Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen

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Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen
Junge Menschen brauchen
Kultur. Egal, wie reich ihre
Eltern sind.

Deshalb sorgt Evonik in Essen dafür, dass Kinder
und Jugendliche aus allen Schichten Zugang zu Theater
und Philharmonie bekommen. So leisten wir einen
wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt in unserer Stadt.
Und das von Herzen gern.

www.evonik.de

                                                        Schauspiel Essen 2019 | 2020
                                                                                       SCH AUSPIEL ESSEN
Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen
SPIEL ZE I T
                                                                                                             20 19 | 2020
Miteinander ist einfach.
Wenn Förderung und Beratung Hand in Hand gehen.
Die Sparkasse Essen engagiert sich vielfältig und macht sich stark für das Gemeinwohl,
die Region und die Menschen, die hier leben und arbeiten.

                                                                                         s Sparkasse Essen
Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen
Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen
Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.
                                                Ingeborg Bachmann

    Liebes Publikum,

    „Geschichte schreiben“ – kann man sich das überhaupt vornehmen?
    ­Geschichten ja, aber auch Geschichte? Geschichte passiert gewissermaßen
     mitten im Alltag, und erst die nachfolgenden Generationen entscheiden,
     was geschichtsträchtig war und was nicht – was selbstredend immer eine
     Frage der Perspektive ist.

    In unserer neuen Saison 2019/2020 wollen wir den Versuch unternehmen,
    uns unserer Geschichte mittels Geschichten zu nähern – den großen Um-
    und Aufbrüchen, den Jubiläen und den immer wieder neu erglimmenden
    Brandherden der Weltgeschichte.

    So jährt sich im März 2020 der Ruhraufstand zum hundertsten Mal: Um gegen
    den rechtsgerichteten „Kapp-Putsch“ am 13. März 1920 in Berlin zu demons-
    trieren, waren noch am gleichen Tag überall im Ruhrgebiet Arbeiter auf die
    Straße gegangen und wenig später in einen Generalstreik getreten, an dem
    sich rund 75 % der Bergarbeiter-Belegschaften beteiligten und der den Putsch
    in der Hauptstadt schließlich scheitern ließ. Innerhalb weniger Tage formierte
    sich die Rote Ruhrarmee, die kurzzeitig die Oberhand im Revier gewann,
    jedoch Ende März von Reichswehreinheiten niedergeschlagen wurde. Dass
    es in der Folge nicht mehr gelang, den immer stärker werdenden rechten
    Kräften Einhalt zu gebieten – auch weil man sie zumindest anfangs nicht
    ernst genug nahm, weil man tolerierte, relativierte oder ganz w ­ egschaute –,
    führte schließlich in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, dessen Be-
    ginn im September 1939 sich in diesem Jahr zum achtzigsten Mal jährt.

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Junge Menschen brauchen Kultur. Egal, wie reich ihre Eltern sind - Theater und Philharmonie Essen
Umso aufmerksamer sollten wir heutzutage sein, sowohl im Umgang mit               Das Theater ist vielleicht mehr als jeder andere der Ort, über Geschichte und
    ­geschichtsvergessenen politischen Brandstiftern wie auch in dem mit              Geschichten nachzudenken, Sinnzusammenhänge herzustellen oder erst zu
     pseudo­-toleranten „Biedermännern“. Denn zeigt nicht sowohl die Historie         ergründen, der Reflexion Räume zu geben. Sollten wir nicht die Kunst dazu
     als auch Max Frischs „Lehrstück ohne Lehre“, dass gerade jene konflikt­          nutzen, Geschichte wie Geschichten lebendig zu halten und deren Botschaf-
     scheuen Biedermänner den Brandstiftern oft erst den Raum gegeben haben,          ten an die nächsten Generationen weiterzugeben?
     den sie zur Umsetzung ihrer zumeist vorher offen propagierten Unmensch-
     lichkeiten benötigten?                                                           Dabei rückt auch die „Macht des Erzählens“ in den Mittelpunkt unse-
                                                                                      res ­Interesses: die Schöpferkraft von Fantasie, die Möglichkeit, durch
    Selbstredend sind gerade die berührendsten Geschichten immer auch                 ­Geschichten Welt(en) entstehen zu lassen, die konstituierende wie auch
    ­Spiege­l ihrer Zeit. So lässt uns Hans Fallada einem „kleinen Mann“ ­begegnen,    die ­integrative Kraft von Geschichten und Mythen. Halten wir uns dabei
     der sich zunehmend als Spielball der Verhältnisse empfindet: Die Weltwirt-        immer vor Augen, dass unser Heute erst durch das Gestern möglich wurde
     schaftskrise, ausgelöst durch den Börsencrash des Jahres 1929, schrieb            und dass erst aus allem zusammen das Morgen entsteht. In diesem Sinne
     Geschichte, im Großen wie auch bei den vermeintlich „kleinen Leuten“, die         ist unsere Geschichte mit ihren Geschichten eine wichtige – wenn nicht die
     auch heute viel zu häufig ausgeschlossen bleiben aus einer vom Prinzip            wichtigste – Wurzel unseres Zusammenlebens.
     der Wirtschaftlichkeit dominierten Gesellschaft. Die Folge ist nicht selten
     politische Resignation oder ihr Gegenpol: Radikalisierung.                       Ich freue mich mit Ihnen gemeinsam auf eine anregende, ebenso nachdenk-
                                                                                      liche wie abwechslungsreiche Spielzeit 2019/2020!
    Mit Marius von Mayenburgs „Der Stein“ werfen wir 30 Jahre nach dem Fall
    der Mauer einen heutigen Blick auf eine Zeit, der man das Etikett „Wende“         Ihr
    aufgedrückt hat. Wir wollen zum Nachdenken anregen: über Vergangenes,
    aber auch über Zukünftiges, denn Teilung und Vertreibung sind nach wie vor
    Mittel der Politik. Oder warum sollte man sonst im 21. Jahrhundert wieder
    Mauern bauen wollen?

    Ein Blick auf und in die Geschichte lohnt sich immer, wie schon Ingeborg          Christian Tombeil
    Bachmann wusste; folgen wir also ihrem Rat und werden wieder Schüler,
    damit wir uns durch Narzissmus und Unwissenheit, Hybris und Ignoranz
    nicht unserer Zukunft berauben.

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U N S E R E PA R T N E R
    Allen unseren Förderern, Sponsoren und Kooperationspartnern
    danken wir sehr herzlich für die Unterstützung!                                                                                                                                                  INH A T
                                Arbeitskreis der
                                Kinder- und Jugendtheater NRW                                             4   Vorwort von Intendant Christian Tombeil            40    Ein Gespräch mit Alexander Kluge
                                                                                                          8   Unsere Partner                                     44    Kunst5 – Die TUP-Festtage 2020
                                                                                                         11   Premierenübersicht 2019/2020                       49    Und sonst noch
                                                                                                         13   Wiederaufnahmen 2019/2020                          57    Jazz in Essen
                                                                                                                                                                 60    Theaterpädagogik
                                                                                                         		Die Premieren der Spielzeit 2019/2020                 68    Ensemble
                                                                                                         16   Biedermann und die Brandstifter                    78    Rückblick 2018/2019
                                                                                                         18   Der Stein
                                                                                                         20   Hinter verzauberten Fenstern                       84    Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
                                                                                                         22   After Midnight (Uraufführung)                      88    Die TUP – Theater und Philharmonie Essen
                                                                                                         24   Kleiner Mann – was nun?                            90    Freunde der TUP
                                                                                                         26	Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder               92    Kartenverkauf
                                                                                                              Reich und reich gesellt sich gern                  95    Abonnements 2019/2020
                                                                                                         28   Arbeiterinnen / Pracujące kobiety (Uraufführung)   98    Preise
                                                                                                         30   Sign Here (Uraufführung)                           100   Saalpläne
                                                                                                         32   Peer Gynt                                          102   Abonnement-Bedingungen der TUP
                                                                                Kulturpartner der TUP:
                                                                                                         34   INF2erno (Uraufführung)                            104   Allgemeine Geschäftsbedingungen der TUP
                                                                  Jutta Weber
                                                                                                         36   Die Marquise von O…                                106   Wissenswertes
                                                                                                         38   Der Reichsbürger                                   112   So erreichen Sie uns & Impressum

