Aargauer Heimatschutzpreis 2009 Verein IG Pro Steg beider Rheinfelden
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Aargauer Heimatschutzpreis 2009 Verein IG Pro Steg beider Rheinfelden A ARGAUER HEIM ATSCHUT Z A ARGAUER HEIM ATSCHUT ZPREIS 20 0 9 IG PRO S TEG BEIDER RHEINFELDEN IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden
IG Pro Steg beider Rheinfelden Erhalt des alten Flusskraftwerks Rheinfelden Die Jury des Aargauer Heimatschutzpreises hat als Rahmenthema für 2009 die Wasserenergie im Kanton Aargau gewählt. Die Bürgerinitiative «IG Pro Steg» setzt sich für ein Abbruchmoratorium des bedeutenden alten Wasserkraftwerks und dessen Steg ein, das eine Neubeurteilung für den Er- halt eines potentiellen Industrie-Weltkulturerbes ermöglichen würde. Der Eisensteg, der zum alten Maschinenhaus gehört, ist ein beliebter Über- gang beider Rheinfelden. Die Bewahrung des alten Kraftwerkes hat keinen direkten Einfluss auf die Inbetriebnahme des sich im Bau befindenden, neuen Kraftwerks. Auch die ökologischen Fragen könnten mit der Erhaltung der Altbauten gut gelöst werden. Das in seiner Einzigartigkeit noch allein so erhaltene alte Kraftwerk Rhein- felden produziert seit 1898 Drehstrom. Es ist weltweit der älteste, noch be- stehende Industriebau aus der Gründerzeit der Stromerzeugung. Zwei der ursprünglichen, über hundertzehn Jahre alten Turbinen (Nrn. 10 und 13) sind heute noch in Betrieb. Sie gelten als Prototypen des europäischen Elektro-Verbundnetzes. Mit dieser Auszeichnung will der Aargauer Heimatschutz auf die Arbeit der Mitglieder der «IG Pro Steg» beider Rheinfelden hinweisen, mit der diese zeigen, wie denkmalschützerische, umweltschützerische und raumplaneri- sche Belange mit den Anforderungen an ein High-Tech-Energie-Werk, das bereits im Bau ist, verbunden werden können. Nicoletta Brentano-Motta Obfrau Jury Aargauer Heimatschutzpreis 17. Oktober 2009 2 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
Technikgeschichtliche Bedeutung des alten Kraftwerks Rheinfelden Prof. Dr. Gerhard Neidhöfer Aufbruch in der Stromversorgung lichen Er wägungen für den Dreiphasen- Wechselstrom mit 50 Perioden, den «50-Hz- Das alte Wasserkraftwerk Rheinfelden ist Drehstrom», entschieden. Es war ein Ent- eine Perle aus den Anfängen der elektri- schluss, der dem Kraftwerk zu technischer schen Energieversorgung in Europa. Es ver- Berühmtheit und Ausstrahlung bis in die körpert den Beginn der grosstechnischen Gegenwart verhelfen sollte. In schrittwei- Erzeugung elektrischen Stroms aus Wasser- sen Verbesserungen und Teilerneuerun- kraft sowie dessen Übertragung an Schwer- gen wurde die elektrische Wirkleistung von punkte der Stromabnahme. Die Betriebsge- ursprünglich 12‘000 kW auf schliesslich sellschaft gab sich den Namen «Kraftüber- 25‘000 kW gesteigert. Heute noch versehen tragungswerke Rheinfelden» und drück- zwei der ursprünglichen Drehstromgenera- te damit gleich ihre Doppelfunktion aus. toren zuverlässig ihren Dienst. Die Werke gingen 1898 in Betrieb. Mit ei- Wenige Jahre nach Inbetriebsetzung nah- ner kühnen Technik machten sie es möglich, men die Kraftüber tragungswerke Rhein- dem Rhein die gewaltige Kraft von 17‘000 felden einen Verbundbetrieb mit anderen Pferdestärken zu entnehmen und in elektri- Kraftwerken diesseits und jenseits der Lan- scher Form über Leitungen an die Verbrau- desgrenze auf und entwickelten sich zur cherschaft heranzuführen. Keimzelle des europäischen Verbundnet- Drei Jahre zuvor war die allererste Gross- zes. Das ist die zweite Besonderheit, wel- Wasserkraftanlage der Welt vollendet wor- cher sich das alte Kraftwerk Rheinfelden den: In Nordamerika hatten es wagemutige rühmen darf, gilt sie doch als erste Über- Techniker geschafft, die Kraft des riesen- landzentrale der Welt mit grenzüberschrei- haften Niagara-Falls anzuzapfen. Ab 1895 tender Aushilfe. entnahmen die Wasserturbinen dem Gefälle eine Leistung von über 15‘000 Pferdekräf- ten, die in Generatoren zu Strom gewandelt Stromstreit und durch Fernleitungen zu nächstgelege- nen Städten geschickt wurden. Gleich- oder Wechselstrom? Beide Grossanlagen sind Meilensteine einer Entwicklung, die den Aufbruch zur moder- In den Anfängen der Elektrifizierung war die nen Stromversorgung bedeuten. Welcher Kernfrage, welche Stromart am besten an- Strom oder welches Stromsystem und wel- zuwenden sei, noch völlig offen. Sie sollte che Frequenz am besten anzuwenden sei, die Fachwelt im sogenannten «Stromstreit» war aber keineswegs eindeutig. Es herrsch- ab 1885 über mehr als zehn Jahre beschäf- te immer noch ein «Systemstreit», in wel- tigen. Es war nicht nur ein Wettbewerb ri- chem um das beste Stromsystem und die valisierender Erfinder, sondern ein regel- am besten passende Periodenzahl gerun- rechter «Stromkrieg» zwischen konkurrie- gen wurde. renden Unternehmungen, die mit handfes- Planer und Hersteller der elektrischen An- ten Marktinteressen heftig gegeneinander lage Rheinfelden hatten sich nach gründ- kämpften. IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 3
Prüfstein im Wettkampf sollte die «elektri- Will man einen Gleichstrom vom Erzeu- sche Kraftübertragung» werden. Die Fach- gerort aus mit der Spannung des Genera- leute waren auf der Suche nach geeigne- tors zum Verbraucher schicken, so werden ten Lösungen, um elektrischen Strom von ab gewisser Entfernung die Übertragungs- entlegenen Kraftwerken mit möglichst ho- verluste in der Leitung untragbar hoch. So hem Nutzeffekt an die Abnehmerschaft he- lag die Reichweite von ersten grosstech- ranzuführen. nischen Stromversorgungen in den 1880er- Jahren bei nur einigen hundert Metern, mit Gleichstrom reicht nicht weit gewissen Kniffen zuletzt bei 1 bis 2 Kilo- metern. Die ersten Stromversorgungen gründe - Herausragendes Beispiel ist die «Pearl ten auf Gleichstrom. Dieser fliesst, physi- Street Station», die Thomas Edison – vor- kalisch betrachtet, ständig in der gleichen nehmlich bekannt als Erfinder der Glühbir- Richtung. Er galt als beste Stromart für alle ne − im Jahr 1882 inmitten des Finanzvier- möglichen Zwecke wie Beleuchtung, regel- tels von New York errichtete [Bild 1] . Weil bare Motoren, elektrochemische Prozesse der Gleichstrom einen eng begrenzten Ak- (z. B. Elektrolyse), Speicherung in Batterien tionsradius hat, musste Edisons Kraftwerk und Akkumulatoren. Des Gleichstroms gro- möglichst nahe bei den Verbrauchern ste- sser Nachteil: Er liess sich nicht einfach auf hen. Es war eine eindrückliche Pionieran- andere Spannungen umsetzen. lage: Jeder der sechs «Jumbo»-Dynamos 1 Pearl Street Station in New York, um 1882. Das 2 Gedenktafel Pearl Street Station, 1917, aufge- erste öffentliche Kraftwerk der Welt, kohlegefeu- nommen 2008. Relief mit den «Jumbo-Dynamos» ert, von Thomas A. Edison (National Museum of von Thomas A. Edison (Photo by Robert W. Loben- American History) stein) 4 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
