ALTER MUSIK TAGE IN HERNE - ZURÜCK ZUR NATUR! - WDR
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TAGE ALTER MUSIK IN HERNE ZURÜCK ZUR NATUR! URSPRÜNGLICHES UND SEINE IDEALISIERUNG IN DER MUSIK VOM MITTELALTER BIS ZUR MODERNE NEUN KONZERTE DES WDR 11. BIS 14. NOVEMBER 2021 Eine Veranstaltung mit der
VERANSTALTUNGSORTE KULTURZENTRUM HERNE Willi-Pohlmann-Platz 1 44623 Herne / Navigationssystem: ggf. »Berliner Platz 11« eingeben / U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche« KREUZKIRCHE Europaplatz 4 44623 Herne / U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche« KÜNSTLERZECHE UNSER FRITZ 2/3 Zur Künstlerzeche 10 44653 Herne / Navigationssystem: ggf. »Grimberger Feld« eingeben / Bus-Shuttle für Konzertbesucher vom Kulturzentrum und zurück DIESE HÜRE BR SC O Z UM AU C H N L OA D : D OW E W D R 3.D
TAGE ALTER MUSIK IN HERNE ZURÜCK ZUR NATUR! URSPRÜNGLICHES UND SEINE IDEALISIERUNG IN DER MUSIK VOM MITTELALTER BIS ZUR MODERNE 11. BIS 14. NOVEMBER 2021
4 8 GRUSSWORTE 10 EINFÜHRUNG DO 11. NOVEMBER 2021 20.00 UHR / KREUZKIRCHE 12 HYPNOS Musikalische Traumreisen zwischen Mittelalter und Moderne LA TEMPÊTE SIMON-PIERRE BESTION / Leitung FR 12. NOVEMBER 2021 16.00 UHR / KREUZKIRCHE 20 SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN Musik der Schwestern und Brüder vom Gemeinsamen Leben aus niederländischen Quellen des 15. Jahrhunderts LE MIROIR DE MUSIQUE BAPTISTE ROMAIN / Fidel, Bariton, Leitung 20.00 UHR / KULTURZENTRUM 28 SPIEL DER ELEMENTE Die Genese von Natur und Kunst in der französischen Barockmusik DEBORAH CACHET / Sopran IL GARDELLINO KORNEEL BERNOLET / Cembalo, Leitung
INHALTSÜBERSICHT 5 SA 13. NOVEMBER 2021 16.00 UHR / KREUZKIRCHE 36 WASSERMUSIKEN Programmmusiken des 18. Jahrhunderts über Schönheiten und Schrecken des nassen Elements COLLEGIUM MARIANUM JANA SEMERÁDOVÁ / Traversflöte, Leitung 20.00 UHR / KULTURZENTRUM 44 AUSZEIT JOHANN ADOLF HASSE Enea in Caonia (Neapel 1727) PAOLA VALENTINA MOLINARI / Sopran ANTHEA PICHANICK / Alt GAIA PETRONE / Mezzosopran GIULIA BOLCATO / Sopran LUCA CERVONI / Tenor ENEA BAROCK ORCHESTRA STEFANO MONTANARI / Cembalo, Leitung 23.00 UHR / KÜNSTLERZECHE UNSER FRITZ 2/3 56 BAUERNTANZ IM SPIEGELSAAL Der Weg der Tanzmusik vom spanischen Dorfreigen ins französische Hofballett ACCADEMIA DEL PIACERE FAHMI ALQHAI / Viola da gamba, Leitung
6 SO 14. NOVEMBER 2021 11.00 UHR / KULTURZENTRUM 64 KLASSIK AUF DEM LANDE Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie und weitere pastorale Werke der Wiener Klassik in Kammerbesetzung G.A.P. ENSEMBLE 16.00 UHR / KREUZKIRCHE 72 DER KLANG ARKADIENS Vokal- und Instrumentalmusik zwischen antiken Mythen und europäischer Renaissancekultur. ALFIO ANTICO / Gesang, Rahmentrommel, szenische Aktion LA PIFARESCHA 19.00 UHR / KULTURZENTRUM 80 ELFENKÖNIGIN HENRY PURCELL The Fairy-Queen (London 1692) SOLISTINNEN UND SOLISTEN DES WDR RUNDFUNKCHORS WDR RUNDFUNKCHOR CHRISTIAN ROHRBACH / Einstudierung L’ARTE DEL MONDO STEFAN PARKMAN / Leitung
KONZERTE IN ZEITEN VON CORONA 7 Liebes Publikum, wir möchten Sie auf die folgenden Maßnahmen bei den TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE hinweisen: \ In den Spielstätten gilt die 3G-Regel: Zutritt nur geimpft, genesen oder getestet mit entsprechendem Nachweis. \ In den Spielstätten ist das Tragen einer mindestens medizinischen Maske Pflicht (außer am Sitzplatz). \ Das Kulturzentrum wird nur zu den einzelnen Konzerten geöffnet. \D ie Musikinstrumenten-Messe der Stadt Herne fällt in diesem Jahr leider aus, ebenso das damit verbundene Werkstattkonzert. \ Weitere Änderungen der Maßnahmen, im Programm und in der Besetzung der Konzerte sind aufgrund eines veränderten Infektionsgeschehens bzw. neuer Vorgaben im Rahmen der Corona-Schutzverordnung jederzeit möglich! \Ü ber Änderungen informieren wir Sie im Internet auf tage-alter-musik.de Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis! Ihr PROJEKTTEAM der TAGE ALTER MUSIK IN HERNE
BEWÄHRTE PARTNERSCHAFT Die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE sind eine Siziliens, aber auch um höchst kunstvolle der längsten Kooperationen des WDR mit Opernschöpfungen von Johann Adolf Hasse einem städtischen Partner in Nordrhein- und Henry Purcell. Westfalen. Vor 41 Jahren, 1980, wurde der WDR Mitveranstalter dieses vier Jahre zuvor Das ist, wie ich finde, ein spannendes und gegründeten Festivals. In dieser langen Zeit abwechslungsreiches Programm mit einer haben sich die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE ausgefeilten Dramaturgie, die sich nicht nur zu einem weltweit angesehenen Festival dem treuen Herner Publikum mitteilen wird, entwickelt. sondern vor allem auch unserem Radiopubli- kum, denn wir werden das Festival auch So etwas kann nur gelingen, wenn die Kom- dieses Jahr wieder in vier Live-Übertragungen munen und die Programmverantwortlichen in und weiteren Sendungen bis zum Jahresende den Redaktionen von WDR 3 partnerschaft- als Programmschwerpunkt auf WDR 3 abbilden. lich kooperieren. Gerade mit der Stadt Herne gestaltet sich dieses Miteinander seit vielen Eigentlich wollten wir dieses Programm schon Jahren außerordentlich erfolgreich, wofür ich im letzten Jahr präsentieren, was aber wegen mich auch persönlich bei allen Beteiligten der Corona-Pandemie nicht möglich war. Nun herzlich bedanke! sind wir zuversichtlich, dass die Künstler, die wir aus ganz Europa eingeladen haben, zu uns Das Thema unseres Festivals lautet »Zurück kommen können und dass wir trotz immer zur Natur!«. Dabei geht es nicht nur um die im noch notwendiger Einschränkungen einer Barockzeitalter so beliebten Naturschilderun- möglichst großen Zahl von Menschen den gen in der Musik, sondern auch um Traum- Konzertbesuch ermöglichen können und Trosterfahrungen, um Mystik und Kon- templation in verschiedenen Formen von Kunstmusik, um raue und karge Volksgesänge MATTHIAS KREMIN Programmchef WDR 3 & WDR 5