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P R E M IE E N
                                                                                                                              Uraufführung
                                                                             6+
     Biedermann und die Brandstifter     Hinter verzauberten Fenstern              Kleiner Mann – was nun?                    Arbeiterinnen / Pracujące kobiety
     Ein Lehrstück ohne Lehre            Eine geheimnisvolle Advents­              nach dem Roman                             Ein theatrales Porträt von
     von Max Frisch                      geschichte von Cornelia Funke             von Hans Fallada                           drei Frauengenerationen aus
     Inszenierung: Moritz Peters         Bühnenfassung von Vera Ring               Bühnenfassung von                          ­Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet
     Premiere am 20. September 2019      Musik von Dominik Dittrich                Thomas Ladwig und Vera Ring                 und Niederschlesien
     Gefördert von der Sparkasse Essen   Inszenierung: Anne Spaeter                Inszenierung: Thomas Ladwig                 von werkgruppe2
                                         Musikalische Leitung:                     Premiere am 28. Februar 2020                In deutscher und polnischer Sprache
     Der Stein                           Dominik Dittrich                                                                      mit deutschen Übertiteln
                                         Premiere am 16. November 2019             Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder       Inszenierung: Julia Roesler
     von Marius von Mayenburg
                                         Gefördert von der Stadtwerke Essen AG     Reich und reich gesellt sich gern           (werkgruppe2)
     Inszenierung: Elina Finkel
                                                                                                                               Premiere am 28. Mai 2020
     Premiere am 26. Oktober 2019                                                  Ein Greuelmärchen
                                         Uraufführung                                                                         Eine Koproduktion von werkgruppe2 mit dem
                                                                                   von Bertolt Brecht                         Schauspiel Essen, Teatr Polski – w podziemiu /
                                         After Midnight
                                                                                   Musik von Hanns Eisler                     Polski Theatre in the Underground und den
                                         Ein tiefer Blick in Gläser                Inszenierung:                              Ruhrfestspielen Recklinghausen
                                         und Abgründe                                                                         Gefördert von der Kunststiftung NRW und
                                                                                   Hermann Schmidt-Rahmer
                                                                                                                              vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln
                                         mit Songs von Clapton,                    Premiere am 25. April 2020                 der Beauftragten der Bundesregierung für
                                         Cash und Cohen                                                                       Kultur und Medien
                                         von Florian Heller                                                                   Mit Unterstützung des Internationalen
                                         Inszenierung: Christian Tombeil                                                      ­Koproduktionsfonds des Goethe-Instituts
                                         Musikalische Leitung:

                                                                                                                           R E C K L I N G H AU S E N
                                         Hajo Wiesemann

                                                                                                                           R U H R F E ST S P I E L E
G R I L LO -T H E AT E R
                                         Premiere am 14. Dezember 2019
                                         Gefördert vom Freundeskreis Theater und
                                         Philharmonie Essen e. V.
PR E                   IE R E N                                                                                                                            W IE D E R U F N A H M E N
  Uraufführung                                                                                                   Das versteckte Zimmer                                                                                                   Uraufführung
                                                      16+                                                                                          3+                                                                                                                                                    4+
  Sign Here                              Peer Gynt                            Der Reichsbürger                   Look at me! Ich bin das Grillo!             Der Kirschgarten                         Biografie: Ein Spiel               Stromer     6+                              Ein König zu viel
  Ein theatrales Adventure-Game          von Henrik Ibsen                     von Annalena und                   Konzept, Bühne und Kostüme:                 von Anton Tschechow                      von Max Frisch                     nach dem Bilderbuch von Sarah V.            Theaterstreit für Kinder ab 4 Jahren
  von machina eX                         Inszenierung: Karsten Dahlem         Konstantin Küspert                 Aline Bosselmann,                           Aus dem Russischen                       Neue Fassung 1984                  und Claude K. Dubois                        von Gertrud Pigor
  Konzept und Gamedesign:                Premiere am 13. Dezember 2019        Inszenierung, Bühne                Marguerite Windblut                         von Elina Finkel                         Inszenierung: Thomas Ladwig        Aus dem Französischen                       mit Musik von Jan-Willem Fritsch
  machina eX                             Gefördert von der GENO BANK Essen    und Kostüme: Thomas Krupa          Premiere im Mai 2020                        Inszenierung: Alice Buddeberg            Ab dem 20. Dezember 2019           von Tobias Scheffel                         Inszenierung: Christian Tombeil
  Premiere am 28. September 2019                                              Premiere am 21. September 2019                                                 Ab dem 27. September 2019                                                   Inszenierung & Bühne:                       Ab dem 14. September 2019
  Eine Koproduktion von machina eX und   Uraufführung                                                                                                        Gefördert von der Kulturstiftung Essen   Ein großer Aufbruch                compagnie toit végétal
  Schauspiel Essen                       INF 2erno                                                                                                                                                                                       (Sarah Mehlfeld, Thomas Jäkel,              Der stumme Diener
  Gefördert von der Brost-Stiftung                                                                                                                                                                    von Magnus Vattrodt
                                                                                                                                                             Cash –                                                                      Christina Hillinger)
                                         Live Animation Cinema                                                                                                                                        nach seinem gleichnamigen Film                                                 von Harold Pinter
                                                                                                                                                             Und ewig rauschen die Gelder                                                Ab dem 20. Oktober 2019
                                         von sputnic                                                                                                                                                  Inszenierung: Gustav Rueb          In Kooperation mit compagnie toit végétal   Deutsch von Michael Walter
                                         nach Dante Alighieris                                                                                               Eine Farce von Michael Cooney                                               und überzwerg – Theater am Kästner-         Inszenierung:
                                         „Die göttliche Komödie“                                                                                             Ins Deutsche übertragen                  Der Besuch der alten Dame          platz, Saarbrücken                          Tabea Nora Schattmaier
                                         Künstlerische Leitung: sputnic                                                                                      von Paul Overhoff                                                                                                       Ab dem 27. September 2019
                                                                                                                                                                                                      Eine tragische Komödie                       14+
                                         (Nils Voges, Malte Jehmlich)                                                                                        Inszenierung: Tobias Materna                                                Tschick
                                                                                                                                                                                                      von Friedrich Dürrenmatt
                                         Text und Inszenierung: Nils Voges                                                                                   Ab dem 12. Oktober 2019                                                                                                 Am Boden
                                                                                                                                                                                                      Inszenierung: Thomas Krupa         von Wolfgang Herrndorf
                                         Premiere am 29. Februar 2020                                                                                        Gefördert vom Freundeskreis
                                                                                                                                                             Theater und Philharmonie Essen e. V.     Mit freundlicher Unterstützung     Bühnenfassung von Robert Koall              von George Brant
                                                                                                                                                                                                      der Sparkasse Essen aus Mitteln    Konzeption: polasek&grau                    Deutsch von Henning Bochert
                                                                  16+
                                         Die Marquise von O…                                                                                                                                          der ­Lotterie „PS-Sparen und
                                                                                                                                                                                                                                         Inszenierung:                               Inszenierung: Felicia Daniel
                                                                                                                                                                                                      Gewinnen“
                                         nach der Novelle                                                                                                                                                                                Jana Milena Polasek
                                         von Heinrich von Kleist                                                                                                                                                                                                                     Die erstaunlichen

                                                                                                                                                        G R I L LO -T H E AT E R
                                         Inszenierung: Christopher Fromm                                                                                                                                                                                                                                              8+
M A X ST R A SS E 54

                                                                                                                                                                                                                                                                                     Abenteuer der Maulina Schmitt
                                         Premiere am 24. April 2020
                                                                                                                                                                                                                                                                                     nach dem Buch

                                                                                                               HELDENBAR
                                                                                                                                                                                                                                                                                     von Finn-Ole Heinrich
                                                                                                                                                                                                                                                                                     Inszenierung: Tobias Dömer
                                         CASA

                                                                                                                                                                                                                                        CASA
                                                                             B OX

                                                                                                                                                                                                                                                                                     B OX
B IE D E R M A N N U N D DIE B R A N DST IF T E R
Ein Lehrstück ohne Lehre
von Max Frisch

         er Haarwasserfabrikant Gottlieb Biedermann hat es        Seite bzw. gegenüberstellt, warnt ohne Wirkung – bis es zum          Inszenierung
         satt. Ob am Stammtisch oder zuhause: Überall wird        Löschen zu spät ist! Max Frisch lässt seinen Protagonisten im        Moritz Peters
         nur noch von vagabundierenden Brandstiftern geredet,     1959 ergänzten Nachspiel auf „schuldlos“ plädieren und zeigt         Bühne
die zündeln und ganze Städte in Schutt und Asche legen. Sei-      damit einen uneinsichtigen Biedermann, der noch immer nicht          Nehle Balkhausen
ne Frau Babette kann deswegen schon gar nicht mehr richtig        verstanden hat, dass totalitäre Systeme nicht zuletzt mit Hilfe      Kostüme
schlafen. Prompt steht auch vor der Tür des Geschäftsmannes       der Bevölkerung entstehen. Denn: „Wegschauen ist Ermög­              Arianna Fantin
ein fremder Mann und bittet um Hilfe. Handelt es sich hier etwa   lichen.“ (Oskar Negt)                                                Videografie
um einen dieser dreisten Brandstifter? Der Obdachlose appel-                                                                           Moritz Ermert
liert an Biedermanns Mitgefühl, bis dieser ihm Unterschlupf ge-   Moritz Peters, geboren 1981 in New Haven, USA, absolvierte           Musik und Sounddesign
währt. Mulmig wird dem Hausherrn jedoch spätestens, als mit       von 2001 bis 2005 ein Schauspielstudium an der Hochschule für        Marc Eisenschink
Wilhelm Eisenring ein weiterer Gast einzieht; noch m ­ ulmiger,   Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Anschließend war          Dramaturgie
als die Besucher Benzinfässer auf dem Dachboden lagern,           er vier Jahre lang Ensemblemitglied des schauspielfrankfurt.         Florian Heller
Zündschnüre basteln und ständig nach Streichhölzern fragen.       2009 wechselte er ans Zimmertheater Tübingen, wo er auch
Da hilft nur die Flucht nach vorn: Biedermann lädt die Gäste      eine erste eigene Inszenierung realisierte. Von 2010 bis 2013        Premiere
zu einem großzügigen Abendessen ein – man zündet doch wohl        war er als Regie­assistent am Schauspiel Essen engagiert. Seit       20. September 2019
nicht das Haus seines freundlichen Gastgebers an! Oder doch?      2013 ist M
                                                                           ­ oritz Peters als freischaffender Regisseur tätig, u. a.   Grillo-Theater
                                                                  am Staats­theater Cottbus, Theater Münster, Rheinischen Landes-
  Max Frisch beschreibt in seinem „Lehrstück ohne Lehre“ aus      theater Neuss und am Theater Potsdam. „Biedermann und die            Gefördert von der
                                                                                                                                       Sparkasse Essen
dem Jahr 1957 meisterhaft, wie eine aufgeklärte Bürgerschaft      Brandstifter“ ist bereits seine fünfte Arbeit für das Schauspiel
nicht nur gesellschaftszersetzende Strukturen akzeptiert,         Essen. Seine Inszenierung von Franz Kafkas „Der Prozess“ wurde
sondern sie durch die eigene Passivität sogar erst ermöglicht.    2014 zum NRW-­Theatertreffen eingeladen. Dafür erhielt er zu-
Während die Brandstifter offen zugeben, Brandstifter zu sein,     dem eine Nennung zum Nachwuchsregisseur des Jahres in der
verschließt Biedermann die Augen vor dieser Wahrheit. Eine        Fachzeitschrift ­Theater heute. Am Schauspiel Essen inszenierte
hochexplosive Mixtur aus Bequemlichkeit und falsch verstan-       Moritz Peters zuletzt in der Spielzeit 2015/2016 Bertolt Brechts
dener Toleranz, aus Hilfsbereitschaft und Konfliktvermeidung,     „Der gute Mensch von Sezuan“.
aber auch aus Geschäftssinn und Egoismus ebnet dem zerstö-
rerischen Zündeln den Weg. Der mahnende (Feuerwehr-)Chor,
den Frisch nach antikem Vorbild seinem Protagonisten zur

