, gegenwärtige Konsumtrends ausmachen soll. Er möchte gern »intelligen- Schönste ist – noch nicht ganz ausgestorben und Schätzungen über die Entwicklung von te, nachhaltige, teilweise sogar asketische sein werden. Das dürften im Jahr 2020 aller- Einkommen und Populationen. Fahrzeugkonzepte«. Neben diesem grünen dings wesentlich weniger sein als die »Low- Asketen wird es noch den »Family-Cruiser« End-User«, die sich das Autofahren wegen 2020 Greenovators Silver Surfers High-Frequency- Family Low-End Car Comumters Cruisers Users Guys Ich will Spaß, ich geb kein Gas: In Zukunft fährt der ökologisch denkende Autofahrer (»Greenovator«) vorneweg und hängt den spritfressenden »Car Guy« weit ab Seite 15
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Eine Menge Holz – der Wald Noch gehört der Wald vielen: Insgesamt Der (Nutz-)Wald wächst wird immer wichtiger verteilt sich der private und öffentliche Holz hat Konjunktur – seine energetische und Waldbesitz auf 1,5 Millionen Eigentümer. stoffliche Nutzung wird weiter zunehmen Oftmals sind die Ergebnisse von Studien Doch das könnte sich bald ändern, wenn nicht eindeutig, stattdessen werden unter- etwa verschuldete Kommunen kein Geld schiedliche Szenarien durchgespielt. Ein mehr für die teure Waldpflege haben. Hin- klassisches Beispiel für solch eine Untersu- zu kämen neue Akteure wie Unternehmen chung ist die Studie »Zukünfte und Visio- aus der chemischen Industrie, der Biotech- nen Wald 2100«, für die sich im Auftrag nologie, der Energiewirtschaft oder auch des Bundesministeriums für Bildung und Investmentfonds. Wenn der Wald aber auf Forschung Wissenschaftler verschiedenster diese Weise aufgekauft wird, so warnt die Disziplinen von Forst- und Wirtschaftswis- Studie – dann bestehe die Herausforderung senschaften bis hin zur Umweltethik zusam- für den Staat darin, die sich verschärfenden mengeschlossen haben. Im Zentrum der Nutzungskonflikte durch kluge Vermitt- Untersuchung stand die wachsende Bedeu- lung zu moderieren. Damit der Wald nicht tung des Rohstoffes Holz vor allem als nur als Ressourcenspender, sondern auch Ertrag heute: 60 Millionen Kubikmeter nachwachsender Energieträger in einer als ökologischer Rückzugsraum erhalten sogenannten biobasierten Wirtschaft. In bleibt. den kommenden 100 Jahren werde der Wald laut Studie »zum Ort des Konflikts« Wie kommt’s, dass die Forscher den Wald im Spannungsfeld zwischen Umweltschutz, vor lauter Bäumen noch sehen? Im Projekt- wirtschaftlicher Nutzug und dem Bedürfnis team arbeiteten Wissenschaftler/-innen aus der Menschen nach Erholung. den Forst-, Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- Derzeit werden rund 60 Mio. Kubikmeter und Regionalwissenschaften, aus der Zu- Holz in deutschen Wäldern geschlagen, kunftsforschung und Umweltethik zusam- potenziell wären in den nächsten 20 Jahren men mit Praktikern der Holz- und durch Aufforstung und höheren Einschlag Forstwirtschaft. Das Team stützte sich auf sogar etwa 79 Mio. Kubikmeter jährlich Untersuchungen zu zukunftsrelevanten nutzbar. Der Forderung der Holzindustrie Problemfeldern wie Globalisierung, Klima- und Energiewirtschaft nach erhöhtem wandel oder demografischer Wandel und Holzeinschlag wurde bereits nachge- schaute, was davon für die Zukunft des kommen. Waldes relevant ist. Potenzial in Zukunft: 79 Millionen Kubikmeter Wem gehört der Wald? Heute ist die Waldwirtschaft durch viele Besitzer geprägt. In Zukunft könnte die Zahl derer, die Zugriff auf den Wald haben, abnehmen, weil sich große Konzerne für die Flächen Papier- Holz- Energie- Chemie- Investment- Bio- Staat Einzel- interessieren. Aufgabe des Staates wird es sein, den Bürgern wirtschaft wirtschaft wirtschaft industrie fonds Technologie personen den Wald als Stätte der Erholung zu erhalten Akteure von heute Akteure von morgen Seite 16
