HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder

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HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
Das Magazin der
Kulturstiftung der Länder
4 2018

HAND-WERK
ZUR MATERIALITÄT
DES SCHRIFTLICHEN

                            LUDWIG VAN BEETHOVEN
                                          IN BONN
                              BERLIN: DER SAMMLER
                                   KARL H. BRÖHAN
HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
EDITORIAL                                                   schaften von Schriftträgern und Schreibstoffen – wie
Foto: VSU
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         etwa die Qualität des Pergaments oder die Zusammen-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         setzung der Tinte – können zudem wichtige Quellen
                                                                                                                                                                                                                                           Schreibkulturen                                               für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sein. Das Ti-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         telthema dieses Heftes „Materialität des Schriftlichen“
Georgiana Houghton, The Flower of Samuel Warrand, 1862, (Ausschnitt), Victorian Spiritualists‘ Union, Melbourne

                                                                                                                                                                                                                                                                                                         mit Beiträgen von Oliver Jungen, Julia Ronge, Antonia
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Kölbl und Johannes Fellmann entführt Sie in den Kos-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         mos des Handgeschriebenen und illustriert eindrucks-
                                                                                                                                                BIS                                                                                                                                                      voll, warum die Kulturstiftung der Länder den Ankauf,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         die Präsentation sowie die konservatorische Pflege von
                                                                                                                                                 10                                                                                                                                                      Autographen nationalen Ranges seit nunmehr 30 Jah-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         ren zu ihren zentralen Aufgaben zählt. Das gestiegene
                                                                                                                                              MÄRZ                                                                                                                                                       öffentliche Bewusstsein von der besonderen Bedeutung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         des schriftlichen Kulturerbes dürfte jedoch nicht nur da-
                                                                                                                                               2019                                                                                                                                                      rauf zurückzuführen sein, dass Dinge und ihre Materia-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         lität in den Kultur- und Sozialwissenschaften der letzten
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Jahrzehnte eine deutliche Aufwertung als Forschungsge-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         genstände erfahren haben. Der sich derzeit vollziehende
                                                                                                                                                                                                                              Prof. Dr. Markus Hilgert, Generalsekretär der                              Übergang von einer analogen zu einer digitalen Schreib-
                                                                                                                                                                                                                              Kulturstiftung der Länder
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         kultur sensibilisiert uns vielmehr für die Tatsache, dass
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft irreparablen
                                                                                                                                                                                                                                             Liebe Leserinnen und Leser,                                 Schaden nimmt, wenn diese Gesellschaft die Pflege ihres
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         schriftlichen Kulturerbes vernachlässigt. So wird bei-
                                                                                                                                                                                                                                             seit etwa 5.000 Jahren kann der Mensch schreiben. Die       spielsweise auch der zukünftige Umgang mit Objekten
                                                                                                                                                                                                                                             ältesten bekannten Manuskripte sind mit bildhaften          aus kolonialem Kontext entscheidend von der Verfüg-
                                                                                                                                          E   ORI E U N D PR                                                                                 Schriftzeichen beschriebene Tontafeln aus dem Süden         barkeit aussagekräftiger Schriftzeugnisse abhängen. Das
                                                                                                                                       TH                    AX                                                                              des Irak. Im Vergleich zur Entwicklungsgeschichte des       klare Bekenntnis der Bundesregierung zum Erhalt des
                                                                                                                                   N
                                                                                                                                                                                                                                             Homo sapiens ist das Schreiben also eine Fertigkeit, die    schriftlichen Kulturgutes sowie die finanzielle Stärkung
                                                                                                                            I

                                                                                                                                                                 IS
                                                                                                                              ST

                                                                                                                                                                                                                                             wir erst vor relativ kurzer Zeit erworben haben. Manch-     der gemeinsam von der Beauftragten der Bundesregie-
                                                                                                                                                                      18
                                                                                                                  ISCH E KU N

                                                                                                                                                                                                                                             mal frage ich mich, ob wir diese Fertigkeit irgendwann      rung für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der
                                                                                                                                                                      5 0–

                                                                                                                                                          M                                                                                  auch wieder verlieren werden. Das geschieht immer           Länder getragenen „Koordinierungsstelle für die Erhal-
                                                                                                                                                    O SIU R
                                                                                                                                                                       1 95 0

                                                                                                                                                  P       E                                                                                  dann, wenn ich mir vornehme, einen Brief ‚von Hand‘         tung des schriftlichen Kulturguts“ sind daher nicht nur
                                                                                                                                            S Y MP FÄ N G
                                                                                                                                   W    E LT
                                                                                                                                             EM                                                      MIT FILMEN                              zu schreiben, und feststelle, dass mir inzwischen die
                                                                                                                                                                                                                                             Übung fehlt, gerade so, als sei ich dabei, das Schrei-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         für Archive, Bibliotheken und Museen in Deutschland
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         ein wichtiges Signal.

                                                                                                                                                                                                            VON                              ben mit Stift auf Papier zu verlernen. Auch diese Zei-
                                                                                                                       ST

                                                                                                                                                                      19

                                                                                                                                                                                                                                             len entstehen mit Hilfe einer Tastatur am Computer,             Ihr
                                                                                                                    MI

                                                                                                                                                                                                         JOHN &
                                                                                                                                                                  20

                                                                                                                                                                                                                                             und ich bin, ehrlich gesagt, erleichtert, dass Sie es dem
                                                                                                                            IU

                                                                                                                                                                                                                                             Manuskript daher nicht ansehen werden, wie oft ich
                                                                                                                                                                 N

                                                                                                                                                                 JA
                                                                                                                                                                                                          JAMES
                                                                                                                                   D
                                                                                                                                       ME                    .                                                                               korrigiert, gestrichen und ergänzt habe. Die Mühsal des
                                                                                                                                              25. U N D   26                                                                                 Schreibprozesses und die aufeinander aufbauenden Zu-

                                                                                                                                                                                                       WHITNEY                               stände des Textes werden an dem Geschriebenen nicht
                                                                                                                                                                                                                                             mehr abzulesen sein – gut so.

                                                                                                                                                                                                            UND                                   Das Vorläufige, nie Abgeschlossene, das wir an un-
                                                                                                                                                                                                                                             serer eigenen Textproduktion vielleicht als Makel wahr-

                                                                                                                                                                                                          HARRY                              nehmen, ist jedoch genau das, was uns an den Autogra-
                                                                                                                                                                                                                                             phen anderer Menschen oft besonders anzieht. Können

                                                                                                                                                                                                          SMITH                              wir uns Beethoven und Kafka nicht ein wenig näher
                                                                                                                                                                                                                                             fühlen, wenn wir auch in ihrem Handgeschriebenen
                                                                                                                                                                                                                                             das Ringen um das ‚Richtige‘ erkennen? Jenseits solcher
                                                                                                                                                                                                                                             Empfindungen liefern die materiellen Spuren der Ent-
                                                                                                                                                                                                                                             stehung eines Textes oder einer Komposition vor allem
                                                                                                                                                                                                                                             der Forschung wichtige Anhaltspunkte für die biogra-
                                                                                                                                                                                                                                             phische oder kulturgeschichtliche Einordnung eines                    Ludwig van Beethoven, Autograph des Liedes
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   „Ruf vom Berge“ nach einem Gedicht von
                                                                                                                                                                                                                                             Werks. Entsprechendes gilt etwa für Skizzen, Vorzeich-                Georg Friedrich Treitschke, 1816, 16 × 19,7 cm;

                                                                                                                  LENBACHHAUS
                                                                                                                                                                                                                       IHR                   nungen oder Studien in der bildenden Kunst. Eigen-                    Beethoven-Haus Bonn
                                                                                                                                                                                                           KU NSTMUSEUM
                                                                                                                                                                                LE N BACH HAUS. DE           I N MÜ NCH E N

                                                                                                                                                                                                                                             ARSPROTOTO 4 2018                                                                                                       3
HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
AUTOREN                                                                                           IMPRESSUM                                            INHALT
                                                 schmerzhafte Wirklichkeit. Aus dem zusam-        Arsprototo
                                                                                                  Das Magazin der Kulturstiftung der Länder
                                                                                                                                                       3     EDITORIAL                                      TITELTHEMA MATERIALITÄT
                                                 mengerafften Fundus eines bankrotten
                                                 Preistreibers kommen jetzt zwei Handschrif-      Lützowplatz 9, 10785 Berlin                                                                               DES SCHRIFTLICHEN
                                                 ten Beethovens nach Bonn. Mithilfe eines         Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 8914251           4     AUTOREN / IMPRESSUM
                                                                                                                                                                                                            20
                                                                                                                                                                                                                  DER
                                                 Briefs kann die promovierte Musikwissen-         Redaktion 030 - 89 36 35-27

                                                                                                                                                              EMÄLDESAMMLUNG
                                                                                                                                                             G
                                                 schaftlerin und Herausgeberin des Beethoven-     E-Mail arsprototo@kulturstiftung.de
                                                 Werkverzeichnisses zeigen, dass der Kom­         Internet www.kulturstiftung.de                       8                                                          