GRUSSWORTE 9 SEHR GEEHRTE GÄSTE, ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu den Ausnahmesängern und dem Enea Barock TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE 2021! Orchestra aus Italien eine deutsche Nachdem das beliebte Festival aufgrund der Erstaufführung erleben. Corona-Pandemie im vergangenen Jahr verschoben werden musste, freue ich mich Mein Dank gilt an dieser Stelle traditionell nach dieser Zwangspause ganz besonders, Herrn Dr. Richard Lorber, dem künstleri- wieder Ensembles aus ganz Europa in schen Leiter der TAGE ALTER MUSIK IN Herne zu Gast zu haben. HERNE, und seinem Team, dem es wieder gelungen ist, ein exzellentes Programm In diesem Jahr geht es bei unserem renom- vorzubereiten. mierten Musikfestival um das faszinierende Thema »Zurück zur Natur!«. Eine Auffor- Ein herzliches Dankeschön richte ich auch derung des französischen Philosophen an alle Besucher:innen, an die Künstler:in- Jean-Jacques Rousseau, mit der er seine nen und die vielen Menschen, die mit ihrem Zivilisationskritik zum Ausdruck bringt und Engagement diese Veranstaltung so erfolg- eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen reich machen. Naturzustand fordert. Allen Gästen vor Ort und allen Zuhörer:in- Ein Blick auf das Programm macht deutlich, nen im Kulturradio WDR 3 wünsche ich viel dass dieser Wunsch auch in der Musik zu Vergnügen bei den Veranstaltungen. Die finden ist: Es geht um »Ursprüngliches und neun wunderbaren Konzerte werden uns seine Idealisierung in der Musik vom Mittel- das Thema »Zurück zur Natur!« auf außer- alter bis zur Moderne«; um Naturschilde- gewöhnliche Weise in Tönen näherbringen. rungen, Sehnsuchtsorte und Selbstfindung. So dürfen wir uns unter anderem auf ein Ihr besonderes Klangprojekt über die Grenzen von Zeit, Realität und Leben mit dem fran- zösischen Ensemble La Tempête freuen und begleiten den Weg der Tanzmusik vom spa- nischen Dorfreigen ins französische Hof- DR. FRANK DUDDA ballet. Wir tauchen ab in berühmte Wasser- Oberbürgermeister der Stadt Herne musiken und dürfen mit dem kürzlich wie- derentdeckten Werk Enea in Caonia mit
10 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE ZURÜCK ZUR NATUR! Dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau Opernton ungezwungen und eingängig wird sie zugeschrieben, die Aufforderung abheben sollte (Enea Barock Orchestra am »Zurück zur Natur!« Er verband damit Ge- 13. November). sellschaftskritik, aber auch ein pädagogi- sches Programm: die Erziehung zur Recht- Die Spiegelung der Natur in der Kunst ist schaffenheit müsse sich an den menschli- vielleicht am schönsten in der mythischen chen Grundanlagen orientieren, nicht an Landschaft Arkadien ausgeprägt, jenem gesellschaftlichen Normen und Vorschrif- Sehnsuchtsort, den Dichter von Vergil bis ten. Das lässt sich auf vielfältige Weise auf Thomas Mann und Maler von Tizian bis die Kunst im Allgemeinen übertragen und Markus Lüpertz zu ihrem Gegenstand auf die Musik im Besonderen. Immer geht machten – vor allem aber die Komponisten es dabei um eine Art Neubesinnung, um das in Renaissance und Barock! Das wahre Ar- Erkunden von verborgenen Wurzeln, auch kadien ist dagegen kein Idyll, sondern rau um radikale Brüche. Manchmal auch um und karg wie die Volksgesänge Siziliens aus Ausbrüche aus der Zivilisation und der dem Mund des ›cantautore‹ Alfio Antico. Vernunft wie in Henry Purcells Semi-Opera Zusammen mit den Musikern von La Pifa The Fairy-Queen, ein Stück, das man heut- rescha stellt er sie am 14. November neben zutage wohl als Varietétheater oder Musi- die Klänge des artifiziellen Arkadien. cal bezeichnen würde mit – Shakespeare sei Dank – opulenten Natur- und Geister Selbstverständlich haben in diesem Festival szenen, komischen Episoden und leiden- Naturschilderungen in Tönen einen promi- schaftlichen Eskapaden (WDR Rundfunk- nenten Platz: elementare Programmmusi- chor und l’arte del mondo am 14. November). ken aus dem Frankreich Ludwigs XIV. von Jean-Féry Rebel, Louis-Nicolas Clérambault Die Serenata Enea in Caonia erzählt, wie der und François Couperin (mit dem Ensemble Held Aeneas auf seiner Flucht von Troja Il Gardellino am 12. November) sowie ›Was- nach Rom auf die in den Wäldern lebende sermusiken‹ über das tosende Meer, über Jägerin Ilia trifft, die sich den Konventionen Themse und Seine, aber auch über einen und Fesseln einer emotionalen Beziehung von Fröschen bevölkerten Teich (Collegium nicht unterwerfen will. Ihre Wildheit bildet Marianum am 13. November). Ludwig van einen schönen Gegensatz zur politischen Beethovens Pastorale sei dagegen »mehr Mission des späteren Rom-Gründers. Ausdruck der Empfindung als Malerei«, hat Johann Adolf Hasse kleidet das in eine der Komponist in der Partitur vermerkt. In galante Musiksprache, die sich vom älteren Herne wird herauszufinden sein, wie sich
EINFÜHRUNG 11 das auch in der kammermusikalischen Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert unter- Bearbeitung dieser Sinfonie vermittelt, nimmt das französische Ensemble La die Johann Nepomuk Hummel vorgelegt Tempête am 11. November. Unter dem Mot- hat (G.A.P. Ensemble am 14. November). to »Hypnos« geht es um Traum- und Trost erfahrungen, um Mystik und Kontemplation »Ich würde nur an einen Gott glauben, der in verschiedenen Formen von Kunstmusik. zu tanzen verstünde«, lässt Friedrich Nietzsche den Weltweisen Zarathustra Die TAGE ALTER MUSIK IN HERNE 2020 sagen. Er fordert damit eine Dualität von mussten wegen der Corona-Pandemie maßvoller Strenge und rauschhafter Ekstase. verschoben werden. Nun hoffen wir, dass in Eine Spur davon findet sich in dem Programm diesem Jahr die Ensembles, die wir aus ganz der Accademia del Piacere am 13. November, Europa eingeladen haben, zu uns kommen in dem die Musikerinnen und Musiker um können, um unser ambitioniertes Programm den Gambisten Fahmi Alqhai zeigen, wie darzubieten – vor Ort und vor dem Publi- glutvolle iberische Volkstänze ihren Weg in kum im Kulturradio WDR 3. die aristokratische Tanzetikette am Versailler Hof fanden. Was Nietzsche wohl nicht wissen wollte: In der christlichen Religion findet sich immer wieder auch die gläubige Sehnsucht nach ursprünglicher menschli- DR. RICHARD LORBER cher Erfahrung. Etwa wenn im 15. Jahrhun- Künstlerische Leitung dert Laienbruderschaften im Gefolge des WDR 3 Predigers Gert Groote ihre »Devotio mo- derna«, eine neue Form der Frömmigkeit, auch in der volkssprachlichen Musik ausüb- ten (Le Miroir de Musique am 12. November). Eine die Zeiten umspannende Reise vom
13 DO 11. NOVEMBER 2021 / 20.00 UHR KREUZKIRCHE HYPNOS MUSIKALISCHE TRAUMREISEN ZWISCHEN MITTELALTER UND MODERNE JOHN TAVENER (1944 – 2013) SONG FOR ATHENE für 4 Stimmen im Andenken an Athene Hariades, London 1993 PIERRE DE MANCHICOURT (um 1510 – 1564) INTROITUS aus: Requiem für 5 Stimmen Manuskript Barcelona, Monasterio Montserrat OLIVIER GREIF (1950 – 2000) REQUIEM AETERNAM aus: Requiem für Doppelchor a cappella, op. 358, Paris 1999 HEINRICH ISAAC (1450 – 1517) QUIS DABIT CAPITI MEO AQUAM Motette für 4 Stimmen, Florenz 1492 aus: Motetti de Passione, de Cruce, de Sacramento, de Beata Virgine Et huiusmodi, Venedig 1503 LUDWIG SENFL (1486 – 1543) KYRIE aus: Missa Paschalis für 5 Stimmen Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek ANONYMUS KYRIE NATIVITATIS Liturgischer Gesang aus dem Rom des 11. Jahrhunderts Manuskript Rom, Santa Cecilia de Trastevere GIACINTO SCELSI (1905 – 1988) REQUIEM aus: Tre canti sacri für 8 Stimmen, 1958 MARCEL PÉRÈS (*1956) GLORIA aus: Missa ex tempore, 2015 ANONYMUS ALLELUIA. PASCHA NOSTRUM Liturgischer Gesang aus dem Rom des 11. Jahrhunderts Manuskript Rom, Santa Cecilia de Trastevere
