HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN - Das Magazin der Kulturstiftung der Länder - Kulturstiftung der Länder
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Das Magazin der Kulturstiftung der Länder 4 2018 HAND-WERK ZUR MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN LUDWIG VAN BEETHOVEN IN BONN BERLIN: DER SAMMLER KARL H. BRÖHAN
EDITORIAL schaften von Schriftträgern und Schreibstoffen – wie Foto: VSU etwa die Qualität des Pergaments oder die Zusammen- setzung der Tinte – können zudem wichtige Quellen Schreibkulturen für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sein. Das Ti- telthema dieses Heftes „Materialität des Schriftlichen“ Georgiana Houghton, The Flower of Samuel Warrand, 1862, (Ausschnitt), Victorian Spiritualists‘ Union, Melbourne mit Beiträgen von Oliver Jungen, Julia Ronge, Antonia Kölbl und Johannes Fellmann entführt Sie in den Kos- mos des Handgeschriebenen und illustriert eindrucks- BIS voll, warum die Kulturstiftung der Länder den Ankauf, die Präsentation sowie die konservatorische Pflege von 10 Autographen nationalen Ranges seit nunmehr 30 Jah- ren zu ihren zentralen Aufgaben zählt. Das gestiegene MÄRZ öffentliche Bewusstsein von der besonderen Bedeutung des schriftlichen Kulturerbes dürfte jedoch nicht nur da- 2019 rauf zurückzuführen sein, dass Dinge und ihre Materia- lität in den Kultur- und Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte eine deutliche Aufwertung als Forschungsge- genstände erfahren haben. Der sich derzeit vollziehende Prof. Dr. Markus Hilgert, Generalsekretär der Übergang von einer analogen zu einer digitalen Schreib- Kulturstiftung der Länder kultur sensibilisiert uns vielmehr für die Tatsache, dass das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft irreparablen Liebe Leserinnen und Leser, Schaden nimmt, wenn diese Gesellschaft die Pflege ihres schriftlichen Kulturerbes vernachlässigt. So wird bei- seit etwa 5.000 Jahren kann der Mensch schreiben. Die spielsweise auch der zukünftige Umgang mit Objekten ältesten bekannten Manuskripte sind mit bildhaften aus kolonialem Kontext entscheidend von der Verfüg- E ORI E U N D PR Schriftzeichen beschriebene Tontafeln aus dem Süden barkeit aussagekräftiger Schriftzeugnisse abhängen. Das TH AX des Irak. Im Vergleich zur Entwicklungsgeschichte des klare Bekenntnis der Bundesregierung zum Erhalt des N Homo sapiens ist das Schreiben also eine Fertigkeit, die schriftlichen Kulturgutes sowie die finanzielle Stärkung I IS ST wir erst vor relativ kurzer Zeit erworben haben. Manch- der gemeinsam von der Beauftragten der Bundesregie- 18 ISCH E KU N mal frage ich mich, ob wir diese Fertigkeit irgendwann rung für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der 5 0– M auch wieder verlieren werden. Das geschieht immer Länder getragenen „Koordinierungsstelle für die Erhal- O SIU R 1 95 0 P E dann, wenn ich mir vornehme, einen Brief ‚von Hand‘ tung des schriftlichen Kulturguts“ sind daher nicht nur S Y MP FÄ N G W E LT EM MIT FILMEN zu schreiben, und feststelle, dass mir inzwischen die Übung fehlt, gerade so, als sei ich dabei, das Schrei- für Archive, Bibliotheken und Museen in Deutschland ein wichtiges Signal. VON ben mit Stift auf Papier zu verlernen. Auch diese Zei- ST 19 len entstehen mit Hilfe einer Tastatur am Computer, Ihr MI JOHN & 20 und ich bin, ehrlich gesagt, erleichtert, dass Sie es dem IU Manuskript daher nicht ansehen werden, wie oft ich N JA JAMES D ME . korrigiert, gestrichen und ergänzt habe. Die Mühsal des 25. U N D 26 Schreibprozesses und die aufeinander aufbauenden Zu- WHITNEY stände des Textes werden an dem Geschriebenen nicht mehr abzulesen sein – gut so. UND Das Vorläufige, nie Abgeschlossene, das wir an un- serer eigenen Textproduktion vielleicht als Makel wahr- HARRY nehmen, ist jedoch genau das, was uns an den Autogra- phen anderer Menschen oft besonders anzieht. Können SMITH wir uns Beethoven und Kafka nicht ein wenig näher fühlen, wenn wir auch in ihrem Handgeschriebenen das Ringen um das ‚Richtige‘ erkennen? Jenseits solcher Empfindungen liefern die materiellen Spuren der Ent- stehung eines Textes oder einer Komposition vor allem der Forschung wichtige Anhaltspunkte für die biogra- phische oder kulturgeschichtliche Einordnung eines Ludwig van Beethoven, Autograph des Liedes „Ruf vom Berge“ nach einem Gedicht von Werks. Entsprechendes gilt etwa für Skizzen, Vorzeich- Georg Friedrich Treitschke, 1816, 16 × 19,7 cm; LENBACHHAUS IHR nungen oder Studien in der bildenden Kunst. Eigen- Beethoven-Haus Bonn KU NSTMUSEUM LE N BACH HAUS. DE I N MÜ NCH E N ARSPROTOTO 4 2018 3
AUTOREN IMPRESSUM INHALT schmerzhafte Wirklichkeit. Aus dem zusam- Arsprototo Das Magazin der Kulturstiftung der Länder 3 EDITORIAL TITELTHEMA MATERIALITÄT mengerafften Fundus eines bankrotten Preistreibers kommen jetzt zwei Handschrif- Lützowplatz 9, 10785 Berlin DES SCHRIFTLICHEN ten Beethovens nach Bonn. Mithilfe eines Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 8914251 4 AUTOREN / IMPRESSUM 20 DER Briefs kann die promovierte Musikwissen- Redaktion 030 - 89 36 35-27 EMÄLDESAMMLUNG G schaftlerin und Herausgeberin des Beethoven- E-Mail arsprototo@kulturstiftung.de Werkverzeichnisses zeigen, dass der Kom Internet www.kulturstiftung.de 8 UND BIBLIOTHEK WELTGEIST ponist schon in jungen Jahren für Brüderlich- keit zwischen den Menschen eintritt. Und Herausgeber Prof. Dr. Markus Hilgert, wie der musikalische Charakter von Beetho- Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder der Bonner „Lese- und Erholungsgesellschaft“ ZU HÄNDEN vens Lied „Ruf vom Berge“ durch Fehler Projektleitung Dr. Stephanie Tasch im Erstdruck nachhaltig verfälscht wurde, Chefredakteurin Carolin Hilker-Möll beweist Julia Ronge mit Beethovens eigen- Geschäftsführender Redakteur Johannes Fellmann händiger Niederschrift. ––– Seite 28 Redaktionelle Mitarbeit Jenny Berg, Antonia Kölbl, OLIVER JUNGEN Laura Kunkel Autographen als Grundpfeiler der Ob früher mehr Lametta war, ist noch nicht Senior Editor Dieter E. Beuermann kulturellen Überlieferung ausgemacht. Mit Sicherheit aber waren früher Konzeption und Gestaltung Stan Hema mit — von Oliver Jungen mehr Autographen. Der Germanist und Vladimir Llovet Casademont, www.stanhema.com Journalist Oliver Jungen, der sich für diese Anzeigen Jenny Berg, Telefon 030 - 89 36 35-21 Ausgabe mit der Faszination von Original- handschriften beschäftigt hat, wird in Zukunft sicher öfter auf Autographen-Mes- Abonnements Arsprototo – Abonnementservice, Bessemerstraße 51, 12103 Berlin 28 SPÄTE BRIEFPOST sen anzutreffen sein. Denn er besitzt zwar E-Mail abo@kulturstiftung.de Das Beethoven-Haus in Bonn konnte einige an ihn