                                                                                                                                                             UND BIBLIOTHEK                                       WELTGEIST
                                                 ponist schon in jungen Jahren für Brüderlich-
                                                 keit zwischen den Menschen eintritt. Und         Herausgeber Prof. Dr. Markus Hilgert,
                                                 wie der musikalische Charakter von Beetho-       Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder
                                                                                                                                                             der Bonner „Lese- und Erholungsgesellschaft“

                                                                                                                                                                                                                  ZU HÄNDEN
                                                 vens Lied „Ruf vom Berge“ durch Fehler           Projektleitung Dr. Stephanie Tasch
                                                 im Erstdruck nachhaltig verfälscht wurde,        Chefredakteurin Carolin Hilker-Möll
                                                 beweist Julia Ronge mit Beethovens eigen-        Geschäftsführender Redakteur Johannes Fellmann
                                                 händiger Niederschrift. ––– Seite 28             Redaktionelle Mitarbeit Jenny Berg, Antonia Kölbl,
OLIVER JUNGEN                                                                                     Laura Kunkel                                                                                                    Autographen als Grundpfeiler der
Ob früher mehr Lametta war, ist noch nicht                                                        Senior Editor Dieter E. Beuermann                                                                               kulturellen Überlieferung
ausgemacht. Mit Sicherheit aber waren früher                                                      Konzeption und Gestaltung Stan Hema mit                                                                         — von Oliver Jungen
mehr Autographen. Der Germanist und                                                               Vladimir Llovet Casademont, www.stanhema.com
Journalist Oliver Jungen, der sich für diese                                                      Anzeigen Jenny Berg, Telefon 030 - 89 36 35-21
Ausgabe mit der Faszination von Original-
handschriften beschäftigt hat, wird in
Zukunft sicher öfter auf Autographen-Mes-
                                                                                                  Abonnements Arsprototo – Abonnementservice,
                                                                                                  Bessemerstraße 51, 12103 Berlin
                                                                                                                                                                                                            28	  SPÄTE BRIEFPOST
sen anzutreffen sein. Denn er besitzt zwar                                                        E-Mail abo@kulturstiftung.de
                                                                                                                                                                                                                  Das Beethoven-Haus in Bonn konnte
einige an ihn gerichtete Schreiben verehrter                                                      Telefon 030 - 89 36 35-41 Fax 030 - 26 55 56‑71                                                                 zwei unbekannte Autographen des
Zeitgenossen – aber das sind allesamt                                                             Jahresabonnement: 20 Euro                                                                                       Komponisten ersteigern — von Julia Ronge
E-Mails. Bei der Recherche für Arsprototo                                                         Erscheinungsweise Viermal jährlich
durfte er jedoch lernen, wie viel näher der                                                       Erscheinungstermin dieser Ausgabe: 12.12.2018
materielle Schreibstoff uns den erhabenen
Geistern bringt. Und nicht selten verrät uns
                                                                                                  Gedruckte Auflage dieser Ausgabe: 16.000                                                                  32	  DER HANDSCHRIFT
das stoffliche Schreibstück Geheimnisse, die
der gedruckte Text verschweigt. Kein Wunder
                                                 JOHANNES FELLMANN                                Nachdruck von Bildern und Artikeln, auch
                                                                                                  auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung
                                                                                                                                                                                                                  AUF DER SPUR
also, dass auch die Wissenschaft die Originale   Ob Südseemasken aus dem Bismarck-Archi-          der Redaktion.                                                                                                  Mit Ulrich von Bülow durchs
bevorzugt. Oliver Jungen hat in Köln und         pel, die Kunst der 68er oder Kulturbildung       Litho Mega-Satz-Service, Berlin
                                                 für Kinder: Johannes Fellmann macht aus                                                                                                                          Deutsche Literaturarchiv Marbach
London Deutsche Philologie, Philosophie                                                           Herstellung Buch- und Offsetdruckerei
und Geschichte studiert und arbeitet seit zwei   jedem Thema der Kulturstiftung der Länder        H. Heenemann GmbH & Co., Berlin
                                                                                                                                                                                                                  — von Antonia Kölbl
Jahrzehnten als Kulturjournalist, vornehmlich    eine faszinierende Geschichte. Bevor er im       Vertrieb OML KG , Berlin
für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.          Jahr 2005 Arsprototo mitbegründete und           ISSN 1860 - 3327
Er hat diverse Bücher veröffentlicht, unter      seitdem als Redakteur begleitet, arbeitete
anderem zu Alfred Döblin, zur Stilistik und      Fellmann als Kulturjournalist und Reporter       Arsprototo erscheint mit Unterstützung des
Grammatiktheorie sowie zu großen deut-           für 3sat kulturzeit und das ZDF. 10 Jahre        Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder.
schen Blindgängern (mit Wiebke Porombka:         lang verantwortete er die Kommunikation                                                               10     EILIGE DREI KÖNIGE
                                                                                                                                                             H
Deutsche Nullen. Sie kamen, sahen und            der KSL. Zukünftig wird er freiberuflich                                                                    von Henrik Douverman
versagten. C. H. Beck, 2016). ––– Seite 20       Kulturinstitutionen und Künstler beraten         Kulturstiftung der Länder
                                                 und seine Expertise in die Wissenschaftskom-     Stiftung bürgerlichen Rechts
                                                 munikation einbringen. Als geschäftsführen-      Lützowplatz 9, 10785 Berlin                          12     RCHAISCHES FRAGMENT
                                                                                                                                                             A
                                                 der Redakteur wird er aber weiterhin für         Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 89 14 251               von Richard Oelze
                                                 Arsprototo tätig sein und die Leser mit seinen   E-Mail kontakt@kulturstiftung.de
                                                 spannenden Reportagen an ungewöhnliche           Internet www.kulturstiftung.de
                                                 Orte führen: so diesmal in das Berliner          Generalsekretär Prof. Dr. Markus Hilgert             14    STAMMBUCH MIT EINTRAG
                                                 Medizinhistorische Museum der Charité, wo        Stellv. Generalsekretär Prof. Dr. Frank Druffner           VON NOVALIS
                                                 die handgeschriebenen Sektionsprotokolle         Dezernentinnen Dr. Britta Kaiser-Schuster,
                                                 von Rudolf Virchow von Tintenfraß und            Dr. Stephanie Tasch                                        von Jakob Christian Menzler
                                                 Austrocknung bedroht sind. ––– Seite 38          Leiter Kommunikation Hans-Georg Moek
                                                                                                  Leiter der Verwaltung Ronny Günther
                                                                                                  Finanzbuchhalterin Angela Neumann-Bauermeister
                                                                                                                                                       15    S CHRIFTLICHER NACHLASS
                                                                      Titel: Ernst Jünger,        Sekretariat Gabriele Lorenz, Monika Michalak                von Bernard von Brentano

                                                                                                                                                                                                                      SCHNITT­
                                                                      Manuskript des              Referentin des Vorstands Jenny Berg
                                                                      Essays „Annäherun-                                                                                                                     38
                                                                      gen. Drogen und             Informationsgemeinschaft zur Feststellung
                                                                                                                                                       16    PORTRÄT DES LOUIS GAUCHER,
JULIA RONGE                                                           Rausch“, erschienen                                                                    DUC DE CHÂTILLON                                         

                                                                                                                                                                                                                      STELLEN
                                                                                                  der Verbreitung von Werbeträgern e.V.
                                                                      1970; Deutsches
Handschriften als Spekulationsobjekt?
                                                                      Literaturarchiv                                                                        von Johann Heinrich Tischbein d. Ä.
Fondsgesellschaften, die gierig Originale
                                                                      Marbach
aufkaufen und wissenschaftliche Arbeit auf
Jahrzehnte blockieren? Für Julia Ronge, die                                                                                                                                                                           Die handgeschriebenen Sektions-
Sammlungskustodin im Beethoven-Haus                                                                                                                                                                                   protokolle von Rudolf Virchow
Bonn, war das kein Alptraum, sondern
                                                                                                                                                                                                                      — von Johannes Fellmann

4                                                                                                                                                      ARSPROTOTO 4 2018                                                                                     5
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INHALT

                                                       LÄNDERPORTRÄT BERLIN

                                                       52
                                                            DER
                                                            

                                                            ENTDECKER

44	   DER SCHÖNE SCHEIN TRÜGT
       Im Berliner Knoblauchhaus braucht ein
       Kronleuchter von Karl Friedrich Schinkel
       Ihre Unterstützung

48	   BRUTAL MODERN!
       Das Braunschweigische Landesmuseum zeigt
       in einer großen Sonderausstellung Architektur
       zwischen 1960 und 1980 — von Jenny Berg

                                                            Karl H. Bröhan sammelte Kunst und Kunst-
                                                            handwerk des Jugendstil, Art déco und
                                                            Funktionalismus und schenkte alles der
                                                            Stadt Berlin — von Uta Baier

                                                       58   KUNST UND KULTUR IN DEN LÄNDERN

                                                       62	 HAND IN HAND
                                                            Der Freundeskreis der Kultur-
                                                            stiftung der Länder unterstützte
                                                            die Restaurierung von vier
                                                            Gemälden Heinrich Basedows
                                                            im Potsdam Museum
                                                            — von Frank Druffner