versorgte auf der Manhattan-Halbinsel im Doch die Verfechter des Gleichstroms ga- engsten Umkreis etwa 85 Hausanschlüsse ben ihr Feld nicht kampflos preis. Überlie- mit rund 1200 Glühbirnen. Doch schon im fert sind Aussprüche wie: «Die Verwendung Jahr 1895 wurde die Anlage stillgelegt, das von Wechselstrom anstelle von Gleich- Gebäude später abgerissen. Seit 1917 erin- strom ist vernünftig denkender Menschen nert eine Gedenktafel [Bild 2] an das erste unwürdig» (Thomas Edison) oder: «Solange Elektrizitätswerk der USA. ich da bin, gibt es nur Gleichstrom!» (Wer- Es gab Anstrengungen, mit höherer Span- ner Siemens). Ganz verbissene Gegner wur- nung (beispielsweise durch elektrisches den nicht müde, mit makabren Tier versu- Hintereinanderschalten mindestens zweier chen öffentlich auf die Gefährlichkeit hoher Gleichstrom-Generatoren) längere Strecken Wechselspannungen hinzuweisen. Sogar zu überwinden. International berühmt wur- der elektrische Stuhl zur Hinrichtung von de die Gleichstrom-Kraftübertragung von Verbrechern musste in Amerika als Argu- Kriegstetten nach Solothurn über acht Ki- ment gegen den vielversprechenden Wech- lometer im Jahr 1886, ausgeführt von der selstrom herhalten. Noch 1889 meinte Edi- Maschinenfabrik Oerlikon MFO. Es sollte son: «Wenn es nach mir ginge, würde ich noch andere Fernübertragungs-Pilotanla- die Anwendung von Wechselströmen ver- gen mit erhöhter Gleichspannung geben. So bieten …». überwand der Schweizer Pionier René Thu- Aber die Wechselstrom-Verfechter liessen ry 1889 in einer vielbeachteten Ringanlage sich nicht entmutigen. Mit Beharrlichkeit mit 18 hintereinander geschalteten Gene- ratoren eine Strecke von immerhin 60 Ki- lometern. Mit Wechselstrom kommt man viel weiter Der eigentliche Durchbruch in der Fern- übertragung sollte durch Übergang zum Wechselstrom gelingen. Dieser ist, physika- lisch gesehen, ein elektrischer Strom, des- 3 Wasserkraftwerk Lauffen am Neckar 1891 – Aus- sen Fliessrichtung und Stärke in schneller gangsort der Kraftübertragung nach Frankfurt am Folge periodisch wechseln. Genau diese Ei- Main (Deutsches Technikmuseum Berlin) genschaft war die Voraussetzung für eine Erfindung im Jahr 1885, als Fachleute der stellten sie der Öffentlichkeit die neuen Firma Ganz in Budapest den Transformator Möglichkeiten vor. Ein Grossexperiment im (zu Deutsch: Umspanner) entwickelten. Es Jahr 1891 sollte zum Triumph werden, als es war nun möglich geworden, Wechselstrom gelang, die Kraft von rund 300 Pferdestär- auf eine höhere Leitungsspannung hinauf ken aus dem Wasserkraftwerk Lauffen am zu transformieren und am Leitungsende Neckar [Bild 3] mit 15‘000 Volt Hochspan- wieder auf das Spannungsniveau der Ver- nung über eine Strecke von sagenhaften brauchsgeräte hinunter zu setzen. Weil die 175 Kilometern nach Frankfurt am Main zur Leitungsverluste erheblich mit der Übertra- Internationalen Elektrotechnischen Aus- gungsspannung zurückgehen, wurde auf ei- stellung [Bild 4] zu übertragen. Dort konn- nen Schlag die Stromversorgungs-Reich- ten Besucher aus aller Welt elektrisches weite merklich angehoben. Licht und Elektromotoren im Einsatz be- IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 5
5a Zweizylinder Kolbenmaschine. Aus zwei Hin- und Her-Bewegungen wird eine Drehbewegung. 4 Plakat zur Internationalen Elektro-Technischen 5b Zweiphasen-Kreuzspulen. Aus zwei raumfesten Ausstellung Frankfurt am Main 1891. Licht und magnetischen Wechselfeldern wird ein Drehfeld Kraft mit Strom aus Lauffen am Neckar. (Deutsches Museum München) staunen, alles mit «Strom aus Lauffen» ge- stillsteht und sich nicht dreht; es vollzieht speist! lediglich periodische Wechsel z wischen Die Gleichstrom-Anhänger blieben den- positivem und negativem Höchstwert. Der noch nicht untätig: Der Schweizer René Vergleich mit einer Einzylinder-Kolbenma- Thury konnte 1906 in seiner letzten Gleich- schine liegt nahe: Diese verrichtet eine rei- strom-Fernübertagungsanlage – zwischen ne Hin- und Her-Bewegung; in beiden äus Moutiers und Lyon in Hoch-Savoyen – mit sersten Lagen des Kolbens («Totpunkte») 16 Wasserkraftgeneratoren für je 3‘600 Volt kann eine Bewegung aus der Ruhe nicht in Reihenschaltung, zusammen also 57‘000 eintreten. Volt Gleichspannung, die beträchtliche Ent- fernung von 180 Kilometern überwinden. Mehrphasen-Wechselstrom ist besser Reiner Wechselstrom taugt nicht für Motoren Um bei der Einzylinder-Kolbenmaschine zu bleiben: Eine Dampflokomotive könnte bei Dem Wechselstrom allerdings haftete ein äusserster Kolbenlage nicht anziehen, wenn schwerer Mangel an: Wechselstrommoto- nicht ein zweiter Zylinder vorhanden und ren sind unfähig, aus dem Stillstand von dessen Kurbel gegen die des ersten Zylin- selbst auf Drehzahl hochzufahren. Eine ders um 90 Grad räumlich versetzt wäre. In Wechselstromwicklung erzeugt nämlich ein der Tat: Man kann eine gleichmässige Dreh- magnetisches Wechselfeld, das im Raume bewegung durch Zusammensetzen zweier 6 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
geradliniger Bewegungen erzeugen, wenn diese im rechten Winkel zueinander ste- hen und im zeitlichen Ablauf genau um ei- ne Viertelperiode verschoben sind [Bild 5a]. Genauso verhält es sich mit Wechselströ- men. Ordnet man zwei Spulen im Raum senkrecht zueinander an und speist diese je mit einem Wechselstrom, deren zeitliche Phase um eine Viertelperiode gegeneinan- der versetzt ist, dann entsteht im Mitten- bereich beider Spulen ein räumlich drehen- 6a Dreizylinder (Stern-)Motor. Die drei zeitversetz- ten Bewegungen arbeiten auf eine gemeinsame des Magnetfeld: das gesuchte «Drehfeld»! Kurbelwelle [Bild 5b] . Die Erkenntnis stammt vom Turi- ner Professor Galileo Ferraris im Jahr 1885; aber erst 1888 stellte er sie der Öffentlich- keit vor. Mit dem «Zweiphasen-Wechselstrom» war die Grundlage für «Mehrphasen-Wechsel- ströme» geschaffen. Es war der berühmte Erfinder Nikola Tesla, welcher der Elektro- firma Westinghouse in den USA riet, die Ge- neratoren für das Niagara-Grosskraftwerk mit zweiphasiger Wicklung auszuführen. 