ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR

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ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
TAGE
 ALTER MUSIK
                             IN HERNE

ZURÜCK ZUR
NATUR!
URSPRÜNGLICHES UND SEINE
IDEALISIERUNG IN DER MUSIK
VOM MITTELALTER BIS ZUR
MODERNE

NEUN KONZERTE DES WDR
11. BIS 14. NOVEMBER 2021

Eine Veranstaltung mit der
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
VERANSTALTUNGSORTE

KULTURZENTRUM HERNE
Willi-Pohlmann-Platz 1
44623 Herne

/ Navigationssystem: ggf. »Berliner Platz 11« eingeben
/ U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche«

KREUZKIRCHE
Europaplatz 4
44623 Herne

/ U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche«

KÜNSTLERZECHE UNSER FRITZ 2/3
Zur Künstlerzeche 10
44653 Herne

/ Navigationssystem: ggf. »Grimberger Feld« eingeben
/ Bus-Shuttle für Konzertbesucher vom Kulturzentrum
  und zurück

       DIESE
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ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
TAGE
ALTER MUSIK
           IN HERNE

    ZURÜCK ZUR NATUR!
   URSPRÜNGLICHES UND SEINE IDEALISIERUNG
IN DER MUSIK VOM MITTELALTER BIS ZUR MODERNE

         11. BIS 14. NOVEMBER 2021
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
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     8   GRUSSWORTE

    10   EINFÜHRUNG

         DO 11. NOVEMBER 2021

         20.00 UHR / KREUZKIRCHE
    12   HYPNOS
         Musikalische Traumreisen zwischen Mittelalter und Moderne
         LA TEMPÊTE
         SIMON-PIERRE BESTION / Leitung

         FR 12. NOVEMBER 2021

         16.00 UHR / KREUZKIRCHE
    20   SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN
         Musik der Schwestern und Brüder vom Gemeinsamen Leben
         aus niederländischen Quellen des 15. Jahrhunderts
         LE MIROIR DE MUSIQUE
         BAPTISTE ROMAIN / Fidel, Bariton, Leitung

         20.00 UHR / KULTURZENTRUM
    28   SPIEL DER ELEMENTE
         Die Genese von Natur und Kunst in der französischen Barockmusik

         DEBORAH CACHET / Sopran
         IL GARDELLINO
         KORNEEL BERNOLET / Cembalo, Leitung
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
INHALTSÜBERSICHT 5

     SA 13. NOVEMBER 2021

     16.00 UHR / KREUZKIRCHE
36   WASSERMUSIKEN
     Programmmusiken des 18. Jahrhunderts über Schönheiten
     und Schrecken des nassen Elements
     COLLEGIUM MARIANUM
     JANA SEMERÁDOVÁ / Traversflöte, Leitung

     20.00 UHR / KULTURZENTRUM
44   AUSZEIT
     JOHANN ADOLF HASSE
     Enea in Caonia (Neapel 1727)
     PAOLA VALENTINA MOLINARI / Sopran
     ANTHEA PICHANICK / Alt
     GAIA PETRONE / Mezzosopran
     GIULIA BOLCATO / Sopran
     LUCA CERVONI / Tenor
     ENEA BAROCK ORCHESTRA
     STEFANO MONTANARI / Cembalo, Leitung

     23.00 UHR / KÜNSTLERZECHE UNSER FRITZ 2/3
56   BAUERNTANZ IM SPIEGELSAAL
     Der Weg der Tanzmusik vom spanischen Dorfreigen ins französische Hofballett
     ACCADEMIA DEL PIACERE
     FAHMI ALQHAI / Viola da gamba, Leitung
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
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         SO 14. NOVEMBER 2021

         11.00 UHR / KULTURZENTRUM
    64   KLASSIK AUF DEM LANDE
         Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie und weitere pastorale
         Werke der Wiener Klassik in Kammerbesetzung
         G.A.P. ENSEMBLE

         16.00 UHR / KREUZKIRCHE
    72   DER KLANG ARKADIENS
         Vokal- und Instrumentalmusik zwischen antiken Mythen und
         europäischer Renaissancekultur.
         ALFIO ANTICO / Gesang, Rahmentrommel, szenische Aktion
         LA PIFARESCHA

         19.00 UHR / KULTURZENTRUM
    80   ELFENKÖNIGIN
         HENRY PURCELL
         The Fairy-Queen (London 1692)
         SOLISTINNEN UND SOLISTEN DES WDR RUNDFUNKCHORS
         WDR RUNDFUNKCHOR
         CHRISTIAN ROHRBACH / Einstudierung
         L’ARTE DEL MONDO
         STEFAN PARKMAN / Leitung
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KONZERTE IN ZEITEN VON CORONA 7

Liebes Publikum,

wir möchten Sie auf die folgenden Maßnahmen bei den
TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE hinweisen:

\ In den Spielstätten gilt die 3G-Regel: Zutritt nur geimpft, genesen
   oder getestet mit entsprechendem Nachweis.

\ In den Spielstätten ist das Tragen einer mindestens
   medizinischen Maske Pflicht (außer am Sitzplatz).

\ Das Kulturzentrum wird nur zu den einzelnen Konzerten geöffnet.

\D
  ie Musikinstrumenten-Messe der Stadt Herne fällt in
 diesem Jahr leider aus, ebenso das damit verbundene
 Werkstattkonzert.

\ Weitere
        Änderungen der Maßnahmen, im Programm und in der Besetzung
  der Konzerte sind aufgrund eines veränderten Infektionsgeschehens bzw.
  neuer Vorgaben im Rahmen der Corona-Schutzverordnung jederzeit möglich!

\Ü
  ber Änderungen informieren wir Sie im Internet
 auf tage-alter-musik.de

Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis!

Ihr PROJEKTTEAM der
TAGE ALTER MUSIK IN HERNE
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
BEWÄHRTE PARTNERSCHAFT
Die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE sind eine          Siziliens, aber auch um höchst kunstvolle
der längsten Kooperationen des WDR mit           Opernschöpfungen von Johann Adolf Hasse
einem städtischen Partner in Nordrhein-­         und Henry Purcell.
Westfalen. Vor 41 Jahren, 1980, wurde der
WDR Mitveranstalter dieses vier Jahre zuvor      Das ist, wie ich finde, ein spannendes und
gegründeten Festivals. In dieser langen Zeit     abwechslungsreiches Programm mit einer
haben sich die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE         ausgefeilten Dramaturgie, die sich nicht nur
zu einem weltweit angesehenen Festival           dem treuen Herner Publikum mitteilen wird,
entwickelt.                                      sondern vor allem auch unserem Radiopubli-
                                                 kum, denn wir werden das Festival auch
So etwas kann nur gelingen, wenn die Kom-        dieses Jahr wieder in vier Live-Übertragungen
munen und die Programmverantwortlichen in        und weiteren Sendungen bis zum Jahresende
den Redaktionen von WDR 3 partnerschaft-         als Programmschwerpunkt auf WDR 3 abbilden.
lich kooperieren. Gerade mit der Stadt Herne
gestaltet sich dieses Miteinander seit vielen    Eigentlich wollten wir dieses Programm schon
Jahren außerordentlich erfolgreich, wofür ich    im letzten Jahr präsentieren, was aber wegen
mich auch persönlich bei allen Beteiligten       der Corona-Pandemie nicht möglich war. Nun
herzlich bedanke!                                sind wir zuversichtlich, dass die Künstler, die
                                                 wir aus ganz Europa eingeladen haben, zu uns
Das Thema unseres Festivals lautet »Zurück       kommen können und dass wir trotz immer
zur Natur!«. Dabei geht es nicht nur um die im   noch notwendiger Einschränkungen einer
Barockzeitalter so beliebten Naturschilderun-    möglichst großen Zahl von Menschen den
gen in der Musik, sondern auch um Traum-         Konzertbesuch ermöglichen können
und Trosterfahrungen, um Mystik und Kon-
templation in verschiedenen Formen von
Kunstmusik, um raue und karge Volksgesänge

                                                 MATTHIAS KREMIN
                                                 Programmchef WDR 3 & WDR 5
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GRUSSWORTE 9