50     NEUE BÜCHER                                    64   NACHRICHTEN

51     FREUNDESKREIS / SERVICE / BILDNACHWEIS
                                                       66   SCHÖN IM DEPOT
                                                            Matthias Wemhoff mit dem „Schrein
                                                            von Cammin“ im Depot des Museums
                                                            für Vor- und Frühgeschichte in Berlin
                                                                                                       In Kooperation mit

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ERWERBUNGEN

BEETHOVEN
IN GESELL-
SCHAFT
Bürgerschaftliche Kulturinitiativen eröffnen
Alternativen zu den staatlich vorgegebenen,
sie bringen Gegenentwürfe zum Etablierten.
Seit 1787 vertrat die „Lesegesellschaft“ als
wichtigste private Vereinigung der Bonner
Kulturwelt getreu ihrem Motto ET SIBI ET
ALIIS – „sowohl für sich selbst, als auch für
die Anderen“ – die Ideale der Aufklärung.
Bildung und Austausch für mehr Menschen
zugänglich zu machen, erklärte sie zum Ziel.
So zum Beispiel mit einer umfangreichen
Bibliothek – fehlten Privatpersonen doch oft
die Mittel, die teuren Druckerzeugnisse zu
erstehen. Auch eine Bildersammlung wurde
über die Jahrzehnte bewusst aufgebaut. Aus
den rund 30 Gemälden, 20 Graphiken und
zahlreichen historischen Fotografien, die das
Beethoven-Haus Bonn nun zusammen mit
der Bibliothek von der „Lese“ erwarb, treten
die Protagonisten der Bonner Stadtgesell-
schaft hervor.
1887, also 100 Jahre nach der Gründung der
bis heute existierenden „Lese“, hatten einige
ihrer Mitglieder eine weitere Kulturinstitu-
tion aus der Taufe gehoben: den Verein
Beethoven-Haus. Neue Aspekte der frühen
Bonner Jahre des Meisterkomponisten treten
aus der nun erworbenen Sammlung hervor.
Der geistige Nährboden, den die „Lese- und
Erholungsgesellschaft“ dem jungen Beetho-
ven bot, ist in der Ausstellung „Lichtstrahlen
der Aufklärung“ zu erleben. Die Exponate
spiegeln noch bis zum 31. Januar 2019 den
gesellschaftlichen, intellektuellen und politi-
schen Aufbruch des Bürgertums – kurz:
Beethovens Umfeld – wider.

Linke Seite: Gerhard Kügelgen, Selbstbildnis
mit der Büste seines Bruders Karl, 1790,
100 ×75 cm; Beethoven-Haus Bonn
Rechte Seite oben: James Lonsdale, Porträt
des Geigers und Konzertunternehmers
Johann Peter Salomon, ca. 1815, 91 × 70 cm;
Beet­hoven-Haus Bonn
Rechte Seite unten: Johann Heinrich Richter,
Porträt des Jugendfreundes Beethovens und
bedeutenden Mediziners Franz Gerhard
Wegeler, 1839, 65 × 55 cm; Beethoven-Haus
Bonn

Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der
Länder, Beauftragte der Bundesregierung für
Kultur und Medien, Ministerium für Kultur
und Wissenschaft des Landes Nordrhein-West-
falen

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ERWERBUNGEN

Dreiheilig-
keit
Schon 2005 wollte das Museum Kurhaus
Kleve die drei Weisen aus dem Morgenland
unbedingt für seine Mittelalter-Sammlung
haben. Der damalige Direktor wurde bei
der Londoner Auktion von Sotheby’s aller-
dings überboten. Doch als im selben Jahr
der erfolgreiche belgische Käufer starb,
gaben seine Erben die Skulpturengruppe als
Leihgabe ins Klever Museum. Nun bleibt
dank öffentlicher, unternehmerischer und
privater Unterstützer die im Bewusstsein
der Öffentlichkeit fest mit Kleve verbun-
dene Gruppe von Henrik Douverman (um
1480/90 –1543/44) für immer in der Stadt,
in der der Künstler seine Lehrzeit verbracht
und seine erste eigene Werkstatt eröffnet
hatte.
Als die Könige in Bethlehem das neugebo-
rene Jesuskind suchen und finden, ereignet
sich ein Schlüsselmoment der christlichen
Legende. Die drei huldigen mit Erstaunen,
mit Freude als Vertreter der drei Weltteile als
erste dem Gottessohn mit Gold, Weihrauch
und Myrrhe. Melchior verkörpert das alte
Europa, König Caspar repräsentiert Asien,
der jüngste König Balthasar stellt Afrika
dar. Das Motiv variiert an der Schwelle zur
Neuzeit ein großes Thema europäischer
Kunst: Nach der aktuellsten Mode um 1530
in luxuriöse Gewänder gekleidet, präsen­
tieren sich die biblischen Kronzeugen mit
ihrer exaltierten Haltung und ihren Gesten,
den prachtvollen Frisuren und Bärten in
ihrer herausgehobenen Stellung als Heilige.
Präzise und lebendig charakterisiert, weist
die Gruppe, die wahrscheinlich im Altar­
schrein einer Kirche aufgestellt war, schon
in modernere Zeiten.

Henrik Douverman, Heilige Drei Könige,
um 1530 –35, H. zw. 81 und 85 cm;
Museum Kurhaus Kleve

Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung
der Länder, Ernst von Siemens Kunststif-
tung, Ministerium für Kultur und Wissen-
schaft des Landes Nordrhein-Westfalen,
Freundeskreis Museum Kurhaus und
Koekkoek-Haus Kleve e.V., Kunststiftung
NRW, Rudolf-August Oetker-Stiftung für
Kunst, Kultur, Wissenschaft und Denkmal-
pflege, Provinzial Rheinland Versicherung
AG, Irene Zintzen-Stiftung und weitere
Unterstützer

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ERWERBUNGEN

                         PRÄZISE
                         UNEINDEUTIG
                         In einem Moment erzählen sie lebhafte
                         Geschichten, im nächsten verblassen sie
                         zu verschwommenen Bildern: An der
                         Grenze zur Realität bieten Träume einen
                         idealen Nährboden für Interpretation
                         und Deutung. Den Theorien Sigmund
                         Freuds folgend, sahen die Surrealisten
                         in der Welt des Traumes den Zugang zu
                         einer höheren Wirklichkeit – frei von
                         jeder Kontrolle durch die Vernunft.
                         Präzise wiedergegeben und doch unein-
                         deutig, fordert ihre Kunst den Betrachter
                         dazu auf, Logik und Verstand loszulassen
                         und sich in die Tiefen des eigenen Unbe-
                         wussten zu begeben. Nach seinem Um-
                         zug nach Paris Anfang der 1930er-Jahre
                         kam der in Magdeburg geborene Künstler
                         Richard Oelze (1900 –1980) mit dem
                         Kreis der Surrealisten rund um Max
                         Ernst, René Magritte und Yves Tanguy
                         in Kontakt und entwickelte eine von
                         fantastischen Motiven gekennzeichnete
                         Bildsprache. Mit der für ihn charakte­-
                         ris­tischen, altmeisterlich lasierenden
                         Maltechnik schuf Oelze 1935 das Öl­
                         gemälde „Archaisches Fragment“: eine
                         großformatige Komposition mit einem
                         grotesken Mischwesen aus biomorphen
                         Formen, das vor einer Seen- und Ufer-
                         landschaft schwebt. Bereits ein Jahr nach
                         Entstehen wurde das Bild auf der Lon­
                         doner Ausstellung „International Surrea-
                         list Exhibition“ neben Werken von Max
                         Ernst, Salvador Dalí und Man Ray ge-
                         zeigt. Als Werk eines bedeutenden deut-
                         schen Vertreters des Surrealismus ergänzt
                         „Archaisches Fragment“ den Moderne-
                         Bestand des Frankfurter Städel Museums
                         nun um ein wichtiges Zeugnis kulturellen
                         Transfers Anfang des 20. Jahrhunderts.

                         Richard Oelze, Archaisches Fragment,
                         1935, 98 × 130 cm; gemeinsames Eigentum
                         des Städelschen Museums-Verein e.V. und
                         des Städel Museums, Frankfurt am Main