gerichtete Schreiben verehrter Telefon 030 - 89 36 35-41 Fax 030 - 26 55 56‑71 zwei unbekannte Autographen des Zeitgenossen – aber das sind allesamt Jahresabonnement: 20 Euro Komponisten ersteigern — von Julia Ronge E-Mails. Bei der Recherche für Arsprototo Erscheinungsweise Viermal jährlich durfte er jedoch lernen, wie viel näher der Erscheinungstermin dieser Ausgabe: 12.12.2018 materielle Schreibstoff uns den erhabenen Geistern bringt. Und nicht selten verrät uns Gedruckte Auflage dieser Ausgabe: 16.000 32 DER HANDSCHRIFT das stoffliche Schreibstück Geheimnisse, die der gedruckte Text verschweigt. Kein Wunder JOHANNES FELLMANN Nachdruck von Bildern und Artikeln, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung AUF DER SPUR also, dass auch die Wissenschaft die Originale Ob Südseemasken aus dem Bismarck-Archi- der Redaktion. Mit Ulrich von Bülow durchs bevorzugt. Oliver Jungen hat in Köln und pel, die Kunst der 68er oder Kulturbildung Litho Mega-Satz-Service, Berlin für Kinder: Johannes Fellmann macht aus Deutsche Literaturarchiv Marbach London Deutsche Philologie, Philosophie Herstellung Buch- und Offsetdruckerei und Geschichte studiert und arbeitet seit zwei jedem Thema der Kulturstiftung der Länder H. Heenemann GmbH & Co., Berlin — von Antonia Kölbl Jahrzehnten als Kulturjournalist, vornehmlich eine faszinierende Geschichte. Bevor er im Vertrieb OML KG , Berlin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Jahr 2005 Arsprototo mitbegründete und ISSN 1860 - 3327 Er hat diverse Bücher veröffentlicht, unter seitdem als Redakteur begleitet, arbeitete anderem zu Alfred Döblin, zur Stilistik und Fellmann als Kulturjournalist und Reporter Arsprototo erscheint mit Unterstützung des Grammatiktheorie sowie zu großen deut- für 3sat kulturzeit und das ZDF. 10 Jahre Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder. schen Blindgängern (mit Wiebke Porombka: lang verantwortete er die Kommunikation 10 EILIGE DREI KÖNIGE H Deutsche Nullen. Sie kamen, sahen und der KSL. Zukünftig wird er freiberuflich von Henrik Douverman versagten. C. H. Beck, 2016). ––– Seite 20 Kulturinstitutionen und Künstler beraten Kulturstiftung der Länder und seine Expertise in die Wissenschaftskom- Stiftung bürgerlichen Rechts munikation einbringen. Als geschäftsführen- Lützowplatz 9, 10785 Berlin 12 RCHAISCHES FRAGMENT A der Redakteur wird er aber weiterhin für Telefon 030 - 89 36 35-0 Fax 030 - 89 14 251 von Richard Oelze Arsprototo tätig sein und die Leser mit seinen E-Mail kontakt@kulturstiftung.de spannenden Reportagen an ungewöhnliche Internet www.kulturstiftung.de Orte führen: so diesmal in das Berliner Generalsekretär Prof. Dr. Markus Hilgert 14 STAMMBUCH MIT EINTRAG Medizinhistorische Museum der Charité, wo Stellv. Generalsekretär Prof. Dr. Frank Druffner VON NOVALIS die handgeschriebenen Sektionsprotokolle Dezernentinnen Dr. Britta Kaiser-Schuster, von Rudolf Virchow von Tintenfraß und Dr. Stephanie Tasch von Jakob Christian Menzler Austrocknung bedroht sind. ––– Seite 38 Leiter Kommunikation Hans-Georg Moek Leiter der Verwaltung Ronny Günther Finanzbuchhalterin Angela Neumann-Bauermeister 15 S CHRIFTLICHER NACHLASS Titel: Ernst Jünger, Sekretariat Gabriele Lorenz, Monika Michalak von Bernard von Brentano SCHNITT Manuskript des Referentin des Vorstands Jenny Berg Essays „Annäherun- 38 gen. Drogen und Informationsgemeinschaft zur Feststellung 16 PORTRÄT DES LOUIS GAUCHER, JULIA RONGE Rausch“, erschienen DUC DE CHÂTILLON STELLEN der Verbreitung von Werbeträgern e.V. 1970; Deutsches Handschriften als Spekulationsobjekt? Literaturarchiv von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. Fondsgesellschaften, die gierig Originale Marbach aufkaufen und wissenschaftliche Arbeit auf Jahrzehnte blockieren? Für Julia Ronge, die Die handgeschriebenen Sektions- Sammlungskustodin im Beethoven-Haus protokolle von Rudolf Virchow Bonn, war das kein Alptraum, sondern — von Johannes Fellmann 4 ARSPROTOTO 4 2018 5
INHALT LÄNDERPORTRÄT BERLIN 52 DER ENTDECKER 44 DER SCHÖNE SCHEIN TRÜGT Im Berliner Knoblauchhaus braucht ein Kronleuchter von Karl Friedrich Schinkel Ihre Unterstützung 48 BRUTAL MODERN! Das Braunschweigische Landesmuseum zeigt in einer großen Sonderausstellung Architektur zwischen 1960 und 1980 — von Jenny Berg Karl H. Bröhan sammelte Kunst und Kunst- handwerk des Jugendstil, Art déco und Funktionalismus und schenkte alles der Stadt Berlin — von Uta Baier 58 KUNST UND KULTUR IN DEN LÄNDERN 62 HAND IN HAND Der Freundeskreis der Kultur- stiftung der Länder unterstützte die Restaurierung von vier Gemälden Heinrich Basedows im Potsdam Museum — von Frank Druffner 50 NEUE BÜCHER 64 NACHRICHTEN 51 FREUNDESKREIS / SERVICE / BILDNACHWEIS 66 SCHÖN IM DEPOT Matthias Wemhoff mit dem „Schrein von Cammin“ im Depot des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin In Kooperation mit 6
ERWERBUNGEN BEETHOVEN IN GESELL- SCHAFT Bürgerschaftliche Kulturinitiativen eröffnen Alternativen zu den staatlich vorgegebenen, sie bringen Gegenentwürfe zum Etablierten. Seit 1787 vertrat die „Lesegesellschaft“ als wichtigste private Vereinigung der Bonner Kulturwelt getreu ihrem Motto ET SIBI ET ALIIS – „sowohl für sich selbst, als auch für die Anderen“ – die Ideale der Aufklärung. Bildung und Austausch für mehr Menschen zugänglich zu machen, erklärte sie zum Ziel. So zum Beispiel mit einer umfangreichen Bibliothek – fehlten Privatpersonen doch oft die Mittel, die teuren Druckerzeugnisse zu erstehen. Auch eine Bildersammlung wurde über die Jahrzehnte bewusst aufgebaut. Aus den rund 30 Gemälden, 20 Graphiken und zahlreichen historischen Fotografien, die das Beethoven-Haus Bonn nun zusammen mit der Bibliothek von der „Lese“ erwarb, treten die Protagonisten der Bonner Stadtgesell- schaft hervor. 1887, also 100 Jahre nach der Gründung der bis heute existierenden „Lese“, hatten einige ihrer Mitglieder eine weitere Kulturinstitu- tion aus der Taufe gehoben: den Verein Beethoven-Haus. Neue Aspekte der frühen Bonner Jahre des Meisterkomponisten treten aus der nun erworbenen Sammlung hervor. Der geistige Nährboden, den die „Lese- und Erholungsgesellschaft“ dem jungen Beetho- ven bot, ist in der Ausstellung „Lichtstrahlen der Aufklärung“ zu erleben. Die Exponate spiegeln noch bis zum 31. Januar 2019 den gesellschaftlichen, intellektuellen und politi- schen Aufbruch des Bürgertums – kurz: Beethovens Umfeld – wider. Linke Seite: Gerhard Kügelgen, Selbstbildnis mit der Büste seines Bruders Karl, 1790, 100 ×75 cm; Beethoven-Haus Bonn Rechte Seite oben: James Lonsdale, Porträt des Geigers und Konzertunternehmers Johann Peter Salomon, ca. 1815, 91 × 70 cm; Beethoven-Haus Bonn Rechte Seite unten: Johann Heinrich Richter, Porträt des Jugendfreundes Beethovens und bedeutenden Mediziners Franz Gerhard Wegeler, 1839, 65 × 55 cm; Beethoven-Haus Bonn Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-West- falen 9