                                                                                                                                                            17
D E R ST E IN
von Marius von Mayenburg

          in Haus in Dresden, 1993. Witha zieht mit Tochter           Elina Finkel wurde in Odessa geboren, emigrierte 1978 aus           Inszenierung
          ­Heidrun und Enkelin Hannah dort nach langer Abwesen-       der Ukraine und lebt nach Aufenthalten in Israel, Italien und       Elina Finkel
           heit wieder ein. Hier hat sie fast 20 Jahre ihres Lebens   Österreich jetzt in Deutschland. Seit 2003 arbeitet sie als freie   Bühne
verbracht. 1935 hatte Witha das Haus gemeinsam mit ihrem              ­Regisseurin an verschiedenen Theatern, u. a. am Theater Aachen,    Nobert Bellen
­Ehemann Wolfgang einer jüdischen Familie abgekauft. Voller            Theater Erlangen, Theater Konstanz, Theater Osnabrück und am       Kostüme
 Erinnerungen steckt das Gebäude, Erinnerungen an Wolfgang,            Staatstheater Oldenburg. Elina Finkel ist zudem als Übersetzerin   Jessica Karge
 an Krieg, an ihre Republikflucht in den Westen 1953. Während          von russischer Dramatik tätig. Ihre Übersetzung von T­ schechows   Dramaturgie
 Hannah an einem Referat über Vorbilder arbeitet und dafür ­ihren      „Kirschgarten“ wird derzeit am Schauspiel Essen gespielt. „Der     Carola Hannusch
 Großvater auswählt, der während der NS-Zeit eine jüdische             Stein“ ist nach der Deutschsprachigen Erstaufführung von
 ­Familie rettete, kommt eine Fremde, Stefanie, zu Besuch um „zu       ­Cathleen Rootsaerts „Choke“ in der Spielzeit 2010/2011 ihre       Premiere
  stören“. Auch sie hat einmal in diesem Haus gelebt und macht          zweite Arbeit am Schauspiel Essen.                                26. Oktober 2019
  nun Ansprüche geltend – rechtlicher und moralischer Art ...                                                                             Grillo-Theater

  Marius von Mayenburg verbindet in „Der Stein“ Gewesenes,
Gegenwärtiges und Zukünftiges. Knapp 60 Jahre deutscher
Geschichte verdichtet er zu einem hochspannenden Familien­
drama, das sowohl die Zeit des Nationalsozialismus als auch
die innerdeutschen Ver- und Entwicklungen, die mit Gründung
und Zerfall der DDR einhergingen, beleuchtet. Dabei vollzieht
der 1997 mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatik aus-
gezeichnete Autor in raffinierten Zeitsprüngen die Schicksale
von fünf Frauen nach, deren Konfrontation miteinander Fragen
nach Schuld und Verdrängung aufwirft. Allen Figuren gemein-
sam ist die Flucht vor der eigenen Vergangenheit bzw. deren
Mythologisierung. Doch wie lange lässt sich eine sorgsam auf-
gebaute Familienlegende aufrecht erhalten?

                                                                                                                                                             19
6+
HIN T E R V E R Z AU B E R T E N F E N ST E R N
Eine geheimnisvolle Adventsgeschichte von Cornelia Funke
Bühnenfassung von Vera Ring
Musik von Dominik Dittrich

      o eine Gemeinheit! Da hat sich Julia so sehr auf ihren         Manchmal ist Fantasie einfach wichtiger als Schokolade:           Inszenierung
      Schokoladen-Adventskalender gefreut, und plötzlich fin-     ­ iese Erkenntnis mag nicht jedem schmecken, aber spätestens
                                                                  D                                                                    Anne Spaeter
      det Mama allen Ernstes, dass sie für so etwas schon zu      dann einleuchten, wenn Julia und ihre ebenso eigenwilligen           Musikalische Leitung
alt ist?! Wie kann man denn dafür zu alt sein? Und während        wie liebenswerten Freunde in Cornelia Funkes zauberhafter            Dominik Dittrich
ihr nerviger kleiner Bruder Olli stolz mit seinem schokoladigen   Adventsgeschichte mit viel Einfallsreichtum, Mut und Zusam-          Bühne
Kalender angibt, bekommt Julia diesmal nur einen mit blöden       menhalt ihr turbulentes Abenteuer erleben. Aber zum Glück            Fabian Lüdicke
Bildern: ein langweiliges, dunkles Haus mit vielen Fenstern.      muss man sich ja in den allermeisten Fällen nicht zwischen           Kostüme
   Doch schon bald entdeckt Julia, dass ihr silbrig glitzernder   dem einen und dem anderen entscheiden: „Schreiben ist für            Anne Koltermann
Kalender ein aufregendes Geheimnis birgt: Wenn sie lange ge-      mich wie Schokolade“, verriet die weltweit erfolgreiche Best-        Dramaturgie
nug in eines der Fenster hineinsieht, findet sie sich plötzlich   seller-Autorin anlässlich ihres 60. Geburtstags im Winter 2018.      Vera Ring
mitten in dem baufälligen alten Haus wieder! Hier lernt sie       Dann können wir ja aufatmen!
den tollpatschigen Flugmaschinenerfinder Jakobus Jammernich                                                                            Premiere
und seine Mitbewohner kennen: die quirlige Elfe Melissa, den      Anne Spaeter gab 2008 in Kiel ihr Regiedebüt mit der Shake­          16. November 2019
verschlafenen Heinzelmann Barney, den freundlichen Riesen         s­peare-Collage „Meuchlings – per Eilpost zum Himmel“. Für ihre      Grillo-Theater
Riesig und sogar einen echten Prinzen, Harry, den Hässlichen!     Inszenierung von Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ am ­Theater
Die Hausbewohner ihrerseits können ihr Glück kaum fassen:         Krefeld Mönchengladbach wurde sie 2010 mit dem Joachim               Alle Vorstellungstermine
Weil es inzwischen fast nur noch Schokoladen-Kalender gibt,       Fontheim-Preis für Nachwuchsregie ausgezeichnet. Es folgten          finden Sie auf S. 98.
hat sich schon seit vielen Jahren kein Kind mehr in der Kalen-    ­Arbeiten an der Landesbühne Niedersachsen Nord, am Staats­          Der Kartenvorverkauf
derwelt sehen lassen, und etliche der verzauberten Häuser sind     theater Meiningen, Schauspiel Kiel, Theater Hof, bei den Ganders-   beginnt am 29. Juni 2019.
inzwischen verlassen und verfallen. Grund genug für Jakobus,       heimer Domfestspielen sowie am Stadttheater Bremerhaven. Am
den lang ersehnten Gast dem zerstreuten alten König höchst-        Schauspiel Essen inszenierte sie bereits das Kinderstück „Ente,     Gefördert von der
                                                                                                                                       Stadtwerke Essen AG
persönlich vorzustellen. Doch dessen eiskalter Berater Leo, der    Tod und Tulpe“, Yasmina Rezas Kult-Komödie „Kunst“ sowie die
Lügner, führt Böses im Schilde: Er will den König überreden,       erfolgreichen Familienstücke „Jim Knopf und Lukas der Lokomotiv­
alle Kalenderhäuser zu schließen, ihre Bewohner rauszuwer-         führer“, „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ und
fen und stattdessen nur noch moderne, aber unbewohnbare            „Der Zauberer von Oz“.
Schokoladenhäuser zu bauen. Wird es Julia und ihren neuen
Freunden gelingen, Leos teuflischen Plan zu durchkreuzen?