14 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE PEDRO DE ESCOBAR (um 1465 – 1554) SANCTUS – BENEDICTUS aus: Requiem für 4 Stimmen Manuskript Tarazona, Archivo Catredralico MARBRIANO DE ORTO (um 1460 – 1529) GUIMEL aus: Lamentationes Hieremiae Prophetae für 4 Stimmen, Venedig 1506 ARVO PÄRT (*1935) DA PACEM DOMINE Motette für 4 Stimmen, 2004 ANONYMUS TECUM PRINCIPIUM. DIXIT DOMINUS Liturgischer Gesang aus dem Mailand des 9. Jahrhunderts Manuskript London, British Museum ANTOINE DE FÉVIN (1470 – 1511) AGNUS DEI aus: Missa pro fidelibus defunctis für 4 Stimmen Manuskript Wien, Österreichische Nationalbibliothek LA TEMPÊTE ALICE KAMENEZEKY, ILEANA ORTIZ / Sopran CÉCILE BANQUEY, HÉLÈNE RICHAUD / Mezzosopran SAMUEL ZATTONI-ROUFFY, EDOUARD MONJANEL / Tenor EUDES PEYRE, JEAN-CHRISTOPHE BRIZARD / Bass LISELOTTE EMERY / Zink MATTEO PASTORINO / Bassklarinette MARIANNE PELCERF / Beleuchtung SIMON-PIERRE BESTION / Leitung GS- GESAN M ZU TEXTE AD: L O D OW N E W D .D R 3 SENDUNG MI 24. NOVEMBER 2021, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
HYPNOS / DO 11. NOVEMBER 2021 15 DES TODES SANFTER BRUDER Der Schlaf gilt als eines der letzten großen und schlummert wohlig ausgestreckt. Um ihn Geheimnisse der Menschheit. Bis heute herum schweben unzählige, schemenhafte rätseln Wissenschaftler, Philosophen und Träume, die fortwährend ihre Gestalt ändern.« Künstler über seine Ursachen und Funktio- nen. Im Alten Testament ist bereits im Düster, ein wenig unheimlich wirkt Ovids Schöpfungsbericht von Schlaf die Rede. Schilderung. Der Schlaf übt eine geheimnis- Gemeint ist nicht der gewöhnliche, sondern volle, fast magische Anziehungskraft auf die ein außergewöhnlicher, tiefer Schlaf, in den menschliche Phantasie aus. Nicht nur Kinder Gott Adam versetzt, um ihm zur Erschaffung fürchten sich vor der Dunkelheit und dem Evas eine Rippe zu entnehmen. Einschlafen; auch Erwachsene können dies als bedrohlich empfinden. Wer schläft, gerät In der griechischen Mythologie ist Hypnos, in eine Verfassung, die sich von der des der Schlaf, ein Sohn der Nachtgöttin Nyx Wachseins in fast allem unterscheidet. Wir und des Erebus, des Gottes der Finsternis. sehen, hören, fühlen nichts, registrieren kei- Sein Zwillingsbruder Thanatos gebietet über ne Signale der Umwelt mehr, unser Bewusst- die Toten, sein eigener Sohn Morpheus ist sein ist ausgeschaltet: ein Zustand, der dem Herr der Träume. Der römische Dichter Ovid Bild gleicht, das wir uns vom Tod machen. beschreibt in den Metamorphosen, dass der Schon in der antiken Mythologie galt der Gott Hypnos in einer finsteren Grotte resi- Schlaf deshalb auch als Zwillingsbruder des diert, versteckt an den felsigen Hängen des Todes. Der Gott Thanatos gebietet über die Kaukasus-Gebirges: »Phoebus, der Sonnen- Toten, wie Hypnos Macht über die Lebenden gott, dringt mit seinen Strahlen niemals dort besitzt. Denn dem Schlaf kann sich niemand hin. Düstere Wolken und dräuender Nebel ver- entziehen. decken den Himmel, Schatten der Dämmerung schweben vor dem Höhleneingang. Kein Vogel IM EWIGEN WECHSEL singt, kein Tier ist zu hören, kein Zweig bewegt sich im Wind. Dort herrscht ewige Stille – bis Wie Ebbe und Flut folgen Wachsein und auf das leise Murmeln des Flusses Lethe. Des- Schlaf im ewigen Wechsel aufeinander; zwei sen Wellen gleiten sanft über die Kieselsteine, Zustände, die so konträr zueinander sind, versetzen den Menschen in Schläfrigkeit und dass man meinen könnte, der Mensch lebe tilgen alle seine Erinnerungen. Vor dem in zwei verschiedenen Welten. Im westlichen Höhleneingang blühen Mohnblumen und Wertesystem ist die Rangfolge dieser beiden unzählige Kräuter; aus deren Säften gewinnt Welten eindeutig: kostbar ist der Zustand die Nacht taufrischen Schlaf, den sie überall des Wachseins. Nur er ermöglicht Denken auf der dunklen Erde verteilt. In der Mitte des und Handeln. Der Schlaf hingegen birgt unterirdischen Palastes aber steht ein großes unbekannte Gefahren, verleitet aber auch Bett aus Ebenholz, weich und flaumig, bezogen zu Trägheit und Selbstsucht. Schon das Alte mit dunklen Laken. Dort liegt der Gott selbst Testament mahnt: »Liebe den Schlaf nicht,
16 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE dass du nicht arm werdest. Lass deine Augen 4. Jahrhundert nach Christus. Ob schamanis- wacker sein, so wirst du Brot genug haben« tisches Ritual oder Mantra-Gesang, Koran- (Sprüche 20,13). Gut ist der Schlaf nur, wenn Rezitation oder klösterlicher Choral: alle er durch harte Arbeit redlich verdient wurde. Religionen nutzen Musik – vor allem die »Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß!« (Pre- menschliche Stimme – um einen Zustand diger 5,11). In unserer auf Effizienz ausgerich- der Meditation zu erreichen, den Alltag teten Gesellschaft wird der Schlaf oft nach auszublenden, den Sinn des Lebens zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung beurteilt: ergründen. Wer sich der Magie von Musik Wie viele Stunden sind nötig? Wie viel Zeit öffnet und dem Klang hingibt, dem kann verlieren wir durch zu langes Schlafen? Der es gelingen, in einen Zustand zu kommen, Wecker sorgt für perfektes Zeitmanagement der dem des Schlafes gleicht. Das Zeit- und Disziplin. empfinden schwindet, Puls und Atmung werden langsamer, die Gedanken schweifen, Ganz anders die alten Religionen und Philo- man gerät in eine traumähnliche Verfassung. sophien des Fernen Ostens, die den Schlaf Mit Klängen lassen sich erweiterte Bewusst- als den wahren Zustand des Menschen be- seinszustände und Trance hervorrufen. trachten. Der chinesische Philosoph Chuang Nicht nur in schamanistischen Heilungspro- Tzu schrieb 300 v. Chr.: »Im Schlaf ist die zessen, auch in der modernen Musiktherapie Seele ungestört, wird eins mit dem Universum; und Hypnosepraxis macht man sich dieses im Wachen hingegen ist sie abgelenkt durch Wissen zunutze. die vielen Gegebenheiten der Welt.