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Gallium ist das neue Gold – seltene Rohstoffe werden knapp Eisen, Aluminium und Kupfer – mit diesen Metallen hat man früher das große Geschäft gemacht. Doch der eigentliche Run findet heute auf ganz andere Metalle statt: Gallium, das u.a. aus dem Erz Bauxit gewonnen wird, Neodym, das vor allem in China vorkommt, Indium, das so selten wie Silber ist und in Ost- sibirien gefunden wurde, Germanium aus Kupfer- oder Zinkerz oder Scandium. Diese seltenen Rohstoffe werden dringend für die Industrien von morgen benötigt. Im Elektro- fahrzeugbau, der Lasertechnik, in Handys und Flachbildschirmen sowie für Beschich- tungen von Solarzellen – der Bedarf, den die Zukunftstechnologien an hauchdünn auftrag- baren und mit besonderen Leiteigenschaften ausgestatteten Metallen haben, wird in den nächsten Jahren rasant ansteigen. Und zwar womöglich mehr, als von den Hightechroh- stoffen verfügbar ist. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat eine Studie in Auftrag ge- geben, die untersucht hat, in welchem Um- fang die Edelmetalle im Jahr 2030 benötigt werden. Fazit: Bei manchen Rohstoffen, etwa dem für die Dünnschichtfotovoltaik benötig- ten Gallium, steigt der Bedarf auf das Sechs- fache der derzeitigen Weltproduktion. Bei Neodym, das in Elektroautos und der Laser- technik verwendet wird, immerhin noch auf das 3,8-fache. Dennoch, so die Autoren der Studie – darunter Experten vom Fraunhofer- Institut für System- und Innovationsfor- schung – gibt es ausreichend Zeit, den Roh- stoffbedarf in 20 Jahren sicherzustellen. Viele technologische Entwicklungen haben nämlich einen längeren Vorlauf als die Umsetzung neuer Bergbauprojekte oder anderer Gewin- nungsmethoden. Wie man den Bedarf in 20 Jahren errechnet? Die Zukunftsstudie war vor allem eine Rechen- aufgabe: Aus den derzeitigen Entwicklungs- zyklen neuer Technologien, dem spezifischen Rohstoffbedarf und der Verbreitung der Kon- sum- und Industriegüter, in denen die seltenen Metalle Verwendung finden, wurden Fakto- ren für Gleichungen errechnet. Das Daten- fundament dafür wurde durch Auswertung von Fachdatenbanken und zahlreichen Inter- views gelegt. Dezeitige Produktion Bedarf Da kommt mir doch das Gallium hoch: Von den u. a. für Mikrochips und Solarzellen benötigten Metallen werden manche in Zukunft knapp. Hier gilt es, frühzeitig in die Tiefe zu gehen Seite 17
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft »Das ist gelebter Buddhismus« Hat man im Gefängnis überhaupt eine Zukunft? Interview: Fabian Dietrich Wie vergeht denn die Zeit hier im Ge Denken Sie an die Zukunft? Was wer fängnis, vergeht die anders? den Sie in zehn Jahren machen? Harry: Alles dauert länger. Und doch Malte: Ich denke schon an die Zukunft, vergeht die Zeit für jemanden, der hier weil ich ja auch noch ein bisschen sitzt, zügiger als draußen. Die Jahre Hoffnung habe. Ich habe ja auch