6b Dreiphasen-Raumspulen. Die drei raum- und zeitversetzten Wechselfelder erzeugen ein magne- Drehstrom ist der Beste tisches Drehfeld Maschinen mit mehr als einer Phase brau- Kurbel arbeiten [Bild 6a] . Die Kolbenbewe- chen logischerweise auch mehr Anschlüs- gungen sind alle gleich, jedoch zeitlich um se, für jede Phase zwei Klemmen (Ein- und je eine Drittelperiode versetzt. Im elektri- Ausgang). Ebenso benötigt man mehr Lei- schen Fall sind es drei Spulen, die um 120 tungsdrähte bei der elektrischen Kraftüber- Grad räumlich zueinander angeordnet sind tragung, bei zwei Phasen also vier Drähte. und je einen Wechselstrom mit 120 Grad Mit höherer Phasenzahl wären auch dem- Zeitverschiebung führen [ Bild 6b] . Es ent- entsprechend viele Einzel-Transformatoren steht dann ein gemeinsames Magnetfeld, erforderlich. das mit gleichbleibender Geschwindigkeit Solche und andere Begleitumstände der umläuft und folglich ein «Drehfeld» dar- Mehrphasensysteme spornten die Fach- stellt. Einer der Erfinder, nämlich Michael leute an, nach Verbesserungen zu suchen von Dolivo-Dobrowolsk y, nannte die drei und «das für die Zukunft richtige Stromsys- in den Spulen fliessenden (selbständigen) tem» zu finden. Sieger im Wettlauf sollte Ströme in ihrer Gesamtheit erstmals einen der «verkettete Dreiphasenstrom», der so- «Drehstrom». genannte «Drehstrom», werden. Es blieb nicht nur bei dieser überraschen- Wiederum ist der Vergleich mit Mehrzylin- den Kombinationswirkung der drei Einzel- der-Kolbenmaschinen hilfreich. Ordnet man ströme; das System erfuhr noch eine Ver- drei Zylinder mit 120 Grad Abstand und Nei- dichtung. Eigentlich brauchte man für die gung gegeneinander an, so können die Kol- drei Phasen sechs Aussenanschlüsse, für benstangen gemeinsam auf eine einzige eine Kraftübertragung also sechs Leitungs- IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 7
drähte. Man fand aber bald heraus, dass Wechselstromgenerator baute und diesen der Strom jeder Maschinenspule (Phase) für mit 2000 Touren pro Minute antrieb. Mit den Rückweg die anderen Spulen (Phasen) acht magnetischen Polen vollzog der Gene- benutzen kann und folglich keinen eigenen rator 2000 x 8 = 16‘000 Polwechsel in der Rückleiter benötigt. Das ist der «verkette- Minute, das entsprach 133 1/3 Perioden pro te Dreiphasen-Wechselstrom», er kommt Sekunde oder 133 1/3 Hz. Die amerikanische in der Tat mit nur drei Leitern aus! – Auch Konkurrenzfirma Thompson-Houston (spä- zum Transformieren der drei Wechselspan- ter General Electric) bevorzugte etwas we- nungen kam bald die Idee auf, die drei Pha- niger häufige Polwechsel, nämlich 15‘000 sen in einem einzigen Transformator unter- in der Minute, was 125 Perioden gab. Bei- zubringen und diesen, nach einem Patent de Frequenzen waren in der Tat recht hoch. von Dolivo-Dobrowolsk y, mit nur drei Ma- Sie boten den Vorteil leichter Abspann- gnetschenkeln zu bauen; ein Rückschluss- transformatoren, die man in Amerika an schenkel wurde überflüssig. vielen «Stromstangen für die Verteilung des Der Drehstrom hatte sich somit zu einem Lichts» aufhängte. Mehrzweck-Stromsystem ent wickelt, der mit einem Minimum an Anlagekomponen- Tiefe Frequenzen sind gut ten, Bauteilen und Material auskam. Das für drehende Elektromaschinen Kraftwerk Rheinfelden sollte sich für dieses neue, vielversprechende Stromsystem ent- Für den Bau von Generatoren, Motoren und scheiden. drehenden Umformern entpuppten sich die hohen Periodenzahlen bald als Hindernis. Um mit geringen Touren fahren zu können, Frequenzstreit vor allem bei direkter Kupplung mit Was- serturbinen oder Kolbenmaschinen, muss- Die Frequenz eines Wechselstroms ist te die Frequenz, gleichzeitig auch die Zahl die Zahl der Schwingungen, mit welcher der Pole, tief gewählt werden. Beispiele: der Strom in einer bestimmten Zeiteinheit Der Lauffener Generator vom Jahr 1891 hat- wechselt. Zu Beginn zählte man dafür die ten 150 Touren pro Minute und 32 Pole; er «Polwechsel (d. h. Halbperioden) in der Mi- erzeugte demnach einen 40-Hz-Strom (150 nute», bald aber die «Zahl der Schwingun- x 32/2 / 60 = 40). Die Niagara-Generatoren gen pro Sekunde» mit der Masseinheit «Hz» vom Jahr 1895 drehten mit 250 Touren pro (gesprochen: Hertz). Ein Beispiel: Minute; mit 12 Polen ergab dies 250 x 12/2 / 6000 Polwechsel pro Minute / (2 x 60) = 50 60 = 25 Perioden. Perioden pro Sekunde = 50 Hz In der Anfangszeit der Wechselstromtech- Zu niedrige Frequenzen nik betrieb man jede Anlage für sich al- bewirken Lichtzucken lein; die Frequenz war beliebig, sie wurde je nach Umständen oder Firmen-Vorzug ge- Bei ganz niedrigen Frequenzen wird das wählt. Licht elektrischer Bogenlampen vom menschlichen Auge als unruhig empfunden. Hohe Frequenzen geben Die Firma Ganz in Budapest setzte deshalb leichte Transformatoren für ihre Erzeugnisse eine tiefste Wechsel- zahl von 5000 pro Minute fest. Das ent- Die Geschichte der Stromfrequenzen be- spricht der Frequenz 41 2 /3 oder rund 42 Hz. gann in den USA, als 1886 die Firma Wes- In den Absatzgebieten der Ganz-Werke, so tinghouse einen ersten betriebsfähigen auch Italien, war diese Frequenz sehr ver- 8 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
breitet und während Jahrzehnten in Ge- brauch. Die zwei Frequenzstandards 60 Hz bzw. 50 Hz Bis zur Jahrhundert wende 1900 war ein Frequenz-Wirrwarr entstanden, das je nach Land und Kontinent von 16 2 /3 Hz bis 140 Hz reichte. Damit Kraftwerksgeneratoren im Verbund zusammenarbeiten konnten, war 7 Wasserkraftwerk Lauffen am Neckar 1891. Ma- aber eine einheitliche Frequenz im Netz schinenhaus mit Drehstromgenerator und Schalt- vonnöten. In den USA legte man sich 1895 tafel. 3 Phasen, 40 Perioden (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG Archiv) zunächst auf 60 Perioden für allgemeine Zwecke und 25 Hz für Kraftübertragungen wohl die neue Stromart noch nicht über La- fest; später dann auf 60 Hz allgemein. In Eu- borversuche hinausgekommen war. Die bei- ropa sollte sich die Frequenz 50 Hz einheit- den Generatoren kamen aus der Schweiz, lich für Licht, Kraft und Übertragung her- gebaut von der Maschinenfabrik Oerlikon ausbilden. Die Wahl von 50 Hz als Standard MFO. war durch das Kraftwerk Rheinfelden ent- Einer der Lauffener Generatoren [ Bild 7] scheidend vorbestimmt. Der Wert 50 Hz konnte zunächst als Primärmaschine für sollte sich in 4½ der 6 Kontinente unserer eine Kraftübertragung nach Frankfurt am Erde allmählich als Normfrequenz durch- Main zur Internationalen Elektrotechni- setzen. schen Ausstellung 1891 benutzt werden. Für das Grossexperiment hatten sich die Firmen MFO und AEG verbündet: der AEG- Kraftwerke aus der Zeit Chefelektriker Michael von Dolivo-Dobro des Systemstreits wolsk y trug sein Können im Drehstrom- gebiet bei; Charles E. L. Brown, Leiter der Kraftwerke unterschiedlichster Ausprägung elektrischen Abteilung der