« In den Upanishaden, jenen altindischen philosophi- Das Ensemble La Tempête stellt in seinen schen Texten, geschrieben in Sanskrit, galt ›musikalischen Traumreisen zwischen Mittel- der Tiefschlaf als jener Zustand, in dem man alter und Moderne‹ Kompositionen zwischen nichts begehrt und nicht träumt. Er wird dem 9. und 21. Jahrhundert vor, die den Schlaf – darum mit dem eigentlichen Selbst in Zu- und dessen enge Verwandten, den Tod und sammenhang gebracht: »Wenn man tief den Traum – thematisieren. Dabei folgt die schläft, ruhig und heiter, und keinen Traum Dramaturgie nicht einer rationalen Reihen- sieht, das ist das Selbst, das ist das Unsterb- folge oder Chronologie. liche, Furchtlose, das ist Brahma.« Das Programm ist nach rein musikalischen MEDTIATIVE MAGIE Kriterien konzipiert. Der Ensembleleiter Simon-Pierre Bestion will das Publikum Auch der Musik spricht man die Fähigkeit zu, mitnehmen auf eine spirituelle, sinnliche den Menschen seiner Seele näher zu bringen, und emotionale Erkundungsreise in die Welt ihm den Weg in sein Innerstes zu ebnen. der Nacht, der Schatten und der Träume. »Was du mit dem Verstand nicht erfassen und Zu allen Zeiten haben Komponisten sich mit Worten nicht erklären kannst, lässt sich mit diesem Themenkreis beschäftigt. La mit dem Herzen singen«, so formulierte Tempête wählte für sein Konzert Musik aus schon der Kirchenvater Augustinus im drei großen Epochen aus: gregorianische
HYPNOS / DO 11. NOVEMBER 2021 17 Choralmelodien, blühende mehrstimmige Requiem aeternam – elegisch-intime Klänge Messgesänge der Renaissance und Vokal- an der Grenze zwischen Traumerfahrung musik der Gegenwart. und Todessehnsucht. Giacinto Scelsis Tre Canti Sacri oszillieren zwischen langen REISE DURCH DREI EPOCHEN Liegetönen, subtilen Tonhöhen-Glissandi im mikrotonalen Bereich und einstimmigen Die einstimmigen, schlichten Klostergesänge Passagen, die schillernde Obertöne hörbar des Mittelalters laden geradezu ein, Trance- werden lassen – kraftvolle, zugleich mysti- Zustände zu assoziieren: sanfte Melodie- sche Klänge. Marcel Pérès, Leiter des Vokal linien ohne Höhepunkte oder Sprünge, ensembles Organum, ließ sich in seiner gleichbleibende Lautstärke, metrisch frei, Missa ex tempore von Formen der Renaissance- vorgetragen von sonoren Stimmen. Im musik inspirieren, die er mit zeitgenössi- monastischen Leben spielt der Gesang eine schen Kompositionstechniken kombinierte. tragende Rolle. Das klösterliche Stunden- Arvo Pärts vierstimmige Motette Da pacem gebet orientiert sich am Zyklus des Tages- Domine entstand 2004 im Gedenken an die laufs, dem Wechsel von Wachen und Schla- Opfer des Terroranschlags von Madrid – fen, Licht und Dunkelheit, Arbeit und Ruhe, leise, eindringliche Klänge. Wie so oft bei und deutet die Zeiterfahrung als göttliche Pärt ist die Stille ein zentrales Moment. Offenbarung. »Stille ist Harmonie, unbeschreibliche Harmo- nie, eine Lebensquelle von ungeheurer Kraft«, Ganz anders die Wirkung der wohltönenden so Arvo Pärt in einem Interview 1998. Renaissance-Polyphonie in den Messge- sängen des 16. Jahrhunderts. Himmlische Die ›musikalischen Traumreisen zwischen Harmonien betören die Sinne, die weichen, Mittelalter und Moderne‹ von La Tempête reinen Einzelstimmen verschmelzen zu sind ein Versuch, die poetische, mystische einem prachtvollen Gesamtklang, der und therapeutische Kraft der Musik zu zeigen. Duktus der Musik ist ruhig und gemessen. Der Schlaf, Bruder des Todes, wird nicht So wie Hypnos, der Gott des Schlafes, mit mehr als bedrohlich empfunden, sondern als süßen Träumen und heilsamer Ruhe den Wohltat – so wie in einer orphischen Hymne Menschen von alltäglichen Sorgen befreit, der Antike: »Hypnos, Herr über Götter und spendet diese Musik dem Hörenden seeli- Menschen, du herrschst über alles, dein Reich sches Gleichgewicht und nimmt ihm die ist unermesslich. Du zähmst die Sorgen, lässt Angst vor dem Tod, der in vielen der Texte ruhen nach ermüdender Arbeit, spendest dem besungen wird. Leidenden Trost. Deine wohltuend sanften Fesseln schützen die Seele und nehmen die Spirituelle Wurzeln liegen auch den zeitge- schrecklichen Sorgen vor dem Tod.« nössischen Kompositionen des Konzertpro- gramms zugrunde. Wenige Monate vor THOMAS DAUN seinem frühen Tod im Jahr 2000 vertonte der Franzose Olivier Greif das lateinische
18 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE LA TEMPÊTE SIMON-PIERRE BESTION LA TEMPÊTE wurde 2015 durch Simon- SIMON-PIERRE BESTION studierte am Pierre Bestion mit dem Ziel gegründet, sich Conservatoire à Rayonnement Régional in der Musik in einem ganz persönlichen, sehr Nantes Orgel bei Michel Bourcier sowie lebendigen Interpretationsansatz zu nähern – Cembalo bei Laure Morabito und Frédéric ein Zugang, der auch in der Darstellenden Michel. Er erweiterte seine Kenntnisse in Kunst aktuell ist. Dazu bringt er Mitwirkende Meisterkursen bei Jan Willem Jansen, Francis mit ganz unterschiedlichem künstlerischen Jacob, Benjamin Alard, Martin Gester und Hintergrund zusammen. Das Ensemble be- Aline Zylberajch. Sein Interesse am Kom- wegt sich in einem multiästhetischen Reper- ponieren und an zeitgenössischer Musik toire, das sich hauptsächlich aus Alter Musik brachte ihn zum Vokalrepertoire. Er nahm und Volksmusik speist, sich aber auch bis hin Dirigierunterricht bei Valérie Fayet in Nantes zu Zeitgenössischem öffnet. La Tempête geht and sang unter ihrer Leitung im Chœur de es um sinnliche Hörerfahrungen, um beson- l’Orchestre National des Pays de la Loire. dere Momente, in denen Faktur und Esprit Dann kam er in die Klasse von Nicole Corti der dargebotenen Werke den Aufführungs- am Konservatoirum von Lyon und studierte ort, die Ausführenden und die Zuhörenden unter Lehrern wie Régine Théodoresco, zu einer Einheit verbinden. Das Ensemble Roland Hayrabédian, Geoffroy Jourdain, singt und spielt oft auswendig, experimen- Joël Suhubiette, Dieter Kurz und Timo tiert mit Raumwirkungen und szenischen Ele- Nuoranne. Seine Liebe zur Alten Musik und menten und arbeitet dabei auch mit anderen zum Dirigieren führten ihn 2007 gemeinsam Kunstsparten zusammen. La Tempête wird mit der Gambistin Julie Dessaint zur Grün- von der Caisse des Dépots und der Orange dung des Kammermusikensembles Europa Foundation gefördert, weitere Unterstützer Barocca. Hinzu kam Luce del Canto, ein zu- sind das Ministère de la culture et de la com- nächst semiprofessionelles Vokalensemble. munication (Drac Nouvelle-Aquitaine), die Aus diesen beiden Gruppen ging 2015 La Region Nouvelle-Aquitaine, das Départe- Tempête hervor. ment de la Corrèze und die Stadt Brive-la- Gaillarde. La Tempête residiert in der Fonda- tion Singer-Polignac, ist Mitglied der Fédéra- tion des ensembles vocaux et instrumentaux spécialisés (Fevis) und der Vereinigung Profedim.