                                                                                                                                                              21
Uraufführung

A F T E R MID NIG H T
Ein tiefer Blick in Gläser und Abgründe
mit Songs von Clapton, Cash und Cohen
von Florian Heller

      tellen Sie sich vor, was hätte passieren können, wenn            Ausgangspunkt für „After Midnight“ war die Idee von Ensemble-     Inszenierung
      Eric Clapton, Johnny Cash und Leonard Cohen ein un-           mitglied Thomas Büchel zu einem musikalischen Programm               Christian Tombeil
      vergleichliches gemeinsames Konzert gegeben hätten.           mit Songs von Eric Clapton, Johnny Cash und Leonard Cohen.           Musikalische Leitung
   Und nun hören Sie bitte wieder auf, sich das vorzustellen,       Als „Grindhouse-Liederabend“ irgendwo im Niemandsland                Hajo Wiesemann
denn an dem Ort, an dem wir uns befinden, ist keiner der            zwischen Edward-Hopper-Gemälden, Tarantino und Blues ver-            Bühne und Kostüme
drei je gewesen: Mitten im amerikanischen „Rust Belt“ liegt         knüpft das Stück seine Figuren mit Songs dieser drei Musik-          Ivonne Theodora Storm
zwischen einer Tankstelle und einem Reifenlager das „After          Ikonen, deren Werke und Biografien exemplarisch für tiefe Ein-       Dramaturgie
Midnight“, und wie die gesamte Region hat auch dieser Laden         sichten, tiefe Gefühle, aber auch tiefe Abgründe stehen: „There      Florian Heller
schon ­bessere Tage gesehen. Als Patties Mutter ihn eröffne-        is a crack in everything. That's how the light gets in.“
te, spielten hier allabendlich mehr oder minder erfolgreiche                                                                             Premiere
Bands, und die Spirituosen flossen in Strömen. Jetzt fließt gar     Christian Tombeil ist seit 2010/2011 Intendant des Schauspiel        14. Dezember 2019
nichts mehr, vor allem kein Geld, und Pattie hätte der trost-       Essen. Ausgebildet zum klassischen Tänzer, studierte er zunächst     Grillo-Theater
losen Spelunke und ihrer Heimatstadt längst den Rücken ge-          Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart. Dem Studium folg-
kehrt, gäbe es nicht einerseits die Verpflichtung dem mütter-       ten Regieassistenzen, und ab 1990 arbeitete Christian Tombeil        Gefördert vom
                                                                                                                                         Freundeskreis Theater
lichen Erbe gegenüber und andererseits ihren Freund Rick, der       als Regisseur für Schauspiel und Musiktheater sowie als Light-
                                                                                                                                         und Philharmonie Essen e. V.
seine Karriere als Musiker partout nicht aufgeben will. Ausge-      designer unter anderem in Wien, Stuttgart, Düsseldorf und
rechnet in einer stürmischen und schneeverwehten Silvester-         ­Brüssel. Von 1997 bis 2010 war er Stellvertretender General­
nacht will er mit einem Konzert im „After Midnight“ das große        intendant und Künstlerischer Betriebsdirektor an den Vereinigten
Comeback seiner Band feiern.                                         Städtischen Bühnen Krefeld und Mönchengladbach, wo er vielfach
   Aber in dieser Nacht treibt vielleicht Zufall, vielleicht eine    inszenierte. Lehraufträge führten ihn an zahlreiche Universitäten
Planetenkonstellation oder einfach nur die Kälte auch noch den       und Hochschulen. Am Schauspiel Essen inszenierte er zuletzt das
reisenden Händler Cassius und den eloquenten, aber geheim-           Auftragswerk zum 125. Geburtstag des Grillo-Theaters: „Jupp –
nisvollen Dichter Norman in die Bar. Vier einsame Seelen sitzen      ein Maulwurf auf dem Weg nach oben“ von Gertrud Pigor.
nun abgeschnitten von der Außenwelt am Tresen des „­ After
Midnight“, und es entspinnt sich ein abgründiges Spiel um
Zukunft, Vergangenheit, Liebe, Trauer, Schuld und Hoffnung.

                                                                                                                                                                    23
K LE IN E R M A N N – WA S N U N?
nach dem Roman von Hans Fallada
Bühnenfassung von Thomas Ladwig und Vera Ring

          eplant war es nicht, aber zu ändern ist es jetzt auch        Mit seinem Roman „Kleiner Mann – was nun?“ wurde Hans                 Inszenierung
          nicht mehr: Emma erwartet ein Kind, und der junge          Fallada 1932 weltbekannt. „Daß einer aus dieser Dreckzeit, aus          Thomas Ladwig
          Angestellte Johannes Pinneberg ist der Vater. Und der      Dreck und Feuer dieser Zeit also nicht nur keine Spottgeburt,           Bühne
kann sein „Lämmchen“ doch nicht einfach so sitzen lassen –           sondern etwas Herrliches machen kann, DAS ist das Mirakel!“,            Ulrich Leitner
auch wenn die Zeiten nicht eben die besten sind: Anfang der          schrieb ihm ein begeisterter Leser. Das lähmende Gefühl der             Kostüme
Dreißiger Jahre grassiert die Inflation und mit ihr die Angst vor    Ohnmacht, der Scham und der (politischen) Resignation im                Anita Könning
Arbeitslosigkeit und Armut. Aber: „Fleißig sind wir, sparsam         Angesicht der Weltwirtschaftskrise und des privaten sozialen            Dramaturgie
sind wir, schlechte Menschen sind wir auch nicht … – warum           Abstiegs: Wie kein anderer vor ihm hat Fallada den Nerv der             Vera Ring
soll es uns da eigentlich schlecht gehen? Das hat doch gar kei-      Zeit getroffen, die Ängste und Sorgen des „kleinen Mannes“ in
nen Sinn!“ Warum also nicht heiraten? Warum nicht optimis-           Worte gefasst und zugleich die schmerzhaft aktuelle Frage nach          Premiere
tisch in die Zukunft blicken? Denn der „Murkel“, da sind sich die    der Möglichkeit von individuellem Glück in einer vom Prinzip            28. Februar 2020
angehenden Eltern einig, „soll nichts auszustehen haben“. Doch       der Wirtschaftlichkeit dominierten Gesellschaft gestellt, die           Grillo-Theater
das Leben ist hart in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, und      auch heute noch konsequent jeden ausschließt, der ihren öko-
Arbeitsplätze sind rar. Auch Johannes Pinneberg verliert seine       nomischen Maßstäben nicht genügen kann.
Stellung und steht wie Millionen anderer von jetzt auf gleich
vor dem Nichts. Schnell wird die kleine Familie vom harten All-      Thomas Ladwig, geboren 1981 in Essen, studierte Theaterwissen-
tag eingeholt: Wohnungsnot, Inflation und Armut machen nun           schaft und Germanistik an der Universität Leipzig. Bereits während
auch vor den Pinnebergs nicht mehr Halt. Kleiner Mann, was           des Studiums entstanden erste eigene Inszenierungen. Es folgten
nun? Das junge Ehepaar setzt alles auf eine Karte: In B   ­ erlin,   vier Jahre als Regieassistent am Schauspiel Leipzig und Schauspiel
bei Pinnebergs extravaganter Mutter Mia, hofft es, Arbeit und        Essen. Seit 2010 arbeitet Thomas Ladwig als freier Regisseur, zum
Unterkunft zu finden. Hier lockt das Großstadtleben, und Unter       Beispiel am Theater Aachen, am Theater Lüneburg, am Landes-
den Linden tanzt man in Bars und auf dem Vulkan. Für den             theater Schwaben, am Schauspielhaus Bochum und immer wieder
„kleinen Mann“ jedoch werden die Zeiten immer schwerer. Trot-        auch am Schauspiel Essen, wo er unter anderem „Kaspar Häuser
zig versuchen Pinneberg und sein Lämmchen, ihr kleines Glück         Meer“, „Die Wanze“ und „Willkommen“ inszenierte. Für seine Insze­
gegen alle Härten des Lebens zu verteidigen ...                      nierung von Jonathan Safran Foers Roman „Alles ist erleuchtet“
                                                                     wurde er in der Kritikerumfrage 2015 der Fachzeitschrift Theater
                                                                     heute als bester Nachwuchsregisseur nominiert. Zuletzt brachte er
                                                                     Max Frischs „Biografie: Ein Spiel“ auf die Bühne des Grillo-Theaters.

                                                                                                                                                                25
DIE R U N D KÖ P F E U N D DIE SP I T Z KÖ P F E O D E R
R E IC H U N D R E IC H G E SE LLT SIC H G E R N
Ein Greuelmärchen von Bertolt Brecht
Musik von Hanns Eisler