ERWERBUNGEN Dreiheilig- keit Schon 2005 wollte das Museum Kurhaus Kleve die drei Weisen aus dem Morgenland unbedingt für seine Mittelalter-Sammlung haben. Der damalige Direktor wurde bei der Londoner Auktion von Sotheby’s aller- dings überboten. Doch als im selben Jahr der erfolgreiche belgische Käufer starb, gaben seine Erben die Skulpturengruppe als Leihgabe ins Klever Museum. Nun bleibt dank öffentlicher, unternehmerischer und privater Unterstützer die im Bewusstsein der Öffentlichkeit fest mit Kleve verbun- dene Gruppe von Henrik Douverman (um 1480/90 –1543/44) für immer in der Stadt, in der der Künstler seine Lehrzeit verbracht und seine erste eigene Werkstatt eröffnet hatte. Als die Könige in Bethlehem das neugebo- rene Jesuskind suchen und finden, ereignet sich ein Schlüsselmoment der christlichen Legende. Die drei huldigen mit Erstaunen, mit Freude als Vertreter der drei Weltteile als erste dem Gottessohn mit Gold, Weihrauch und Myrrhe. Melchior verkörpert das alte Europa, König Caspar repräsentiert Asien, der jüngste König Balthasar stellt Afrika dar. Das Motiv variiert an der Schwelle zur Neuzeit ein großes Thema europäischer Kunst: Nach der aktuellsten Mode um 1530 in luxuriöse Gewänder gekleidet, präsen tieren sich die biblischen Kronzeugen mit ihrer exaltierten Haltung und ihren Gesten, den prachtvollen Frisuren und Bärten in ihrer herausgehobenen Stellung als Heilige. Präzise und lebendig charakterisiert, weist die Gruppe, die wahrscheinlich im Altar schrein einer Kirche aufgestellt war, schon in modernere Zeiten. Henrik Douverman, Heilige Drei Könige, um 1530 –35, H. zw. 81 und 85 cm; Museum Kurhaus Kleve Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststif- tung, Ministerium für Kultur und Wissen- schaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve e.V., Kunststiftung NRW, Rudolf-August Oetker-Stiftung für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Denkmal- pflege, Provinzial Rheinland Versicherung AG, Irene Zintzen-Stiftung und weitere Unterstützer 10 ARSPROTOTO 4 2018 11
ERWERBUNGEN PRÄZISE UNEINDEUTIG In einem Moment erzählen sie lebhafte Geschichten, im nächsten verblassen sie zu verschwommenen Bildern: An der Grenze zur Realität bieten Träume einen idealen Nährboden für Interpretation und Deutung. Den Theorien Sigmund Freuds folgend, sahen die Surrealisten in der Welt des Traumes den Zugang zu einer höheren Wirklichkeit – frei von jeder Kontrolle durch die Vernunft. Präzise wiedergegeben und doch unein- deutig, fordert ihre Kunst den Betrachter dazu auf, Logik und Verstand loszulassen und sich in die Tiefen des eigenen Unbe- wussten zu begeben. Nach seinem Um- zug nach Paris Anfang der 1930er-Jahre kam der in Magdeburg geborene Künstler Richard Oelze (1900 –1980) mit dem Kreis der Surrealisten rund um Max Ernst, René Magritte und Yves Tanguy in Kontakt und entwickelte eine von fantastischen Motiven gekennzeichnete Bildsprache. Mit der für ihn charakte- ristischen, altmeisterlich lasierenden Maltechnik schuf Oelze 1935 das Öl gemälde „Archaisches Fragment“: eine großformatige Komposition mit einem grotesken Mischwesen aus biomorphen Formen, das vor einer Seen- und Ufer- landschaft schwebt. Bereits ein Jahr nach Entstehen wurde das Bild auf der Lon doner Ausstellung „International Surrea- list Exhibition“ neben Werken von Max Ernst, Salvador Dalí und Man Ray ge- zeigt. Als Werk eines bedeutenden deut- schen Vertreters des Surrealismus ergänzt „Archaisches Fragment“ den Moderne- Bestand des Frankfurter Städel Museums nun um ein wichtiges Zeugnis kulturellen Transfers Anfang des 20. Jahrhunderts. Richard Oelze, Archaisches Fragment, 1935, 98 × 130 cm; gemeinsames Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V. und des Städel Museums, Frankfurt am Main Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Kurt und Marga Möllgaard- Stiftung 12 ARSPROTOTO 4 2018 13
ERWERBUNGEN Facebook, von Hand BLICK VON Was wohl aus der Kommilitonin wurde, die damals jeden Montagmorgen direkt Der Erforschung von Novalis’ dichteri- schem Werk widmet sich die Forschungs- AUSSEN Neustadt, Hessen, 1. August 1914. Pauken- aus dem Club in die Ästhetik-Vorlesung stätte für Frühromantik und Novalis- schläge, Chorgesang, Gedränge auf dem kam? Und was macht heute der Student, Museum Schloss Oberwiederstedt. An Siegesplatz. Die Verkündigung geht im Chaos fast unter, aber es ist offiziell: Der der nach jedem Seminar noch mindestens der Geburtsstätte des Lyrikers liegt das Krieg ist da. Jubel und Pöbelei auf den eine wichtige Frage hatte? Neugierde dieser Stammbuch Menzlers nun für Forschung Straßen, Misstrauen und Zweifel im groß- Art kann dank sozialer Medien inzwischen und Öffentlichkeit offen, nachdem das bürgerlichen Hause Chindler. Die Anfangs- szene in Bernard von Brentanos (1901–1964) schnell befriedigt werden. Im Studenten- Museum es auf einer Auktion ersteigern politischem Roman „Theodor Chindler“ wohnheim der Harvard University ent- konnte. Die 62 Einträge im Album läutet den Anfang vom Ende einer deutschen standen, führt das Netzwerk Facebook Amicorum, die in den Jahren 1798 bis Familie ein, die ihr Land in allen schicksal- haften Facetten spiegelt: Vater Theodor eine jahrhundertealte Tradition fort: Es 1881 Menzler gewidmet wurden, zeichnen engagiert sich in der Zentrumspartei, Toch- gründet auf dem Wunsch nach medialem das Umfeld Novalis’ in Freiberg nach – ter Margarethe verlässt ihr Zuhause, um sich Austausch zwischen Studienkollegen. ein Lebensabschnitt, der noch zu weiten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Im ausgehenden 18. Jahrhundert boten Teilen im Dunkeln lag. In Oberwieder- anzuschließen. Die älteren Söhne Karl und Ernst kämpfen an der Front fürs Vaterland. Stammbücher hierfür die Plattform. stedt wird nun ein Schlaglicht auf das Nesthäkchen Leopold gesteht seine Homo Verließ ein Student seinen Studienort, literaturhistorische Dokument gerichtet. sexualität. Die Mutter Elisabeth ist über- so trug er sich ins Buch der Kommilitonen Da das Freie Deutsche Hochstift in Frank- zeugt, die Kinder falsch erzogen zu haben: „Alle waren nicht so, wie sie sein sollten.