                         Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung
                         der Länder, Kurt und Marga Möllgaard-
                         Stiftung
12   ARSPROTOTO 4 2018                                          13
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Facebook, von Hand                                                                           BLICK VON
Was wohl aus der Kommilitonin wurde,
die damals jeden Montagmorgen direkt
                                              Der Erforschung von Novalis’ dichteri-
                                              schem Werk widmet sich die Forschungs-
                                                                                             AUSSEN
                                                                                             Neustadt, Hessen, 1. August 1914. Pauken-
aus dem Club in die Ästhetik-Vorlesung        stätte für Frühromantik und Novalis-           schläge, Chorgesang, Gedränge auf dem
kam? Und was macht heute der Student,         Museum Schloss Oberwiederstedt. An             Siegesplatz. Die Verkündigung geht im
                                                                                             Chaos fast unter, aber es ist offiziell: Der
der nach jedem Seminar noch mindestens        der Geburtsstätte des Lyrikers liegt das       Krieg ist da. Jubel und Pöbelei auf den
eine wichtige Frage hatte? Neugierde dieser   Stammbuch Menzlers nun für Forschung           Straßen, Misstrauen und Zweifel im groß-
Art kann dank sozialer Medien inzwischen      und Öffentlichkeit offen, nachdem das          bürgerlichen Hause Chindler. Die Anfangs-
                                                                                             szene in Bernard von Brentanos (1901–1964)
schnell befriedigt werden. Im Studenten-      Museum es auf einer Auktion ersteigern         politischem Roman „Theodor Chindler“
wohnheim der Harvard University ent-          konnte. Die 62 Einträge im Album               läutet den Anfang vom Ende einer deutschen
standen, führt das Netzwerk Facebook          Amicorum, die in den Jahren 1798 bis           Familie ein, die ihr Land in allen schicksal-
                                                                                             haften Facetten spiegelt: Vater Theodor
eine jahrhundertealte Tradition fort: Es      1881 Menzler gewidmet wurden, zeichnen         engagiert sich in der Zentrumspartei, Toch-
gründet auf dem Wunsch nach medialem          das Umfeld Novalis’ in Freiberg nach –         ter Margarethe verlässt ihr Zuhause, um sich
Austausch zwischen Studienkollegen.           ein Lebensabschnitt, der noch zu weiten        der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung
Im ausgehenden 18. Jahrhundert boten          Teilen im Dunkeln lag. In Oberwieder-          anzuschließen. Die älteren Söhne Karl und
                                                                                             Ernst kämpfen an der Front fürs Vaterland.
Stammbücher hierfür die Plattform.            stedt wird nun ein Schlaglicht auf das         Nesthäkchen Leopold gesteht seine Homo­
Verließ ein Student seinen Studienort,        literaturhistorische Dokument gerichtet.       sexualität. Die Mutter Elisabeth ist über-
so trug er sich ins Buch der Kommilitonen     Da das Freie Deutsche Hochstift in Frank-      zeugt, die Kinder falsch erzogen zu haben:
                                                                                             „Alle waren nicht so, wie sie sein sollten.“
ein. Am 13. Mai 1799 schrieb Friedrich        furt am Main das Novalis-Museum bei der        Ursprünglich katholisch, linksradikaler
von Hardenberg aus Thüringen fünf             Erwerbung unterstützte, wird das Stamm-        Student und später Kritiker des Kommunis-
Zeilen aus Johann Gottfried Herders           buch auch in der Erstausstellung des im        mus, der sich den National­sozialisten an-
                                                                                             dient – Brentano verarbeitet für die 1936 im
Gedicht „Das Flüchtigste“ (1787) für          Spätsommer 2019 eröffnenden Museums            Exil entstandene Geschichte autobiografische
Jakob Christian Menzler (1776 –1854)          des Stifts, dem Deutschen Romantik             Details. Der Autor, 1939 mit dem Internati-
nieder. Gemeinsam hatten sie die renom-       Museum, zu sehen sein. Und auch für die        onalen Literaturpreis ausgezeichnet, wurde
mierte Bergakademie im sächsischen            bis heute existierende Universität in Frei-    erst vor einigen Jahren wiederentdeckt. Ob
                                                                                             als Schriftsteller, Redakteur der Frankfurter
Freiberg besucht. Der Jurist Hardenberg       berg, die älteste noch bestehende montan-      Zeitung oder hellsichtiger Essayist: Scharf
(1772 –1801) war mit seinem Zweit­            wissenschaftliche Bildungseinrichtung          beobachtete er das städtische Leben, erahnte
studium der Naturwissenschaften in die        weltweit, eröffnet sich so ein Kapitel ihrer   gesellschaftliche Umbrüche, teilte Reiseerleb-
                                                                                             nisse und kommentierte Literatur, Filme und
Fußstapfen seines Vaters getreten. In         Geschichte.                                    Ausstellungen im Stil der Neuen Sachlich-
seinen ab 1798 erschienenen Publikatio-                                                      keit. Manuskripte, Korrespondenzen, Doku-
nen wandte er sich aber auch zunehmend        Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung      mente – den schriftlichen Nachlass seines
                                                                                             vielfältigen Œuvres bewahrt nun das Deut-
der Lyrik zu, seiner eigentlichen Leiden-     der Länder, Freies Deutsches Hochstift         sche Literaturarchiv Marbach.
schaft. Unter dem Pseudonym Novalis           Frankfurt am Main, Land Sachsen-Anhalt,
schrieb er sich in die Literaturgeschichte    Dr. Arved Grieshaber                           Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung
der deutschen Frühromantik ein.                                                              der Länder, Beauftragte der Bundesregierung
                                                                                             für Kultur und Medien

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HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
SCHLEMMER
                                                                                                                    Das Bauhaus und der Weg in die Moderne
ERWERBUNGEN

HERZOG
UND
HERKULES
Ein französischer Offizier
vor Kassel in einer österrei-
chischen Auktion? Für die
Kulturstiftung der Länder,
die Hessische Kulturstiftung

                                                                                                            OSKAR
und die Ernst von Siemens
Kunststiftung eine Gelegen-
heit, die Museumslandschaft
Hessen Kassel zu unterstüt-
zen. Und zwar mit einem
Gemälde, das der Kasseler
Hofporträtist Johann
Heinrich Tischbein d. Ä.
(1722 –1789) für die muse-
ale Vermittlungsarbeit des
21. Jahrhunderts gemalt zu
haben scheint: Das Porträt
des Louis Gaucher, Duc de
Châtillon (1737–1762), aus
dem Jahr 1762 ist ein histo-
risches Bildnis mit einer
solchen Fülle von Verweisen
auf (lokal-)historische
                                 Herzogliches
Ereignisse und deren Schau-
plätze, auf kunsthistorische
                                 Museum Gotha
wie kulturhistorische As-
pekte, dass die Gemälde­
                                 28.04.– 28.07.2019
galerie Alte Meister in Kassel
dem Werk umgehend einen
Patrimonia-Band (Nr. 391)
widmete, um die wichtigsten
Facetten zusammenzutragen.
So ist das Gemälde ein
landesgeschichtliches Do­
kument der französischen
Belagerung Kassels während
des Siebenjährigen Krieges
in Europa (1756 –1763). Der
prominent platzierte Stadt-
plan Kassels mit den Befes­
tigungen verweist auf den
Zusammenhang von Karto-
graphie und Krieg, während
der Hintergrund mit dem
Herkules der heutigen
Wilhelmshöhe und einem
Vorgängerbau des heutigen
Schlosses präzise über
Kasseler Baugeschichte

                                                                                                                                    In Kooperation mit:
informiert.

Johann Heinrich Tischbein
d. Ä., Louis Gaucher,
Duc de Châtillon, 1762,
223 × 129 cm; Museums-
landschaft Hessen Kassel

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder,
Ernst von Siemens Kunst­
stiftung                                              Eintritt               Herzogliches Museum Gotha
                                                      5,00 € | erm. 2,50 €   Schlossplatz 2, 99867 Gotha
                                                      Öffnungszeiten         Telefon (03621) 82 34 - 0
16                                                    täglich 10 – 17 Uhr    www.stiftung-friedenstein.de
HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
Oliver Jungen über Autographen     TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN

                                   VON HAND
als Grundpfeiler der kulturellen
Überlieferung — Seite 20
Julia Ronge über zwei unbekannte
Autographen von Ludwig van
Beethoven für das Beethoven-Haus
in Bonn — Seite 28
Antonia Kölbl über Hand-
schriften im Deutschen
Literaturarchiv Marbach
— Seite 32
Johannes Fellmann über die
handgeschriebenen Sektions-
protokolle von Rudolf Virchow
— Seite 38

Farbige Veränderungen in
pathologischen Geweben.
Tafel III aus dem Beitrag von
Rudolf Virchow: Die patholo-
gischen Pigmente. In: Archiv
für pathologische Anatomie
und Physiologie und für
klinische Medicin. Band 1,
1847, S. 379 – 404; Berliner
Medizinhistorisches Museum
der Charité

18                                 ARSPROTOTO 4 2018                           19
TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN

                                                         DER WELTGEIST
                                                         ZU HÄNDEN
                                                         AUTOGRAPHEN SIND EIN GRUNDPFEILER DER KULTURELLEN
                                                         ÜBERLIEFERUNG — EIN VIELSTIMMIGER RUNDBLICK
                                                         von Oliver Jungen