SEHR GEEHRTE GÄSTE,
ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu den      Ausnahmesängern und dem Enea Barock
TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE 2021!               Orchestra aus Italien eine deutsche
Nachdem das beliebte Festival aufgrund der     Erstaufführung erleben.
Corona-Pandemie im vergangenen Jahr
verschoben werden musste, freue ich mich       Mein Dank gilt an dieser Stelle traditionell
nach dieser Zwangspause ganz besonders,        Herrn Dr. Richard Lorber, dem künstleri-
wieder Ensembles aus ganz Europa in            schen Leiter der TAGE ALTER MUSIK IN
Herne zu Gast zu haben.                        HERNE, und seinem Team, dem es wieder
                                               gelungen ist, ein exzellentes Programm
In diesem Jahr geht es bei unserem renom-      vorzubereiten.
mierten Musikfestival um das faszinierende
Thema »Zurück zur Natur!«. Eine Auffor-        Ein herzliches Dankeschön richte ich auch
derung des französischen Philosophen           an alle Besucher:innen, an die Künstler:in-
Jean-Jacques Rousseau, mit der er seine        nen und die vielen Menschen, die mit ihrem
Zivilisationskritik zum Ausdruck bringt und    Engagement diese Veranstaltung so erfolg-
eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen      reich machen.
Naturzustand fordert.
                                               Allen Gästen vor Ort und allen Zuhörer:in-
Ein Blick auf das Programm macht deutlich,     nen im Kulturradio WDR 3 wünsche ich viel
dass dieser Wunsch auch in der Musik zu        Vergnügen bei den Veranstaltungen. Die
finden ist: Es geht um »Ursprüngliches und     neun wunderbaren Konzerte werden uns
seine Idealisierung in der Musik vom Mittel-   das Thema »Zurück zur Natur!« auf außer-
alter bis zur Moderne«; um Naturschilde-       gewöhnliche Weise in Tönen näherbringen.
rungen, Sehnsuchtsorte und Selbstfindung.
So dürfen wir uns unter anderem auf ein        Ihr
besonderes Klangprojekt über die Grenzen
von Zeit, Realität und Leben mit dem fran-
zösischen Ensemble La Tempête freuen und
begleiten den Weg der Tanzmusik vom spa-
nischen Dorfreigen ins französische Hof-       DR. FRANK DUDDA
ballet. Wir tauchen ab in berühmte Wasser-     Oberbürgermeister der Stadt Herne
musiken und dürfen mit dem kürzlich wie-
derentdeckten Werk Enea in Caonia mit
ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
10 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  ZURÜCK ZUR NATUR!
  Dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau            Opernton ungezwungen und eingängig
  wird sie zugeschrieben, die Aufforderung         abheben sollte (Enea Barock Orchestra am
  »Zurück zur Natur!« Er verband damit Ge-         13. November).
  sellschaftskritik, aber auch ein pädagogi-
  sches Programm: die Erziehung zur Recht-         Die Spiegelung der Natur in der Kunst ist
  schaffenheit müsse sich an den menschli-         vielleicht am schönsten in der mythischen
  chen Grundanlagen orientieren, nicht an          Landschaft Arkadien ausgeprägt, jenem
  gesellschaftlichen Normen und Vorschrif-         Sehnsuchtsort, den Dichter von Vergil bis
  ten. Das lässt sich auf vielfältige Weise auf    Thomas Mann und Maler von Tizian bis
  die Kunst im Allgemeinen übertragen und          Markus Lüpertz zu ihrem Gegenstand
  auf die Musik im Besonderen. Immer geht          machten – vor allem aber die Komponisten
  es dabei um eine Art Neubesinnung, um das        in Renaissance und Barock! Das wahre Ar-
  Erkunden von verborgenen Wurzeln, auch           kadien ist dagegen kein Idyll, sondern rau
  um radikale Brüche. Manchmal auch um             und karg wie die Volksgesänge Siziliens aus
  Ausbrüche aus der Zivilisation und der           dem Mund des ›cantautore‹ Alfio Antico.
  Vernunft wie in Henry Purcells Semi-Opera        Zusammen mit den Musikern von La Pifa­
  The Fairy-Queen, ein Stück, das man heut-        rescha stellt er sie am 14. November neben
  zutage wohl als Varietétheater oder Musi-        die Klänge des artifiziellen Arkadien.
  cal bezeichnen würde mit – Shake­speare sei
  Dank – opulenten Natur- und Geister­             Selbstverständlich haben in diesem Festival
  szenen, komischen Episoden und leiden-           Naturschilderungen in Tönen einen promi-
  schaftlichen Eskapaden (WDR Rundfunk-            nenten Platz: elementare Programmmusi-
  chor und l’arte del mondo am 14. November).      ken aus dem Frankreich Ludwigs XIV. von
                                                   Jean-Féry Rebel, Louis-Nicolas Clérambault
  Die Serenata Enea in Caonia erzählt, wie der     und François Couperin (mit dem Ensemble
  Held Aeneas auf seiner Flucht von Troja          Il Gardellino am 12. November) sowie ›Was-
  nach Rom auf die in den Wäldern lebende          sermusiken‹ über das tosende Meer, über
  Jägerin Ilia trifft, die sich den Konventionen   Themse und Seine, aber auch über einen
  und Fesseln einer emotionalen Beziehung          von Fröschen bevölkerten Teich (Collegium
  nicht unterwerfen will. Ihre Wildheit bildet     Marianum am 13. November). Ludwig van
  einen schönen Gegensatz zur politischen          Beethovens Pastorale sei dagegen »mehr
  Mission des späteren Rom-Gründers.               Ausdruck der Empfindung als Malerei«, hat
  Johann Adolf Hasse kleidet das in eine           der Komponist in der Partitur vermerkt. In
  galante Musiksprache, die sich vom älteren       Herne wird herauszufinden sein, wie sich
EINFÜHRUNG 11

das auch in der kammermusikalischen              Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert unter-
Bearbeitung dieser Sinfonie vermittelt,          nimmt das französische Ensemble La
die Johann Nepomuk Hummel vorgelegt              Tempête am 11. November. Unter dem Mot-
hat (G.A.P. Ensemble am 14. November).           to »Hypnos« geht es um Traum- und Trost­
                                                 erfahrungen, um Mystik und Kontemplation
»Ich würde nur an einen Gott glauben, der        in verschiedenen Formen von Kunstmusik.
zu tanzen verstünde«, lässt Friedrich
Nietzsche den Weltweisen Zarathustra             Die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE 2020
sagen. Er fordert damit eine Dualität von        mussten wegen der Corona-Pandemie
maßvoller Strenge und rauschhafter Ekstase.      verschoben werden. Nun hoffen wir, dass in
Eine Spur davon findet sich in dem Programm      diesem Jahr die Ensembles, die wir aus ganz
der Accademia del Piacere am 13. November,       Europa eingeladen haben, zu uns kommen
in dem die Musikerinnen und Musiker um           können, um unser ambitioniertes Programm
den Gambisten Fahmi Alqhai zeigen, wie           darzubieten – vor Ort und vor dem Publi-
glutvolle iberische Volkstänze ihren Weg in      kum im Kulturradio WDR 3.
die aristokratische Tanzetikette am Versailler
Hof fanden. Was Nietzsche wohl nicht
wissen wollte: In der christlichen Religion
findet sich immer wieder auch die gläubige
Sehnsucht nach ursprünglicher menschli-          DR. RICHARD LORBER
cher Erfahrung. Etwa wenn im 15. Jahrhun-        Künstlerische Leitung
dert Laienbruderschaften im Gefolge des          WDR 3
Predigers Gert Groote ihre »Devotio mo-
derna«, eine neue Form der Frömmigkeit,
auch in der volkssprachlichen Musik ausüb-
ten (Le Miroir de Musique am 12. November).

Eine die Zeiten umspannende Reise vom
13

DO 11. NOVEMBER 2021 / 20.00 UHR
KREUZKIRCHE

HYPNOS
MUSIKALISCHE TRAUMREISEN ZWISCHEN MITTELALTER UND MODERNE

JOHN TAVENER (1944 – 2013)
SONG FOR ATHENE für 4 Stimmen
im Andenken an Athene Hariades, London 1993

PIERRE DE MANCHICOURT (um 1510 – 1564)
INTROITUS aus: Requiem für 5 Stimmen
Manuskript Barcelona, Monasterio Montserrat

OLIVIER GREIF (1950 – 2000)
REQUIEM AETERNAM aus: Requiem für Doppelchor a cappella, op. 358, Paris 1999

HEINRICH ISAAC (1450 – 1517)
QUIS DABIT CAPITI MEO AQUAM
Motette für 4 Stimmen, Florenz 1492
aus: Motetti de Passione, de Cruce, de Sacramento, de Beata Virgine Et huiusmodi, Venedig 1503

LUDWIG SENFL (1486 – 1543)
KYRIE aus: Missa Paschalis für 5 Stimmen
Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek

ANONYMUS
KYRIE NATIVITATIS
Liturgischer Gesang aus dem Rom des 11. Jahrhunderts
Manuskript Rom, Santa Cecilia de Trastevere