21 FR 12. NOVEMBER 2021 / 16.00 UHR KREUZKIRCHE SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN MUSIK DER SCHWESTERN UND BRÜDER VOM GEMEINSAMEN LEBEN AUS NIEDERLÄNDISCHEN QUELLEN DES 15. JAHRHUNDERTS WOL UP GHESELLEN YST AN DER TYET aus: Ludolf-Wilkin-Orgelbuch (Winsum 1431) Manuskript Berlin, Staatsbibliothek TRUREN MOET IC NACHT ENDE DACH aus: Brüsseler Liederbuch (Flandern oder Brabant um 1490) Manuskript Brüssel, Koninklijke Bibliotheek O DULCISSIME IHESU, QUAM AMABILIS Thomas von Kempen (um 1380 – 1471) zugeschrieben aus: Utrechter Liederbuch (vermutlich Utrecht um 1480) Manuskript Berlin, Staatsbibliothek FONTEYNE, MOEDER MAGHET REYNE JUBILUS BERNARDI aus: Utrechter Liederbuch GAUDE VIRGO MATER CHRISTI aus: IJsseltaler Liederbuch (Diepenveen, Zwolle oder Deventer) Manuskript Utrecht, Universiteitsbibliotheek DIGNE COLAT ECCLESIA OCH, VOER DIE DOOT EN IS GHEEN BOET aus: Brüsseler Liederbuch KYRIE MAGNE DEUS aus: Utrechter Liederbuch SALVE SALVE MATER aus: IJsseltaler Liederbuch
22 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE RUBENS ROSA DIC NOBIS, PER QUAM REGULAM Thomas von Kempen zugeschrieben aus: Utrechter Liederbuch IC DRONC SOE GAERNE DEN ZUETTEN MOST aus: Utrechter Liederbuch FUERUNT SINE QUERELA aus: Medinger Handbuch (Zisterzienserkloster Medingen) Manuskript Oxford, Bodleian Library DIE MEY SPRUYT UUT DEN DORREN HOUT IC WIL MY SELVEN TROESTEN aus: Utrechter Liederbuch LE MIROIR DE MUSIQUE SABINE LUTZENBERGER, TESSA ROOS / Mezzosopran ACHIM SCHULZ / Tenor MATTHEI LE LEVREUR / Bariton BAPTISTE ROMAIN / Fidel, Bariton ELIZABETH RUMSEY / Fidel MARC LEWON / Laute, Quinterne RUI STÄHELIN / Laute, Bass BAPTISTE ROMAIN / Leitung GS- GESAN M ZU TEXTE AD: L O D OW N E W D .D R 3 SENDUNG DI 7. DEZEMBER 2021, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN / FR 12. NOVEMBER 2021 23 DER INTIME TON DER ASKESE In den burgundischen Niederlanden kamen LESEN MIT DER FEDER im Laufe des 14. Jahrhunderts Laienbruder- schaften auf, die sich einer Devotio moderna, Die Anhänger der Devotio moderna sahen einer neuen Frömmigkeit, verschrieben hat- in der schriftlichen Art der Predigt ihre ten. Nach dem Vorbild des Theologen und wichtigste Aufgabe. Dank der Produktion Bußpredigers Geert Groote (1340 – 1384) von Schriften und Büchern der Brüder und strebten diese Brüder und Schwestern vom Schwestern vom Gemeinsamen Leben sind Gemeinsamen Leben nach einer geistlichen uns auch relativ viele Musikhandschriften Vollkommenheit, die über die Bezähmung aus dem 15. Jahrhundert erhalten. Die Hand- der Leidenschaften zur Tugend führen sollte. schriftenproduktion war eine der Hauptein- Sie widmeten sich dem Studium und der nahmequellen der Konvente und für die Meditation, während sie Eigentum und Windesheimer Chorherren eine der wichtig- Wissen miteinander teilten. An Orten sten Tätigkeiten neben Messe und Chorge- wie Deventer, Zwolle und Utrecht, dann bet. Ob es um Schreibarbeiten im Auftrag auch in Köln und Kassel fügten sie sich in Dritter ging oder um die Produktion für den das Stadtleben ein. Sie genossen eine ge- eigenen Bedarf: die Schreibtätigkeit stand wisse Unabhängigkeit von der Amtskirche in enger Verbindung mit dem spirituellen und ahnten den Geist der Reformation und Leben der Gemeinschaft. Immerhin erlaubte des Humanismus voraus. sie eine Kombination der zum Lebensunter- halt erforderlichen Arbeit mit der erstreb- Noch zu Lebzeiten Geert Grootes fasste ten Spiritualität: die geistlichen Texte wur- die Bewegung die Gründung eines Klosters den zugleich gelesen, meditiert und abge- ins Auge. 1386, zwei Jahre nach seinem Tod, schrieben – ein »Lesen mit der Feder«, wie wurde Windesheim nahe Zwolle als erster der Religionswissenschaftler Thom Mertens Konvent gegründet, gefolgt von Maria und diese innige Verknüpfung manueller und St. Agnes in Diepenveen. Im Jahr 1385 geistiger Tätigkeiten genannt hat. schlossen sich die vier Klöster Windesheim, Nieuwlicht, Eemstein und Marienborn zum Die Quellen, die wir für unser Programm Kapitel von Windesheim zusammen, in das herangezogen haben, überliefern in erster 1414 auch Diepenveen inkorporiert wurde. Linie geistliche Poesie und Musik (wobei der Der dritte institutionelle Zweig der Devotio Textanteil überwiegt), darüber hinaus aber moderna war das Kapitel von Utrecht, zu gelegentlich Gebete oder Beschreibungen dem sich 1399 von Windesheimer Prioren liturgischer Abläufe. bzw. Brüdern vom Gemeinsamen Leben be- treute Franziskaner-Konvente zusammen- Das IJsseltaler Liederbuch ist auf jene Kon- schlossen. vente der Devotio moderna zurückführen, von denen die Reformbewegung ausging.
24 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE Diese Sammlung kleiner Heftchen kann mit Latein eine Vielfalt von Dialekten des Mit- einem Windesheimer Frauenkloster im IJs- telniederländischen aufweisen. Das macht seltal (vermutlich Diepenveen) in Verbin- eine Lokalisierung der Niederschrift un- dung gebracht werden, den Fraterhäusern möglich. Die Handschrift aus dem späten in Deventer und Zwolle sowie dem Kloster 15. Jahrhundert bildet insofern eine Ausnah- Agnietenberg in Zwolle. Sie enthält unter me, als sie möglicherweise einem städtischen anderem einstimmige lateinische Lieder teil- Milieu – etwa einer Bruderschaft – zugerech- weise liturgischen Ursprungs, einstimmige net werden kann. und mehrstimmige Mariengesänge sowie Tropen, in denen feststehende liturgische MUSIKALISCHER REICHTUM EINES Formeln um ausschmückende Texte und FRAUENKONVENTS ihre Musikalisierungen erweitert sind; hin- zu kommen lateinische und mittelnieder- Durch seine große Anzahl an mittelnieder- ländische Weihnachtslieder. ländischen Liedern und der zentralen Stel- Die Musik dieser Handschrift wurde zwischen lung von Marienliedern und verschiedenen 1400 und 1500 in drei verschiedenen Formen Wiegenliedern verweist das Utrechter Lieder- aufgezeichnet: Zum einen findet sich die buch auf einen Frauenkonvent als Entstehungs- deutsche Choralnotation in gotischen Neu- ort. Die Sammlung bietet eine Vielzahl von men auf vier Linien, die man nach der Form Gattungen: Neben dem liturgischem Choral der ihrer Zeichen auch ›Hufnagelschrift‹ und mystischen, nicht-liturgischen Respon- nennt. Bei den mehrstimmigen Stücken sorien, Sequenzen und Antiphonen finden sind die Partien oft in der komplexen Men- sich hier auch geistliche Lieder aus der Zeit suralnotation aufgezeichnet. Sie entstand um 1400 in festen kompositorischen Formen im frühen 14. Jahrhundert in Frankreich und wie Ballade und Virelai, Kontrafakturen, also definiert die rhythmischen Werte der ein- Neutextierungen bekannter Melodien, aus zelnen Töne in Relation zueinander auf der dem deutschen Repertoire und sogar ron- Basis des gewählten Metrums. Daneben fin- dellusartige Gesänge mit wiederkehrenden det sich auch die einfachere Strichnotation. Melodieabschnitten, die