“ ein. Am 13. Mai 1799 schrieb Friedrich furt am Main das Novalis-Museum bei der Ursprünglich katholisch, linksradikaler von Hardenberg aus Thüringen fünf Erwerbung unterstützte, wird das Stamm- Student und später Kritiker des Kommunis- Zeilen aus Johann Gottfried Herders buch auch in der Erstausstellung des im mus, der sich den Nationalsozialisten an- dient – Brentano verarbeitet für die 1936 im Gedicht „Das Flüchtigste“ (1787) für Spätsommer 2019 eröffnenden Museums Exil entstandene Geschichte autobiografische Jakob Christian Menzler (1776 –1854) des Stifts, dem Deutschen Romantik Details. Der Autor, 1939 mit dem Internati- nieder. Gemeinsam hatten sie die renom- Museum, zu sehen sein. Und auch für die onalen Literaturpreis ausgezeichnet, wurde mierte Bergakademie im sächsischen bis heute existierende Universität in Frei- erst vor einigen Jahren wiederentdeckt. Ob als Schriftsteller, Redakteur der Frankfurter Freiberg besucht. Der Jurist Hardenberg berg, die älteste noch bestehende montan- Zeitung oder hellsichtiger Essayist: Scharf (1772 –1801) war mit seinem Zweit wissenschaftliche Bildungseinrichtung beobachtete er das städtische Leben, erahnte studium der Naturwissenschaften in die weltweit, eröffnet sich so ein Kapitel ihrer gesellschaftliche Umbrüche, teilte Reiseerleb- nisse und kommentierte Literatur, Filme und Fußstapfen seines Vaters getreten. In Geschichte. Ausstellungen im Stil der Neuen Sachlich- seinen ab 1798 erschienenen Publikatio- keit. Manuskripte, Korrespondenzen, Doku- nen wandte er sich aber auch zunehmend Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung mente – den schriftlichen Nachlass seines vielfältigen Œuvres bewahrt nun das Deut- der Lyrik zu, seiner eigentlichen Leiden- der Länder, Freies Deutsches Hochstift sche Literaturarchiv Marbach. schaft. Unter dem Pseudonym Novalis Frankfurt am Main, Land Sachsen-Anhalt, schrieb er sich in die Literaturgeschichte Dr. Arved Grieshaber Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der deutschen Frühromantik ein. der Länder, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien 14 ARSPROTOTO 4 2018 15
SCHLEMMER Das Bauhaus und der Weg in die Moderne ERWERBUNGEN HERZOG UND HERKULES Ein französischer Offizier vor Kassel in einer österrei- chischen Auktion? Für die Kulturstiftung der Länder, die Hessische Kulturstiftung OSKAR und die Ernst von Siemens Kunststiftung eine Gelegen- heit, die Museumslandschaft Hessen Kassel zu unterstüt- zen. Und zwar mit einem Gemälde, das der Kasseler Hofporträtist Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722 –1789) für die muse- ale Vermittlungsarbeit des 21. Jahrhunderts gemalt zu haben scheint: Das Porträt des Louis Gaucher, Duc de Châtillon (1737–1762), aus dem Jahr 1762 ist ein histo- risches Bildnis mit einer solchen Fülle von Verweisen auf (lokal-)historische Herzogliches Ereignisse und deren Schau- plätze, auf kunsthistorische Museum Gotha wie kulturhistorische As- pekte, dass die Gemälde 28.04.– 28.07.2019 galerie Alte Meister in Kassel dem Werk umgehend einen Patrimonia-Band (Nr. 391) widmete, um die wichtigsten Facetten zusammenzutragen. So ist das Gemälde ein landesgeschichtliches Do kument der französischen Belagerung Kassels während des Siebenjährigen Krieges in Europa (1756 –1763). Der prominent platzierte Stadt- plan Kassels mit den Befes tigungen verweist auf den Zusammenhang von Karto- graphie und Krieg, während der Hintergrund mit dem Herkules der heutigen Wilhelmshöhe und einem Vorgängerbau des heutigen Schlosses präzise über Kasseler Baugeschichte In Kooperation mit: informiert. Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Louis Gaucher, Duc de Châtillon, 1762, 223 × 129 cm; Museums- landschaft Hessen Kassel Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunst stiftung Eintritt Herzogliches Museum Gotha 5,00 € | erm. 2,50 € Schlossplatz 2, 99867 Gotha Öffnungszeiten Telefon (03621) 82 34 - 0 16 täglich 10 – 17 Uhr www.stiftung-friedenstein.de
Oliver Jungen über Autographen TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN VON HAND als Grundpfeiler der kulturellen Überlieferung — Seite 20 Julia Ronge über zwei unbekannte Autographen von Ludwig van Beethoven für das Beethoven-Haus in Bonn — Seite 28 Antonia Kölbl über Hand- schriften im Deutschen Literaturarchiv Marbach — Seite 32 Johannes Fellmann über die handgeschriebenen Sektions- protokolle von Rudolf Virchow — Seite 38 Farbige Veränderungen in pathologischen Geweben. Tafel III aus dem Beitrag von Rudolf Virchow: Die patholo- gischen Pigmente. In: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. Band 1, 1847, S. 379 – 404; Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité 18 ARSPROTOTO 4 2018 19
TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN DER WELTGEIST ZU HÄNDEN AUTOGRAPHEN SIND EIN GRUNDPFEILER DER KULTURELLEN ÜBERLIEFERUNG — EIN VIELSTIMMIGER RUNDBLICK von Oliver Jungen N iemand kann sich ihrer Ausstrahlung entziehen. denen ,Amerikanischen Reisetagebücher‘ Alexander von Es ist, als hätte sich in Autographen der Atem der Humboldts erschienen, da war ich schon sehr berührt.“ Geschichte in Schrift kristallisiert. Schon Goethe Wie eine Begegnung über die Zeiten hinweg sei das war fasziniert von dieser Spur des Ursprungs, auch gewesen, und zwar nicht nur mit dem Autor, der diese wenn er 1806 in einem „eigenhändig Geschriebenes“ Seiten über fünfzig Jahre lang vervollständigt hatte, möglichst vieler Berühmtheiten erbittenden Brief an sondern auch mit der weiteren Reise der Tagebücher, den Verleger Johann Friedrich Cotta einen „löblich die sie bis nach Moskau führte. Die Aura, die Walter pädagogischen Zweck“ vorschob, nämlich „meinen Benjamin vor mehr als achtzig Jahren in seinem viel Knaben durch diese sinnlichen Zeugnisse auf bedeu- zitierten „Kunstwerk“-Aufsatz dem Original zuschrieb, tende Männer der Gegenwart und Vergangenheit ist also noch erfahrbar. Dass sich viele Menschen von aufmerksamer zu machen, als es die Jugend sonst wohl Originalhandschriften ganz direkt angesprochen füh- zu seyn pflegt“. Wir wissen freilich, dass der Dichter- len, erklärt deren teils hohen Preise bei Auktionen. fürst sich geradezu als Autogrammjäger betätigte. Briefe Hinzu kommt, dass Autographen sozusagen ein end aus Goethes Hand sind heute wiederum Zehntausende licher Rohstoff sind. Auch Romane und Dokumente Euro wert. Noch einmal um Potenzen höher ist die entstehen heute meist mit Textverarbeitungspro Verehrung, die Originalmanuskripten kultureller grammen; die Bearbeitungsstufen Schlüsselwerke entgegengebracht wird. überschreiben einander dabei sogar. Selbst gestandene Wissenschaftler fühlen das Er Den greifbaren Ursprung eines hebende bedeutsamer Autographen. Für die Berliner Werks gibt es am ehesten noch in der Musikwissenschaftlerin Martina Rebmann ist es „tat- Musik, wie Martina Rebmann an- sächlich etwas ganz Besonderes“, eine von Bach, Mo- merkt: „Komponiert wird zart oder Beethoven selbst verfasste Musikhandschrift bis heute vor sich zu haben. Dabei geschehe dies ständig, denn meist von man arbeite in der Musikabteilung der Staatsbibliothek Hand.