GIACINTO SCELSI (1905 – 1988)
REQUIEM aus: Tre canti sacri für 8 Stimmen, 1958

MARCEL PÉRÈS (*1956)
GLORIA aus: Missa ex tempore, 2015

ANONYMUS
ALLELUIA. PASCHA NOSTRUM
Liturgischer Gesang aus dem Rom des 11. Jahrhunderts
Manuskript Rom, Santa Cecilia de Trastevere
14 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

   PEDRO DE ESCOBAR (um 1465 – 1554)
   SANCTUS – BENEDICTUS aus: Requiem für 4 Stimmen
   Manuskript Tarazona, Archivo Catredralico

   MARBRIANO DE ORTO (um 1460 – 1529)
  GUIMEL aus: Lamentationes Hieremiae Prophetae für 4 Stimmen, Venedig 1506

  ARVO PÄRT (*1935)
   DA PACEM DOMINE
   Motette für 4 Stimmen, 2004

  ANONYMUS
  TECUM PRINCIPIUM. DIXIT DOMINUS
   Liturgischer Gesang aus dem Mailand des 9. Jahrhunderts
   Manuskript London, British Museum

  ANTOINE DE FÉVIN (1470 – 1511)
  AGNUS DEI aus: Missa pro fidelibus defunctis für 4 Stimmen
   Manuskript Wien, Österreichische Nationalbibliothek

  LA TEMPÊTE
  ALICE KAMENEZEKY, ILEANA ORTIZ / Sopran
  CÉCILE BANQUEY, HÉLÈNE RICHAUD / Mezzosopran
   SAMUEL ZATTONI-ROUFFY, EDOUARD MONJANEL / Tenor
   EUDES PEYRE, JEAN-CHRISTOPHE BRIZARD / Bass
   LISELOTTE EMERY / Zink
   MATTEO PASTORINO / Bassklarinette
   MARIANNE PELCERF / Beleuchtung

   SIMON-PIERRE BESTION / Leitung

                                                                                           GS-
                                                                                   GESAN M
                                                                                           ZU
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                                                                                          L O
                                                                                   D OW N     E
                                                                                     W D .D
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  SENDUNG
	MI 24. NOVEMBER 2021, 20.04 UHR                                       ZUM NACHHÖREN IM
  WDR 3 KONZERT                                                         WDR 3 KONZERTPLAYER
HYPNOS / DO 11. NOVEMBER 2021 15

DES TODES SANFTER BRUDER
Der Schlaf gilt als eines der letzten großen       und schlummert wohlig ausgestreckt. Um ihn
Geheimnisse der Menschheit. Bis heute              herum schweben unzählige, schemenhafte
rätseln Wissenschaftler, Philosophen und           Träume, die fortwährend ihre Gestalt ändern.«
Künstler über seine Ursachen und Funktio-
nen. Im Alten Testament ist bereits im             Düster, ein wenig unheimlich wirkt Ovids
Schöpfungsbericht von Schlaf die Rede.             Schilderung. Der Schlaf übt eine geheimnis-
Gemeint ist nicht der gewöhnliche, sondern         volle, fast magische Anziehungskraft auf die
ein außergewöhnlicher, tiefer Schlaf, in den       menschliche Phantasie aus. Nicht nur Kinder
Gott Adam versetzt, um ihm zur Erschaffung         fürchten sich vor der Dunkelheit und dem
Evas eine Rippe zu entnehmen.                      Einschlafen; auch Erwachsene können dies
                                                   als bedrohlich empfinden. Wer schläft, gerät
In der griechischen Mythologie ist Hypnos,         in eine Verfassung, die sich von der des
der Schlaf, ein Sohn der Nachtgöttin Nyx           Wachseins in fast allem unterscheidet. Wir
und des Erebus, des Gottes der Finsternis.         sehen, hören, fühlen nichts, registrieren kei-
Sein Zwillingsbruder Thanatos gebietet über        ne Signale der Umwelt mehr, unser Bewusst-
die Toten, sein eigener Sohn Morpheus ist          sein ist ausgeschaltet: ein Zustand, der dem
Herr der Träume. Der römische Dichter Ovid         Bild gleicht, das wir uns vom Tod machen.
beschreibt in den Metamorphosen, dass der          Schon in der antiken Mythologie galt der
Gott Hypnos in einer finsteren Grotte resi-        Schlaf deshalb auch als Zwillingsbruder des
diert, versteckt an den felsigen Hängen des        Todes. Der Gott Thanatos gebietet über die
Kaukasus-Gebirges: »Phoebus, der Sonnen-           Toten, wie Hypnos Macht über die Lebenden
gott, dringt mit seinen Strahlen niemals dort      besitzt. Denn dem Schlaf kann sich niemand
hin. Düstere Wolken und dräuender Nebel ver-       entziehen.
decken den Himmel, Schatten der Dämmerung
schweben vor dem Höhleneingang. Kein Vogel         IM EWIGEN WECHSEL
singt, kein Tier ist zu hören, kein Zweig bewegt
sich im Wind. Dort herrscht ewige Stille – bis     Wie Ebbe und Flut folgen Wachsein und
auf das leise Murmeln des Flusses Lethe. Des-      Schlaf im ewigen Wechsel aufeinander; zwei
sen Wellen gleiten sanft über die Kieselsteine,    Zustände, die so konträr zueinander sind,
versetzen den Menschen in Schläfrigkeit und        dass man meinen könnte, der Mensch lebe
tilgen alle seine Erinnerungen. Vor dem            in zwei verschiedenen Welten. Im westlichen
Höhlen­eingang blühen Mohnblumen und               Wertesystem ist die Rangfolge dieser beiden
unzählige Kräuter; aus deren Säften gewinnt        Welten eindeutig: kostbar ist der Zustand
die Nacht taufrischen Schlaf, den sie überall      des Wachseins. Nur er ermöglicht Denken
auf der dunklen Erde verteilt. In der Mitte des    und Handeln. Der Schlaf hingegen birgt
unterirdischen Palastes aber steht ein großes      unbekannte Gefahren, verleitet aber auch
Bett aus Ebenholz, weich und flaumig, bezogen      zu Trägheit und Selbstsucht. Schon das Alte
mit dunklen Laken. Dort liegt der Gott selbst      Testament mahnt: »Liebe den Schlaf nicht,
16 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  dass du nicht arm werdest. Lass deine Augen        4. Jahrhundert nach Christus. Ob schamanis-
  wacker sein, so wirst du Brot genug haben«         tisches Ritual oder Mantra-Gesang, Koran-
  (Sprüche 20,13). Gut ist der Schlaf nur, wenn      Rezitation oder klösterlicher Choral: alle
  er durch harte Arbeit redlich verdient wurde.      Religionen nutzen Musik – vor allem die
  »Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß!« (Pre-      menschliche Stimme – um einen Zustand
  diger 5,11). In unserer auf Effizienz ausgerich-   der Meditation zu erreichen, den Alltag
  teten Gesellschaft wird der Schlaf oft nach        auszublenden, den Sinn des Lebens zu
  einer Kosten-Nutzen-Rechnung beurteilt:            ergründen. Wer sich der Magie von Musik
  Wie viele Stunden sind nötig? Wie viel Zeit        öffnet und dem Klang hingibt, dem kann
  verlieren wir durch zu langes Schlafen? Der        es gelingen, in einen Zustand zu kommen,
  Wecker sorgt für perfektes Zeitmanagement          der dem des Schlafes gleicht. Das Zeit­­-
  und Disziplin.                                     empfinden schwindet, Puls und Atmung
                                                     werden langsamer, die Gedanken schweifen,
  Ganz anders die alten Religionen und Philo-        man gerät in eine traumähnliche Verfassung.
  sophien des Fernen Ostens, die den Schlaf          Mit Klängen lassen sich erweiterte Bewusst-
  als den wahren Zustand des Menschen be-            seinszustände und Trance hervorrufen.
  trachten. Der chinesische Philosoph Chuang         Nicht nur in schamanistischen Heilungspro-
  Tzu schrieb 300 v. Chr.: »Im Schlaf ist die        zessen, auch in der modernen Musiktherapie
  Seele ungestört, wird eins mit dem Universum;      und Hypnosepraxis macht man sich dieses
  im Wachen hingegen ist sie abgelenkt durch         Wissen zunutze.
  die vielen Gegebenheiten der Welt.« In den
  Upanishaden, jenen altindischen philosophi-        Das Ensemble La Tempête stellt in seinen
  schen Texten, geschrieben in Sanskrit, galt        ›musikalischen Traumreisen zwischen Mittel-
  der Tiefschlaf als jener Zustand, in dem man       alter und Moderne‹ Kompositionen zwischen
  nichts begehrt und nicht träumt. Er wird           dem 9. und 21. Jahrhundert vor, die den Schlaf –
  darum mit dem eigentlichen Selbst in Zu-           und dessen enge Verwandten, den Tod und
  sammenhang gebracht: »Wenn man tief                den Traum – thematisieren. Dabei folgt die
  schläft, ruhig und heiter, und keinen Traum        Dramaturgie nicht einer rationalen Reihen-
  sieht, das ist das Selbst, das ist das Unsterb-    folge oder Chronologie.
  liche, Furchtlose, das ist Brahma.«
                                                     Das Programm ist nach rein musikalischen
  MEDTIATIVE MAGIE                                   Kriterien konzipiert. Der Ensembleleiter
                                                     Simon-Pierre Bestion will das Publikum
  Auch der Musik spricht man die Fähigkeit zu,       mitnehmen auf eine spirituelle, sinnliche
  den Menschen seiner Seele näher zu bringen,        und emotionale Erkundungsreise in die Welt
  ihm den Weg in sein Innerstes zu ebnen.            der Nacht, der Schatten und der Träume.
  »Was du mit dem Verstand nicht erfassen und        Zu allen Zeiten haben Komponisten sich
  mit Worten nicht erklären kannst, lässt sich       mit diesem Themenkreis beschäftigt. La
  mit dem Herzen singen«, so formulierte             Tempête wählte für sein Konzert Musik aus
  schon der Kirchenvater Augustinus im               drei großen Epochen aus: gregorianische
HYPNOS / DO 11. NOVEMBER 2021 17