MFO, sorg te säumten den Weg zum besten Stromsys- für die Drehstromgeneratoren, vor allem tem und zur günstigsten Periodenzahl. Je- brachte er sein Hochspannungskonzept in der Fall war für sich ein Ausdruck techni- die Fernleitung nach Frankfurt ein. scher Überzeugung, oftmals auch Teil ge- Der Grossversuch Lauffen-Frankfurt wie zielter Firmenstrategien. Einige Beispiele auch die elektrische Erschliessung Heil- mögen den Entwicklungsgang veranschau- bronns sollten Gewinner und Verlierer ha- lichen, der nicht einer gewissen Dramatik ben. Heilbronn kann sich rühmen, welt- entbehrte. weit die erste Stadt mit Drehstromversor- gung zu sein; mit der Periodenzahl 40 Hz je- 1892 Elektricitätswerk Lauffen a/N − doch gerieten die Stadtwerke immer mehr Heilbronn ins Abseits. – Aus dem Übertragungsexperi- ment zogen beide Chefelektriker jeweils die Das Wasserkraftwerk in Lauffen am Neckar eigenen Schlussfolgerungen. Brown beton- war für das örtliche Portland-Cement-Werk te in Oerlikon die Wichtigkeit hochgespann- und für die Stromversorgung der Stadt Heil- ter Wechselströme für die Fernübertra- bronn bestimmt. Die Planer hatten sich mit gung und spielte die Bedeutung des Dreh- Wagemut für Drehstrom entschieden, ob- stroms herunter. Dolivo-Dobrowolsk y hin- IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 9
gegen vertrat aus Berlin stolz den Sinn «der 1892 Limmatkraftwerk drei Drähte, die der Drehstrom braucht» Baden-Kappelerhof und gab dem «Einphasen-Wechselstrom für städtische und Überland-Verteilung» keine Die junge BBC erhielt ihren allerersten Auf- Chancen. trag für das Limmatkraftwerk im aargaui- Man bedenke: Brown hatte schon Ende schen Baden. Man hatte sich für Zweipha- 1891 die MFO verlassen und die eigene Fir- sen-Wechselstrom entschieden; die Gene- ma Brown, Boveri & Cie. BBC im aargaui- ratoren bestanden aus zwei zusammenge- schen Baden gegründet; so musste er be- bauten, um 90 elektrische Winkelgrade me- strebt sein, sich gegenüber den zwei Kon- chanisch verset z ten Einphasen-Maschi- kurrenten MFO und AEG technisch abzu- nen [Bild 9] . Charles Brown, von der MFO grenzen. her mit dem Bau von Drehstromgenerato- ren eigentlich vertraut, war durch Patent- 1892 Wasserkraftzentrale rücksichten gezwungen, vorerst auf Zwei- Hochfelden bei Zürich phasenstrom auszuweichen. Die Stromfre- quenz betrug, wie bei Lauffen, 40 Hz. Zur eigenen Stromversorgung errichtete die MFO im Jahr 1892 eine Hydrozentrale 1894 Elektrizitätswerk Frankfurt in Hochfelden bei Bülach und übertrug die Kraft als hochgespannten Drehstrom über Im Vorfeld dieses wichtigen Projektes sollte 23 Kilometer nach Oerlikon. Die Genera- sich der Streit um das beste Stromsystem toren waren vom Typ Lauffen, jedoch mit erneut in voller Schärfe entwickeln. Sogar senkrechter Welle [Bild 8] . Mit 187,5 Touren die Gleichstrompartei war wieder angetre- pro Minute drehten sie 25% schneller als ten. Sie wiederholte die bekannten Einwän- Lauffen und erzeugten daher einen 50-Hz- de gegen den Wechselstrom, wie: Unmög- Strom. Die MFO hatte sich also schon 1892 lichkeit der unmittelbaren Akkumulierung, für 50 Perioden im eigenen Werksnetz ent- Gefahr der Hochspannung für den Men- schieden! schen, betriebsgefährliche Erhitzung der Transformatoren bei Dauerbetrieb, schäd- 8 Wasserkraftzentrale Hochfelden an der Glatt 9 Limmatkraftwerk Kappelerhof 1892. Zwei Wech- 1892. Maschinenhaus mit Drehstrom-Generatoren selstrom-Generatoren auf derselben Welle, ange- und -Transformatoren. 3 Phasen, 50 Perioden trieben über ein Kegelrad. 2 Phasen, 40 Perioden. (Historisches Archiv ABB Schweiz) (Historisches Archiv ABB Schweiz) 10 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
liche Einwirkung auf Telegrafen- und Tele- stroms sollte sich bald rächen: Der Strom fonleitungen … usw. Es wurde sogar be- reichte immer weniger für den Eigenbedarf mängelt, der Wechselstrom verursache ein von Frankfurt; Zulieferleistung von auss en brummendes Geräusch, «das die Anwen- – mittlerweile nur als Drehstrom 50 Hz er- dung desselben in Läden, Magazinen und hältlich – musste über Umformer einge- dergleichen sehr erschwere». speist werden. Der komplizierte Betrieb be- Am Ende einer langen Auseinanderset- scherte der Stadt viel Kummer und Kosten. zung legte sich die Sachverständigen-Kom- mission − trotz des triumphalen Erfolgs 1895 Niagarafälle der Drehstrom-Kraftübertragung Lauffen− Frankfurt 1891 − auf Einphasen-Wechsel- Das allererste Grosswasserkraftwerk der strom für das Elektrizitätswerk fest! Liest Welt («first super station in the world») man zwischen den Zeilen der Befürworter, nahm gleich auch eine Sonderstellung hin- so tritt eine klare Absicht zutage: Einpha- sichtlich des Stromsystems ein. Die Firma sen-Wechselstrom konnte die urbane Le- Westinghouse hatte sich für «Tesla-Genera- benswelt mit den vielen Lichtanlagen auf toren» entschieden, welche zweiphasigen beste Weise versorgen; Drehstrom hinge- Wechselstrom erzeugten [Bild 11] . Wenigs- gen hätte hauptsächlich zu Kraftzwecken in tens bei der Kraftübertragung nützte man Industriebetrieben gedient, welche man lie- den Vorteil von Dreiphasenstrom aus, in- ber in den Vororten sah. Das war Struktur- dem der zweiphasige Generatorstrom über politik pur, mit elektrischen Mitteln! Sondertransformatoren umgewandelt und Am Mainufer entstand ein stolzes Wechsel- als Drehstrom in die Fernleitung mit nur strom-Kraftwerk mit mächtigen Einphasen- drei Drähten nach Buffalo geschickt wurde. Generatoren von der Firma BBC, angetrie- Bezüglich Periodenzahl hatte man sich aus ben durch 85-tourige Kolbendampfmaschi- konstruktiven Gründen auf den niedrigen nen [Bild 10 ] . Mit 64 Polen lieferten die Ge- Wert 25 Hz geeinigt. neratoren die eher zufällige Frequenz von Schon bei der ersten Erweiterung im Jahr 45 1 /3 Hz. − Der merk würdige Systement- 1903 wandte sich das Kraftwerk vom Zwei- scheid zugunsten des Einphasen-Wechsel- phasenstrom ab und bestellte die neuen 10 Elektricitätswerk Frankfurt am Main 1894. 11 Niagara Falls: Adam’s Power Station. Ausbau- Kraftwerkshalle mit Kolbendampfmaschinen und stand nach 1903. Im Vordergrund die drei ersten Wechselstrom-Generatoren, Direktantrieb. Maschinengruppen aus dem Jahr 1895. 1 Phase, 45 1 / 3 Perioden 2 Phasen, 25 Perioden (Historisches Archiv ABB Schweiz) (Smithsonian Institution Washington, image No 46001) IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 11