      er Vizekönig von Jahoo wagt das Wort kaum in den Mund        1936 auch seine Uraufführung erlebte. In seinem bissig-bösen           Inszenierung
      zu nehmen: „Bankrott!“. Überproduktion, fallende Preise      und zugleich unterhaltsamen „Greuelmärchen“ spiegelt Brecht            Hermann Schmidt-Rahmer
      und der daraus resultierende Konflikt zwischen zahlungs-     Aufstieg, Herrschaft und Machtmechanismen des Hitler­regimes           Bühne
unfähigen Pächtern und unerbittlichen Pachtherren haben zur        und von Diktaturen im Allgemeinen und zeigt eindrücklich,              Daniel Angermayr
Zerrüttung des Staates geführt. Und nun formiert sich auch         dass sich hinter fremdenfeindlichen, ausgrenzenden und men-            Dramaturgie
noch ein bedrohlicher Bauernaufstand unter dem Zeichen der         schenverachtenden Strukturen kapitalistische Strategien und            Carola Hannusch
„Sichel“. Um die sozialen Unruhen in den Griff zu bekommen,        wirtschaftliche Überlegungen verbergen.
sucht der verzagte Regent Hilfe beim skrupellosen Ideologen                                                                               Premiere
Iberin und seiner „großen Entdeckung“: Die Spitzköpfe sind          Hermann Schmidt-Rahmer, geboren 1960 in Düsseldorf,                   25. April 2020
schuld an allem! Während sich Iberin einerseits dem Volk als        ­studierte Musikwissenschaft und Philosophie in München und           Grillo-Theater
gerechter neuer Statthalter präsentiert, der unparteiisch ­gegen   absolvierte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste
soziale Ungleichheit vorgeht, unterteilt er andererseits die       Berlin. Nach Engagements an der Freien Volksbühne Berlin, am
Einwohner von Jahoo aufgrund ihrer Physiognomie in Rund-           Schauspiel Köln, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am
und Spitzköpfe. So lassen sich wunderbar die Schuldigen an         Burgtheater Wien arbeitet er seit 1990 als freier Regisseur, u. a.
der Misere benennen und „an Stell des Kampfs von arm und           in Köln, Berlin, Basel, am Theater Dortmund, Düsseldorfer Schau-
reich“ zwei Bevölkerungsgruppen aufeinander hetzen. Die Saat       spielhaus, Schauspielhaus Bochum, Volkstheater Wien sowie am
geht auf: Gleichermaßen angestachelt wie eingeschüchtert           Schauspiel Frankfurt. Hermann Schmidt-Rahmer ist zudem A      ­ utor
von einer Terrormiliz verraten rund- und spitzköpfige Pächter      und Übersetzer sowie Professor für Szene an der Universität der
all jene, mit denen sie gerade noch Seite an Seite unter der       Künste in Berlin. 2011 wurde er mit „Rechnitz. Der Würgeengel“
­„Sichel“ kämpften ...                                             am Düsseldorfer Schauspielhaus für den Theate­rpreis „DER
                                                                   FAUST“ nominiert. Er arbeitete bereits mehrmals am Schauspiel
  Ursprünglich als Bearbeitung von William Shakespeares            Essen, u. a. inszenierte er Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“
„Maß für Maß“ gedacht, entfernte Bertolt Brecht sich 1932 von      (2011/2012), „Manderlay“ nach Lars von Trier (2013/2014),
dieser Idee und verarbeitete schließlich zentrale Motive der       ­„Dämonen“ von Fjodor Dostowjewski (2016/2017) sowie in der
Komödie in seiner Parabel von den Rundköpfen und den Spitz-         Spielzeit 2018/2019 die Deutsche Erstaufführung „Die Haupt-
köpfen. Brecht beendete das Stück im dänischen Exil, wo es          stadt“ nach dem Roman von Robert Menasse.

                                                                                                                                                              27
Uraufführung

A R B E I T E R IN N E N / P R AC U J ĄC E KO B IE T Y
Ein theatrales Porträt von drei Frauengenerationen aus Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet und Niederschlesien
von werkgruppe2
In deutscher und polnischer Sprache mit deutschen Übertiteln

         ozialer Abstieg hat viele Gesichter. Auch in Europa           werkgruppe2 ist ein freies Theaterkollektiv, das sich seit 2009          Inszenierung
         ­schreiben existenzielle Bedrohung, persönliches Em­p-­       in dokumentarischen Projekten mit der sozialen Wirklichkeit aus          Julia Roesler (werkgruppe2)
          finden und unterschiedlich ausgeprägte staatliche            der Perspektive von Menschen befasst, die zumeist zu gesellschaft­       Bühne und Kostüme
­Unterstützungsleistungen ganz individuelle Geschichten. Ein           lichen Minderheiten, Unsichtbaren oder Ausgeklammerten zählen.           Léa Dietrich, Viva Schudt
 vergleichender Blick auf Europa hilft um zu begreifen, wie sich       Die Arbeiten des Kollektivs beruhen auf ausführlichen journalis-         Komposition
 Arbeitsbiografien heute verflüssigen, auch da ganze Berufsfelder      tischen Recherchen und loten die Grenzen von Schauspiel und              Insa Rudolph (werkgruppe2)
 verschwinden. Der Dokumentartheaterabend „Arbeiterinnen /             Musiktheater, Dokumentation und Fiktion aus. Dabei untersucht            Video
 Pracujące kobiety“ fragt, wie sich das Verhältnis von Identität und   werkgruppe2 stets, was Dokumentation bedeutet, wie Wirklichkeit          Isabel Robson
 Arbeit innerhalb von drei Frauengenerationen in Arbeiterfamilien      abgebildet und wie stellvertretend für Menschen gesprochen wer-          Dramaturgie
 in Deutschland und Polen entwickelt hat: In welchem Zusammen-         den kann. werkgruppe2 besteht aus der Regisseurin Julia Roesler,         Silke Merzhäuser
 hang stehen die Erfahrung eines sozialen Abstiegs mit politischen     der Musikerin und Komponistin Insa Rudolph und der Dramaturgin           (werkgruppe2),
 Haltungen, Erwartungen und Wünschen? Fördert drohende oder            Silke Merzhäuser. Neben eigenen Theater- und Filmproduktionen,           Judith Heese, Piotr Rudzki
 zunehmende Armut ausgrenzendes Verhalten gegenüber anderen            wie zuletzt den mehrfach ausgezeichneten Kurzfilm „Marina“, hat          Konzept und Recherche
 oder verstärkt sie gar die Tendenz, Rassismus wieder zu einem         werkgruppe2 zahlreiche Koproduktionen realisiert, u. a. mit dem          Piotr Rudzki, werkgruppe2
 legitimen Instrument innerhalb der Politik zu machen? Inwiefern       Deutschen Theater in Göttingen, dem Oldenburgischen Staats-              Text
 prägt die Herkunft den sozialen Status, Bildungschancen und poli-     theater, dem Staatstheater Braunschweig, dem Nationaltheater             Silke Merzhäuser,
 tisches Denken? Und ist dies in Polen anders als in Deutschland?      Craiova/Rumänien und dem Badischen Staatstheater Karlsruhe.              Julia Roesler
                                                                       „Arbeiterinnen / Pracujące kobiety“ ist die erste Inszenierung des
  Ein Jahr lang führt werkgruppe2 Interviews mit Frauen aus drei       Theaterkollektivs am Schauspiel Essen.                                   Premiere
Generationen, die in zwei durch Arbeitslosigkeit und hohe Armuts-                                                                               28. Mai 2020
rate gekennzeichneten, strukturschwachen Industrie-Regionen le-        Eine Koproduktion von werkgruppe2 mit dem Schauspiel Essen,              Ruhrfestspiele
ben. Der auf Gesprächstranskriptionen basierende Theaterabend          Teatr Polski – w podziemiu / Polski Theatre in the Underground           Recklinghausen
                                                                       und den Ruhrfestspielen Recklinghausen
wird ausschließlich aus der Sicht von Frauen erzählt, denn bis
                                                                       Gefördert von der Kunststiftung NRW und vom Fonds Darstellende Künste
heute sind überwiegend sie es, die in ihrer Haushaltsführung die       aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
                                                                                                                                                Premiere im Grillo-Theater
Anzeichen für Verarmung zuallererst spüren. Und sie sind es auch,      Mit Unterstützung des Internationalen Koproduktionsfonds                 in der Spielzeit 2020/2021
deren Perspektiven bislang weitgehend unerzählt geblieben sind.        des Goethe-Instituts