                                                         N
                                                                iemand kann sich ihrer Ausstrahlung entziehen.       denen ,Amerikanischen Reisetagebücher‘ Alexander von
                                                                Es ist, als hätte sich in Autographen der Atem der   Humboldts erschienen, da war ich schon sehr berührt.“
                                                                Geschichte in Schrift kristallisiert. Schon Goethe   Wie eine Begegnung über die Zeiten hinweg sei das
                                                         war fasziniert von dieser Spur des Ursprungs, auch          gewesen, und zwar nicht nur mit dem Autor, der diese
                                                         wenn er 1806 in einem „eigenhändig Geschriebenes“           Seiten über fünfzig Jahre lang vervollständigt hatte,
                                                         möglichst vieler Berühmtheiten erbittenden Brief an         sondern auch mit der weiteren Reise der Tagebücher,
                                                         den Verleger Johann Friedrich Cotta einen „löblich          die sie bis nach Moskau führte. Die Aura, die Walter
                                                         pädagogischen Zweck“ vorschob, nämlich „meinen              Benjamin vor mehr als achtzig Jahren in seinem viel­
                                                         Knaben durch diese sinnlichen Zeugnisse auf bedeu-          zitierten „Kunstwerk“-Aufsatz dem Original zuschrieb,
                                                         tende Männer der Gegenwart und Vergangenheit                ist also noch erfahrbar. Dass sich viele Menschen von
                                                         aufmerksamer zu machen, als es die Jugend sonst wohl        Originalhandschriften ganz direkt angesprochen füh-
                                                         zu seyn pflegt“. Wir wissen freilich, dass der Dichter-     len, erklärt deren teils hohen Preise bei Auktionen.
                                                         fürst sich geradezu als Autogrammjäger betätigte. Briefe    Hinzu kommt, dass Autographen sozusagen ein end­
                                                         aus Goethes Hand sind heute wiederum Zehntausende           licher Rohstoff sind. Auch Romane und Dokumente
                                                         Euro wert. Noch einmal um Potenzen höher ist die            entstehen heute meist mit Textverarbeitungspro­
                                                         Verehrung, die Originalmanuskripten kultureller             grammen; die Bearbeitungsstufen
                                                         Schlüsselwerke entgegengebracht wird.                       überschreiben einander dabei sogar.
                                                              Selbst gestandene Wissenschaftler fühlen das Er­       Den greifbaren Ursprung eines
                                                         hebende bedeutsamer Autographen. Für die Berliner           Werks gibt es am ehesten noch in der
                                                         Musikwissenschaftlerin Martina Rebmann ist es „tat-         Musik, wie Martina Rebmann an-
                                                         sächlich etwas ganz Besonderes“, eine von Bach, Mo-         merkt: „Komponiert wird
                                                         zart oder Beethoven selbst verfasste Musikhandschrift       bis heute
                                                         vor sich zu haben. Dabei geschehe dies ständig, denn        meist von
                                                         man arbeite in der Musikabteilung der Staatsbibliothek      Hand.“ Zur
                                                         Berlin ausschließlich mit den Originalen: „Da sieht         manifesten
                                                         man am meisten.“ Dabei geht es beispielsweise um die        Doppelnatur
                                                         Rekonstruktion von Sammlungszusammenhängen oder             von Auto­
                                                         die Digitalisierung der für Datierungs- und Provenienz-     graphen als
                                                         fragen wichtigen Wasserzeichen mithilfe einer alle          wissenschaft-
                                                         Beschriftungen ausblendenden Thermographie-Ka-
                                                         mera. Natürlich geschieht das unter konservatorisch
                                                         und sicherheitstechnisch optimalen Bedingungen. So
                                                         schützen Schaumstoffkeile die Handschriften bei der
                                                         Benutzung. Die Klimatisierung muss stimmen. Die
                                                         Büroräume werden bei jedem Verlassen fest verschlos-
                                                         sen. Autographen sind fragile Schätze.
                                                              Ottmar Ette, Romanist an der Universität Pots-
                                                         dam, erklärt ganz ähnlich: „Als bei Christie’s in London
Aus dem Amerikanischen Reisetagebuch V von Alexander     die Kiste aufgeschraubt wurde und die in Leder gebun-                      Drei der neun Amerikanischen Reisetage-
von Humboldt: Rückseite des Chronometers von Ferdinand                                                                              bücher Alexander von Humboldts; Staats-
Berthoud, um 1799; Staatsbibliothek zu Berlin                                                                                       bibliothek zu Berlin

20                                                       ARSPROTOTO 4 2018                                                                                              21
liche Objekte sowie geschichtshaltige Preziosen für        Forschung gehe indirekt vor, schließe also alle Abschrif-
Sammler kommt eine erstaunliche Breite des Gegen-          ten aus, die etwa an Augensprungfehlern zu erkennen
standsbereichs, der von Widmungsexemplaren ge­             seien. „Einige Ur- oder Erstniederschriften aber sind
druckter Werke oder im Akkord angefertigten Auto-          nicht einmal Autographen, da man ja auch Schreibern
grammkarten bis zu nationalkulturell bedeutsamen           diktieren konnte. Die Altgermanistik freut sich schon,
Originalmanuskripten reicht. Archive rechnen oft auch      wenn ein Autor die Niederschrift seines Werks über-
Typoskripte hinzu. Noch unüberschaubarer wird es bei       prüfte und korrigierte, so wie es Otfrid von Weißen-
einem Blick auf das Mittelalter. Karl Lachmann, einer      burg bei seinem Evangelienbuch tat.“ Im Spätmittel­
der Nestoren der germanistischen Mediävistik, war          alter habe sich die Lage geändert: „Es wird mehr
davon ausgegangen, dass mittelalterliche Auto­graphen      geschrieben und auch gerne dazu vermerkt, dass man
im Grunde nicht existierten. Weil diese Auffassung sich    Schreiber und Autor ist. Hierher stammen die meisten
hartnäckig hielt, hat der Münsteraner Mediävist Volker     Beispiele aus Honemanns wertvoller Liste.“
Honemann vor zwei Jahrzehnten eine eigene Daten-                Die Hochzeit der Autographen beginnt in der
bank für Originalhandschriften aus dem 9. bis 16.          Vormoderne. Dabei nimmt die Sattelzeit um 1800 eine
Jahrhundert eingerichtet. Ein Forschungs­desiderat         besondere Stellung ein, wie der Literaturwissenschaftler
bestehe aber immer noch, sagt der in Essen lehrende        Christian Benne jüngst zeigen konnte. Autographe
Mediävist Martin Schubert, ein ausgewiesener Fach-         Manuskripte nämlich wurden nun nicht mehr als reine
mann für Editionsphilologie. So sei schon die Identifi-    Druckvorstufen angesehen, sondern gewissermaßen
zierung von Autographen schwierig, weil Autornen­          „neu erfunden“ als genuin literarische Handschriften
nungen im Hochmittelalter nicht üblich waren. Die          mit ästhetischem Mehrwert. Von dort ist es ein kurzer

                                                                                                                       Aus dem Amerikanischen Reisetagebuch III von Alexander von Humboldt:
                                                                                                                       Guavina oder Erythrinus, ein Fisch aus dem See von Tacarigua, General­
                                                                                                                       kapitanat Venezuela, 1799; Staatsbibliothek zu Berlin

                                                                                                                                      Weg zu Goethes Autographenbegeisterung. Die histo­        Staatsgalerie Stuttgart aufbewahrt werden, durchaus in
                                                                                                                                      rischen und philologischen Wissenschaften haben sich      die Zeit um 1480 zu datieren sind.
                                                                                                                                      indes lange auf den Inhalt der überlieferten Textzeug-         Als Mitorganisator der beliebten, in Zusammen­
                                                                                                                                      nisse beschränkt. Sogar Geschichte habe man vor           arbeit mit diversen Universitäten an der Staatsbiblio-
                                                                                                                                      wenigen Jahrzehnten noch studieren können ohne            thek zu Berlin angesiedelten Vortragsreihe „Die Mate­
                                                                                                                                      einen einzigen Gang ins Archiv, sagt der Präsident des    rialität von Schriftlichkeit“ stellt Christian Mathieu fest,
                                                                                                                                      Landesarchivs Baden-Württemberg, der Historiker           wie groß das allgemeine Interesse am Dialog zwischen
                                                                                                                                      Gerald Maier. In den 1970er-Jahren begann ein Um-         Bibliothek und Forschung ist. Und das zu Recht. Er
                                                                                                                                      denken, für das etwa die werkgenetische Theorie in        selbst habe beispielsweise Walter Benjamins „Passagen-
                                                                                                                                      Frankreich steht. Der als Material Turn bekannt gewor-    werk“ erst richtig verstanden, als in einem der Vorträge
                                                                                                                                      dene Aufmerksamkeitsschub für die materiellen Grund-      das aus Querverweisen, Markierungen und Ästhetisie-
                                                                                                                                      lagen der Kommunikation nimmt heute einen zentra-         rungsspiel bestehende Aufschreibesystem dieses Autors
                                                                                                                                      len Stellenwert in allen historischen Disziplinen ein.    anhand der Originalhandschrift vorgeführt wurde.
                                                                                                                                      Längst auch führen Archivare und Bibliothekare mit        Deshalb seien Faksimile-Editionen, für die etwa der
                                                                                                                                      Universitätswissenschaftlern gemeinsame Erschlie-         inzwischen insolvente Stroemfeld Verlag steht, so wün-
                                                                                                                                      ßungsprojekte auf Augenhöhe durch. Das Landesarchiv       schenswert. Hilfreich ist wohl auch die Digitalisierung
                                                                                                                                      Baden-Württemberg etwa war federführend an der            des kulturellen Erbes, wie sie derzeit auf breiter Front
                                                                                                                                      Entwicklung des Wasserzeichen-Informationssystems         stattfindet. Niemand kann das so gut begründen wie
                                                                                                                                      WZIS beteiligt. Mit dessen Hilfe konnte schon gezeigt     Gerald Maier, seit dem Jahr 2002 auch Bundesratsbe-
                                                                                                                                      werden, dass die lange für Fälschungen des 19. Jahr-      auftragter für eben dieses Unterfangen: Das Erbe werde
                                                                                                                                      hunderts gehaltenen 15 Blätter mit Zeichnungen des        gesichert und leichter zugänglich. Trotzdem dürfe diese
                                                                                                                                      sogenannten Oberdeutschen Meisters, die heute in der      Entwicklung nicht dazu führen, dass die Originale