Choralmelodien, blühende mehrstimmige          Requiem aeternam – elegisch-intime Klänge
Messgesänge der Renaissance und Vokal-         an der Grenze zwischen Traumerfahrung
musik der Gegenwart.                           und Todessehnsucht. Giacinto Scelsis Tre
                                               Canti Sacri oszillieren zwischen langen
REISE DURCH DREI EPOCHEN                       Liegetönen, subtilen Tonhöhen-Glissandi
                                               im mikrotonalen Bereich und einstimmigen
Die einstimmigen, schlichten Klostergesänge    Passagen, die schillernde Obertöne hörbar
des Mittelalters laden geradezu ein, Trance-   werden lassen – kraftvolle, zugleich mysti-
Zustände zu assoziieren: sanfte Melodie-       sche Klänge. Marcel Pérès, Leiter des Vokal­
linien ohne Höhepunkte oder Sprünge,           ensembles Organum, ließ sich in seiner
gleichbleibende Lautstärke, metrisch frei,     Missa ex tempore von Formen der Renaissance-
vorgetragen von sonoren Stimmen. Im            musik inspirieren, die er mit zeitgenössi-
monastischen Leben spielt der Gesang eine      schen Kompositionstechniken kombinierte.
tragende Rolle. Das klösterliche Stunden-      Arvo Pärts vierstimmige Motette Da pacem
gebet orientiert sich am Zyklus des Tages-     Domine entstand 2004 im Gedenken an die
laufs, dem Wechsel von Wachen und Schla-       Opfer des Terroranschlags von Madrid –
fen, Licht und Dunkelheit, Arbeit und Ruhe,    leise, eindringliche Klänge. Wie so oft bei
und deutet die Zeiterfahrung als göttliche     Pärt ist die Stille ein zentrales Moment.
Offenbarung.                                   »Stille ist Harmonie, unbeschreibliche Harmo-
                                               nie, eine Lebensquelle von ungeheurer Kraft«,
Ganz anders die Wirkung der wohltönenden       so Arvo Pärt in einem Interview 1998.
Renaissance-Polyphonie in den Messge-
sängen des 16. Jahrhunderts. Himmlische        Die ›musikalischen Traumreisen zwischen
Harmonien betören die Sinne, die weichen,      Mittelalter und Moderne‹ von La Tempête
reinen Einzelstimmen verschmelzen zu           sind ein Versuch, die poetische, mystische
einem prachtvollen Gesamtklang, der            und therapeutische Kraft der Musik zu zeigen.
Duktus der Musik ist ruhig und gemessen.       Der Schlaf, Bruder des Todes, wird nicht
So wie Hypnos, der Gott des Schlafes, mit      mehr als bedrohlich empfunden, sondern als
süßen Träumen und heilsamer Ruhe den           Wohltat – so wie in einer orphischen Hymne
Menschen von alltäglichen Sorgen befreit,      der Antike: »Hypnos, Herr über Götter und
spendet diese Musik dem Hörenden seeli-        Menschen, du herrschst über alles, dein Reich
sches Gleichgewicht und nimmt ihm die          ist unermesslich. Du zähmst die Sorgen, lässt
Angst vor dem Tod, der in vielen der Texte     ruhen nach ermüdender Arbeit, spendest dem
besungen wird.                                 Leidenden Trost. Deine wohltuend sanften
                                               Fesseln schützen die Seele und nehmen die
Spirituelle Wurzeln liegen auch den zeitge-    schrecklichen Sorgen vor dem Tod.«
nössischen Kompositionen des Konzertpro-
gramms zugrunde. Wenige Monate vor             THOMAS DAUN
seinem frühen Tod im Jahr 2000 vertonte
der Franzose Olivier Greif das lateinische
18 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

                                      LA TEMPÊTE                              SIMON-PIERRE BESTION

  LA TEMPÊTE wurde 2015 durch Simon-­                 SIMON-PIERRE BESTION studierte am
  Pierre Bestion mit dem Ziel gegründet, sich         Conservatoire à Rayonnement Régional in
  der Musik in einem ganz persönlichen, sehr          Nantes Orgel bei Michel Bourcier sowie
  lebendigen Interpretationsansatz zu nähern –        Cembalo bei Laure Morabito und Frédéric
  ein Zugang, der auch in der Darstellenden           Michel. Er erweiterte seine Kenntnisse in
  Kunst aktuell ist. Dazu bringt er Mitwirkende       Meisterkursen bei Jan Willem Jansen, Francis
  mit ganz unterschiedlichem künstlerischen           Jacob, Benjamin Alard, Martin Gester und
  Hintergrund zusammen. Das Ensemble be-              Aline Zylberajch. Sein Interesse am Kom-
  wegt sich in einem multiästhetischen Reper-         ponieren und an zeitgenössischer Musik
  toire, das sich hauptsächlich aus Alter Musik       brachte ihn zum Vokalrepertoire. Er nahm
  und Volksmusik speist, sich aber auch bis hin       Dirigierunterricht bei Valérie Fayet in Nantes
  zu Zeitgenössischem öffnet. La Tempête geht         and sang unter ihrer Leitung im Chœur de
  es um sinnliche Hörerfahrungen, um beson-           l’Orchestre National des Pays de la Loire.
  dere Momente, in denen Faktur und Esprit            Dann kam er in die Klasse von Nicole Corti
  der dargebotenen Werke den Aufführungs-             am Konservatoirum von Lyon und studierte
  ort, die Ausführenden und die Zuhörenden            unter Lehrern wie Régine Théodoresco,
  zu einer Einheit verbinden. Das Ensemble            Roland Hayrabédian, Geoffroy Jourdain,
  singt und spielt oft auswendig, experimen-          Joël Suhubiette, Dieter Kurz und Timo
  tiert mit Raumwirkungen und szenischen Ele-         Nuoranne. Seine Liebe zur Alten Musik und
  menten und arbeitet dabei auch mit anderen          zum Dirigieren führten ihn 2007 gemeinsam
  Kunstsparten zusammen. La Tempête wird              mit der Gambistin Julie Dessaint zur Grün-
  von der Caisse des Dépots und der Orange            dung des Kammermusikensembles Europa
  Foundation gefördert, weitere Unterstützer          Barocca. Hinzu kam Luce del Canto, ein zu-
  sind das Ministère de la culture et de la com-      nächst semiprofessionelles Vokalensemble.
  munication (Drac Nouvelle-Aquitaine), die           Aus diesen beiden Gruppen ging 2015 La
  Region Nouvelle-Aquitaine, das Départe-             Tempête hervor.
  ment de la Corrèze und die Stadt Brive-la-
  Gaillarde. La Tempête residiert in der Fonda-
  tion Singer-Polignac, ist Mitglied der Fédéra-
  tion des ensembles vocaux et instrumentaux
  spécialisés (Fevis) und der Vereinigung Profedim.
21

FR 12. NOVEMBER 2021 / 16.00 UHR
KREUZKIRCHE

SELBSTFINDUNG
FROMMER SEELEN
MUSIK DER SCHWESTERN UND BRÜDER VOM GEMEINSAMEN LEBEN
AUS NIEDERLÄNDISCHEN QUELLEN DES 15. JAHRHUNDERTS

WOL UP GHESELLEN YST AN DER TYET
aus: Ludolf-Wilkin-Orgelbuch (Winsum 1431)
Manuskript Berlin, Staatsbibliothek