Generatoren, wie auch bei späteren Aus- bauten, ausschliesslich mit drei Phasen. Das Maschinenhaus Nr. 1 [ Bild 12] , histo- rischer Zeuge aus der Anfangszeit, wurde 1961 – trotz mehrerer Begehren zum Erhalt als Museum – vorschnell abgerissen, sein Eingangstor 1966 wiedererrichtet [Bild 13] und wenigstens mit einer Erinnerungstafel aufgewertet [Bild 14] . 12 Niagara Falls: Adam’s Power Station 1895. Powerhouse No.1. Aufgenommen 1895, abgerissen 1898 Rheinfelden 1961 (Photo by Jack Boucher) Während der 1890er-Jahre war auch in Eu- ropa der Bau leistungsfähiger Wasserkraft- werke in Schwung gekommen. So konnte 1896 das erste Grosskraftwerk der Schweiz in Ruppoldingen oberhalb Olten an der Aare in Betrieb gehen. Im selben Jahr entstand an der Reuss die Überlandzentrale Rathau- sen bei Luzern, das Kraftwerk enthielt fünf stattliche Hydrogeneratoren mit senkrech- ter Welle. Die erste Gross-Wasserkraftan- lage Europas schliesslich sollte in Rheinfel- den [Bild 15] entstehen. Die geräumige Maschinenhalle in Rhein- felden [ Bild 16a] beherbergte Gleich- und 13 Niagara Falls: Adam’s Power Station 1895. Eingangstor Maschinenhaus No. 1, nach Wieder Wechselstrom einträchtig nebeneinander. errichtung 1966 (Photo by Chuck LaChiusa) In dieser Hinsicht gab es keinen «Strom- krieg». Die Planer waren bestrebt, für zwei grundverschiedene Abnehmerbedürfnisse die jeweils beste Stromart bereitzustellen. Etwa die Hälfte der Nutzwasserkraft war für die elektrochemische Industrie gleich nebenan als Gleichstrom für die Elektroly- se-Prozesse bestimmt. Man erkennt im Bild die in langer Reihe angeordneten Genera- toren, im Vordergrund die Gleichstrom-Dy- namomaschinen mit den typischen Strom- wendern («Kollektoren»). Die andere Hälfte der Wasserkraft sollte an Abnehmer mit verschiedenster Nutzung übertragen werden: an die Nachbar-Gross- betriebe und andere Industriewerke sowie an Kommunen, Gewerbe und Private «in ei- nem Umkreis von ca. 20 km um Rheinfelden 14 Niagara Falls: Adam’s Power Station 1895. Gedenktafel an wiedere rrichtetem Eingangstor von herum» [Bild 19] . Für diese Zwecke (im We- Maschinenhaus No. 1 (Photo by Chuck LaChiusa) sentlichen Licht und Kraft) galt selbstver- 12 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
15 Kraftübertragungswerk Rheinfelden um 1900. (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG-Archiv) 16a Maschinenhaus Rheinfelden um 1900; im Vor- 16b Maschinenhaus Rheinfelden um 1900. Im Vorder- dergrund die Gleichstromgeneratoren grund die Drehstromgeneratoren. 3 Phasen, 50 Perio- (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG-Archiv) den. (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG-Archiv) ständlich der Wechselstrom als geeignetste ten sich 42 Perioden festgesetzt, andere Stromart; offen war noch die Zahl der Pha- Neuanlagen mit Wechsel- und zunehmend sen und Perioden. Drehstrom arbeiteten mit 50 Perioden. Für die Systementscheidung gab es keine Nach gründlicher Prüfung fiel der System direkt passenden Vorbilder, wohl aber Vor- entscheid für Rheinfelden eindeutig: Es gänger unterschiedlichster Ausprägung. Mit sollte Drehstrom mit 50 Perioden zur An- «Lauffen-Frankfurt» war die Überlegenh eit wendung kommen. Die Begründung der einer Fernübertragung mit hoher Wechsel- AEG in authentischem Wortlaut: spannung bewiesen, auch die Vorteile des …Nach eingehenden Er wägungen ent- Dreiphasen-Wechselstroms waren erkannt; schloss man sich zu 50 Perioden in der Se- Niagara hingegen hatte für die Generato- kunde. Für den Betrieb von Transformato- ren den Zweiphasen-Wechselstrom gewählt ren, Motoren und Glühlampen erscheint und den Drehstrom allein für die Kraftüber- diese Wechselzahl besonders geeignet… tragung übernommen. Verwirrend war die (Emil Rathenau, Generaldirektor der AEG, in Lage auch bei den Frequenzen: Niag ara hat- einem Vortrag 1896). te sich auf 25 Perioden festgelegt, Lauffen− …In ihrer Gesamtheit sind die hier darge- Frankfurt war mit 40 Perioden betrieben stellten Vorzüge des Dreiphasenstromes worden, in gewissen Regionen Europas hat- ausschlaggebend gewesen, bei der Kraft- IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 13
über tragungs-Anlage Rheinfelden Dreh- strom anzuwenden. (AEG-Druckschrift im selben Jahr). So wurde die andere Hälfte der Turbinen- gruppen mit 50 -Hz-Drehstromgenerato - ren ausgerüstet [Bild 16b] . Eine Zeichnung aus der Entwurfszeit [Bild 17] gibt in meis- terhafter Weise «Schnitt und Ansicht des Dreiphasenstrom-Generators» wieder. Die überaus elegante Grossform der Konstruk- tion [Bild 18] lässt sich in einer historischen Aufnahme aus der Nähe bewundern. Mit dem Beschluss «50-Hz-Drehstrom» fes- 17 Drehstromgenerator Rheinfelden, 1886, Schnitt tigte die AEG ihre Marktstellung ganz er- und Ansicht heblich. Hatte sie vorher schon den 50-Hz- (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG-Archiv) Drehstrom in Elektrizitätswerken nicht we- niger Städte verankert, konnte sie nun mit flussbereich am Markt systematisch aus- der Überlandzentrale Rheinfelden ihren Ein- weiten. 18 Drehstromgenerator Rheinfelden um 1900, Nahansicht (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG Archiv) 14 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
Weitere Kraftwerksbauten felden aber war der Siegeszug «des richti- gen Stromsystems» nicht mehr zu bremsen. Fast zeitgleich mit Rheinfelden wurden an- Schon 1898 hatte in Deutschland die Anzahl dere Wasserkraftwerke vollendet, die durch der Drehstromwerke diejenige der Wech- Baugrösse und Leistungsfähigkeit beein- selstromwerke überholt. In der Schweiz druckten, vielfach auch durch Eigentüm- schritt der Bau grosser Wasserkraft wer- lichkeit im Stromsystem auffielen. ke zügig voran − selbstredend mit 50-Hz- So entstand am Flusslauf der Adda, am Drehstrom, dem mittlerweile auch die BBC Südrand der Alpen, die Hydrozentrale Pa- den Vorzug gab. So wurde das Aarekraft- derno d’Adda (nach einem italienischen werk Beznau mit 10 Maschinengruppen zu Stromp ionier auch «Bertini» genannt), wel- je 1‘000 PS beliefert und 1903 in Betrieb ge- che 1898 im Erstausbau fast 7‘000 Pfer- setzt, 1905 folgte das Kraftwerk Obermatt destärken erbrachte und diese Kraft über bei Luzern mit 4 Gruppen zu je 2‘500 PS. 32 km Entfernung nach Mailand schickte. Als Stromfrequenz waren 42 Perioden in der Sekunde gewählt worden. Die Genera- Rheinfelden, die Krönung toren stammten aus Baden im Aargau, her- gestellt von der BBC Brown, Boveri & Cie. Leuchtturm der Drehstromtechnik An der Rhone hinter der Ausmündung des Genfer Sees entstand das Grosswasser- Mit der Systementscheidung «50-Hz-Dreh- kraft werk Chèvres, das nach Vollausbau strom für Rheinfelden» war «das für die Zu- im Jahr 1899 mit 15 Maschinengruppen kunft richtige Stromsystem» faktisch aus- die Gesamtkraft von 18‘000 Pferdestärken gemacht. Rheinfelden sollte, als heraus- zu erreichen trachtete. Hersteller der ers- ragendes Fallbeispiel in den Stromwirren, ten 8 Generatoren war die «Compagnie de zum Vorbild werden und den Siegeszug l’Industrie Electrique et Méchanique» (spä- der Drehstromtechnik beschleunigen. Von ter «S.A. Atéliers de Sécheron») in Genf mit Symbolwert ist die Tatsache, dass die In- dem schon erwähnten René Thury als Chef- betriebsetzung der Generatoren 1898 vom elektriker. 