Walter Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien zu den
„Passagen“, 1928 –1940, 27,7 × 22,4 cm (im aufgeschlage-
nen Zustand), Walter Benjamin Archiv Berlin
                                                                                                                                      ARSPROTOTO 4 2018                                                                                                 23
hernach verschwänden, sei es unzugänglich in Tresoren,     später wieder bei einer Auktion auftaucht. Der For-
wenn sie wertvoll sind, sei es gar im Altpapier, wie das   schung sind diese Stücke mitunter für eine Weile ent­
Rechnungshöfe kulturblind schon gefordert hätten.          zogen, andererseits hat gerade das Interesse der Privat-
     Nur einige Fragen ließen sich anhand eines Digi­      sammler viele Autographen gerettet. So sieht das auch
talisats beantworten, sagt der renommierte Kafka-          Ulrich von Bülow, im Literaturarchiv Marbach unter
Biograph Reiner Stach: „Franz Kafkas Handschriften         anderem zuständig für den Bereich Erwerbungen. Man
erlauben Einblicke in seine Korrekturen, aber auch in      wälze die Kataloge der Händler und biete dann gezielt
unbewusste Fehlleistungen; sie lassen erkennen, wo er      auf ausgewählte Stücke, sagt von Bülow. Aus Geldman-
                                                           gel habe man längst aufgegeben, alles kaufen zu wollen,
                                                           was bestehende Sammlungen – allein das Handschrif-
TINTENFRASS, MIKROBEN-                                     tenarchiv umfasst 40.000 Kästen – ergänzte. Zu den

BEFALL UND CELLULOSE­                                      Händlerkatalogen wird es in Marbach übrigens bald ein
                                                           eigenes Projekt geben, weil darin viele sonst nicht mehr
ABBAU GEFÄHRDEN                                            greifbare Handschriften abgebildet sind: Zusammen­
DIE FRAGILEN AUTOGRA-                                      arbeit also auch hier. Und die Privatsammler, die es
                                                           als Liebhaber doch eher auf schöne Blätter abgesehen
PHEN-SCHÄTZE                                               hätten, nicht wie das Archiv auf Entwürfe, überließen
                                                           Marbach häufig sogar ihre gesamte Sammlung.
zögerte, wo er unsicher oder besonders erregt war, wo er        Was ist auf dem Markt nun derzeit gefragt? Wolf-      Otfrid von Weißen-
von den eigenen Bildern überwältig wurde und wie er        gang Mecklenburg, der Geschäftsführer der Berliner         burg, Ausschnitt aus
schließlich die Kontrolle zurückgewann. Sie sind hilf-     Autographenhandlung J.A. Stargardt, will sich da nicht     dem 1. Buch des
reich bei der Datierung; Tinte und Bleistift zeigen an,    festlegen. Das habe viel mit individuellen Vorlieben zu    Evangelienbuches, um
                                                                                                                      870, 25,5 × 21 cm;
ob ein Text am Schreibtisch oder andernorts entstand.      tun. Deutlich abgenommen habe aber beispielsweise          Österreichische Natio-
Ja, mit Hilfe des ‚Process‘-Manuskripts lässt sich sogar   das Interesse an einst höchst beliebten Autographen zur    nalbibliothek, Wien
beweisen, dass Kafka zwar das Ende des Romans von
Anbeginn präzise vor Augen stand, dass er jedoch noch
keine Vorstellung davon hatte, wie viele Kapitel es
brauchen würde, um dorthin zu gelangen.“
     Ottmar Ette, der in einem auf 18 Jahre angelegten
Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften sämtliche Reiseschriften Alexander
von Humboldts ediert – digital und in Form von Lese-
fassungen auf Papier –, kann bestätigen, dass sich
entscheidende Einsichten nur anhand der Autographen
gewinnen lassen. Papieranalysen zeigten, ob Humboldt
das Papier aus Paris mitgebracht oder unterwegs gekauft
habe. Ebenso verhalte es sich mit dem Schreibstoff: Es
sei etwa für die Datierung wichtig, ob es sich bei den
einzelnen Hinzufügungen um Humboldts selbstge-
machte oder eine gekaufte Tinte handele. Und dann
gebe es noch eine ganz eigene „Form des Erlebens“:
„Heftung, Falz, Fleckigkeit geht ja auch bei unseren
beiden Editionsformen verloren.“
     Dass die „Amerikanischen Reisetagebücher“ in
Berlin bleiben konnten, wie der Autor selbst verfügt
hatte, ist den früheren Eigentümern zu verdanken. Der
mexikanische Tycoon Carlos Slim hatte einen unschlag-
baren Preis geboten, aber Humboldts Erben verhandel-
ten ausschließlich mit der Stiftung Preußischer Kultur-
besitz, die das Manuskript 2013 auch mit Hilfe der
Kulturstiftung der Länder für zwölf Millionen Euro
erwerben konnte. Insbesondere der spezialisierte Auto-
graphenhandel versteht sich als Partner öffentlicher                                                                                           Franz Kafka, vorletzte Manuskriptseite des Romans „Der Process“, erschienen 1925;
Archive. Privatsammler werden freilich ebenfalls ge-                                                                                           Deutsches Literaturarchiv Marbach. In der 5. und 6. Zeile von unten lässt sich erken-
                                                                                                                                               nen, wie Kafka wenige Sätze vor Ende des Romans und wenige Sekunden vor dem Tod
schätzt, zumal das so Veräußerte meist früher oder                                                                                             des Protagonisten zum „Ich“ übergeht. Dieser plötzliche Wechsel der Erzählperspek-
                                                                                                                                               tive kommt sonst nirgendwo vor und wurde vom Autor auch nicht korrigiert.

24                                                                                                                                                            ARSPROTOTO 4 2018                                                        25
und habe dann nur die Möglichkeit eines Rückkaufs.
                                                                                                                                   Die Hauptgefahr für Autographen kommt freilich von
                                                                                                                                   innen. Suboptimale, etwa zu Pilz- und Mikrobenbefall
                                                                                                                                   führende Lagerungsbedingungen erklären sich für
                                                                                                                                   Johanna Leissner, Expertin für die Sicherung des Kul-
                                                                                                                                   turerbes im Fraunhofer EU-Büro Brüssel, teils mit
                                                                                                                                   Kriegsschäden, oft aber schlicht mit Geldmangel der
                                                                                                                                   verantwortlichen Institutionen. Auch der Klimawandel
                                                                                                                                   werde wohl Folgen für die Archivpraxis haben, aber das
                                                                                                                                   sei noch kaum erforscht. Daneben bereitet die Material­
                                                                                                                                   alterung Probleme, allem voran der Zerfall des seit den
                                                                                                                                   1840er-Jahren eingesetzten Holzschliffpapiers. Schwe-
                                                                                                                                   felsäurereste bauen dabei die Spitzen der Cellulosefasern
                                                                                                                                   im Papier ab. Hinzu kommt ein oxidativer Celluloseab-
                                                                                                                                   bau. Eine Flüssigphasen-Massenentsäuerung habe sich
                                                                                                                                   zwar als effektiv erwiesen, so Leissner, mit den heutigen
                                                                                                                                   Kapazitäten – das Zentrum für Bucherhaltung in
                                                                                                                                   Leipzig, eine der weltgrößten Entsäuerungsanlagen,
                                                                                                                                   kann etwa 100.000 Bücher im Jahr abfertigen – dauere
                                                                                                                                   die Behandlung des gesamten betroffenen Bestands
                                                                                                                                   jedoch mindestens 50 Jahre. Ein weiteres Problem stellt
                                                                                                                                   Tintenfraß dar. Die bis ins 20. Jahrhundert verwendete
                                                                                                                                   Eisengallustinte neigt zur Korrosion, weshalb manche
                                                   Verschiedene Wasserzeichen aus Musikhandschriften des                           Bach-Handschriften regelrecht durchlöchert sind. Das
                                                   18. und frühen 19. Jahrhunderts; Staatsbibliothek zu Berlin
                                                                                                                                   Problem ist bei Musikautographen besonders groß, so
                                                                                                                                   Martina Rebmann, weil Notenköpfe mehr Tinte auf-
                                                                           preußischen Geschichte. Im Gegensatz zum Kunst-         nehmen als Buchstaben. Die Restaurierung gestaltet
                                                                           markt sei der Autographenmarkt mit seinen verhält­      sich aufwendig, ist in solchem Rahmen aber möglich.
                                                                           nismäßig wenigen Teilnehmern generell sehr gesund.           Die Lagerungsbedingungen und der Zugang für die
                                                                           Dramatische Ausschläge gebe es so wenig wie spekulie-   Wissenschaft machen öffentliche Archive und Biblio-
                                                                           rende Rendite-Fonds, seit die einzige Ausnahme, die     theken trotz oft knapper Etats also zu den besten Auf-
                                                                           französische Investmentfirma Aristophil, als Betrugs­   bewahrungsorten für Autographen. Das meint auch
                                                                           system aufgeflogen sei. Die höchsten Preise erzielten   Reiner Stach, der das Interesse privater Sammler aller-
                                                                           nach wie vor Musikautographen, nicht zuletzt, weil      dings gut verstehen kann: „Ich selbst besitze einen
                                                                           komplette Kompositionen berühmter Künstler nur          leeren Briefumschlag Kafkas an seine Verlobte Felice
                                                                           selten im Angebot seien. Vor drei Jahren etwa wurde     Bauer, mit eigenhändigem Namenszug, und noch
                                                                           bei Stargardt ein Händel-Autograph für eine halbe       immer beschleunigt sich mein Puls, wenn ich dieses
                                                                           Million Euro verkauft. Die hohe weltweite Nachfrage     unscheinbare, gelbliche, außerordentlich schön be-
                                                                           nach Musikhandschriften sei sicher auch in der Inter­   schriftete Papier in der Hand halte.“ Und doch: „Würde
                                                                           nationalität der Musiksprache begründet. Mit einer      morgen ein Gesetz in Kraft treten, das besagt, sämtliche
                                                                           bestimmten Form von Autographen möchte Mecklen-         Kafka-Autographen seien umgehend im Deutschen
                                                                           burg jedoch aus ethischen Gründen nichts zu tun         Literaturarchiv in Marbach abzuliefern, so wäre ich
                                                                           haben, dem „Devotionalienkram“. Er widerspricht         wahrscheinlich der erste, der das mit Freuden machen
                                                                           moderat der oft kolportierten Auffassung, (inhaltlich   würde. Die Handschriften eines der bedeutendsten
                                                                           bedeutungslose) Hitler-Autographen seien in Deutsch-    Autoren der Weltliteratur sollten an einem gut gesicher-
                                                                           land mangels Interesse kaum verkäuflich, dafür im       ten und unter öffentlicher Kontrolle stehenden Ort
                                                                           Ausland aber umso besser. Verkaufen ließe sich derlei   verwahrt werden, ja, was denn sonst?“ Dass dabei der
                                                                           schon. Er selbst und die meisten seriösen Händler       Ausstellungsaspekt nicht zu kurz kommen sollte, hebt
                                                                           nähmen es aber schlicht nicht in ihr Angebot auf.       Ottmar Ette hervor. Die Humboldt-Reisetagebücher
                                                                                Nicht immer sind Archivare erfreut über den        könnten im Humboldt-Forum eine Museums-Heimat
                                                                           kontinuierlich steigenden Marktwert von Autographen.    finden und dann auch selbst wieder auf Reisen gehen,
                                                                           Mitunter tauchten auf Auktionen sogar Stücke auf, die   etwa in die beschriebenen Länder. Die Handschrift als
                                                                           einmal in den eigenen Beständen waren, sagt Gerald      Handreichung zwischen den Völkern: eine schöne
                                                                           Maier. Man könne eine Entwendung selten nachweisen      Vorstellung.
     Johann Sebastian Bach, Autograph der
     h-Moll-Messe, Credo, 1748/49, 33 × 21,5 cm;
     Staatsbibliothek zu Berlin
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TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN

SPÄTE BRIEFPOST
DAS BEETHOVEN-HAUS IN BONN KONNTE ZWEI UNBEKANNTE
AUTOGRAPHEN DES KOMPONISTEN ERSTEIGERN
von Julia Ronge

A
      m 6. Juni 2012 wurde in Berlin ein Beethoven-
      Brief versteigert, der bislang noch nicht einmal        Wien den 17ten Septembr. [1795]
      vom Hörensagen bekannt, geschweige denn
veröffentlicht war und sofort die Aufmerksamkeit der          Lieber! daß du mir hieher geschrieben hast, hat mich
Beethoven-Forschung auf sich zog. Dieser neuentdeckte         unendlich gefreut da ich mir’s nicht vermuthete. du
Brief befand sich in einem geradezu makellosen Erhal-         bist also jezt in dem Kalten Lande, wo die Menscheit
tungszustand. Besonders besticht sein Format, denn der        noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird, ich
vierseitige Brief ist aufgeschlagen mit 8,1 × 9,3 cm nicht    weiß gewiß, daß dir da manches begegnen wird, was
größer als ein Handteller – selbst für die damalige Zeit      wider deine Denkungs-Art, dein Herz, und überhaupt
ungewöhnlich klein. Zudem ist er sehr sorgfältig und          wider dein ganzes Gefühl ist. wann wird auch der
ohne Fehler oder Korrekturen geschrieben, was bei             Zeitpunkt kommen wo es nur Menschen geben wird,
Beethoven nur selten vorkommt und immer ein Zei-              wir werden wohl diesen Glücklichen Zeitpunkt nur
chen von besonderer Wertschätzung des Adressaten ist.         an einigen Orten heran nahen sehen, aber all-
     Der Brief stammt von 1795, aus einer Zeit, aus der       gemein – das werden wir nicht sehen, da werden
nur wenige Schriftdokumente von Beethovens Hand               wohl noch JahrHunderte vorübergehen.
überliefert sind. Bis einschließlich 1794 kennt die           den Schmerz, den dir der Tod deiner Mutter verur-
Beethoven-Forschung nur acht Briefautographen Beet-           sacht hat, habe ich auch sehr gut fühlen können, da ich
hovens. Aus 1795 war bislang kein Beethoven-Brief             fast zweimal in dem nemlichen Fall bey dem Tode
verbürgt.                                                     meiner Mutter und meines vaters gewesen bin. wahr-
     Überraschend ist auch der Adressat. Beethoven            lich wemsollte es nicht wehe thuen, wenn er ein Glied
richtet sich an Heinrich von Struve (1772 –1851),             aus einem so selten anzutreffenden Harmonischen
einen Bonner Freund, der wohl zum „Zehrgarten“-               Ganzen wegreißen sieht – man kann nur noch hiebey
Kreis gehörte. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern            vom Tode nicht ungünstig reden, wenn man sich
dieses liberal-intellektuellen Zirkels, der sich regelmäßig   ihn unter einem lächelnden sanft hinüberträumenden
im gleichnamigen Gasthaus mit angeschlossener Buch-           Bilde vorstellt, wobey der Abtretende nur gewinnt.––
handlung am Bonner Markt traf, war bislang nichts             ich lebe hier noch gut, komme immer meinem mir
über Beethovens Beziehung zu Struve bekannt. Zwar             vorgestekten Ziele näher, wie bald ich von hier gehe,
hatte Struve sich in das Stammbuch eingetragen, das           kann ich nicht bestimmen, meine erste Ausflucht wird
seine Freunde Beethoven vor der Abreise nach Wien im          nach ytalien seyn, und dann vieleicht nach Rußland,
November 1792 überreichten, darüber hinaus war aber           du könntest mir wohl schreiben, wie hoch die reise von
kein weiterer Kontakt dokumentiert. Lorenz von Breu-          hier nach P.[etersburg?] kömmt, weil ich jemanden
                                                                                                                                       Ludwig van Beethoven, Brief an Heinrich
ning, der sich Mitte der 1790er-Jahre in Wien aufhielt,       hinzuschicken gedenke sobald als möglich. deiner                         von Struve, Wien, 17. September 1795,
berichtete Anfang des Jahres 1795 nach Bonn: „Struve          Schwester werde ich nächstens einige Musik von mir                       8,1 × 9,3 cm (Abbildung in Originalgröße);
will das Frühjahr zu uns kommen.“ Dies galt bislang als       schicken.                                                                Beethoven-Haus Bonn. Die Abbildungen
die einzige weitere Erwähnung Struves in Beethovens           Professor Stup von bonn ist auch hier. Grüße von                         zeigen die Vorder- und Rückseite des zum
                                                                                                                                       Brief gefalteten Blattes: Seite 1 o. r., Seite 2
näherem Umfeld. Beethovens Brief an Struve rückt die          Wegeler und Breuning an dich. ich bitte dich mir ja                      u. l., Seite 3 u. r., Seite 4 o. l.
Freundschaft in ein neues Licht und macht sie für die         immer zu schreiben, so oft du kannst, laß deine
Forschung näher greifbar.                                     Freundschaft für mich sich nicht durch die Entfernung
     Die Attraktion des Briefes lag aber weder in seinem      vermindern, ich bin noch immer wie sonst dein dich
Äußeren noch im Datum oder in seinem Adressaten,              liebender
die größte Sensation war sein Inhalt, der hier nun            					Beethoven.
erstmals veröffentlicht wird.