TRUREN MOET IC NACHT ENDE DACH
aus: Brüsseler Liederbuch (Flandern oder Brabant um 1490)
Manuskript Brüssel, Koninklijke Bibliotheek

O DULCISSIME IHESU, QUAM AMABILIS
Thomas von Kempen (um 1380 – 1471) zugeschrieben
aus: Utrechter Liederbuch (vermutlich Utrecht um 1480)
Manuskript Berlin, Staatsbibliothek

FONTEYNE, MOEDER MAGHET REYNE
JUBILUS BERNARDI
aus: Utrechter Liederbuch

GAUDE VIRGO MATER CHRISTI
aus: IJsseltaler Liederbuch (Diepenveen, Zwolle oder Deventer)
Manuskript Utrecht, Universiteitsbibliotheek

DIGNE COLAT ECCLESIA
OCH, VOER DIE DOOT EN IS GHEEN BOET
aus: Brüsseler Liederbuch

KYRIE MAGNE DEUS
aus: Utrechter Liederbuch

SALVE SALVE MATER
aus: IJsseltaler Liederbuch
22 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  RUBENS ROSA
  DIC NOBIS, PER QUAM REGULAM
  Thomas von Kempen zugeschrieben
  aus: Utrechter Liederbuch

  IC DRONC SOE GAERNE DEN ZUETTEN MOST
  aus: Utrechter Liederbuch

  FUERUNT SINE QUERELA
  aus: Medinger Handbuch (Zisterzienserkloster Medingen)
  Manuskript Oxford, Bodleian Library

  DIE MEY SPRUYT UUT DEN DORREN HOUT
  IC WIL MY SELVEN TROESTEN
  aus: Utrechter Liederbuch

  LE MIROIR DE MUSIQUE
  SABINE LUTZENBERGER, TESSA ROOS / Mezzosopran
  ACHIM SCHULZ / Tenor
  MATTHEI LE LEVREUR / Bariton
  BAPTISTE ROMAIN / Fidel, Bariton
  ELIZABETH RUMSEY / Fidel
  MARC LEWON / Laute, Quinterne
  RUI STÄHELIN / Laute, Bass

  BAPTISTE ROMAIN / Leitung

                                                                       GS-
                                                               GESAN M
                                                                       ZU
                                                               TEXTE AD:
                                                                      L O
                                                               D OW N     E
                                                                 W D .D
                                                                    R  3

  SENDUNG
  DI 7. DEZEMBER 2021, 20.04 UHR                           ZUM NACHHÖREN IM
  WDR 3 KONZERT                                            WDR 3 KONZERTPLAYER
SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN / FR 12. NOVEMBER 2021 23

DER INTIME TON DER ASKESE
In den burgundischen Niederlanden kamen         LESEN MIT DER FEDER
im Laufe des 14. Jahrhunderts Laienbruder-
schaften auf, die sich einer Devotio moderna,   Die Anhänger der Devotio moderna sahen
einer neuen Frömmigkeit, verschrieben hat-      in der schriftlichen Art der Predigt ihre
ten. Nach dem Vorbild des Theologen und         wichtigste Aufgabe. Dank der Produktion
Bußpredigers Geert Groote (1340 – 1384)         von Schriften und Büchern der Brüder und
strebten diese Brüder und Schwestern vom        Schwestern vom Gemeinsamen Leben sind
Gemeinsamen Leben nach einer geistlichen        uns auch relativ viele Musikhandschriften
Vollkommenheit, die über die Bezähmung          aus dem 15. Jahrhundert erhalten. Die Hand-
der Leidenschaften zur Tugend führen sollte.    schriftenproduktion war eine der Hauptein-
Sie widmeten sich dem Studium und der           nahmequellen der Konvente und für die
Meditation, während sie Eigentum und            Windesheimer Chorherren eine der wichtig-
Wissen miteinander teilten. An Orten            sten Tätigkeiten neben Messe und Chorge-
wie Deventer, Zwolle und Utrecht, dann          bet. Ob es um Schreibarbeiten im Auftrag
auch in Köln und Kassel fügten sie sich in      Dritter ging oder um die Produktion für den
das Stadtleben ein. Sie genossen eine ge-       eigenen Bedarf: die Schreibtätigkeit stand
wisse Unabhängigkeit von der Amtskirche         in enger Verbindung mit dem spirituellen
und ahnten den Geist der Reformation und        Leben der Gemeinschaft. Immerhin erlaubte
des Humanismus voraus.                          sie eine Kombination der zum Lebensunter-
                                                halt erforderlichen Arbeit mit der erstreb-
Noch zu Lebzeiten Geert Grootes fasste          ten Spiritualität: die geistlichen Texte wur-
die Bewegung die Gründung eines Klosters        den zugleich gelesen, meditiert und abge-
ins Auge. 1386, zwei Jahre nach seinem Tod,     schrieben – ein »Lesen mit der Feder«, wie
wurde Windesheim nahe Zwolle als erster         der Religionswissenschaftler Thom Mertens
Konvent gegründet, gefolgt von Maria und        diese innige Verknüpfung manueller und
St. Agnes in Diepenveen. Im Jahr 1385           geistiger Tätigkeiten genannt hat.
schlossen sich die vier Klöster Windesheim,
Nieuwlicht, Eemstein und Marienborn zum         Die Quellen, die wir für unser Programm
Kapitel von Windesheim zusammen, in das         herangezogen haben, überliefern in erster
1414 auch Diepenveen inkorporiert wurde.        Linie geistliche Poesie und Musik (wobei der
Der dritte institutionelle Zweig der Devotio    Textanteil überwiegt), darüber hinaus aber
moderna war das Kapitel von Utrecht, zu         gelegentlich Gebete oder Beschreibungen
dem sich 1399 von Windesheimer Prioren          liturgischer Abläufe.
bzw. Brüdern vom Gemeinsamen Leben be-
treute Franziskaner-Konvente zusammen-          Das IJsseltaler Liederbuch ist auf jene Kon-
schlossen.                                      vente der Devotio moderna zurückführen,
                                                von denen die Reformbewegung ausging.
24 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  Diese Sammlung kleiner Heftchen kann mit       Latein eine Vielfalt von Dialekten des Mit-
  einem Windesheimer Frauenkloster im IJs-       telniederländischen aufweisen. Das macht
  seltal (vermutlich Diepenveen) in Verbin-      eine Lokalisierung der Niederschrift un-
  dung gebracht werden, den Fraterhäusern        möglich. Die Handschrift aus dem späten
  in Deventer und Zwolle sowie dem Kloster       15. Jahrhundert bildet insofern eine Ausnah-
  Agnietenberg in Zwolle. Sie enthält unter      me, als sie möglicherweise einem städtischen
  anderem einstimmige lateinische Lieder teil-   Milieu – etwa einer Bruderschaft – zugerech-
  weise liturgischen Ursprungs, einstimmige      net werden kann.
  und mehrstimmige Mariengesänge sowie
  Tropen, in denen feststehende liturgische      MUSIKALISCHER REICHTUM EINES
  Formeln um ausschmückende Texte und            FRAUENKONVENTS
  ihre Musikalisierungen erweitert sind; hin-
  zu kommen lateinische und mittelnieder-        Durch seine große Anzahl an mittelnieder-
  ländische Weihnachtslieder.                    ländischen Liedern und der zentralen Stel-
  Die Musik dieser Handschrift wurde zwischen    lung von Marienliedern und verschiedenen
  1400 und 1500 in drei verschiedenen Formen     Wiegenliedern verweist das Utrechter Lieder-
  aufgezeichnet: Zum einen findet sich die       buch auf einen Frauenkonvent als Entstehungs-
  deutsche Choralnotation in gotischen Neu-      ort. Die Sammlung bietet eine Vielzahl von
  men auf vier Linien, die man nach der Form     Gattungen: Neben dem liturgischem Choral
  der ihrer Zeichen auch ›Hufnagelschrift‹       und mystischen, nicht-liturgischen Respon-
  nennt. Bei den mehrstimmigen Stücken           sorien, Sequenzen und Antiphonen finden
  sind die Partien oft in der komplexen Men-     sich hier auch geistliche Lieder aus der Zeit
  suralnotation aufgezeichnet. Sie entstand      um 1400 in festen kompositorischen Formen
  im frühen 14. Jahrhundert in Frankreich und    wie Ballade und Virelai, Kontrafakturen, also
  definiert die rhythmischen Werte der ein-      Neutextierungen bekannter Melodien, aus
  zelnen Töne in Relation zueinander auf der     dem deutschen Repertoire und sogar ron-
  Basis des gewählten Metrums. Daneben fin-      dellusartige Gesänge mit wiederkehrenden
  det sich auch die einfachere Strichnotation.   Melodieabschnitten, die auf die Tradition
  Sie stellt die rhythmische Unterteilung je-    der Pariser Notre-Dame-Schule des 14. Jahr-
  des Notenwertes dar und erlaubte so auch       hunderts zurückgehen.
  weniger gebildeten Musikern das Lesen von      Einige dieser Werke werden dem Mystiker
  Mensuralmusik. Verwendet wurde sie von         Thomas von Kempen (um 1380 – 1471) zuge-
  nicht professionellen Notatoren und auch       schrieben, einem Schüler von Geert Groote.
  von Instrumentalisten.                         Seine Kompositionen beschwören den Geist
                                                 der Erhebung der Seele durch Einfachheit
  Das kleinformatige Brüsseler Liederbuch ist    und Reinheit – Werte, die er in seiner Imita-
  nicht unmittelbar mit einem bestimmten         tio Christi (›Nachfolge Christi‹) und seinen
  Konvent in der Nachfolge Geert Grootes         Soliloquiae animae (›Selbstgespräche der
  in Verbindung zu bringen. Der sorgfältige      Seele‹) vorstellt.
  Schreiber dieser Sammlung brachte gelehr-      Angesichts des kulturellen Niveaus, das
  te geistliche Strophenlieder mit einfacheren   diese Handschrift aufweist, kann man an-
  mehrstimmigen Stücken aus dem Umfeld           nehmen, dass sie in der zweiten Hälfte des
  der Devotio moderna zusammen, die neben        15. Jahrhunderts für ein an das Kapitel von
SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN / FR 12. NOVEMBER 2021 25