auf die Tradition Sie stellt die rhythmische Unterteilung je- der Pariser Notre-Dame-Schule des 14. Jahr- des Notenwertes dar und erlaubte so auch hunderts zurückgehen. weniger gebildeten Musikern das Lesen von Einige dieser Werke werden dem Mystiker Mensuralmusik. Verwendet wurde sie von Thomas von Kempen (um 1380 – 1471) zuge- nicht professionellen Notatoren und auch schrieben, einem Schüler von Geert Groote. von Instrumentalisten. Seine Kompositionen beschwören den Geist der Erhebung der Seele durch Einfachheit Das kleinformatige Brüsseler Liederbuch ist und Reinheit – Werte, die er in seiner Imita- nicht unmittelbar mit einem bestimmten tio Christi (›Nachfolge Christi‹) und seinen Konvent in der Nachfolge Geert Grootes Soliloquiae animae (›Selbstgespräche der in Verbindung zu bringen. Der sorgfältige Seele‹) vorstellt. Schreiber dieser Sammlung brachte gelehr- Angesichts des kulturellen Niveaus, das te geistliche Strophenlieder mit einfacheren diese Handschrift aufweist, kann man an- mehrstimmigen Stücken aus dem Umfeld nehmen, dass sie in der zweiten Hälfte des der Devotio moderna zusammen, die neben 15. Jahrhunderts für ein an das Kapitel von
SELBSTFINDUNG FROMMER SEELEN / FR 12. NOVEMBER 2021 25 Windesheim angeschlossenes Chorfrauen- Im Hinblick auf unsere Darbietung dieser kloster in der Region von Utrecht angefer- Musik im Konzert ist ganz klar zu sagen: tigt wurde. Die Schreiber bemühten sich Wir präsentieren in unserem Programm die um eine rhythmische Verdeutlichung der Ästhetik dieser Zeit in einer für das heutige Neumennotation, indem sie die Neumen Publikum akzeptablen Form, in der sich die mit Elementen der Mensuralnotation ver- Schönheit der Melodien vermitteln soll. Ab- banden. gesehen vom gelegentlichen Orgelspiel sind Instrumente kaum mit der Devotio moderna REFORMPROZESSE in Verbindung zu setzen. Wir spielen aber Rekonstruktionen von Instrumenten, wie sie Bereits ein gutes halbes Jahrhundert vor der die Schwestern und Brüder vom Gemeinsa- Einführung der Reformation Martin Luthers men Leben gekannt haben. Auch wenn wir hatten die Lüneburger Klöster im 15. Jahr- heute Kenntnisse über viele andere Traditio- hundert die norddeutsche Klosterreform nen des 15. Jahrhunderts besitzen: Ob diese durchgeführt. Diese Erneuerung war weit- Instrumente tatsächlich in Gottesdiensten gehend von den niederländischen Brüdern oder Andachten eingesetzt wurden, weiß und Schwestern vom Gemeinsamen Leben, man leider nicht. den Orden der Augustiner-Chorherren und -Chorfrauen sowie der Bursfelder Reform- Da der überwiegende Teil des Repertoires kongregation des Benediktinerordens be- für dieses Programm nur als einstimmige stimmt. Im Zuge dieses Reformprozesses Musik überliefert ist, improvisieren wir die entstand in Medingen nahe Lüneburg das möglichen instrumentalen Begleitungen Medinger Handbuch. Darin wurden nicht nur nach gewissen Standards des Spätmittel- zusätzliche Gebete und Gesänge aufgenom- alters. Bei manchen Stücken (z. B. »Ic wil men, sondern auch zahlreiche spezifische mi selven trosten«) habe ich eine Mehr- Angaben zu Prozessionen, Gebräuchen und stimmigkeit nach stilistisch naheliegenden Gesängen der Medinger Laienbrüder und Vorbildern aus dem deutschen Tenorlied- -schwestern eingefügt. Repertoire rekonstruiert. In anderen Fällen Das Ludolf-Wilkin-Orgelbuch aus Winsum (etwa »Rubens Rosa«) folgen wir Modellen nahe Groningen, in dem sich das Eröffnungs- der ›einfachen Mehrstimmigkeit‹, wie sie stück unseres Programms findet, hat der in den Klöstern am Rande der höfischen Dominikaner und Organist Wilkin 1431 als Musikkultur existierte. Andachtsbuch angelegt. Es überliefert einige Stücke in der deutschen Tabulaturnotation, Die Texte der Devotio moderna spiegeln die für die Oberstimme mensurale Zeichen nach unseren Maßstäben extreme Lebens- verwendet und für die linke Hand eine einstellungen wider. Schlichtheit, Intimität Buchstabennotation. und Askese, das schwingt auch in dieser Musik mit. Der ganz eigene Stil ihrer Melo- NACHKLANG EINER FREMDEN WELT dien, der nüchterne, manchmal rohe Cha- rakter der mehrstimmigen Stücke – das ist In der Bewegung der Devotio moderna und bleibt faszinierend. gehörten Bescheidenheit, Kargheit und Austerität zu den spirituellen Idealen. BAPTISTE ROMAIN
26 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE LE MIROIR DE MUSIQUE BAPTISTE ROMAIN Das Ensemble LE MIROIR DE MUSIQUE Nach einer ersten musikalischen Ausbildung ist auf die Musik des Spätmittelalters und in Frankreich mit den Schwerpunkten Geige der Renaissance spezialisiert – von der Zeit und Komposition beschäftigte sich BAPTISTE der Trobadore bis zur Epoche der Humanis- ROMAIN intensiv mit den Repertoires des ten im 16. Jahrhundert. Es ist aus der jünger- Mittelalters und der Renaissance. Seiner en Generation von Interpreten Alter Musik Ausbildung am Centre de Musique Médié- hervorgegangen und wird von Baptiste Ro- vale in Paris bei Marco Horvat schloss sich main geleitet. Die Mitglieder des in Basel ein Studium an der Schola Cantorum Basi- beheimateten Ensembles sind fast alle Ab- liensis bei Randall Cook, Dominique Vellard solventen der Schola Cantorum Basiliensis. und Crawford Young an, mit zusätzlichen Im Vordergrund der Arbeit stehen ein rei- Lektionen bei Pierre Hamon am Conserva- cher Klang, die Berücksichtigung der musi- toire National Supérieur in Lyon. Während kalischen Intention und die verschiedenen seiner Basler Zeit beschäftigte sich Baptiste Formen instrumentaler Virtuosität. Das Bild Romain mit verschiedenen Varianten der vom ›musikalischen Spiegel‹, auf das der Fidel und des Rebec sowie intensiv mit Ensemblename anspielt, ist dem Traktat Technik und Repertoire der Renaissance Speculum Musicae des Jakobus von Lüttich violine. Er sucht stets nach neuen Klängen entlehnt. Es reflektiert die Absicht des und Techniken, um den hohen Anforde Ensembles, ganz im Geiste und in Kenntnis rungen der historischen Musikpraxis gerecht der originalen Quellen ein lebendiges Bild zu werden. Darüber hinaus gilt sein Interesse der Umstände und Repertoires des Mittel- der instrumentalen Begleitung des Gesangs alters und der Renaissance zu malen. 2013 und der historischen Improvisation. Er tritt gegründet, trat Le Miroir de Musique inzwi- mit seinem eigenen Ensemble Le Miroir de schen bei einer Reihe internationaler Alte- Musique auf, aber auch mit anderen renom- Musik-Festivals auf. Dem CD-Debüt The mierten Gruppen wie dem Ensemble Gilles Birth of the Violin zur Violinmusik des frühen Binchois, Per-Sonat, Ensemble Leones und 16. Jahrhunderts sind mittlerweile fünf wei- Doulce Mémoire. Seit 2017 ist Baptiste tere Veröffentlichungen gefolgt, zuletzt Romain Professor für frühe Streichinstru- Gaude felix Padua mit Werken von Johannes mente an der Mittelalterabteilung der de Lymburgia. Schola Cantorum in Basel.