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drei Notenlinien im System etwas abgesetzt ist, damit   schwerwiegende Unterschiede. So hat es der Stecher
                                                                                                                                                   noch Platz für den Singtext bleibt.                     versäumt, zu Beginn des Liedes p dolce zu überneh-
                                                                                                                                                        Der Text des Liedes stammt von Georg Friedrich     men, die Anweisung, leise und lieblich zu spielen. Der
                                                                                                                                                   Treitschke (1776 –1842), dem Dramatiker und Regis-      gewichtigste Fehler findet sich am Schluss und kann
                                                                                                                                                   seur, der Beethoven mit der letzten Textfassung des     Beethoven keineswegs gefallen haben. Der Text des
                                                                                                                                                   Fidelio behilflich war und entscheidend zu dessen       Liedes endet in Resignation, weil der Sprecher die
                                                                                                                                                   Erfolg beigetragen hat. Treitschke veröffentlichte im   Distanz zu seiner Liebsten nicht überbrücken kann:
                                                                                                                                                   Juni 1817 einen Gedichtband, dem als eine von drei      „Ich nur bin fest gebannt, weine allhier.“ Um die
                                                                                                                                                   Musikbeilagen die Vertonung Beethovens beigebun-        Hoffnungslosigkeit zu veranschaulichen, lässt Beet­
                                                                                                                                                   den war. Beethoven hat die Niederschrift mit einer      hoven den Klavierpart immer leiser und langsamer
                                                                                                                                                   Widmung für den Dichter versehen: „Für seine Wohl-      werden, decrescendo und ritardando. Im Erstdruck
                                                                                                                                                   gebohrn H: v. Treischke Ersten Dichter u Trachter Von   finden wir allerdings das Gegenteil. Hier lautet die
                                                                                                                                                   den Ufern der Vien bis zum Amazonen Fluß.– von          Anweisung cresc., lauter werden. Auch das ritardando
                                                                                                                                                   L v. Beethoven am 13ten WinterMonath 1816“.             wurde unterschlagen, so dass die Musik nicht, wie
                                                                                                                                                        Schon unmittelbar nachdem er ein Belegexemplar     von Beethoven intendiert, verebbt, sondern in einem
                                                                                                                                                   des Gedichtbandes bekommen hatte, bat Beethoven         fulminant rauschenden Schluss ausklingt. Kein Wun-
                                                                                                                                                   Treitschke, sein Autograph an den Musikalienhändler     der, dass Beethoven sich ärgerte, denn der Ausdruck
                                                                                                                                                   Steiner weiterzugeben, „damit das Gestochene, wel-      der Resignation, der ihm so wichtig war, wurde damit
                                                                                                                                                   ches von Fehlern zerstochen, sogleich wieder, wie es    zunichte gemacht. Entgegen seinen Wünschen hat
                                                                                                                                                   seyn muß, gestochen werden kann, u zwar um so           Treitschke die Handschrift wohl nicht an den Verleger
                                                                                                                                                   mehr, weil sonst auf das Dichten u. Trachten ganz       weitergegeben, oder vielleicht hatte Steiner auch kein
                                                                                                                                                   erschrechlich gestochen u. gehauen wird werden“.        Interesse an einer Neuauflage des Liedes – erschienen
                                                                                                                                                        Vergleicht man den Erstdruck mit dem Auto-         ist sie jedenfalls nicht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts
                                                                                                                                                   graph, so ist Beethovens Unmut zunächst verwunder-      geriet das Autograph in Vergessenheit.
                                                                                                                        Ludwig van Beethoven,      lich, denn im Notentext lassen sich keine Abweichun-          Dass sich das Beethoven-Haus bei beiden Hand-
Heinrich von Struve stammte aus Regensburg, wo sein         keinen Unterschied zwischen Mutter und Vater und            Autograph des Liedes       gen feststellen. Beethoven war allerdings immer sehr    schriften, dem Brief an Struve und der Niederschrift
Vater als russischer Gesandter beim ständigen Reichs-       betont den Schmerz, den ihr Hinscheiden ihm verur-          „Ruf vom Berge“ nach       genau auf die Wirkung seiner Musik bedacht, und         des Liedes, 2004 bzw. 2012 vergeblich um einen
                                                                                                                        einem Gedicht von Georg
tag firmierte. Wie sein Vater und seine Brüder trat auch   sacht hat. Die Beethoven-Biographik stellt zu Unrecht        Friedrich Treitschke,      tatsächlich finden sich beim musikalischen Ausdruck     Ankauf bemühte, lag an der Unersättlichkeit eines
Heinrich in kaiserlich-russische Dienste ein. Vielleicht   den Vater als gewalttätiges Monster dar – dieser Brief       1816, 16 × 19,7 cm;                                                                französischen Investmentfonds auf Handschriften, der
erfolgte der von Lorenz von Breuning erwähnte Besuch       lässt ahnen, dass Beethoven ihn keineswegs für ein           Beethoven-Haus Bonn                                                                nicht nur jeden Preis zahlte, sondern sogar versuchte,
Struves in Wien im Frühjahr 1795 auf der Durchreise        solches hielt.                                                                                                                                  die Preise gezielt nach oben zu treiben. Der Fonds
nach Russland, Beethoven rechnet zumindest damit,                Auffallend ist außerdem, dass er zahlreiche Reise-                                                                                        kalkulierte damit, den Marktwert und somit die
sein Brief würde Struve „in dem Kalten Lande, wo die       pläne schmiedet. „ich lebe hier noch gut“ lässt sogar                                                                                           Rendite seiner Sammlung zu steigern. Das Beethoven-
Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt         vermuten, dass Beethoven 1795 nicht damit rechnete,                                                                                             Haus war damals nicht bereit, die Preistreiberei zu
                                                                                                                        Links: Friedrich Adolph
wird“ antreffen. Aus diversen Andeutungen und Über-        dauerhaft in Wien zu bleiben. Zunächst plant er              Hornemann, Bildnis von                                                             unterstützen und verzichtete schweren Herzens.
lieferungen von Zeitgenossen ist Beethovens politische     Reisen nach Italien und Russland. Beethoven hielt            Heinrich Christian                                                                       Die Entscheidung erwies sich als richtig. Da der
Haltung in der Tendenz bekannt. Dass er aber derart        zu vielen Bonner Freunden Kontakt, zu etlichen ein           Gottfried von Struve,                                                              Investmentfonds Aristophil mit einem Schneeball­
                                                                                                                        38,2 × 30,9 cm; Staats-
ungeschminkt die Missstände in Russland beim Na-           ganzes Leben lang, und auch Struve bittet er, ihn trotz      und Universitätsbiblio-
                                                                                                                                                                                                           system arbeitete, um an die nötigen immensen Geld-
men nennt, war neu. Der Brieftext wirft auch ein Licht     der weiten Wege nicht zu vergessen und richtet Grüße         thek Hamburg                                                                       mittel zu gelangen, griff der französische Staat ein und
auf die im „Zehrgarten“ diskutierten Themen, denn          der in Wien weilenden gemeinsamen Bonner Freunde                                                                                                schloss ihn 2015. Nach und nach werden nun die über
Beethoven ist sich sicher, dass die Zustände in Russ-      aus. Dieser Brief ermöglicht tiefe neue Einblicke in         Rechts: Christian Hor-                                                             130.000 Handschriften aus seinem Besitz wieder auf
                                                                                                                        neman, Bildnis von
land wider Struves Überzeugungen sind. Beethovens          die Überzeugungen und Gefühle des 24-jährigen auf-           Ludwig van Beethoven,                                                              den Markt geworfen. So erhielt das Beethoven-Haus
daran anschließende Hoffnung liest sich geradezu           ­strebenden Künstlers.                                       1802, 6,1 × 4,7 cm;                                                                im Juni 2018 in Paris eine neue Chance, den Struve-
prophetisch: Die Utopie, dass es eines Tages in ferner           Schon 2004 kam ein anderes unerforschtes Beetho-       Beethoven-Haus Bonn                                                                Brief und das Lied zu erwerben, und blieb diesmal
Zukunft ohne Unterscheidung nur noch Menschen               ven-Autograph in London auf den Markt. Beethovens                                                                                              der glückliche Bieter. Die Handschriften sind nun an
gäbe, geht sogar noch über die Forderung, alle Men-         eigenhändige Niederschrift des Liedes „Ruf vom Berge“                                                                                          einem Ort, an dem ihre Schönheit, ihr ideeller und
schen sollten Brüder werden, hinaus.                        („Wenn ich ein Vöglein wär“) WoO 147 wurde bis                                                                                                 wissenschaftlicher Wert geschätzt werden. Das Beet­
     Beethovens Kondolenz zum Tod von Struves               dato für verschollen gehalten. Der berühmte Hand-                                                                                              hoven-Haus verkauft nicht und entzieht die Schätze
Mutter klärt das Entstehungsjahr des Briefes, da Sophia     schriftensammler Aloys Fuchs (1799 –1853) hat sie                                                                                              dem Markt. Sammeln ist eine Passion, an die keine
Dorothea Struve geb. Reimers am 21. Mai 1795 ge-            wohl noch gekannt, aber keine Beschreibung angefer-                                                                                            Renditeerwartung geknüpft sein sollte.
storben ist. Der Komponist kann sich gut in den             tigt. Auch diese Handschrift besticht zunächst durch
Verlust des Freundes einfühlen, weil er selbst bereits      ihr ästhetisches Äußeres, auch sie ist im Format ver-                                                                                          Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder,
beide Eltern verloren hat. Die Nennung seiner verstor-      gleichsweise klein. Für die Beethoven-Zeit noch relativ                                                                                        Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien,
benen Eltern in einem Satz lässt einen höchst seltenen      neu ist das lithographierte Notenpapier, das speziell für                                                                                      Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes
Einblick in Beethovens Gefühlswelt zu, macht er doch        Lieder angefertigt wurde, wobei die obere der jeweils                                                                                          Nordrhein-Westfalen

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