Windesheim angeschlossenes Chorfrauen-          Im Hinblick auf unsere Darbietung dieser
kloster in der Region von Utrecht angefer-      Musik im Konzert ist ganz klar zu sagen:
tigt wurde. Die Schreiber bemühten sich         Wir präsentieren in unserem Programm die
um eine rhythmische Verdeutlichung der          Ästhetik dieser Zeit in einer für das heutige
Neumennotation, indem sie die Neumen            Publikum akzeptablen Form, in der sich die
mit Elementen der Mensuralnotation ver-         Schönheit der Melodien vermitteln soll. Ab-
banden.                                         gesehen vom gelegentlichen Orgelspiel sind
                                                Instrumente kaum mit der Devotio moderna
REFORMPROZESSE                                  in Verbindung zu setzen. Wir spielen aber
                                                Rekonstruktionen von Instrumenten, wie sie
 Bereits ein gutes halbes Jahrhundert vor der   die Schwestern und Brüder vom Gemeinsa-
 Einführung der Reformation Martin Luthers      men Leben gekannt haben. Auch wenn wir
 hatten die Lüneburger Klöster im 15. Jahr-     heute Kenntnisse über viele andere Traditio-
 hundert die norddeutsche Klosterreform         nen des 15. Jahrhunderts besitzen: Ob diese
 durchgeführt. Diese Erneuerung war weit-       Instrumente tatsächlich in Gottesdiensten
 gehend von den niederländischen Brüdern        oder Andachten eingesetzt wurden, weiß
 und Schwestern vom Gemeinsamen Leben,          man leider nicht.
 den Orden der Augustiner-Chorherren und
-Chorfrauen sowie der Bursfelder Reform-        Da der überwiegende Teil des Repertoires
 kongregation des Benediktinerordens be-        für dieses Programm nur als einstimmige
 stimmt. Im Zuge dieses Reformprozesses         Musik überliefert ist, improvisieren wir die
 entstand in Medingen nahe Lüneburg das         möglichen instrumentalen Begleitungen
 Medinger Handbuch. Darin wurden nicht nur      nach gewissen Standards des Spätmittel-
 zusätzliche Gebete und Gesänge aufgenom-       alters. Bei manchen Stücken (z. B. »Ic wil
 men, sondern auch zahlreiche spezifische       mi selven trosten«) habe ich eine Mehr-
 Angaben zu Prozessionen, Gebräuchen und        stimmigkeit nach stilistisch naheliegenden
 Gesängen der Medinger Laienbrüder und          Vorbildern aus dem deutschen Tenorlied-
-schwestern eingefügt.                          Repertoire rekonstruiert. In anderen Fällen
 Das Ludolf-Wilkin-Orgelbuch aus Winsum         (etwa »Rubens Rosa«) folgen wir Modellen
 nahe Groningen, in dem sich das Eröffnungs-    der ›einfachen Mehrstimmigkeit‹, wie sie
 stück unseres Programms findet, hat der        in den Klöstern am Rande der höfischen
 Dominikaner und Organist Wilkin 1431 als       Musikkultur existierte.
 Andachtsbuch angelegt. Es überliefert einige
 Stücke in der deutschen Tabulaturnotation,     Die Texte der Devotio moderna spiegeln
 die für die Oberstimme mensurale Zeichen       nach unseren Maßstäben extreme Lebens-
 verwendet und für die linke Hand eine          einstellungen wider. Schlichtheit, Intimität
 Buchstabennotation.                            und Askese, das schwingt auch in dieser
                                                Musik mit. Der ganz eigene Stil ihrer Melo-
NACHKLANG EINER FREMDEN WELT                    dien, der nüchterne, manchmal rohe Cha-
                                                rakter der mehrstimmigen Stücke – das ist
In der Bewegung der Devotio moderna             und bleibt faszinierend.
gehörten Bescheidenheit, Kargheit und
Austerität zu den spirituellen Idealen.         BAPTISTE ROMAIN
26 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

                          LE MIROIR DE MUSIQUE                                 BAPTISTE ROMAIN

  Das Ensemble LE MIROIR DE MUSIQUE                Nach einer ersten musikalischen Ausbildung
  ist auf die Musik des Spätmittelalters und       in Frankreich mit den Schwerpunkten Geige
  der Renaissance spezialisiert – von der Zeit     und Komposition beschäftigte sich BAPTISTE
  der Trobadore bis zur Epoche der Humanis-        ROMAIN intensiv mit den Repertoires des
  ten im 16. Jahrhundert. Es ist aus der jünger-   Mittelalters und der Renaissance. Seiner
  en Generation von Interpreten Alter Musik        Ausbildung am Centre de Musique Médié-
  hervorgegangen und wird von Baptiste Ro-         vale in Paris bei Marco Horvat schloss sich
  main geleitet. Die Mitglieder des in Basel       ein Studium an der Schola Cantorum Basi-
  beheimateten Ensembles sind fast alle Ab-        liensis bei Randall Cook, Dominique Vellard
  solventen der Schola Cantorum Basiliensis.       und Crawford Young an, mit zusätzlichen
  Im Vordergrund der Arbeit stehen ein rei-        Lektionen bei Pierre Hamon am Conserva-
  cher Klang, die Berücksichtigung der musi-       toire National Supérieur in Lyon. Während
  kalischen Intention und die verschiedenen        seiner Basler Zeit beschäftigte sich Baptiste
  Formen instrumentaler Virtuosität. Das Bild      Romain mit verschiedenen Varianten der
  vom ›musikalischen Spiegel‹, auf das der         Fidel und des Rebec sowie intensiv mit
  Ensemblename anspielt, ist dem Traktat           Technik und Repertoire der Renaissance­
  Speculum Musicae des Jakobus von Lüttich         violine. Er sucht stets nach neuen Klängen
  entlehnt. Es reflektiert die Absicht des         und Techniken, um den hohen Anforde­
  Ensembles, ganz im Geiste und in Kenntnis        rungen der historischen Musikpraxis gerecht
  der originalen Quellen ein lebendiges Bild       zu werden. Darüber hinaus gilt sein Interesse
  der Umstände und Repertoires des Mittel-         der instrumentalen Begleitung des Gesangs
  alters und der Renaissance zu malen. 2013        und der historischen Improvisation. Er tritt
  gegründet, trat Le Miroir de Musique inzwi-      mit seinem eigenen Ensemble Le Miroir de
  schen bei einer Reihe internationaler Alte-      Musique auf, aber auch mit anderen renom-
  Musik-Festivals auf. Dem CD-Debüt The            mierten Gruppen wie dem Ensemble Gilles
  Birth of the Violin zur Violinmusik des frühen   Binchois, Per-Sonat, Ensemble Leones und
  16. Jahrhunderts sind mittlerweile fünf wei-     Doulce Mémoire. Seit 2017 ist Baptiste
  tere Veröffentlichungen gefolgt, zuletzt         Romain Professor für frühe Streichinstru-
  Gaude felix Padua mit Werken von Johannes        mente an der Mittelalterabteilung der
  de Lymburgia.                                    Schola Cantorum in Basel.
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FR 12. NOVEMBER 2021 / 20.00 UHR
KULTURZENTRUM