                                                                                                                                                                        29
Uraufführung

SIG N H E R E
Ein theatrales Adventure-Game von machina eX

       iehen Sie eine Wartenummer. Begeben Sie sich in Zimmer        Und was passiert mit denen, die sich in der Welt der Vorschrif-             Konzept und Gamedesign
       B14. Setzen Sie sich. Füllen Sie dieses Formular aus. Lesen   ten nicht zurechtfinden? „Sign Here“ fragt nach den (Spiel-)                machina eX
       Sie sich diese Belehrung gründlich durch. Unterschreiben      Regeln und Hürden in einem System, das Neutralität behauptet                Inszenierung
Sie, dass Sie alles verstanden haben. Unterschreiben Sie, dass       und doch weit davon entfernt ist, alle gerecht zu behandeln.                Yves Regenass (machina eX)
Sie mit allem einverstanden sind. Unterschreiben Sie, dass Sie                                                                                   Text Clara Ehrenwerth
­persönlich unterschrieben haben. Na hören Sie mal! Bei mir            Das Initial für das neueste Theater-Game von machina eX                   (machina eX)
 brauchen Sie sich da nicht beschweren – ich mache hier auch         war der Wunsch des Schauspiel Essen, sich mit Analphabetis-                 Szenografie
 nur meine Arbeit.                                                   mus zu beschäftigen. Betroffene erleben die Leseunfähigkeit                 Barbara Lenartz
                                                                     als Stigma, das verborgen werden muss und daher oftmals                     Technische Leitung
   „Sign Here“ schickt das Publikum auf die Behörde. Dort strei-     tabuisiert wird. Diesem Thema nähert sich machina eX auf                    und Programmierung
fen allesfressende Papiertiger durch Bleiwüsten, während der         spielerisch-sinnliche Art und Weise.                                        Lasse Marburg (machina eX)
Amtsschimmel die Wände hochkriecht und die Aktenberge                                                                                            Sounddesign
wachsen und gedeihen. In diesem Dickicht regieren Erlasse,           machina eX forscht seit 2010 an der Schnittstelle von Theater               und Dramaturgie
Verfügungen und Bescheide. Sie bestimmen darüber, wie du             und Computerspiel. Das siebenköpfige Medientheaterkollektiv                 Mathias Prinz (machina eX)
wohnen, wie du arbeiten, wie du leben darfst. Ihr Instrument         kombiniert moderne Technologien mit Mitteln des klassischen                 Elektronik Sebastian Arnd
ist die Schrift – und nur mit Schrift kann ihnen begegnet wer-       ­Illusionstheaters und schafft so immersive, spielbare Theater­stücke,      Interaktionsdesign
den. Das resolute Personal ist lediglich Erfüllungsgehilfe und        die zugleich begehbare Computerspiele sind. Seit 2015 erhält das           Benedikt Kaffai
erweist sich auf den verschlungenen Pfaden seltener als Weg-          ­Kollektiv gemeinsam mit dem HAU Hebbel am Ufer die Basis­                 Kostüme Johanna Denzel
weiser denn als Gefahr.                                                förderung des Berliner Senats. Zusammen mit dem FFT Düsseldorf            Produktionsleitung
                                                                       erhielt machina eX zwischen 2012 und 2014 die Doppelpass-­                Sina Kießling (machina eX)
   Die neue Produktion des Berliner Game-Theater-Kollektivs            Förderung der Kulturstiftung des Bundes und realisierte damit
machina eX begibt sich auf ein Terrain, das die meisten nur            u. a. das für den Friedrich-Luft-Preis nominierte „Right of P
                                                                                                                                   ­ assage“     Premiere
unfreiwillig betreten. In einer Bürokratie-Simulation voller           (2014). Seit seiner Gründung hat das Kollektiv etwa zwanzig               28. September 2019
unverständlicher Zeichen, in der alles wiedererkennbar, aber           Live-Games entwickelt, u. a. für die Gessnerallee Zürich, die Schiller-   Maxstraße 54
trotzdem nichts vertraut ist, wird das Publikum zu Spielerinnen        tage Mannheim, den Steirischen Herbst, die Münchner Kammer-
und Spielern und kämpft gegen Vorschriften, Paragraphen und            spiele, das Belluard Festival Fribourg, das Transform ­Festival Leeds     Eine Koproduktion von machina eX
                                                                                                                                                 und Schauspiel Essen
Sonderbedarfsfeststellungserklärungen. Welche Strategie führt          und das Goethe-Institut Budapest. 2019 erhält m     ­ achina eX die
                                                                                                                                                 Gefördert von der Brost-Stiftung
zum Erfolg? Unterwürfigkeit, Beschwerde, grenzenlose Geduld?           ­Tabori Auszeichnung des Fonds Darstellende Künste.

                                                                                                                                                                            31
16+
P E E R GY N T
von Henrik Ibsen

S
           ein Vater vernichtete im Suff die Existenzgrundlage      Karsten Dahlem, Jahrgang 1975, ist ausgebildeter Schauspieler,            Inszenierung
           der Familie, seine Mutter und er blieben, vom Bank­      Drehbuchautor, Theater- und Filmregisseur. Er inszenierte u. a.           Karsten Dahlem
           rott schwer gezeichnet, allein zurück. Die soziale       am Maxim Gorki Theater, an den Staatstheatern in Nürnberg und             Bühne und Kostüme
­Katastrophe seiner Jugend hinterlässt Spuren in Peers Psyche,      ­Oldenburg, an den Theatern Linz, Bremen, Oberhausen und am               Franziska Sauer
 ein Leben lang. Er lechzt nach Anerkennung, will es der Welt        ­Düsseldorfer Schauspielhaus. Mehrfach wurden seine Inszenie-            Musik
 beweisen, fühlt sich zunächst für die Mutter verantwortlich          rungen ausgezeichnet, u. a. mit dem österreichischen Theaterpreis       Christoph König
 und spürt zugleich, er wird den Vater nicht ersetzen können.         STELLA, dem Oberhausener Theaterpreis und dem JugendStücke-             Dramaturgie
 Der Fantast Peer ersinnt die wildesten Geschichten, flieht vor       Preis des Heidelberger Stückemarkts. Die Kinodrehbücher „Freier         Judith Heese
 Wirklichkeit wie Verpflichtungen. Abenteuerdurstig jagt er           Fall“ und „Fremde Tochter“, die Karsten Dahlem gemeinsam mit
 sich selbst um die halbe Welt: verliebt sich in Solveig, ent-        Stephan Lacant geschrieben hat, wurden für den SWR verfilmt             Premiere
 führt I­ ngrid von ihrer eigenen Hochzeit, landet am Hof des         und mit diversen Preisen ausgezeichnet. 2016 debütierte Dahlem          13. Dezember 2019
 Trollkönigs, lebt allein im Wald, residiert als Großkapitalist       selbst als Filmregisseur: Sein Film „Princess“ war u. a. für den Max-   Casa
 in Marokko, betreibt Menschenhandel, wird Prophet und ima-           Ophüls-Preis nominiert und zu mehreren internationalen F­ estivals
 ginierter Kaiser in Ägypten, um am Ende seines Lebens doch           eingeladen. Inzwischen hat er weitere Kinofilme in Arbeit, z. B.        Gefördert von der
                                                                                                                                              GENO BANK Essen
 wieder Solveig gegenüberzustehen ...                                 für die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ und den SWR. „Peer
                                                                      Gynt“ ist seine sechste Inszenierung für das Schauspiel Essen.
   Peer Gynts Ich-Bezogenheit, Selbstinszenierung und Angst           U. a. brachte er „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann
vor Mittelmäßigkeit, seine nicht enden wollende Suche nach            Wolfgang Goethe und zuletzt „Auerhaus“ nach dem Roman von Bov
Liebe und Anerkennung – Henrik Ibsens dramatisches Gedicht            Bjerg auf die hiesigen Bühnen.
lässt schnell vergessen, dass es aus dem Jahr 1867 stammt.
„Wild und formlos“ nannte der Autor selbst seinen „nordischen
Faust“, für den er sich unter anderem aus dem Fundus der nor-
wegischen Volksdichtung bediente. Ibsens Stationendrama
steht für eine Einzelbiografie, aber auch für unsere Zeit, in der
sich die Welt gefühlt täglich schneller dreht. Und es scheint,
dass wir mitunter sein können, was wir über uns erzählen ...
aber überblicken wir unsere übermedialisierte Realität des
Postfaktischen überhaupt noch?

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Uraufführung

IN F 2 E R N O
Live Animation Cinema von sputnic
nach Dante Alighieris „Die göttliche Komödie“

     ante begibt sich auf eine lange Reise: Seine Jenseits­        durchschreitet die Katastrophen des Klimawandels und des                Künstlerische Leitung
     wanderung führt ihn vom Inferno über das Purgatorio           ­Artensterbens, erlebt das Wiedererstarken rechter Bewegungen           sputnic (Nils Voges,
     ins Paradiso – vom Höllentrichter über den Berg der Läu-       und reaktionärer Weltbilder. Doch bevor Dante angesichts der           Malte Jehmlich)
terung in die Himmelssphären. Begleitet von seinem großen           Höllenschrecken alle Hoffnung fahren lässt, zeigen ihm seine           Text und Inszenierung
Vorbild, dem römischen Dichter Vergil, begegnet er in den neun      Führer, Freunde, Seher und Weggefährten auf der Reise, dass            Nils Voges
Höllenkreisen Sündern und Sünderinnen unterschiedlichster           die Gegenwart eigentlich eine der glücklichsten Zeiten der             Illustration
Couleur und wird Zeuge grausamster Höllenstrafen, bevor sein        Menschheit ist – oder sein könnte …                                    Silvia Brandt, Anna Malina
Horrortrip auf dem Gipfel des Berges im höchsten Glück endet.                                                                              Bühne
                                                                   sputnic ist ein Kollektiv von Medienkünstlern, das seit 2004            Michael Konstantin Wolke
   Dante Alighieri hat über 13 Jahre an seinem Meisterwerk         ­mediale Szenografien für Theaterstücke produziert, Filme und In-       Kostüme
geschrieben, das er erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1321          stallationen schafft und ortsbezogene Interventionen entwickelt.       Vanessa Rust
vollendete. „Die göttliche Komödie“ hat Geschichte geschrie-        Aus diesen Erfahrungen gestalten sie ihr eigenes Format: Live Ani-     Dramaturgie
ben, denn sie zählt nicht nur zu den wichtigsten Werken der         mation Cinema, ein Trickfilm, der vor den Augen der Zuschauer          Carola Hannusch
Weltliteratur, sondern mit ihr hat Dante auch das Italienische      animiert, geschnitten und vertont wird. Dabei setzen die Schau-        Musik
als Schriftsprache begründet. In „INF2erno“ überschreibt das        spielerinnen und Schauspieler auf der Bühne Kameras, Projekto-         Michel Schallenberg
Medienkollektiv sputnic den ersten Teil des mittelalterlichen       ren, Modelle, Illus­trationen und Folien in Bewegung, aber auch ihre   Animationsplatten
Versdramas und erzählt die Heldenreise als „Live Animation          Körper, Stimmen und Instrumente ein. Die erste Inszenierung „Die       Michael Dölle und Team
­Cinema“, einer hybriden Erzählform zwischen live hergestell-       Möglichkeit einer Insel“ am Schauspiel Dortmund wurde 2015 mit
 tem Trickfilm und Bühnenperformance: Dante durchwandert            dem Kritikerpreis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Es folgten wei-    Premiere
 die neun Kreise der irdischen Höllen zu Beginn des 21. Jahrhun-    tere live animierte Inszenierungen am Schauspiel Dortmund und          29. Februar 2020
 derts, um einen letzten Blick auf das Anthropozän zu werfen,       am Theater Bremen (Moks). Dort brachte sputnic zuletzt die von         Casa
 das Zeitalter, in dem der Mensch zum dominanten Weltzer­           Nils Voges geschriebene Stückentwicklung „IOTA.KI“ zur Premiere.
 störer geworden ist. Die Gesänge führen Dante durch die Dysto-     Am Schauspiel Essen war mit „Metropolis“ bereits in der Spielzeit
 pien vergangener Zeiten, die als Höllen der Gegenwart bereits      2017/2018 ein Live-Animation-Cinema-Abend von sputnic zu sehen.
 wahr geworden sind. So betritt er die technologische Hölle von
 Total-Überwachung, Big Data sowie Cyber- und Drohnenkrieg,