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29 FR 12. NOVEMBER 2021 / 20.00 UHR KULTURZENTRUM SPIEL DER ELEMENTE DIE GENESE VON NATUR UND KUNST IN DER FRANZÖSISCHEN BAROCKMUSIK JEAN-FÉRY REBEL (1666 – 1747) LES ÉLÉMENS SIMPHONIE NOUVELLE, PARIS 1737 für 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Hörner, 2 Fagotte, Streicher und Basso continuo Le Chaos – La Terre: Air pour les Violons / L’Eau: Air pour les Flutes – Le Feu: Chaconne – L’Air: Ramage – Rossignols – Air pour l’Amour – Loure – Sicilienne – Caprice LOUIS-NICOLAS CLERAMBAULT (1676 – 1749) LA MUSE DE L’OPÉRA, OU LES CARACTÈRES LIRIQUES Cantate à voix seule et simphonie, Paris 1716 für Sopran, 2 Trompeten, Pauken, 2 Flöten, 2 Oboen, Fagott, Streicher und Basso continuo Prelude – Récitatif – Air gay – Tempeste – Récitatif – Air – Sommeil – Prelude infernal – Récitatif – Air Pause FRANÇOIS COUPERIN (1668 – 1733) CONCERT NR. 8 G-DUR »DANS LE GOÛT THÉATRAL« aus: Les goûts réunis, ou Nouveaux Concerts à l’usage de toutes sortes d’instrumens, Paris 1724 Fassung für 2 Traversflöten, Streicher und Basso continuo von Korneel Bernolet Ouverture – Grande Ritournéle. Gravement – Air. Noblement – Air tendre. Rondeau – Air. Léger – Loure. Pesamment – Air. Animé, et leger – Sarabande. Grave, et tendre – Air léger – Air tendre. Lentement – Air de Baccantes. Très animé JEAN-FÉRY REBEL LES CARACTÈRES DE LA DANSE Fantaisie, Paris 1715 für Flöten, 2 Oboen, Streicher und Basso continuo Prelude – Courante – Menuet – Bourée – Chaconne – Sarabande – Gigue – Rigaudon – Passepied – Gavotte – Sonate – Lutre – Musette – Reprise – Sonate LOUIS-NICOLAS CLERAMBAULT LE SOLEIL, VAINQUEUR DES NUAGES Cantate allégorique sur le rétablissement de la santé du Roy, Paris 1721 für 2 Flöten, Streicher und Basso continuo Simphonie – Récitatif – Air – Récitatif – Simphonie & Air – Récitatif – Air. Fort gay
30 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE DEBORAH CACHET / Sopran IL GARDELLINO LAURA ANDRIANI (Konzertmeisterin), MADOKA NAKAMARU / Violine 1 CONOR GRICMANIS, BIRGIT GORIS / Violine 2 MICHIYO KONDO / Viola 1 KAAT DE COCK / Viola 2 RONAN KERNOA / Viola da gamba IRA GIVOL / Violoncello ELISE CHRISTIAENS / Kontrabass KORNEEL BERNOLET / Cembalo RENJAN DE WINNE, JAN VAN DEN BORRE / Traversflöte MARCEL PONSEELE, MARTA BLAWAT / Oboe ISABEL FAVILA / Fagott JEAN-FRANÇOIS MADEUF / Trompete, Horn JAN HUYLEBROECK / Perkussion KORNEEL BERNOLET / Leitung GS- GESAN M ZU TEXTE AD: L O D OW N E W D .D R 3 SENDUNG LIVE ZUM NACHHÖREN IM WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
SPIEL DER ELEMENTE / FR 12. NOVEMBER 2021 31 EXTRAVAGANTE TONGEMÄLDE Die französischen Komponisten des 17. und Um das ›Neue‹ dieser Suite über die vier 18. Jahrhunderts hatten ein Faible dafür, die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu Welt, die sie umgab, in ihrer Musik abzubil- vermitteln, liefert er im Vorwort der Druck- den. Möbelstücke, Windräder, Tiere, Men- ausgabe eine kleine Höranleitung mit. schen und alle möglichen Naturphänomene sind in ihren Werken allgegenwärtig. Auf der CHAOTISCHER BEGINN Opernbühne, in Kammerkantaten und selbst im Instrumentalen inszenierten sie ländliche Die Einleitung des Werks war sozusagen Idyllen, wilde Sturmszenen und furiose naturgegeben: Es war das Chaos selbst, Höllenfahrten. Das Publikum liebte die die Konfusion, die zwischen den Elementen dramatische Unterhaltung. Den Kompo- vor dem Augenblick herrschte, in dem sie nisten boten solche Tonmalereien Gelegen- unveränderlichen Gesetzen folgend in der heit, extravagante Klänge und Spieltech- Ordnung der Natur ihren vorgeschriebenen niken zu erproben. Platz einnahmen. Um das Chaos darzustel- len, greift Rebel zu einem Mittel, das in der Dass sie dabei bisweilen die Grenzen dessen Musik des 18. Jahrhunderts eigentlich undenk- überschritten, was im 18. Jahrhundert musi- bar ist: den Cluster. »Ich habe es gewagt, die kalisch zulässig war, zeigt sich – so viel sei Idee der Konfusion der Elemente mit der Kon- vorab verraten – gleich im ersten Akkord, mit fusion der Harmonie zu verbinden. Ich habe es dem Jean-Féry Rebel heute das Programm riskiert, alle Töne miteinander zu vermischen, eröffnet. Rebel war ein Schüler des berühm- oder besser gesagt, alle Töne einer Oktave in ten Jean-Baptiste Lully, dem Meister der fran- einem Klang zu vereinen.« Nach und nach zösischen Opern- und Ballettmusik in der kristallisieren sich die einzelnen Elemente zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1699 aus dem klanglichen Chaos heraus. Der Bass wurde Rebel in die Académie royale de stellt in gebundenen, stoßartigen Noten die musique aufgenommen, eine eben erst von Erde dar. Die Flöte imitiert mit fließenden Ludwig XIV. gegründete Gesellschaft, die Läufen das Murmeln des Wassers. Die Pic- sich der Pflege der Musik und vor allem der coloflöte versinnbildlicht mit langen Halte- Oper verschrieben hatte. 1705 stieg er dort tönen die Luft, und die Violinen illustrieren zum Maître de musique auf und wurde im mit brillanten, bisweilen recht zackigen gleichen Jahr Mitglied der Vingt-quatre Tonskalen das Flackern des Feuers. In den Violons du Roi. Für dieses hochkarätige folgenden Sätzen finden die Elemente in im- Streicherensemble, dessen Leitung er 1717 mer neuen Kombinationen zusammen, so übernahm, schrieb Rebel unter anderem 1737 dass sich nach und nach alles in eine göttli- Les Élémens: eine »Simphonie nouvelle«, in che Ordnung fügt. Die Nachtigall singt, man der sich der 72-jährige Komponist er- geht zur Jagd und genießt die Freuden der staunliche Extravaganzen erlaubt. Liebe.