SPIEL DER ELEMENTE
DIE GENESE VON NATUR UND KUNST IN DER FRANZÖSISCHEN BAROCKMUSIK

JEAN-FÉRY REBEL (1666 – 1747)
LES ÉLÉMENS
SIMPHONIE NOUVELLE, PARIS 1737
für 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Hörner, 2 Fagotte, Streicher und Basso continuo
Le Chaos – La Terre: Air pour les Violons / L’Eau: Air pour les Flutes – Le Feu: Chaconne –
L’Air: Ramage – Rossignols – Air pour l’Amour – Loure – Sicilienne – Caprice

LOUIS-NICOLAS CLERAMBAULT (1676 – 1749)
LA MUSE DE L’OPÉRA, OU LES CARACTÈRES LIRIQUES
Cantate à voix seule et simphonie, Paris 1716
für Sopran, 2 Trompeten, Pauken, 2 Flöten, 2 Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo
Prelude – Récitatif – Air gay – Tempeste – Récitatif – Air – Sommeil – Prelude infernal – Récitatif – Air

Pause

FRANÇOIS COUPERIN (1668 – 1733)
CONCERT NR. 8 G-DUR »DANS LE GOÛT THÉATRAL«
aus: Les goûts réunis, ou Nouveaux Concerts à l’usage de toutes sortes d’instrumens, Paris 1724
Fassung für 2 Traversflöten, Streicher und Basso continuo von Korneel Bernolet
Ouverture – Grande Ritournéle. Gravement – Air. Noblement – Air tendre. Rondeau – Air. Léger – Loure. Pesamment –
Air. Animé, et leger – Sarabande. Grave, et tendre – Air léger – Air tendre. Lentement – Air de Baccantes. Très animé

JEAN-FÉRY REBEL
LES CARACTÈRES DE LA DANSE
Fantaisie, Paris 1715
für Flöten, 2 Oboen, Streicher und Basso continuo
Prelude – Courante – Menuet – Bourée – Chaconne – Sarabande – Gigue – Rigaudon –
Passepied – Gavotte – Sonate – Lutre – Musette – Reprise – Sonate

LOUIS-NICOLAS CLERAMBAULT
LE SOLEIL, VAINQUEUR DES NUAGES
Cantate allégorique sur le rétablissement de la santé du Roy, Paris 1721
für 2 Flöten, Streicher und Basso continuo
Simphonie – Récitatif – Air – Récitatif – Simphonie & Air – Récitatif – Air. Fort gay
30 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  DEBORAH CACHET / Sopran

  IL GARDELLINO
  LAURA ANDRIANI (Konzertmeisterin), MADOKA NAKAMARU / Violine 1
  CONOR GRICMANIS, BIRGIT GORIS / Violine 2
  MICHIYO KONDO / Viola 1
  KAAT DE COCK / Viola 2
  RONAN KERNOA / Viola da gamba
  IRA GIVOL / Violoncello
  ELISE CHRISTIAENS / Kontrabass
  KORNEEL BERNOLET / Cembalo
  RENJAN DE WINNE, JAN VAN DEN BORRE / Traversflöte
  MARCEL PONSEELE, MARTA BLAWAT / Oboe
  ISABEL FAVILA / Fagott
  JEAN-FRANÇOIS MADEUF / Trompete, Horn
  JAN HUYLEBROECK / Perkussion

  KORNEEL BERNOLET / Leitung

                                                                                      GS-
                                                                              GESAN M
                                                                                      ZU
                                                                              TEXTE AD:
                                                                                     L O
                                                                              D OW N     E
                                                                                W D .D
                                                                                   R  3

  SENDUNG
  LIVE                                                             ZUM NACHHÖREN IM
  WDR 3 KONZERT                                                    WDR 3 KONZERTPLAYER
SPIEL DER ELEMENTE / FR 12. NOVEMBER 2021 31

EXTRAVAGANTE
TONGEMÄLDE
Die französischen Komponisten des 17. und        Um das ›Neue‹ dieser Suite über die vier
18. Jahrhunderts hatten ein Faible dafür, die    Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu
Welt, die sie umgab, in ihrer Musik abzubil-     vermitteln, liefert er im Vorwort der Druck-
den. Möbelstücke, Windräder, Tiere, Men-         ausgabe eine kleine Höranleitung mit.
schen und alle möglichen Naturphänomene
sind in ihren Werken allgegenwärtig. Auf der     CHAOTISCHER BEGINN
Opernbühne, in Kammerkantaten und selbst
im Instrumentalen inszenierten sie ländliche     Die Einleitung des Werks war sozusagen
Idyllen, wilde Sturmszenen und furiose           naturgegeben: Es war das Chaos selbst,
Höllenfahrten. Das Publikum liebte die           die Konfusion, die zwischen den Elementen
dramatische Unterhaltung. Den Kompo-             vor dem Augenblick herrschte, in dem sie
nisten boten solche Tonmalereien Gelegen-        unveränderlichen Gesetzen folgend in der
heit, extravagante Klänge und Spieltech-         Ordnung der Natur ihren vorgeschriebenen
niken zu erproben.                               Platz einnahmen. Um das Chaos darzustel-
                                                 len, greift Rebel zu einem Mittel, das in der
Dass sie dabei bisweilen die Grenzen dessen      Musik des 18. Jahrhunderts eigentlich undenk-
überschritten, was im 18. Jahrhundert musi-      bar ist: den Cluster. »Ich habe es gewagt, die
kalisch zulässig war, zeigt sich – so viel sei   Idee der Konfusion der Elemente mit der Kon-
vorab verraten – gleich im ersten Akkord, mit    fusion der Harmonie zu verbinden. Ich habe es
dem Jean-Féry Rebel heute das Programm           riskiert, alle Töne miteinander zu vermischen,
eröffnet. Rebel war ein Schüler des berühm-      oder besser gesagt, alle Töne einer Oktave in
ten Jean-Baptiste Lully, dem Meister der fran-   einem Klang zu vereinen.« Nach und nach
zösischen Opern- und Ballettmusik in der         kristallisieren sich die einzelnen Elemente
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1699        aus dem klanglichen Chaos heraus. Der Bass
wurde Rebel in die Académie royale de            stellt in gebundenen, stoßartigen Noten die
musique aufgenommen, eine eben erst von          Erde dar. Die Flöte imitiert mit fließenden
Ludwig XIV. gegründete Gesellschaft, die         Läufen das Murmeln des Wassers. Die Pic-
sich der Pflege der Musik und vor allem der      coloflöte versinnbildlicht mit langen Halte-
Oper verschrieben hatte. 1705 stieg er dort      tönen die Luft, und die Violinen illustrieren
zum Maître de musique auf und wurde im           mit brillanten, bisweilen recht zackigen
gleichen Jahr Mitglied der Vingt-quatre          Tonskalen das Flackern des Feuers. In den
Violons du Roi. Für dieses hochkarätige          folgenden Sätzen finden die Elemente in im-
Streicherensemble, dessen Leitung er 1717        mer neuen Kombinationen zusammen, so
übernahm, schrieb Rebel unter anderem 1737       dass sich nach und nach alles in eine göttli-
Les Élémens: eine »Simphonie nouvelle«, in       che Ordnung fügt. Die Nachtigall singt, man
der sich der 72-jährige Komponist er-            geht zur Jagd und genießt die Freuden der
staunliche Extravaganzen erlaubt.                Liebe.
32 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

  Rebel erzählt seine Geschichte der Schöp­­        ein, gefolgt von Diana, der Göttin der Jagd.
  fung vor allem in Tänzen, denn sie sind eine      Dazu kommen ›sanftmütige‹ Hirten, die zur
  wichtige Säule der französischen Barock­          Oboenbegleitung für einen Moment eine
  musik. Dass er mit dem Genre bestens              pastorale Idylle zaubern. Doch gleich im
  vertraut ist, hatte er schon 1715 in seiner       nächsten Satz zieht mit harschen Streicher-
  »Fantasie« Les Caractères de la Danse bewiesen.   motiven ein veritables Unwetter auf, das
  In knapp zehn Minuten präsentiert er darin        ebenso schnell einer sanften Frühlingsstim-
  die beliebtesten Tänze seiner Zeit. Aber er       mung mit dem lieblichen Vogelgezwitscher
  würzt sein klingendes Kompendium des              einer Traversflöte weicht. Fließend geht das
  französischen Stils auch mit zwei italieni-       Werk in einen Sommeil über, aber schon
  schen Sätzen, in denen er eine seiner Violin-     bald gleitet diese wiegende Schlafszene in
  sonaten zitiert. Das Werk wird nicht nur          einen Alptraum ab: An der Pforte zur Hölle
  zum Highlight diverser Pariser Bälle, son-        begegnen uns Dämonen, Schicksalsgöttin-
  dern in den 1720er-Jahren sogar in London         nen und Pluto, der Gott der Totenwelt.
  immer wieder gespielt.                            Glücklicherweise offenbart sich im tän­
                                                    zerisch-beschwingten Schluss-Air alles
  SCHLÜSSEL ZUM UNIVERSUM                           als launiges Spiel der Illusion.