1898/99 kamen 7 Generatoren renommier ten Drehstrompionier Dolivo - von BBC dazu. Der Systementscheid war Dobrowolsk y aus Berlin höchstpersönlich Zweiphasenstrom und 45 Perioden pro Se- überwacht wurde. kunde. Aus diesem Grund schaffte es das Ein besonderer Abschnitt in der Lebens- Grosskraftwerk, welches die Stadt Genf mit geschichte des Drehstromvorkämpfers sei Strom zu versorgen hatte, in der Folgezeit angefügt: Fünf Jahre nach Inbetriebnahme nicht, aus dem Inselbetrieb herauszukom- des Kraftwerks Rheinfelden zog es Micha- men; es wurde 1943 stillgelegt. el von Dolivo-Dobrowolsky, Sohn einer rus- Als die Drehstrom-Begeisterung nach Lauf- sischen Adelsfamilie aus Sankt Petersburg fen-Frankfur t zunächst ein wenig ver- mit Studium der Elektrotechnik in Darm- rauscht war und sich die Vorzugsfrequenz stadt, von Berlin nach Lausanne, wo er zu- 50 Hz eher nur punktuell herausbildete, sammen mit der jungen Familie eine mehr- blieben öf fentliche Grosskraft werke mit jährige Lebensphase mit wissenschaftli- diesem Stromsystem zunächst in der Min- cher Arbeit einschaltete und die Schwei- derzahl. Überhaupt hat man den Eindruck, zer Staatsbürgerschaft erlangte. Seine Söh- dass sich nur die AEG und MFO konse- ne liessen sich in der Romandie nieder und quent weiter für den Drehstrom einsetzten. gründeten dort das Geschlecht mit verkürz- Nach Fertigstellung des Kraftwerks Rhein- tem Familiennamen «Dolivo». IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 15
Vorbild als Überlandzentrale zielten Ausbau der Versorgungsgebiete – bis ins Markgräflerland und Oberelsass − zu Ein früher Förderer der elektrischen Kraft- steigern [Bild 19] . Mit Kabeln, Überlandlei- werkstechnik hob in einem Rückblick zu tungen und Transformator-Stationen liess Anfang der 1930er Jahre die Anlage Rhein- sich der hochgespannte Drehstrom an je- felden als «erstes sogenanntes Überland- den gewünschten Ort heranführen. werk» hervor. Dieses habe zum Ziel gehabt, Auch im Maschinenhaus selbst machte sich «eine Anzahl kleinerer Städte und Gemein- der 50 -Hz-Drehstrom immer mehr breit. den, deren Einzelversorgung unrentabel ge- Von den ursprünglich 10 Maschinensätzen wesen wäre, zu einem grösseren Konsum- für Gleichstrom gab es im Jahr 2002 nur gebiete zusammenzuschliessen». noch 1 Gruppe, jedoch «ohne Verwendung». Dank dem Systementscheid «50 -Hz-Dreh- Durch Umrüstungen ist die Zahl der Dreh- strom» besassen die Kraftübertragungs- strom-Synchrongeneratoren von anfänglich werke Rheinfelden zudem beste Anfangs- 10 schrittweise auf 19 gestiegen; der letzte bedingungen für die Strategie, ihre Absatz- Gleichstromgenerator wurde 2004 von ei- gebiete immer mehr auszudehnen. Die Pla- ner Drehstrommaschine abgelöst. Zwei der ner anderer Elektrizitätswerke waren gut ursprünglichen Drehstromgeneratoren, die beraten, dasselbe Stromsystem zu wäh- Nummern 13 und 10 mit Baujahr 1897 und len und damit die Voraussetzung für ei- 1898, sind heute noch in Betrieb. Die Ge- nen Betrieb ihrer Kraftwerke im Verbund samtleistung des Kraftwerks war von an- zu schaffen. Eines der vielen Gegenbeispie- fänglich 12‘000 kW auf zuletzt 25‘000 kW le ist Heilbronn: Zwar war die Stadt ab Be- gesteigert worden. ginn mit fortschrittlichem Drehstrom «ver- wöhnt»; mit der ungewöhnlichen Perio- Urzelle des europäischen denzahl 40 blieb es der Stadt aber versagt, Verbundnetzes bei der Erschliessung umliegender Versor- gungsgebiete mitzumachen. Eines der Wunsch-Absatzgebiete war Ba- Wenn auch die ersten Betriebsjahre in sel. Wenn auch die Stadt am Rheinknie Rheinfelden nicht ohne technische Proble- aus eigener Wasserkraft Strom zu gewin- me verliefen, gelang es nach und nach dem nen suchte, kam eine Vereinbarung zustan- Unternehmen, den Stromabsatz durch ge- de: Die Kraftübertragungswerke Rheinfel- 19 Absatzgebiete der Kraftübertragungswerke 20 Kontinentaleuropäisches Verbundnetz UCTE, Rheinfelden, Situationsplan 1896 Stand 2008. Keimzelle waren die Kraftübertragungs (Deutsches Technikmuseum Berlin, AEG-Archiv) werke Rheinfelden ab 1898 (UCTE Annual Report 08) 16 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
den schlossen 1903 einen Zuliefer vertrag Einmaliges Industriedenkmal mit dem Aare-Flusskraftwerk Beznau in der Schweiz und machten es auf diese Weise Der VDE, vormals «Verband Deutscher Elek- möglich, schweizerischen Strom nach Basel trotechniker» und heute «Verband der Elek- zu liefern. Es war der Anfang einer grenz- trotechnik Elektronik Informationstechnik überschreitenden Stromwirtschaft. Beznau e.V.» ist ein national und international ak- selbst erweiterte 1908 in der Schweiz sei- kreditierter Fachverband. Er unterhält bei nen Verbund mit dem Speicherkraftwerk seinen Fachkomitees den Ausschuss «Ge- Löntsch im Kanton Glarus. schichte der Elektrotechnik», der sozusa- Im Jahr 1912 ging östlich von Basel das Dop- gen das technikhistorische Gewissen sei- pelkraftwerk Augst-Wyhlen am Rheinlauf in nes Fachbereichs bildet. Er verfolgt unter Betrieb, und 1914 folgte weiter rheinauf- Anderem geschichtsrelevante Vorgänge der wärts das Kraftwerk Laufenburg. Auch mit Gegenwart und gibt Empfehlungen dazu. diesen Stromproduzenten nahm Rheinfel- An seiner Frühjahrssitzung 2009 in Frank- den den Verbundbetrieb auf. So entwickel- furt / Main hat der Ausschuss das Maschi- te sich allmählich ein Netz kooperierender nenhaus Rheinfelden als den «welt weit Kraftwerke mit dem Hauptziel, sich gegen- noch bestehenden ältesten Sachzeugen seitig auszuhelfen und die Versorgungssi- der großtechnischen Stromerzeugung aus cherheit zu erhöhen. Wasserkraft» bezeichnet. In einem Schrei- Das anfänglich regionale Versorgungsnetz ben an beteiligte Stellen beurteilte der Aus- am Hochrhein konnte innerhalb von hun- schuss daher das alte Kraftwerk Rheinfel- dert Jahren zu einem riesigen Verbundsys- den als «einmaliges Industriedenkmal» und tem in Kontinentaleuropa anwachsen, das gab den Bestrebungen, das Maschinenhaus sich seit 1999 UCTE (Union for the Coordina- möglichst zu erhalten, nachdrückliche Un- tion of Transmission of Electricity) nennt. Es terstützung. umfasst mittlerweile 22 Länder [Bild 20] mit über 400 Millionen Verbrauchern. Die Kraft- übertragungswerke Rheinfelden dürfen be- sonders stolz darauf sein, als Keimzelle die- ses gewaltigen Verbundnetzes zu gelten! 21 Maschinenhaus Rheinfelden, Winter 2009 IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 17