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DIE M A R Q UI SE VO N O…
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nach der Novelle von Heinrich von Kleist

   n ohnehin schon brutalen Kriegszeiten macht die Marquise           Zugleich entwirft der berühmte Literat – zu einer Zeit, in           Inszenierung
   von O... eine besonders traumatisierende Erfahrung: Feind-      der die Zwangsheirat allmählich vom Konzept der Liebes­heirat           Christopher Fromm
   liche Scharfschützen zerren Julietta während eines nächt­       abgelöst wird, aber eine Schwangerschaft noch immer als                 Bühne und Kostüme
lichen Überfalls in einen Hinterhalt, und nur das Eingreifen des   ­Beweis für einvernehmlichen Sex gilt – ein bis heute kontro-           Friederike Külpmann,
plötzlich auftauchenden Graf F... verhindert einen sexuellen        vers d
                                                                         ­ iskutiertes Frauenbild: Ist „Die Marquise von O...“ nun die     Franziska Schweiger
Übergriff noch drastischerer Art. Tags drauf werden die Täter       Geschichte einer erfolgreichen weiblichen Emanzipation? Oder           Dramaturgie
ausfindig gemacht, nach kurzem Verhör exekutiert und der edle       die einer weiteren, aus toxischer Maskulinität resultierenden          Judith Heese
Retter in der Not, bevor er sich verabschiedet, mit Lobreden        Unterwerfung?
gefeiert. Einige Wochen nach diesem Vorfall stellt die junge,                                                                              Premiere
bereits verwitwete Frau fest, dass sie schwanger ist. Verzwei-     Christopher Fromm, Jahrgang 1991, wuchs in Oldenburg, auf               24. April 2020
felt beteuert Julietta, nicht die geringste Erinnerung an die      Spiekeroog und auf der Isle of Man auf. Nach einem kurzen Aus-          Casa
Zeugung ihres dritten Kindes zu haben. Was zweifelhaft klingt,     flug in die Frachtschifffahrt studierte er in Hamburg Film- und
wird ihr auch von ihren Eltern nicht geglaubt. Die Tochter von     Fernsehregie. Während seines Studiums jobbte er in den dort
bislang „vortrefflichem Ruf“ muss das elterliche Haus, in das      an­sässigen TV-Studios, assistierte beim „Tatort“ und realisierte
sie nach dem Tod ihres Mannes zurückgekehrt war, verlassen.        eigene Projekte. Von 2013 bis 2015 arbeitete Fromm als Videograf
Fortan schlägt sich die Schwangere mit ihren Töchtern alleine      und Live-Cam-Operator am Oldenburgischen Staatstheater, wo er
durch, wächst an der Krise, gewinnt an Selbstbewusstsein –         im Anschluss eine Stelle als Regieassistent annahm. Während sei-
und entwickelt eine ungeahnte Radikalität, aus der heraus sie      nes Engagements inszenierte er mehrere kleine Projekte mit dem
beschließt, mithilfe einer Zeitungsannonce der Wahrheit näher-     Jugend­club und dem Oldenburger Schauspielensemble. In der
zukommen und den Mann zu finden, der ihr das angetan hat ...       Spielzeit 2018/2019 gab Fromm schließlich sein Regiedebüt im
                                                                   Abendspielplan: „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse als multi­
  Geprägt von den grundlegenden gesellschaftlichen Verän-          mediales Duett. Seit Beginn der Spielzeit 2018/2019 ist er als Regie-
derungen seiner Zeit, vor allem von den Ideen der Aufklärung       assistent am Schauspiel Essen engagiert und wird hier Kleists
und der Französischen Revolution, erzählt Heinrich von Kleist      „Marquise von O…“ auf die Bühne der Casa bringen.
von „der gebrechlichen Einrichtung der Welt“. In „Die Marquise
von O...“, erstmals 1808 in der Zeitschrift Phöbus abgedruckt,
verspottet er eine Doppelmoral, die im Grunde alles erlaubt,
so lange es im Verborgenen geschieht.

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D E R R E IC H S B Ü R G E R
von Annalena und Konstantin Küspert

         önnen sie beweisen, dass es den staat gibt? dass es die     Realitätsverweigerer, ideologisch verblendete Sonderlinge,               Inszenierung,
         bundesrepublik deutschland gibt? … deutschland gibt       Utopisten oder radikale Wutbürger? Rund 3.200 „Reichsbürger“               Bühne und Kostüme
         es, natürlich gibt es das. aber den staat deutschland     sind derzeit in NRW registriert – im März 2019 wurde der erste             Thomas Krupa
gibt es nicht.“                                                    von ihnen als gewaltbereiter Gefährder eingestuft, und Exper-              Musik
   Lange Zeit wurden sie weder von der Öffentlichkeit noch von     ten erwarten eine weitere Radikalisierung. Wie gefährlich sind             Hannes Strobl
den Behörden wahr- oder gar ernstgenommen: so genannte             diese Menschen für die Gesellschaft? Konstantin und Annalena               Dramaturgie
„Reichsbürger“, die die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik          Küspert beleuchten die Psyche eines „Reichsbürgers“, der weit              Vera Ring
Deutschland nicht anerkennen – denn schließlich sei die Be-        davon entfernt ist, wie ein aggressiver Verschwörungsfanatiker
satzung Deutschlands nie beendet worden und die Bundes­            daherzukommen, und nähern sich dabei ebenso bissig wie auf-                Premiere
republik ausschließlich ein Konstrukt der Alliierten. Eigentlich   klärerisch diesem irritierenden gesellschaftlichen Phänomen.               21. September 2019
bestehe nach wie vor das Deutsche Reich fort – Grund genug für                                                                                Box
„Reichsbürger“, ganz nach Belieben auf ihrem Grund und Boden       Thomas Krupa studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie
eigene Kleinstaaten auszurufen, Pässe und Dokumente aus-           in Köln und Rom. Nach ersten Regiearbeiten in Göttingen, Basel,
zustellen und sich bzw. gleichgesinnte Mitstreiter zu Reichs-      ­Meiningen und Dortmund war er von 1996 bis 2000 Hausregisseur
kanzlern, Königen, Kaisern oder anderen Staatsoberhäuptern          und Mitglied der Schauspieldirektion am Staatstheater Darmstadt.
zu ernennen.                                                        Seine für die EXPO 2000 entstandene Inszenierung von „Chroma“ von
   Nachdem „Reichsbürger“ lange als weltfremde Spinner abge-        Werner Fritsch wurde 2001 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
tan wurden, exzentrisch, aber harmlos, bekam das Thema neue         Von 2002 bis 2004 war Krupa spartenübergreifend Oberspiel­leiter
Brisanz, als 2016 einer von ihnen durch seine Wohnungstür           am Theater Freiburg, dann bis 2006 Hausregisseur und Mitglied
hindurch das Feuer auf Polizisten eröffnete und dabei einen         der künstlerischen Leitung. Seitdem arbeitete er als freier Regisseur
Beamten tötete.                                                     für Schauspiel und Oper u. a. in Freiburg, Erlangen, G ­ ießen, Berlin,
   Rund 19.000 „Reichsbürger“ soll es in Deutschland in­            Karls­ruhe, Düsseldorf, Frankfurt, München, Dortmund, Bonn und New
zwischen geben – Tendenz rasant steigend –, die sich aus            York. Von 1996 bis 2005 unterrichtete er an der Hochschule für Mu-
dem Gesellschaftsvertrag zurückziehen, dem Grundgesetz der          sik und Darstellende Kunst in Frankfurt a. M. und an den Universi-
Bundesrepublik Deutschland die Legitimation absprechen und          täten in Zürich und Freiburg. Seit 2011 ist er Mitglied der Deutschen
glauben, dass sie die Exekutive selbst in die bewaffnete Hand       Akademie der Darstellenden Künste. Am Schauspiel Essen inszenierte
nehmen können: „diesem fake-staat schulde ich nichts, keine         er u. a. die Uraufführungen von „25 Sad Songs“, Peter Weiss‘ „Die
steuern, keine treue, und schon gar nicht mein leben und meine      Ästhetik des Widerstands“, Noah Haidles „Skin Deep Song“ sowie
sicherheit.“                                                        zuletzt Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“.