stu- purzeln relativ schnell. Wir kriegen diert. Und ich habe das Glück, dass die hier drin nicht mit, wie das Leben drau- sozialen Kontakte nicht ganz wegge- ßen weiterpulsiert. Wir leben in einem brochen sind. Ich kann wieder arbei- Stillstand und wir gewöhnen uns an ten, ich kann bei einer Freundin, die ihn. Wenn wir hier drinnen an einer eine Marktforschungsagentur hat, wie- Tür eine Dreiviertelstunde warten müs- der anfangen. sen, dann wissen wir: Das dauert so Harry: Ich habe mir das abgewöhnt. lange, wie regen uns da drüber nicht Ich lebe nur noch in der Gegenwart. auf, wo Sie wahrscheinlich schon hib- Diese buddhistische Auffassung, jeden belig werden, wenn der Aufzug nach Tag im Jetzt zu leben, das können Sie drei Minuten nicht kommt. hier tatsächlich praktizieren. Sie den- ken nicht mehr an das Gestern und die Wie haben Sie sich Ihre Zukunft vor Vergangenheit, weil das wahnsinnig gestellt, bevor Sie verurteilt wurden? wehtut. Wenn Sie hier in der Anstalt Harry: Ich gehörte zur ganz normalen spazieren gehen und Sie hatten früher Gruppe der mittelständischen Unter- mal einen Garten, und dann kriegen nehmer, mit den gleichen Bedürfnissen, Sie mit, wie die Tulpen blühen, dann mit den gleichen Wünschen wie jeder tut das weh, weil Sie an Ihre alte, andere auch. Glückliche Familie, Kin- schöne Zeit erinnert werden. Sie wol- der, Haus, Auto. Mit 55 bis 60 in den len auch nicht an die Zukunft denken, Ruhestand gehen. Darauf habe ich hin- weil Sie wissen: Das ist alles Spinnerei. gearbeitet. Wenn Sie rauskommen, wartet keiner Malte: Reich wollte ich nicht sein, nur auf Sie. Sie haben keinen Job. Sie müs- unabhängig und sorglos. Ein Leben mit sen sich um eine Wohnung kümmern. Tendenz zum Meer, Richtung Süden. Es wird wahnsinnig Probleme geben. Da wollen Sie nicht dran denken. Nach wie vielen Jahren Haft kann man sich von der Außenwelt lösen? Harry: Das ist schwer. Sie können nicht Harry* (53) ist wegen Mordes zu lebenslanger Haft (mindestens 15 Jahre) verurteilt und hat schon so einfach loslassen, was sie verloren neun Jahre abgesessen haben. Da kommt bei vielen eine in- nere Wut auf. Man kann das nicht so Malte* (50) wollte mit einem Segelboot Drogen aus der Karibik nach Spanien schmuggeln, wurde einfach wegstecken. Manche brauchen erwischt und zu zehn Jahren verurteilt, von denen vier, fünf Jahre, um sich davon geistig er noch fünf vor sich hat zu trennen. * Namen von der Redaktion geändert. Seite 18
fluter Nr. 34 — Thema: Zukunft Das hat Größe Nobelpreisträger raten dazu, die Stärke eines Landes in Zukunft mehr am Wohlergehen der Menschen, als an der wirtschaftlichen Produktivität zu messen. Zum Glück Text: Sascha Lehnartz Ziemlich genau ein Jahr nach dem Zusammen- g roßen Desastern wie etwa dem Tsunami in Süd- bruch der Investmentbank »Lehman Brothers« ostasien folgt meist eine Welle staatlicher und in- nahm der französische Staatspräsident Nicolas ternationaler Hilfen, wodurch das Wirtschafts- Sarkozy in der altehrwürdigen Pariser Sorbonne wachstum sprunghaft ansteigt. Das Wohlbefinden ein Papier in Empfang, dessen Titel wenig revolu- der betroffenen Menschen aber eher nicht. tionär klingt: »Bericht der Kommission über die Ein anderer Nachteil an den traditionellen Be- Messung der wirtschaftlichen Leistungskraft und rechnungsmethoden: Sie ignorieren die immer des sozialen Fortschritts.