  Eine zweite Säule der französischen Barock-       EIN NEUER SONNENKÖNIG
  musik, den Gesang, nahm 1716 Louis-Nicolas
  Clérambault in den Blick. »Les Caractères         Fünf Jahre nach seinem Opern-Kondensat
  liriques«, so lautet der Untertitel seiner        schrieb Clérambault für den französischen
  Kammerkantate La Muse de l’Opéra. Cléram-         Hof seine Kantate Le Soleil, vainqueur des
  bault hatte damals in Paris vor allem als         nuages. Anlass dazu bot die Genesung des
  Tastenvirtuose einen Namen. Eine abend-           damals elfjährigen Königs Ludwig XV. von
  füllende Oper hat er wohl nie geschrieben,        einer schweren Krankheit. Da der französi-
  dafür etliche Kammerkantaten für                  sche Adel in diesen Jahren einer regelrech-
  Solostimme und Instrumente, die durchaus          ten Persien-Mode verfallen war, führt auch
  als Miniaturopern durchgehen können. In           Clérambault sein Publikum ins alte Persien.
  La Muse de l’Opéra schildert eine ›moderne        Wieder übernimmt eine Solistin die Erzäh-
  Muse‹ sogar die Aufführung einer Oper,            lung. Sie beschreibt die Morgengesänge, mit
  oder besser gesagt, ihrer französischen           denen die Perser die Sonne verehren. Ein
  Spielart, der Tragédie lyrique.                   von sanften Flötenklängen begleitetes Air
                                                    preist ihren strahlenden Lauf und die Wohl-
  Zunächst betont sie, dass die Kunst das           taten, mit denen sie über die Sterblichen
  ganze Universum eröffne, ohne dass die            herrscht. Aber bald verdunkelt sich der
  Sterblichen weit reisen müssten. Nach die-        Himmel, mit schroffen Läufen skizzieren
  ser charmanten Vorüberlegung inszeniert           die Streicher ein Unwetter mit Sturmböen
  Clérambault kurz und knapp die Herzstücke         und Blitzen. Aus Angst vor den ›harten
  der Tragédie lyrique. Gleich im ersten Air        Schlägen‹ des Schicksals bringen die Perser
  wird die Personnage eines ganzen Opern-           Opfergaben. So bezwingt die Sonne schließ-
  abends aufgefahren: Kriegsgott Mars zieht         lich die Wolken, und klangvolle Fanfaren
  mit schmetternden Trompetenfanfaren               laden zum ausgelassenen Freudenfest.
SPIEL DER ELEMENTE / FR 12. NOVEMBER 2021 33

Auch wenn das Libretto es nicht explizit er-       wie die Fülle an Tanzsätzen und Airs.
wähnt, dürfte 1721 in Paris jedem klar gewe-       Couperin stellt hier auch die verschiedenen
sen sein, dass die Sonne hier für Ludwig XV.       Charaktere der Gesangsstücke ganz ohne
steht, den Urenkel und Thronfolger des             Worte vor: mal langsam, mal schnell, mal
sechs Jahre zuvor verstorbenen ›Sonnen-            erhaben, dann wieder beschwingt und –
königs‹ Ludwig XIV. Der hätte Clérambaults         typisch französisch – gerne mit markanten
Werk vielleicht nicht recht zu schätzen ge-        Rhythmen und vielen kleinen Verzierungen.
wusst. Denn mit ihrem Wechsel zwischen             Das abschließende »Air baccante« ist eine
Rezitativen und Arien war die Kammerkan-           Reminiszenz an die ausgelassenen Tanz- und
tate eigentlich eine italienische Angelegen-       Festszenen der Barockoper, in denen der
heit, wo gegen Ludwig XIV. per se eine             Weingott Bacchus und sein Gefolge ihren
Abneigung hegte. Anders als fast überall           Auftritt haben.
in Europa konnte die Kantate in Frankreich
daher erst in den ersten Jahrzehnten des           »TOUTES LES SORTES D’INSTRUMENTS«
18. Jahrhunderts Fuß fassen, als dort der
goût réuni in Mode kam, in dem italienischer       Couperin betont schon im Titel, seine
Esprit und französische Eleganz miteinander        Concerts seien »à l’usage de toutes les
verschmelzen.                                      sortes d’instruments«, also für alle mögli-
                                                   chen Instrumente gedacht. Die französi-
INSTRUMENTALES IM                                  schen Druckausgaben der Zeit lieferten
THEATRALISCHEN GESCHMACK                           oft ein auf die wesentlichen Notenzeilen
                                                   reduziertes Gerüst, bisweilen ohne genaue
Federführend war der höfische Organist             Besetzungsangaben. Das eröffnet den
und Cembalist François Couperin, der als           Interpreten damals wie heute Spielräume,
der ›große Couperin‹ weit über Paris hinaus        die von einer Ausführung auf dem Cembalo
berühmt war. 1724 veröffentlichte er unter         bis zur großen Orchesterbesetzung reichen.
dem Titel Les Goûts réünis ou Nouveaux             Schon im 18. Jahrhundert war es daher
concerts eine Sammlung mit Instrumental-           üblich, auf der Grundlage der Drucke eigene
werken und pries im Vorwort die Vorzüge            Lesarten zu erstellen und womöglich auch
der italienischen Musik. Für Versailles            Mittelstimmen zu ergänzen. Dieser Auffüh-
schrieb Couperin zwar kleinere Vokalwerke,         rungspraxis folgen Korneel Bernolet und Il
vermutlich aber nie größere Bühnenmusi-            Gardellino heute Abend in einigen Werken
ken. Dass er aber durchaus eine Ader fürs          und laden damit ein, in jene schillernde
Theatralische hatte, beweist er im achten          Vielfalt einzutauchen, die Tanz und Gesang
seiner ›neuen Konzerte‹. Es sei, so schreibt       der französischen Barockmusik bis heute
er, »dans le goût Théátral«, also im ›theatra-     zu bieten haben.
lischen Geschmack‹ gehalten.
                                                   HELGA HEYDER-SPÄTH
Tatsächlich eröffnet eine französische
(Opern-)Ouvertüre mit ihren punktierten
Rhythmen das Werk. Die folgende »Grande
Ritournèle« spielt auf die Zwischenspiele an,
die genauso zur Tragédie lyrique gehören
34 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

                              DEBORAH CACHET

  Die belgische Sopranistin DEBORAH               auftreten, mit der Sopranistin Sofie Vanden
  CACHET gewann 2015 den ersten Preis             Eynde gibt sie eine Reihe von Solokonzer-
  beim Concours International de Chant            ten mit französischen Airs de Cour. Debo-
  Baroque de Froville und war Finalistin des      rah Cachet studierte in Leuven an der Luca
  8. Antonio-Cesti-Wettbewerbs in Innsbruck.      School of Arts bei Gerda Lombaerts und
  2019 nahm sie mit Auszeichnung an Le            Dina Grossberger und am Conservatorium
  Jardin des Voix teil, dem Programm von          van Amsterdam bei Sasja Hunnego. Danach
  William Christie und Les Arts Florissants für   vervollkommnete sie ihre Gesangstechnik
  herausragende Gesangstalente. Mit einem         bei Rosemary Joshua. Ihre Diskographie
  Schwerpunkt auf der Musik des 17. und           umfasst Interpretationen französischer und
  18. Jahrhunderts ist sie heute in renommier-    italienischer Barockmusik mit Ensembles
  ten Konzertsälen Europas zu Gast. Zu ihren      und Dirigenten wie dem Collegium 1704
  Höhepunkten der aktuellen Saison gehört         und Václav Luks, Les Talens Lyriques und
  neben dem Auftritt bei den TAGEN ALTER          Christophe Rousset, Pygmalion und Raphaël
  MUSIK IN HERNE das Debüt an der Opéra           Pichon, Scherzi Musicali und Nicolas Achten,
  de Nice in Jean-Baptiste Lullys Phaéton.        Le Poème Harmonique und Vincent
  Am Theater an der Wien und an der Opéra         Dumèstre, A Nocte Temporis und Vox
  Royal de Versailles wird sie in Lullys Psyché   Luminis sowie Holland Baroque.
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