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„ S OW IE W IR D E N B L IC K                                                     einzelne Bewegung. Hätte es im Herbst 1914 vor Weihnachten Frieden geben       e­ ntgleisen – das ist die Lehre von 1914. Und darum stellen wir die Frage:      Nach dem Philosophen Hans Blumenberg ist der Absolutismus der Wirklich-
                                                                                       können? Sie müssen ganz genau in die Köpfe der Referenten auf allen Seiten      ­Woran könnte unser 21. Jahrhundert entgleisen? Man kann sich nicht in          keit unerträglich. Von Anfang an bearbeiten wir ihn mit unseren Mythen und
     S C H A R F S T E LLE N , F IN D E N                                              des Krieges hineinschauen. Wenn hier verantwortungsvolle Leute mit Max           ­Sicherheit wiegen und sagen: Das wird schon nicht schiefgehen. […]            Geschichten.

     W IR E IN E N AU S W EG“
                                                                                       Weberscher Ernsthaftigkeit „gebohrt“ hätten – dann hätten sie einen Frieden
                                                                                       haben können vor Weihnachten, der für Europa die absolute Wende gewesen        Aber müssen wir uns nicht auch emanzipieren von den historischen Erfahrungen?    Auch Spinoza könnte Ihnen das jetzt mit seinen Vokabeln schön aufschlüs-
                                                                                       wäre. Denn da war noch nicht alles vermasselt.                                 Sie selbst erinnern an die altrömische clementia – die Fähigkeit zu vergessen.   seln, was die Wirklichkeit kann, deshalb muss man sie sehr ernst nehmen:
     Ein Gespräch mit Alexander Kluge                                                                                                                                                                                                                  Sie ist kein Papiertiger. Aber auch, was sie nicht kann, die Wirklichkeit ist
                                                                                        Ihr historischer Konjunktiv schärft das Bewusstsein für die Kontingenz von    Das würde nicht bedeuten vergessen, sondern lateralisieren. Das kann unser       ­löcherig wie ein Schwamm. Den Sieg der Gegenwart über alle übrige Zeit
                                                                                        Lebensläufen. Was wäre aus Weimar geworden, wenn Max Weber nicht 1920         Hirn. Ich kann Verbrechen, die im 20. Jahrhundert begangen worden sind,           machen Menschen gar nicht mit. Insofern sind wir objektiv längst wieder
     Stephan Schlak: Lieber Herr Kluge, es gehört zum Reiz Ihrer Geschichten, dass      von der Spanischen Grippe hingerafft worden wäre? Wie würden wir Literatur­   nicht einfach vergessen wollen. Gleichzeitig aber muss ich, während ich es        lateralisiert. […]
     Sie die Geschichtsphilosophie unserer Jetztzeit hinterfragen, die Zeit immer       geschichte schreiben, wenn Kafka das Methusalem-Alter von Ernst Jünger        noch erinnere, schon etwas anderes denken können – und die Aufmerksam-
     wieder anhalten und der historischen Situation die Freiheit der Entscheidung      ­erreicht hätte?                                                               keit zugleich darauf konzentrieren und davon trennen. Lateralisieren kann        Mit Max Weber der Forderung des Tages standzuhalten, heißt die Folgekosten
     zurückgeben.                                                                                                                                                     unser Kopf von jeher. Und man nimmt sogar an, dass unsere zwei Hirnhälften       unseres Handelns zu bedenken.
                                                                                       Ich bin ein großer Freund von solchen Gedankenspielen. Es gibt aber k­ eine    genau dazu da waren. Die rechte, stumme Hirnhälfte war der Ort für die Stim-
     Alexander Kluge: Das ist der historische Konjunktiv, die Möglichkeitsform,        Möglichkeit zu sagen, Mozart, Büchner oder Kafka hätten physisch noch län-     men der Götter. Von dort kamen früher zu Homers Zeiten die Warnungen –           Wenn ich an meine Kinder denke, bin ich verantwortlich und Subjekt, und
     die in der Realität steckt. Wenn Sie davon ausgehen, dass ich da etwas er-        ger leben können. Wir haben teure Tote. Die Unnützen werden älter als die      „das Herz bellt dem Odysseus im Leibe …“. Was da bellt, ist eine Stimme, die     fange an zu denken: Kann ich eine Stiftung begründen, kann ich mich mit
     finde, ist das ein Irrtum, weil ich ja nur der Geschichte zuhöre. So wie den      Wunderbaren. Daran würde ich nicht rühren. Ich glaube nicht, dass ­Alexander   nicht subjektiv ist. Da spricht Athene.                                          anderen verbünden, um die Folgekosten zu isolieren und zu vermeiden? Trotz-
     Erzählungen meines Vaters über die Marne-Schlacht. Ich höre da genau              der Große hätte älter werden können. Oder in die Zeit dreißig Jahre nach                                                                                        dem sind wir keine Kassandra ohne Mehrheit. Es wäre falsch, wenn wir nichts
     zu und merke plötzlich, dass meine politischen Wünsche durchaus nichts            seinem Tod wirklich gepasst hätte. Aber wir können ihre Gedanken und           Aber wie kam es zum Göttersturz im Hirn? Warum ist dieser leidenschaftliche      wagen. Dann verkapseln wir und verlieren die besten Eigenschaften, unsere
     ­Unrealistisches haben gegen sogenannte Wahrscheinlichkeiten und Fakten.          Argumente, indem wir uns in sie hineinversetzen, verlängern. Und dann kann     Pol des Einspruches gegen die Welt mit der Zeit verstummt?                       eigenen prismatischen Fähigkeiten, die Kosten unseres Handelns überhaupt
      Dass man gegen die Normativität des Faktischen angehen kann.                     ich etwas schreiben aus dem Geiste Max Webers. […]                                                                                                              wahrzunehmen. Und wenn wir das wahrnehmen, dann können wir auch wahr-
                                                                                                                                                                      Das hängt unmittelbar zusammen mit dem Entstehen des modernen Bewusst-           nehmen, dass wir in uns sehr alte Kräfte besitzen, die wir nicht beherrschen
     Die Zeit spielt in Ihren Geschichten eine besondere Rolle. Man gewinnt den Ein-   Wir stehen an der Schwelle des zweiten Jahrzehnts eines neuen Jahrtausends.    seins. Auch mit der Rasanz, mit der die Wirklichkeit sich zur Königin aufge-     können, die aber mehr Glück als Verstand geben. Das etwa würde ich in einer
     druck, viele Katastrophen und viel Unheil hätten vermieden werden können,         Was können wir aus den alten politischen Geschichten noch lernen? Wie sehr     schwungen hat. Die Jahre von 1789 bis 1815 – das war ein Jahrhundert für         Geisterbesprechung mit Max Weber erörtern wollen. Die Verbindung zwischen
     wenn man vergangenen Zeiten, die unter Entscheidungsdruck standen, eine           fesselt uns noch der moralisch-politische Komplex des 20. Jahrhunderts?        sich. Da marschieren die französischen Grenadiere doppelt so schnell wie         der starken Bewusstseinsform des Denkens und der Schwarm­intelligenz,
     Infusion an Zeit gegeben hätte.                                                                                                                                  die russischen oder preußischen. Alles geht rasant schnell – die Industriali-    das Fliegen überhaupt – die Freiheit des Gedanken, wie Schiller das nennen
                                                                                       Das 20. Jahrhundert bildet ein Moratorium an Erfahrungen, das wir zwingend     sierung, die gesellschaftliche Entwicklung, die Musik. Nach dem Wiener Kon-      würde, was Ernst Jünger unter Drogen gelegentlich in Anspruch nimmt. Diese
     Das können Sie – ohne zu übertreiben – wie ein nachträglicher Alchemist           brauchen, wenn wir mit dieser ungeheuren Stoff-Fülle des 21. Jahrhunderts      gress wird die Entwicklung partiell wieder angehalten. Ein quasi chinesisches    Seite hat uns schon ein paar Mal bewahrt, wo wir uns hätten umbringen
     sagen. Wenn Napoleon in der Schlacht bei Leipzig mehr Zeit gehabt hätte,          fertig werden wollen. Wir gewinnen quasi Zeit. Wenn wir jetzt die Irrtümer     System. Aber die Akzeleration ist so wie die Gründung von Shanghai in den        können. Systemisch hätte der Kalte Krieg dazu genügt. In uns sind Potentiale
     gäbe es ein anderes Europa. Das können Sie alles denken – und manchmal            von 1914 analysieren, haben wir eine Fülle von Erfahrungen, da wir manches     letzten zwanzig Jahren. Der Popanz Wirklichkeit hat die Stimmen der Götter       versteckt, die dazu führen, dass die sehr prekäre Kuba-Krise 1963 nicht zu
     ist es auch wahr. Sobald Sie aber vergangene Zukunftsräume vermessen,             schärfer sehen können als die Zeitgenossen. Das ist ein großer Vorteil, wenn   weitgehend zum Verstummen gebracht. Aber sie sind nach wie vor da und            einer Katastrophe führte. Wir haben auch den Umgang mit Unwahrschein-
     müssen Sie sehr behutsam vorgehen, weil Sie ja eigentlich gar nichts wis-         man vor vermeintliche Sachzwänge gestellt wird. Es ist eine ganz einfache      entstehen bei jedem Kinde neu. Sobald wir für einen Moment bei uns sind,         lichkeiten gelernt: wo es wider Erwarten gut geht.
     sen können. Sie müssen Indizien sammeln und mikroskopisch nachschauen.            Frage: Was tue ich für mein Kind, wenn ich nicht weiß, ob das Jahr 1914,       sind die Stimmen auch wieder da.
     Gerade beim historischen Konjunktiv braucht es extrem viel Zeit für jede          in dem alles entgleiste, im Jahr 2025 wiederkehrt? Ein Jahrhundert kann

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