« Doch das 300-Seiten- wichtiger werdende Frage der Nachhaltigkeit. So Werk hat es in sich. Wenn seine Schlussfolgerun- schlägt sich etwa der Bau von Autobahnen, Kraft- gen weltweit umgesetzt werden, wird sich der Blick werken oder Staudämmen in der Statistik bloß un- auf den Zusammenhang zwischen Wirtschafts- differenziert als »Wachstum« nieder, die lang wachstum und dem tatsächlichen Wohlstand der fristigen Folgekosten durch Umweltschäden Menschen grundlegend ändern. Das »Bruttoin- tauchen kaum auf. Und jede Form von »Arbeit«, landsprodukt« (BIP), also die Gesamtheit aller in- die nicht auf dem Markt entgolten wird – Kindes- nerhalb eines Jahres hergestellten Waren und er- erziehung, Pflege von Verwandten, ehrenamtliche brachten Dienstleistungen einer Volkswirtschaft Tätigkeiten, wird durch das BIP überhaupt nicht hätte dann als maßgeblicher Indikator für das erfasst – ist aber für das Wohlergehen einer Gesell- Wohlergehen einer Gesellschaft ausgedient. schaft ungeheuer wichtig. »Die Zeit ist reif dafür, Weil Sarkozy dem »Kult« dieser Zahl entkom- dass sich unser Messsystem mehr mit dem Wohl- men will, beauftragte er drei der prominentesten ergehen der Menschen als mit wirtschaftlicher Pro- Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart, eine al- duktivität befasst« – so das Fazit von Stiglitz, Sen ternative Messmethode zu entwickeln: Die beiden und Fitoussi. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (Columbia Uni- Im Gegensatz zu traditionellen Wirtschaftswis- versity) und Amartya Sen (Harvard) sowie den senschaften hat die ökonomische Glücksforschung Chef des französischen Wirtschaftsforschungsins- immer wieder darauf hingewiesen, dass ab einem tituts »Observatoire Français des Conjonctures bestimmten ökonomischen Mindestniveau die Economiques« (OFCE) Jean-Paul Fitoussi. Der Zufriedenheit und Lebensqualität der Menschen zentrale Gedanke, den 30 Experten unter Leitung nicht mehr automatisch mit dem wirtschaftlichen der drei Starökonomen entwickelten: Künftig soll Wachstum ansteigt. Frankreichs Präsident Sarkozy der Reichtum einer Nation dadurch bestimmt wer- hat das französische nationale Statistikinstitut IN- den, dass man erheblich genauer als bisher das SEE bereits angewiesen, die Vorschläge der Stig- reale »Wohlbefinden« der Bevölkerung misst und litz-Sen-Fitoussi-Kommission auf ihre Umsetzbar- nicht allein die wirtschaftliche Leistungskraft der keit hin zu überprüfen. Dennoch wird auch die Volkswirtschaft. Anstelle des Bruttoinlandspro- INSEE weiterhin das Bruttoinlandsprodukt be- duktes (BIP) soll künftig ein aussagekräftigeres rechnen, da dies nach wie vor die Größe ist, nach »Nettoinlandsprodukt« (NIP) berechnet werden. der Wohlstand international bemessen wird. Das Problem mit dem BIP ist nämlich, dass es zwar Für eine fundamentale Änderung muss sich die Auskunft darüber geben kann, ob eine Volkswirt- neue Sicht auf das Glück einer Gesellschaft aber schaft statistisch gesund ist, über das Wohlbefin- erst einmal international durchsetzen. In Deutsch- den eines Volkes sagt es jedoch wenig aus. Ein land immerhin hat Sarkozys Vorstoß eine lebhafte klassisches Beispiel für die Blindheit der Wirt- Diskussion ausgelöst. Ein Anfang, Wachstum nicht schaftsstatistik sind Naturkatastrophen. Nach als Selbstzweck zu sehen, ist auch hier gemacht. Seite 19
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