“ Zur Berlin ausschließlich mit den Originalen: „Da sieht manifesten man am meisten.“ Dabei geht es beispielsweise um die Doppelnatur Rekonstruktion von Sammlungszusammenhängen oder von Auto die Digitalisierung der für Datierungs- und Provenienz- graphen als fragen wichtigen Wasserzeichen mithilfe einer alle wissenschaft- Beschriftungen ausblendenden Thermographie-Ka- mera. Natürlich geschieht das unter konservatorisch und sicherheitstechnisch optimalen Bedingungen. So schützen Schaumstoffkeile die Handschriften bei der Benutzung. Die Klimatisierung muss stimmen. Die Büroräume werden bei jedem Verlassen fest verschlos- sen. Autographen sind fragile Schätze. Ottmar Ette, Romanist an der Universität Pots- dam, erklärt ganz ähnlich: „Als bei Christie’s in London Aus dem Amerikanischen Reisetagebuch V von Alexander die Kiste aufgeschraubt wurde und die in Leder gebun- Drei der neun Amerikanischen Reisetage- von Humboldt: Rückseite des Chronometers von Ferdinand bücher Alexander von Humboldts; Staats- Berthoud, um 1799; Staatsbibliothek zu Berlin bibliothek zu Berlin 20 ARSPROTOTO 4 2018 21
liche Objekte sowie geschichtshaltige Preziosen für Forschung gehe indirekt vor, schließe also alle Abschrif- Sammler kommt eine erstaunliche Breite des Gegen- ten aus, die etwa an Augensprungfehlern zu erkennen standsbereichs, der von Widmungsexemplaren ge seien. „Einige Ur- oder Erstniederschriften aber sind druckter Werke oder im Akkord angefertigten Auto- nicht einmal Autographen, da man ja auch Schreibern grammkarten bis zu nationalkulturell bedeutsamen diktieren konnte. Die Altgermanistik freut sich schon, Originalmanuskripten reicht. Archive rechnen oft auch wenn ein Autor die Niederschrift seines Werks über- Typoskripte hinzu. Noch unüberschaubarer wird es bei prüfte und korrigierte, so wie es Otfrid von Weißen- einem Blick auf das Mittelalter. Karl Lachmann, einer burg bei seinem Evangelienbuch tat.“ Im Spätmittel der Nestoren der germanistischen Mediävistik, war alter habe sich die Lage geändert: „Es wird mehr davon ausgegangen, dass mittelalterliche Autographen geschrieben und auch gerne dazu vermerkt, dass man im Grunde nicht existierten. Weil diese Auffassung sich Schreiber und Autor ist. Hierher stammen die meisten hartnäckig hielt, hat der Münsteraner Mediävist Volker Beispiele aus Honemanns wertvoller Liste.“ Honemann vor zwei Jahrzehnten eine eigene Daten- Die Hochzeit der Autographen beginnt in der bank für Originalhandschriften aus dem 9. bis 16. Vormoderne. Dabei nimmt die Sattelzeit um 1800 eine Jahrhundert eingerichtet. Ein Forschungsdesiderat besondere Stellung ein, wie der Literaturwissenschaftler bestehe aber immer noch, sagt der in Essen lehrende Christian Benne jüngst zeigen konnte. Autographe Mediävist Martin Schubert, ein ausgewiesener Fach- Manuskripte nämlich wurden nun nicht mehr als reine mann für Editionsphilologie. So sei schon die Identifi- Druckvorstufen angesehen, sondern gewissermaßen zierung von Autographen schwierig, weil Autornen „neu erfunden“ als genuin literarische Handschriften nungen im Hochmittelalter nicht üblich waren. Die mit ästhetischem Mehrwert. Von dort ist es ein kurzer Aus dem Amerikanischen Reisetagebuch III von Alexander von Humboldt: Guavina oder Erythrinus, ein Fisch aus dem See von Tacarigua, General kapitanat Venezuela, 1799; Staatsbibliothek zu Berlin Weg zu Goethes Autographenbegeisterung. Die histo Staatsgalerie Stuttgart aufbewahrt werden, durchaus in rischen und philologischen Wissenschaften haben sich die Zeit um 1480 zu datieren sind. indes lange auf den Inhalt der überlieferten Textzeug- Als Mitorganisator der beliebten, in Zusammen nisse beschränkt. Sogar Geschichte habe man vor arbeit mit diversen Universitäten an der Staatsbiblio- wenigen Jahrzehnten noch studieren können ohne thek zu Berlin angesiedelten Vortragsreihe „Die Mate einen einzigen Gang ins Archiv, sagt der Präsident des rialität von Schriftlichkeit“ stellt Christian Mathieu fest, Landesarchivs Baden-Württemberg, der Historiker wie groß das allgemeine Interesse am Dialog zwischen Gerald Maier. In den 1970er-Jahren begann ein Um- Bibliothek und Forschung ist. Und das zu Recht. Er denken, für das etwa die werkgenetische Theorie in selbst habe beispielsweise Walter Benjamins „Passagen- Frankreich steht. Der als Material Turn bekannt gewor- werk“ erst richtig verstanden, als in einem der Vorträge dene Aufmerksamkeitsschub für die materiellen Grund- das aus Querverweisen, Markierungen und Ästhetisie- lagen der Kommunikation nimmt heute einen zentra- rungsspiel bestehende Aufschreibesystem dieses Autors len Stellenwert in allen historischen Disziplinen ein. anhand der Originalhandschrift vorgeführt wurde. Längst auch führen Archivare und Bibliothekare mit Deshalb seien Faksimile-Editionen, für die etwa der Universitätswissenschaftlern gemeinsame Erschlie- inzwischen insolvente Stroemfeld Verlag steht, so wün- ßungsprojekte auf Augenhöhe durch. Das Landesarchiv schenswert. Hilfreich ist wohl auch die Digitalisierung Baden-Württemberg etwa war federführend an der des kulturellen Erbes, wie sie derzeit auf breiter Front Entwicklung des Wasserzeichen-Informationssystems stattfindet. Niemand kann das so gut begründen wie WZIS beteiligt. Mit dessen Hilfe konnte schon gezeigt Gerald Maier, seit dem Jahr 2002 auch Bundesratsbe- werden, dass die lange für Fälschungen des 19. Jahr- auftragter für eben dieses Unterfangen: Das Erbe werde hunderts gehaltenen 15 Blätter mit Zeichnungen des gesichert und leichter zugänglich. Trotzdem dürfe diese sogenannten Oberdeutschen Meisters, die heute in der Entwicklung nicht dazu führen, dass die Originale Walter Benjamin, Aufzeichnungen und Materialien zu den „Passagen“, 1928 –1940, 27,7 × 22,4 cm (im aufgeschlage- nen Zustand), Walter Benjamin Archiv Berlin ARSPROTOTO 4 2018 23