Rück- und Ausblick • Oskar von Miller: Die geschichtliche Entwicklung der elektrischen Kraftübertragung auf weite Ent- fernung. Elektrotechnische Zeitschrift ETZ, Band Angesichts der herausragenden Geschichte 52 (1931), Heft 40, Seiten 1241−1245 • Emil Hunziker: Ein Lebenswerk. 43 Jahre Brown und Bedeutung des alten Kraftwerks Rhein- Boveri-Konstruktionen 1891−1934. Druckschrift felden sei allen Beteiligten am gegenwär- der AG Brown, Boveri & Cie. tigen Geschehen gewünscht, dass sie den • Wilhelm Schäfer: 75 Jahre Drehstromübertra- gung Lauffen – Frankfurt a. M. Elektrotechnische Wahrspruch Zeitschrift ETZ-A, Band 87 (1966), Heft 24, Seiten 847−853 Keine Zukunft ohne Vergangenheit • Wolfgang Bocks: Perspektiven mit Strom. Jubilä umss chrift der Kraftübertragungswerke Rheinf el mit besten Kräften unterstützen. den AG anlässlich ihres 1 00-jährigen Bestehens im Jahre 1994. Herausgeber: Kraftübert ragungs werke Rheinfelden AG, Rheinfelden/Baden. Horn- berger Druck KG, Maulburg • Pierre Jaccard, René Sauvin: Les centrales hyd ro- Literatur électriques sur le Rhône genevois. IN.KU (Bulletin der SGTI Schweizerische Gesellschaft für Tech- • Arthur Wilke: Die Elektrizität, ihre Erzeugung und nikgeschichte und Industriekultur) April 1997 ihre Anwendung in Industrie und Gewerbe. Ver- • Gerhard Neidhöfer: Early three-phase power. lag und Druck von Otto Spamer, Leipzig, 1895 Winner in the development of polyphase ac. • Emil Rathenau: Die Kraftübertragungswerke zu IEEE Power & Energy Magazine, September/Octo- Rheinfelden. Elektrotechnische Zeitschrift ETZ, ber 2007, pp. 88−100 Band 17 (1896), Heft 27, Seiten 402−409 • Gerhard Neidhöfer: Michael von Dolivo-Dob ro • Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (Hrsg.): wolsky und der Drehstrom. Anfänge der moder- Die Kraftübertragungs-Werke Rheinfelden. Tech nen Antriebstechnik und Stromversorgung. VDE- nische und wirtschaftliche Darstellung der Aus Buchreihe «Geschichte der Elektrotechnik», Band nützung der Wasserkräfte des Rheins bei Rhein- 19, 2. Auflage 2008. VDE VERLAG Berlin Offen- felden. H. S. Hermann, Berlin 1896 bach • Franz Bendl: Ein Vierteljahrhundert aus der • Gerhard Neidhöfer: Der Weg zur Normfrequenz Wirks amkeit der Allgemeinen Elektrizitäts-Ge- 50 Hz. Wie aus einem Wirrwarr von Periodenzah- sellschaft zu Berlin. Westermanns Monatsh efte. len die Standardfrequenz 50 Hz hervorging. Bul- Jahrgang 52, Band 104 (1. Teil, April bis Juni letin SEV/AES 17/2008, 29−34 1908), S. 337−353. George Westermann in Braun- • UCTE On the Move; Annual Report 2008; schweig http://www.entsoe.eu 22 Maschinenhaus Rheinfelden mit dem Eisernen Steg, dahinter die Industrie von Badisch Rheinfelden, Aufnahme März 2010 (Fotos Nr. 21 und 22: © Henri Leuzinger, Rheinfelden) 18 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
TICCIH – Das Internationale Komitee für die Bewahrung des industriellen Kulturerbes Kurt Beretta TICCIH fasst internationale Resolu- lassen, welche akut bedroht sind und tion zum Kraftwerk Rheinfelden den nächsten Weltkongress in drei Jahren nicht mehr erleben würden. Am 5. September 2009 hat der Aus- Die erste Resolution betraf das al- schuss des «The International Com- te Kraftwerk Rheinfelden. Sie richte- mittee for the Conservation of the te sich an den Baden-Württembergi- Industrial Heritage» (TICCIH) an- schen Ministerpräsidenten Günther lässlich seines Weltkongresses an der Oettinger in Stuttgart und an das Technischen Universität Bergakade- Bundesamt für Energie in Bern, mie Freiberg in Sachsen/Deutsch- ebenso wie an das Regierungspräsi- land drei Resolutionen für weltweit dium in Freiburg i.Br. und an den Re- drei industrielle Kulturdenkmäler er- gierungsrat des Kantons Aargau. TICCIH-Weltkongress in Freiberg/Sachsen, Poster-Session vom 5. September 2009. Altes Kraftwerk Rheinfelden präsentiert von Kurt Beretta, Schweiz (links), historische Kraftwerke an den Niagarafäl- len präsentiert von Ian McGillivray, ICOMOS Canada (rechts) [Foto: zVg]. IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 19
TICCIH berät ICOMOS und sen. Anlässlich des vorletzten Welt- UNESCO bezüglich des industriel- kongresses in Terni bei Rom wurde len Weltkulturerbes 2006 die Sektion «Wasserkraft und Die UNESCO hat 1972 die Welter- elektrochemische Industrie» (Hydro bekonvention verabschiedet, 1975 electricity and electrochemical In- trat diese in Kraft. Anlass dazu hat dustry) gegründet. Anlässlich des die Rettung des Abu Simbel-Tempels Kongresses von 2009 wurde in Frei- gegeben, welcher durch den Assu- berg von Kurt Beretta im Namen der an-Staudamm bedroht wurde. Das IG pro Steg und der Stadtbehörden UNESCO-Welterbekomitee wird beider Rheinfelden ein Poster prä- von der ICOMOS, dem Internatio- sentiert, welches auf die bevorste- nalen Rat für Denkmalpflege, bera- hende Zerstörung eines potentiellen ten. TICCIH, das «Internationale Ko- industriellen Weltkulturerbes hin- mitee zur Bewahrung des industriel- wies. Das Poster (siehe Foto) hat Be- len Kulturerbes», wurde 1973 in Eng- stürzung ausgelöst und die natio- land gegründet. Ihr gehören Vertre- nalen TICCIH-Vertreter der Schweiz ter der Industriearchäologie und der und Deutschlands sowie die Sekti- Industriedenkmalpflege aus der gan- on «Wasserkraft und elektrochemi- zen Welt an. TICCIH berät die ICO- sche Industrie» dazu veranlasst, ei- MOS und somit auch die UNESCO nen Entwurf für eine internationale bezüglich Kandidaturen für das in- Resolution zu verfassen. Diese wur- dustrielle Weltkulturerbe. Sowohl de am 5. September 2009 von der TICCIH als auch ICOMOS haben in Generalversammlung und vom inter- jedem Land ihre Vertreter: Reprä- nationalen Ausschuss der TICCIH ab- sentant der TICCIH Schweiz ist der gesegnet und versandt. Industriearchäologe Dr. Hans-Peter Bärtschi in Winterthur, Präsident der Inhalt der TICCIH-Resolution ICOMOS Schweiz ist der Leiter der Der Präsident Patrick Martin, Profes- Denkmalpflege im Kanton Uri, Edu- sor und Vorsteher des Departements ard Müller. für Sozialwissenschaften der Techno- logical University in Houghton, Mi- TICCIH-Sektion «Wasserkraft und chigan/USA, schreibt in seiner Funk- elektrochemische Industrie» tion als TICCIH-Präsident an Minis- Die TICCIH-Weltkongresse finden terpräsident Oettinger und die wei- alle drei Jahre statt, letztmals im teren, oben erwähnten Behörden, September 2009 in Freiberg/Sach- dass die Generalversammlung und 20 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