32 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE Rebel erzählt seine Geschichte der Schöp ein, gefolgt von Diana, der Göttin der Jagd. fung vor allem in Tänzen, denn sie sind eine Dazu kommen ›sanftmütige‹ Hirten, die zur wichtige Säule der französischen Barock Oboenbegleitung für einen Moment eine musik. Dass er mit dem Genre bestens pastorale Idylle zaubern. Doch gleich im vertraut ist, hatte er schon 1715 in seiner nächsten Satz zieht mit harschen Streicher- »Fantasie« Les Caractères de la Danse bewiesen. motiven ein veritables Unwetter auf, das In knapp zehn Minuten präsentiert er darin ebenso schnell einer sanften Frühlingsstim- die beliebtesten Tänze seiner Zeit. Aber er mung mit dem lieblichen Vogelgezwitscher würzt sein klingendes Kompendium des einer Traversflöte weicht. Fließend geht das französischen Stils auch mit zwei italieni- Werk in einen Sommeil über, aber schon schen Sätzen, in denen er eine seiner Violin- bald gleitet diese wiegende Schlafszene in sonaten zitiert. Das Werk wird nicht nur einen Alptraum ab: An der Pforte zur Hölle zum Highlight diverser Pariser Bälle, son- begegnen uns Dämonen, Schicksalsgöttin- dern in den 1720er-Jahren sogar in London nen und Pluto, der Gott der Totenwelt. immer wieder gespielt. Glücklicherweise offenbart sich im tän zerisch-beschwingten Schluss-Air alles SCHLÜSSEL ZUM UNIVERSUM als launiges Spiel der Illusion. Eine zweite Säule der französischen Barock- EIN NEUER SONNENKÖNIG musik, den Gesang, nahm 1716 Louis-Nicolas Clérambault in den Blick. »Les Caractères Fünf Jahre nach seinem Opern-Kondensat liriques«, so lautet der Untertitel seiner schrieb Clérambault für den französischen Kammerkantate La Muse de l’Opéra. Cléram- Hof seine Kantate Le Soleil, vainqueur des bault hatte damals in Paris vor allem als nuages. Anlass dazu bot die Genesung des Tastenvirtuose einen Namen. Eine abend- damals elfjährigen Königs Ludwig XV. von füllende Oper hat er wohl nie geschrieben, einer schweren Krankheit. Da der französi- dafür etliche Kammerkantaten für sche Adel in diesen Jahren einer regelrech- Solostimme und Instrumente, die durchaus ten Persien-Mode verfallen war, führt auch als Miniaturopern durchgehen können. In Clérambault sein Publikum ins alte Persien. La Muse de l’Opéra schildert eine ›moderne Wieder übernimmt eine Solistin die Erzäh- Muse‹ sogar die Aufführung einer Oper, lung. Sie beschreibt die Morgengesänge, mit oder besser gesagt, ihrer französischen denen die Perser die Sonne verehren. Ein Spielart, der Tragédie lyrique. von sanften Flötenklängen begleitetes Air preist ihren strahlenden Lauf und die Wohl- Zunächst betont sie, dass die Kunst das taten, mit denen sie über die Sterblichen ganze Universum eröffne, ohne dass die herrscht. Aber bald verdunkelt sich der Sterblichen weit reisen müssten. Nach die- Himmel, mit schroffen Läufen skizzieren ser charmanten Vorüberlegung inszeniert die Streicher ein Unwetter mit Sturmböen Clérambault kurz und knapp die Herzstücke und Blitzen. Aus Angst vor den ›harten der Tragédie lyrique. Gleich im ersten Air Schlägen‹ des Schicksals bringen die Perser wird die Personnage eines ganzen Opern- Opfergaben. So bezwingt die Sonne schließ- abends aufgefahren: Kriegsgott Mars zieht lich die Wolken, und klangvolle Fanfaren mit schmetternden Trompetenfanfaren laden zum ausgelassenen Freudenfest.
SPIEL DER ELEMENTE / FR 12. NOVEMBER 2021 33 Auch wenn das Libretto es nicht explizit er- wie die Fülle an Tanzsätzen und Airs. wähnt, dürfte 1721 in Paris jedem klar gewe- Couperin stellt hier auch die verschiedenen sen sein, dass die Sonne hier für Ludwig XV. Charaktere der Gesangsstücke ganz ohne steht, den Urenkel und Thronfolger des Worte vor: mal langsam, mal schnell, mal sechs Jahre zuvor verstorbenen ›Sonnen- erhaben, dann wieder beschwingt und – königs‹ Ludwig XIV. Der hätte Clérambaults typisch französisch – gerne mit markanten Werk vielleicht nicht recht zu schätzen ge- Rhythmen und vielen kleinen Verzierungen. wusst. Denn mit ihrem Wechsel zwischen Das abschließende »Air baccante« ist eine Rezitativen und Arien war die Kammerkan- Reminiszenz an die ausgelassenen Tanz- und tate eigentlich eine italienische Angelegen- Festszenen der Barockoper, in denen der heit, wo gegen Ludwig XIV. per se eine Weingott Bacchus und sein Gefolge ihren Abneigung hegte. Anders als fast überall Auftritt haben. in Europa konnte die Kantate in Frankreich daher erst in den ersten Jahrzehnten des »TOUTES LES SORTES D’INSTRUMENTS« 18. Jahrhunderts Fuß fassen, als dort der goût réuni in Mode kam, in dem italienischer Couperin betont schon im Titel, seine Esprit und französische Eleganz miteinander Concerts seien »à l’usage de toutes les verschmelzen. sortes d’instruments«, also für alle mögli- chen Instrumente gedacht. Die französi- INSTRUMENTALES IM schen Druckausgaben der Zeit lieferten THEATRALISCHEN GESCHMACK oft ein auf die wesentlichen Notenzeilen reduziertes Gerüst, bisweilen ohne genaue Federführend war der höfische Organist Besetzungsangaben. Das eröffnet den und Cembalist François Couperin, der als Interpreten damals wie heute Spielräume, der ›große Couperin‹ weit über Paris hinaus die von einer Ausführung auf dem Cembalo berühmt war. 1724 veröffentlichte er unter bis zur großen Orchesterbesetzung reichen. dem Titel Les Goûts réünis ou Nouveaux Schon im 18. Jahrhundert war es daher concerts eine Sammlung mit Instrumental- üblich, auf der Grundlage der Drucke eigene werken und pries im Vorwort die Vorzüge Lesarten zu erstellen und womöglich auch der italienischen Musik. Für Versailles Mittelstimmen zu ergänzen. Dieser Auffüh- schrieb Couperin zwar kleinere Vokalwerke, rungspraxis folgen Korneel Bernolet und Il vermutlich aber nie größere Bühnenmusi- Gardellino heute Abend in einigen Werken ken. Dass er aber durchaus eine Ader fürs und laden damit ein, in jene schillernde Theatralische hatte, beweist er im achten Vielfalt einzutauchen, die Tanz und Gesang seiner ›neuen Konzerte‹. Es sei, so schreibt der französischen Barockmusik bis heute er, »dans le goût Théátral«, also im ›theatra- zu bieten haben. lischen Geschmack‹ gehalten. HELGA HEYDER-SPÄTH Tatsächlich eröffnet eine französische (Opern-)Ouvertüre mit ihren punktierten Rhythmen das Werk. Die folgende »Grande Ritournèle« spielt auf die Zwischenspiele an, die genauso zur Tragédie lyrique gehören
34 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE DEBORAH CACHET Die belgische Sopranistin DEBORAH auftreten, mit der Sopranistin Sofie Vanden CACHET gewann 2015 den ersten Preis Eynde gibt sie eine Reihe von Solokonzer- beim Concours International de Chant ten mit französischen Airs de Cour. Debo- Baroque de Froville und war Finalistin des rah Cachet studierte in Leuven an der Luca 8. Antonio-Cesti-Wettbewerbs in Innsbruck. School of Arts bei Gerda Lombaerts und 2019 nahm sie mit Auszeichnung an Le Dina Grossberger und am Conservatorium Jardin des Voix teil, dem Programm von van Amsterdam bei Sasja Hunnego. Danach William Christie und Les Arts Florissants für vervollkommnete sie ihre Gesangstechnik herausragende Gesangstalente. Mit einem bei Rosemary Joshua. Ihre Diskographie Schwerpunkt auf der Musik des 17. und umfasst Interpretationen französischer und 18. Jahrhunderts ist sie heute in renommier- italienischer Barockmusik mit Ensembles ten Konzertsälen Europas zu Gast. Zu ihren und Dirigenten wie dem Collegium 1704 Höhepunkten der aktuellen Saison gehört und Václav Luks, Les Talens Lyriques und neben dem Auftritt bei den TAGEN ALTER Christophe Rousset, Pygmalion und Raphaël MUSIK IN HERNE das Debüt an der Opéra Pichon, Scherzi Musicali und Nicolas Achten, de Nice in Jean-Baptiste Lullys Phaéton. Le Poème Harmonique und Vincent Am Theater an der Wien und an der Opéra Dumèstre, A Nocte Temporis und Vox Royal de Versailles wird sie in Lullys Psyché Luminis sowie Holland Baroque.
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