hernach verschwänden, sei es unzugänglich in Tresoren, später wieder bei einer Auktion auftaucht. Der For- wenn sie wertvoll sind, sei es gar im Altpapier, wie das schung sind diese Stücke mitunter für eine Weile ent Rechnungshöfe kulturblind schon gefordert hätten. zogen, andererseits hat gerade das Interesse der Privat- Nur einige Fragen ließen sich anhand eines Digi sammler viele Autographen gerettet. So sieht das auch talisats beantworten, sagt der renommierte Kafka- Ulrich von Bülow, im Literaturarchiv Marbach unter Biograph Reiner Stach: „Franz Kafkas Handschriften anderem zuständig für den Bereich Erwerbungen. Man erlauben Einblicke in seine Korrekturen, aber auch in wälze die Kataloge der Händler und biete dann gezielt unbewusste Fehlleistungen; sie lassen erkennen, wo er auf ausgewählte Stücke, sagt von Bülow. Aus Geldman- gel habe man längst aufgegeben, alles kaufen zu wollen, was bestehende Sammlungen – allein das Handschrif- TINTENFRASS, MIKROBEN- tenarchiv umfasst 40.000 Kästen – ergänzte. Zu den BEFALL UND CELLULOSE Händlerkatalogen wird es in Marbach übrigens bald ein eigenes Projekt geben, weil darin viele sonst nicht mehr ABBAU GEFÄHRDEN greifbare Handschriften abgebildet sind: Zusammen DIE FRAGILEN AUTOGRA- arbeit also auch hier. Und die Privatsammler, die es als Liebhaber doch eher auf schöne Blätter abgesehen PHEN-SCHÄTZE hätten, nicht wie das Archiv auf Entwürfe, überließen Marbach häufig sogar ihre gesamte Sammlung. zögerte, wo er unsicher oder besonders erregt war, wo er Was ist auf dem Markt nun derzeit gefragt? Wolf- Otfrid von Weißen- von den eigenen Bildern überwältig wurde und wie er gang Mecklenburg, der Geschäftsführer der Berliner burg, Ausschnitt aus schließlich die Kontrolle zurückgewann. Sie sind hilf- Autographenhandlung J.A. Stargardt, will sich da nicht dem 1. Buch des reich bei der Datierung; Tinte und Bleistift zeigen an, festlegen. Das habe viel mit individuellen Vorlieben zu Evangelienbuches, um 870, 25,5 × 21 cm; ob ein Text am Schreibtisch oder andernorts entstand. tun. Deutlich abgenommen habe aber beispielsweise Österreichische Natio- Ja, mit Hilfe des ‚Process‘-Manuskripts lässt sich sogar das Interesse an einst höchst beliebten Autographen zur nalbibliothek, Wien beweisen, dass Kafka zwar das Ende des Romans von Anbeginn präzise vor Augen stand, dass er jedoch noch keine Vorstellung davon hatte, wie viele Kapitel es brauchen würde, um dorthin zu gelangen.“ Ottmar Ette, der in einem auf 18 Jahre angelegten Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sämtliche Reiseschriften Alexander von Humboldts ediert – digital und in Form von Lese- fassungen auf Papier –, kann bestätigen, dass sich entscheidende Einsichten nur anhand der Autographen gewinnen lassen. Papieranalysen zeigten, ob Humboldt das Papier aus Paris mitgebracht oder unterwegs gekauft habe. Ebenso verhalte es sich mit dem Schreibstoff: Es sei etwa für die Datierung wichtig, ob es sich bei den einzelnen Hinzufügungen um Humboldts selbstge- machte oder eine gekaufte Tinte handele. Und dann gebe es noch eine ganz eigene „Form des Erlebens“: „Heftung, Falz, Fleckigkeit geht ja auch bei unseren beiden Editionsformen verloren.“ Dass die „Amerikanischen Reisetagebücher“ in Berlin bleiben konnten, wie der Autor selbst verfügt hatte, ist den früheren Eigentümern zu verdanken. Der mexikanische Tycoon Carlos Slim hatte einen unschlag- baren Preis geboten, aber Humboldts Erben verhandel- ten ausschließlich mit der Stiftung Preußischer Kultur- besitz, die das Manuskript 2013 auch mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für zwölf Millionen Euro erwerben konnte. Insbesondere der spezialisierte Auto- graphenhandel versteht sich als Partner öffentlicher Franz Kafka, vorletzte Manuskriptseite des Romans „Der Process“, erschienen 1925; Archive. Privatsammler werden freilich ebenfalls ge- Deutsches Literaturarchiv Marbach. In der 5. und 6. Zeile von unten lässt sich erken- nen, wie Kafka wenige Sätze vor Ende des Romans und wenige Sekunden vor dem Tod schätzt, zumal das so Veräußerte meist früher oder des Protagonisten zum „Ich“ übergeht. Dieser plötzliche Wechsel der Erzählperspek- tive kommt sonst nirgendwo vor und wurde vom Autor auch nicht korrigiert. 24 ARSPROTOTO 4 2018 25
und habe dann nur die Möglichkeit eines Rückkaufs. Die Hauptgefahr für Autographen kommt freilich von innen. Suboptimale, etwa zu Pilz- und Mikrobenbefall führende Lagerungsbedingungen erklären sich für Johanna Leissner, Expertin für die Sicherung des Kul- turerbes im Fraunhofer EU-Büro Brüssel, teils mit Kriegsschäden, oft aber schlicht mit Geldmangel der verantwortlichen Institutionen. Auch der Klimawandel werde wohl Folgen für die Archivpraxis haben, aber das sei noch kaum erforscht. Daneben bereitet die Material alterung Probleme, allem voran der Zerfall des seit den 1840er-Jahren eingesetzten Holzschliffpapiers. Schwe- felsäurereste bauen dabei die Spitzen der Cellulosefasern im Papier ab. Hinzu kommt ein oxidativer Celluloseab- bau. Eine Flüssigphasen-Massenentsäuerung habe sich zwar als effektiv erwiesen, so Leissner, mit den heutigen Kapazitäten – das Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig, eine der weltgrößten Entsäuerungsanlagen, kann etwa 100.000 Bücher im Jahr abfertigen – dauere die Behandlung des gesamten betroffenen Bestands jedoch mindestens 50 Jahre. Ein weiteres Problem stellt Tintenfraß dar. Die bis ins 20. Jahrhundert verwendete Eisengallustinte neigt zur Korrosion, weshalb manche Verschiedene Wasserzeichen aus Musikhandschriften des Bach-Handschriften regelrecht durchlöchert sind. Das 18. und frühen 19. Jahrhunderts; Staatsbibliothek zu Berlin Problem ist bei Musikautographen besonders groß, so Martina Rebmann, weil Notenköpfe mehr Tinte auf- preußischen Geschichte. Im Gegensatz zum Kunst- nehmen als Buchstaben. Die Restaurierung gestaltet markt sei der Autographenmarkt mit seinen verhält sich aufwendig, ist in solchem Rahmen aber möglich. nismäßig wenigen Teilnehmern generell sehr gesund. Die Lagerungsbedingungen und der Zugang für die Dramatische Ausschläge gebe es so wenig wie spekulie- Wissenschaft machen öffentliche Archive und Biblio- rende Rendite-Fonds, seit die einzige Ausnahme, die theken trotz oft knapper Etats also zu den besten Auf- französische Investmentfirma Aristophil, als Betrugs bewahrungsorten für Autographen. Das meint auch system aufgeflogen sei. Die höchsten Preise erzielten Reiner Stach, der das Interesse privater Sammler aller- nach wie vor Musikautographen, nicht zuletzt, weil dings gut verstehen kann: „Ich selbst besitze einen komplette Kompositionen berühmter Künstler nur leeren Briefumschlag Kafkas an seine Verlobte Felice selten im Angebot seien. Vor drei Jahren etwa wurde Bauer, mit eigenhändigem Namenszug, und noch bei Stargardt ein Händel-Autograph für eine halbe immer beschleunigt sich mein Puls, wenn ich dieses Million Euro verkauft. Die hohe weltweite Nachfrage unscheinbare, gelbliche, außerordentlich schön be- nach Musikhandschriften sei sicher auch in der Inter schriftete Papier in der Hand halte.