der internationale Ausschuss neu- ge und Archäologie. Die Mitglieder lich von der schweren Bedrohung der und der Präsident dieser ausserpar- weltweit bedeutungsvollen Wasser- lamentarischen Kommission werden kraftanlage Rheinfelden gehört hät- vom Bundesrat gewählt. Zu ihren ten. Mit Hinweis auf ihre welthisto- Aufgaben gehören unter anderem risch einzigartige Bedeutung bezüg- das Umsetzen des Gesetzes für Na- lich der Geschichte des 50-Hz-Dreh- tur- und Heimatschutz (NHG) und stroms und der grosstechnischen das Verfassen von Gutachten zu Fra- Nutzung erneuerbarer Energie wird gen der Denkmalpflege zu Handen eine Zusammenkunft in Rheinfelden des Bundes und der Kantone. vorgeschlagen, an welcher zusam- Das Bundesamt für Kultur hat 1995 men mit Experten der Ökologie und auf Anfrage des Bundesamtes für des Wasserbaus neu beurteilt wer- Energie im Rahmen des Baubewilli- den sollte, ob es Alternativen zum gungsverfahrens eine Stellungnahme geplanten Abriss gebe. Als TICCIH- zum alten Kraftwerk abgegeben. In Präsident unterstütze er dringlich ei- dieser wird der bevorstehende Abriss ne solche Zusammenkunft mit dem bedauert. Die Bedeutung des Kraft- Ziel einer Neubeurteilung. werkes wurde damals soweit unter- schätzt, dass auch kein Anlass be- TICCIH und Schweizer Gutachten stand, die Eidgenössische Kommis- zum alten Maschinenhaus von sion für Denkmalpflege mit einem Rheinfelden Gutachten zu beauftragen. Somit Die Fachleute von TICCIH sind auch konnte von der EKD auch keine Ex- in der Schweiz für das Erstellen von pertise des Schweizer TICCIH-Reprä- Fachgutachten betreffend des in- sentanten und Fachmanns für Indus- dustriellen Kulturerbes von nationa- triedenkmäler eingeholt werden. ler oder sogar internationaler Bedeu- Da bei Denkmälern von nationaler tung prädestiniert. Der Industriehis- Bedeutung ein Gutachten der EKD toriker Dr. Hans-Peter Bärtschi von üblich ist, fordert die IG pro Steg Winterthur ist als Schweizer TICCIH- ein solches erst recht für ein Denk- Repräsentant ständiger Konsulent mal von internationaler Bedeutung. der Eidgenössischen Kommission für Denn die Schweiz kann nicht einer- Denkmalpflege (EKD) in Sachen In- seits den Abriss des alten Kraftwer- dustriedenkmalpflege und Bergbau. kes fordern und gleichzeitig kundtun, Die EKD ist die beratende Fachkom- sie sei wegen der Lage des Maschi- mission des Bundes für Denkmalpfle- nenhauses auf deutschem Boden für IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 21
ein Gutachten des Denkmalschutzes Hohe Verantwortung der Schweiz nicht zuständig. Auch der Aargau- als Mitglied des UNESCO-Welt er und der Schweizer Heimatschutz erbekomitees setzen sich heute für ein Gutachten Die Schweiz trägt nach ihrer würde- der Eidgenössischen Kommission für vollen Wahl vom 26. Oktober 2009 Denkmalpflege zu Handen des Bun- ins UNESCO-Welterbekomitee eine desrates ein. besondere Verantwortung. Nur 21 Länder haben diese Ehre, aus Euro- Erhalt oder Abriss in der Hand der pa sind dies noch Estland, Frankreich, Hohen Behörden Russland und Schweden. Während Nur der gemeinsame Wille des neu- der nächsten vier Jahre will sich die en baden-württembergischen Minis- Schweiz dort für den Schutz des Kul- terpräsidenten Stefan Mappus sowie tur- und Naturerbes der Menschheit der Bundesräte Moritz Leuenberger einsetzen. Der Auftrag zur Neube- (Energie, Umwelt), Didier Burkhalter urteilung eines von ihr massgeblich (Kultur, Denkmalpflege) und Miche- mitverantworteten Erlasses zum Ab- line Calmy-Rey (Aussenpolitik) kann riss eines potentiellen industriellen den gordischen Knoten lösen und Weltkulturerbes würde ihr in dieser den Weg zu einem echten und zeit- Zeit zu grösster Ehre gereichen. gemässen gemeinsamen Gutachten TICCIH steht als Berater von ICO- der Eidgenössischen Kommission für MOS und UNESCO mit seinen Ex- Denkmalpflege sowie der entspre- perten bereit, beim fehlenden Gut- chenden Kommission des Landes Ba- achten der hohen Denkmalbehörden den-Württemberg unter Einbezug mitzuwirken. der TICCIH-Fachleute für Industrie- denkmalpflege freimachen. Die zu- nehmenden Appelle der Bevölke- rung, der Stadt- und Kantonsbehör- den, des Aargauer und des Schwei- zer Heimatschutzes sowie internatio- naler Organisationen wie TICCIH an die Entscheidungsträger lassen die Hoffnung weiterleben, dass frühere Fehlentscheide gerade noch recht- zeitig erkannt und korrigiert werden können. 22 Aargauer Heimatschutzpreis 2009
Die IG pro Steg Peter Scholer, Kurt Beretta Die IG pro Steg entstand aus der reich. Bisher war dieser klar auf den Einsicht, dass für beide Rheinfelden Erhalt des Überganges ausgerich- der Wegfall des bestehenden Kraft- tet. Doch die sehr vielen neuen und werk-Eisensteges einen echten Ver- wichtigen Erkenntnisse über das Ma- lust bedeutete. Der neue, 800 Meter schinenhaus bewogen den Vorstand, rheinaufwärts liegende Ersatz-Über- für die Generalversammlung 2009 gang beim neuen Kraftwerk ist bei eine Zweckerweiterung vorzuschla- Weitem nicht so attraktiv – sowohl gen. Der Antrag für die Änderung von der landschaftlichen als auch der des Zweckartikels 2 lautete schlicht geologischen Lage her gesehen. und einfach: «Zusätzlich unterstüt- So bildete sich nach der Gründungs- zen wir den Erhalt des Maschinen- versammlung vom 3. Mai 2007 bald hauses.» eine gut motivierte Gruppe von Leu- ten aus beiden Rheinfelden und Um- An der Generalversammlung vom gebung. Mit kreativen Aktionen wur- 27. April 2009 wurde diese Statuten de das Anliegen bekannt gemacht ergänzung deutlich angenommen. – auch die Medien berichteten sehr Dadurch war es der IG erlaubt, sich positiv über das Ziel, den Eisensteg nun auch aktiv für den Erhalt des al- oder mindestens den Übergang (al- ten Kraftwerkes einzusetzen. Nach so den Ersatz mit einem neuen Über- dieser neuen Zielausrichtung entwi- gang) zu erhalten. Nach einem Jahr ckelte sich eine enorme Kraftwerk- wurden innerhalb der IG pro Steg Erhaltwelle, dies auch deshalb, weil Stimmen laut, die auch das alte Ma- sich schon zuvor beide Städte hinter schinenhaus als «rettenswert» ein- den Erhalt des Ensembles gestellt ha- stuften. Innert kurzer Zeit kamen ten. Fakten über das alte Kraftwerk zum Vorschein, die alle verblüfften. So Bald wurde das Kraftwerk auf inter- entstand innerhalb der IG eine rege nationaler Ebene am Weltkongress Diskussion über ihren Aufgabenbe- des «Internationalen Komitees für IG Pro Steg – Kraftwerk Rheinfelden 23
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