“ Und doch: „Würde nationalität der Musiksprache begründet. Mit einer morgen ein Gesetz in Kraft treten, das besagt, sämtliche bestimmten Form von Autographen möchte Mecklen- Kafka-Autographen seien umgehend im Deutschen burg jedoch aus ethischen Gründen nichts zu tun Literaturarchiv in Marbach abzuliefern, so wäre ich haben, dem „Devotionalienkram“. Er widerspricht wahrscheinlich der erste, der das mit Freuden machen moderat der oft kolportierten Auffassung, (inhaltlich würde. Die Handschriften eines der bedeutendsten bedeutungslose) Hitler-Autographen seien in Deutsch- Autoren der Weltliteratur sollten an einem gut gesicher- land mangels Interesse kaum verkäuflich, dafür im ten und unter öffentlicher Kontrolle stehenden Ort Ausland aber umso besser. Verkaufen ließe sich derlei verwahrt werden, ja, was denn sonst?“ Dass dabei der schon. Er selbst und die meisten seriösen Händler Ausstellungsaspekt nicht zu kurz kommen sollte, hebt nähmen es aber schlicht nicht in ihr Angebot auf. Ottmar Ette hervor. Die Humboldt-Reisetagebücher Nicht immer sind Archivare erfreut über den könnten im Humboldt-Forum eine Museums-Heimat kontinuierlich steigenden Marktwert von Autographen. finden und dann auch selbst wieder auf Reisen gehen, Mitunter tauchten auf Auktionen sogar Stücke auf, die etwa in die beschriebenen Länder. Die Handschrift als einmal in den eigenen Beständen waren, sagt Gerald Handreichung zwischen den Völkern: eine schöne Maier. Man könne eine Entwendung selten nachweisen Vorstellung. Johann Sebastian Bach, Autograph der h-Moll-Messe, Credo, 1748/49, 33 × 21,5 cm; Staatsbibliothek zu Berlin 26 ARSPROTOTO 4 2018 27
TITELTHEMA MATERIALITÄT DES SCHRIFTLICHEN SPÄTE BRIEFPOST DAS BEETHOVEN-HAUS IN BONN KONNTE ZWEI UNBEKANNTE AUTOGRAPHEN DES KOMPONISTEN ERSTEIGERN von Julia Ronge A m 6. Juni 2012 wurde in Berlin ein Beethoven- Brief versteigert, der bislang noch nicht einmal Wien den 17ten Septembr. [1795] vom Hörensagen bekannt, geschweige denn veröffentlicht war und sofort die Aufmerksamkeit der Lieber! daß du mir hieher geschrieben hast, hat mich Beethoven-Forschung auf sich zog. Dieser neuentdeckte unendlich gefreut da ich mir’s nicht vermuthete. du Brief befand sich in einem geradezu makellosen Erhal- bist also jezt in dem Kalten Lande, wo die Menscheit tungszustand. Besonders besticht sein Format, denn der noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird, ich vierseitige Brief ist aufgeschlagen mit 8,1 × 9,3 cm nicht weiß gewiß, daß dir da manches begegnen wird, was größer als ein Handteller – selbst für die damalige Zeit wider deine Denkungs-Art, dein Herz, und überhaupt ungewöhnlich klein. Zudem ist er sehr sorgfältig und wider dein ganzes Gefühl ist. wann wird auch der ohne Fehler oder Korrekturen geschrieben, was bei Zeitpunkt kommen wo es nur Menschen geben wird, Beethoven nur selten vorkommt und immer ein Zei- wir werden wohl diesen Glücklichen Zeitpunkt nur chen von besonderer Wertschätzung des Adressaten ist. an einigen Orten heran nahen sehen, aber all- Der Brief stammt von 1795, aus einer Zeit, aus der gemein – das werden wir nicht sehen, da werden nur wenige Schriftdokumente von Beethovens Hand wohl noch JahrHunderte vorübergehen. überliefert sind. Bis einschließlich 1794 kennt die den Schmerz, den dir der Tod deiner Mutter verur- Beethoven-Forschung nur acht Briefautographen Beet- sacht hat, habe ich auch sehr gut fühlen können, da ich hovens. Aus 1795 war bislang kein Beethoven-Brief fast zweimal in dem nemlichen Fall bey dem Tode verbürgt. meiner Mutter und meines vaters gewesen bin. wahr- Überraschend ist auch der Adressat. Beethoven lich wemsollte es nicht wehe thuen, wenn er ein Glied richtet sich an Heinrich von Struve (1772 –1851), aus einem so selten anzutreffenden Harmonischen einen Bonner Freund, der wohl zum „Zehrgarten“- Ganzen wegreißen sieht – man kann nur noch hiebey Kreis gehörte. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern vom Tode nicht ungünstig reden, wenn man sich dieses liberal-intellektuellen Zirkels, der sich regelmäßig ihn unter einem lächelnden sanft hinüberträumenden im gleichnamigen Gasthaus mit angeschlossener Buch- Bilde vorstellt, wobey der Abtretende nur gewinnt.–– handlung am Bonner Markt traf, war bislang nichts ich lebe hier noch gut, komme immer meinem mir über Beethovens Beziehung zu Struve bekannt. Zwar vorgestekten Ziele näher, wie bald ich von hier gehe, hatte Struve sich in das Stammbuch eingetragen, das kann ich nicht bestimmen, meine erste Ausflucht wird seine Freunde Beethoven vor der Abreise nach Wien im nach ytalien seyn, und dann vieleicht nach Rußland, November 1792 überreichten, darüber hinaus war aber du könntest mir wohl schreiben, wie hoch die reise von kein weiterer Kontakt dokumentiert. Lorenz von Breu- hier nach P.[etersburg?] kömmt, weil ich jemanden Ludwig van Beethoven, Brief an Heinrich ning, der sich Mitte der 1790er-Jahre in Wien aufhielt, hinzuschicken gedenke sobald als möglich. deiner von Struve, Wien, 17. September 1795, berichtete Anfang des Jahres 1795 nach Bonn: „Struve Schwester werde ich nächstens einige Musik von mir 8,1 × 9,3 cm (Abbildung in Originalgröße); will das Frühjahr zu uns kommen.“ Dies galt bislang als schicken. Beethoven-Haus Bonn. Die Abbildungen die einzige weitere Erwähnung Struves in Beethovens Professor Stup von bonn ist auch hier. Grüße von zeigen die Vorder- und Rückseite des zum Brief gefalteten Blattes: Seite 1 o. r., Seite 2 näherem Umfeld. Beethovens Brief an Struve rückt die Wegeler und Breuning an dich. ich bitte dich mir ja u. l., Seite 3 u. r., Seite 4 o. l. Freundschaft in ein neues Licht und macht sie für die immer zu schreiben, so oft du kannst, laß deine Forschung näher greifbar. Freundschaft für mich sich nicht durch die Entfernung Die Attraktion des Briefes lag aber weder in seinem vermindern, ich bin noch immer wie sonst dein dich Äußeren noch im Datum oder in seinem Adressaten, liebender die größte Sensation war sein Inhalt, der hier nun Beethoven. erstmals veröffentlicht wird. 28 ARSPROTOTO 4 2018 29
drei Notenlinien im System etwas abgesetzt ist, damit schwerwiegende Unterschiede. So hat es der Stecher noch Platz für den Singtext bleibt. versäumt, zu Beginn des Liedes p dolce zu überneh- Der Text des Liedes stammt von Georg Friedrich men, die Anweisung, leise und lieblich zu spielen. Der Treitschke (1776 –1842), dem Dramatiker und Regis- gewichtigste Fehler findet sich am Schluss und kann seur, der Beethoven mit der letzten Textfassung des Beethoven keineswegs gefallen haben. Der Text des Fidelio behilflich war und entscheidend zu dessen Liedes endet in Resignation, weil der Sprecher die Erfolg beigetragen hat. Treitschke veröffentlichte im Distanz zu seiner Liebsten nicht überbrücken kann: Juni 1817 einen Gedichtband, dem als eine von drei „Ich nur bin fest gebannt, weine allhier.“ Um die Musikbeilagen die Vertonung Beethovens beigebun- Hoffnungslosigkeit zu veranschaulichen, lässt Beet den war. Beethoven hat die Niederschrift mit einer hoven den Klavierpart immer leiser und langsamer Widmung für den Dichter versehen: „Für seine Wohl- werden, decrescendo und ritardando. Im Erstdruck gebohrn H: v. Treischke Ersten Dichter u Trachter Von finden wir allerdings das Gegenteil. Hier lautet die den Ufern der Vien bis zum Amazonen Fluß.– von Anweisung cresc., lauter werden. Auch das ritardando L v. Beethoven am 13ten WinterMonath 1816“. wurde unterschlagen, so dass die Musik nicht, wie Schon unmittelbar nachdem er ein Belegexemplar von Beethoven intendiert, verebbt, sondern in einem des Gedichtbandes bekommen hatte, bat Beethoven fulminant rauschenden Schluss ausklingt. Kein Wun- Treitschke, sein Autograph an den Musikalienhändler der, dass Beethoven sich ärgerte, denn der Ausdruck Steiner weiterzugeben, „damit das Gestochene, wel- der Resignation, der ihm so wichtig war, wurde damit ches von Fehlern zerstochen, sogleich wieder, wie es zunichte gemacht. Entgegen seinen Wünschen hat seyn muß, gestochen werden kann, u zwar um so Treitschke die Handschrift wohl nicht an den Verleger mehr, weil sonst auf das Dichten u. Trachten ganz weitergegeben, oder vielleicht hatte Steiner auch kein erschrechlich gestochen u. gehauen wird werden“. Interesse an einer Neuauflage des Liedes – erschienen Vergleicht man den Erstdruck mit dem Auto- ist sie jedenfalls nicht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts graph, so ist Beethovens Unmut zunächst verwunder- geriet das Autograph in Vergessenheit. Ludwig van Beethoven, lich, denn im Notentext lassen sich keine Abweichun- Dass sich das Beethoven-Haus bei beiden Hand- Heinrich von Struve stammte aus Regensburg, wo sein keinen Unterschied zwischen Mutter und Vater und Autograph des Liedes gen feststellen. Beethoven war allerdings immer sehr schriften, dem Brief an Struve und der Niederschrift Vater als russischer Gesandter beim ständigen Reichs- betont den Schmerz, den ihr Hinscheiden ihm verur- „Ruf vom Berge“ nach genau auf die Wirkung seiner Musik bedacht, und des Liedes, 2004 bzw. 2012 vergeblich um einen einem Gedicht von Georg tag firmierte. Wie sein Vater und seine Brüder trat auch sacht hat. Die Beethoven-Biographik stellt zu Unrecht Friedrich Treitschke, tatsächlich finden sich beim musikalischen Ausdruck Ankauf bemühte, lag an der Unersättlichkeit eines Heinrich in kaiserlich-russische Dienste ein. Vielleicht den Vater als gewalttätiges Monster dar – dieser Brief 1816, 16 × 19,7 cm; französischen Investmentfonds auf Handschriften, der erfolgte der von Lorenz von Breuning erwähnte Besuch lässt ahnen, dass Beethoven ihn keineswegs für ein Beethoven-Haus Bonn nicht nur jeden Preis zahlte, sondern sogar versuchte, Struves in Wien im Frühjahr 1795 auf der Durchreise solches hielt. die Preise gezielt nach oben zu treiben. Der Fonds nach Russland, Beethoven rechnet zumindest damit, Auffallend ist außerdem, dass er zahlreiche Reise- kalkulierte damit, den Marktwert und somit die sein Brief würde Struve „in dem Kalten Lande, wo die pläne schmiedet. „ich lebe hier noch gut“ lässt sogar Rendite seiner Sammlung zu steigern. Das Beethoven- Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt vermuten, dass Beethoven 1795 nicht damit rechnete, Haus war damals nicht bereit, die Preistreiberei zu Links: Friedrich Adolph wird“ antreffen. Aus diversen Andeutungen und Über- dauerhaft in Wien zu bleiben. Zunächst plant er Hornemann, Bildnis von unterstützen und verzichtete schweren Herzens. lieferungen von Zeitgenossen ist Beethovens politische Reisen nach Italien und Russland. Beethoven hielt Heinrich Christian Die Entscheidung erwies sich als richtig. Da der Haltung in der Tendenz bekannt. Dass er aber derart zu vielen Bonner Freunden Kontakt, zu etlichen ein Gottfried von Struve, Investmentfonds Aristophil mit einem Schneeball 38,2 × 30,9 cm; Staats- ungeschminkt die Missstände in Russland beim Na- ganzes Leben lang, und auch Struve bittet er, ihn trotz und Universitätsbiblio- system arbeitete, um an die nötigen immensen Geld- men nennt, war neu. Der Brieftext wirft auch ein Licht der weiten Wege nicht zu vergessen und richtet Grüße thek Hamburg mittel zu gelangen, griff der französische Staat ein und auf die im „Zehrgarten“ diskutierten Themen, denn der in Wien weilenden gemeinsamen Bonner Freunde schloss ihn 2015. Nach und nach werden nun die über Beethoven ist sich sicher, dass die Zustände in Russ- aus. Dieser Brief ermöglicht tiefe neue Einblicke in Rechts: Christian Hor- 130.000 Handschriften aus seinem Besitz wieder auf neman, Bildnis von land wider Struves Überzeugungen sind. Beethovens die Überzeugungen und Gefühle des 24-jährigen auf- Ludwig van Beethoven, den Markt geworfen. So erhielt das Beethoven-Haus daran anschließende Hoffnung liest sich geradezu strebenden Künstlers. 1802, 6,1 × 4,7 cm; im Juni 2018 in Paris eine neue Chance, den Struve- prophetisch: Die Utopie, dass es eines Tages in ferner Schon 2004 kam ein anderes unerforschtes Beetho- Beethoven-Haus Bonn Brief und das Lied zu erwerben, und blieb diesmal Zukunft ohne Unterscheidung nur noch Menschen ven-Autograph in London auf den Markt. Beethovens der glückliche Bieter. Die Handschriften sind nun an gäbe, geht sogar noch über die Forderung, alle Men- eigenhändige Niederschrift des Liedes „Ruf vom Berge“ einem Ort, an dem ihre Schönheit, ihr ideeller und schen sollten Brüder werden, hinaus. („Wenn ich ein Vöglein wär“) WoO 147 wurde bis wissenschaftlicher Wert geschätzt werden. Das Beet Beethovens Kondolenz zum Tod von Struves dato für verschollen gehalten. Der berühmte Hand- hoven-Haus verkauft nicht und entzieht die Schätze Mutter klärt das Entstehungsjahr des Briefes, da Sophia schriftensammler Aloys Fuchs (1799 –1853) hat sie dem Markt. Sammeln ist eine Passion, an die keine Dorothea Struve geb. Reimers am 21. Mai 1795 ge- wohl noch gekannt, aber keine Beschreibung angefer- Renditeerwartung geknüpft sein sollte. storben ist. Der Komponist kann sich gut in den tigt. Auch diese Handschrift besticht zunächst durch Verlust des Freundes einfühlen, weil er selbst bereits ihr ästhetisches Äußeres, auch sie ist im Format ver- Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, beide Eltern verloren hat. Die Nennung seiner verstor- gleichsweise klein. Für die Beethoven-Zeit noch relativ Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, benen Eltern in einem Satz lässt einen höchst seltenen neu ist das lithographierte Notenpapier, das speziell für Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Einblick in Beethovens Gefühlswelt zu, macht er doch Lieder angefertigt wurde, wobei die obere der jeweils Nordrhein-Westfalen 30 ARSPROTOTO 4 2018 31
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