Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
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Amt und Gemeinde 65. Jahrgang, Heft 2, 2015 € 6, – Toleranz.Glaube.Hilfe Toleranz ist ein Lebensprinzip Heinz Fischer 64 Fresacher Erklärung zur Toleranz 2015 Dokumentation 68 GLAUBENsREICH – Zur Eröffnung der niederösterreichischen Landes- ausstellungsstation in Mitterbach Paul Weiland | Birgit Lusche | Karl-Reinhart Trauner 70 Landessonderausstellung im Haus Bethanien des Diakoniewerkes Gallneukirchen Christa Schrauf 81 Kreativer Umgang mit dem Gesangbuch Christa Kirschbaum 87 „Ein Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“ – Zum Gedenken an den „Pfarrer im Thal“ Johannes Mathesius Karl W. Schwarz 98 Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger? Michael Bünker 108 Evangelischer Presseverband Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT Editorial ................................................................................................... 61 Karl W. Schwarz Toleranz ist ein Lebensprinzip ................................................................. 64 Heinz Fischer Fresacher Erklärung zur Toleranz 2015 ................................................... 68 Dokumentation GLAUBENsREICH – Zur Eröffnung der niederösterreichischen Landesausstellungstation in Mitterbach am 29.4.2015 .......................... 70 Paul Weiland | Birgit Lusche | Karl-Reinhart Trauner Landessonderausstellung im Haus Bethanien des Diakoniewerkes Gallneukirchen ....................................................... 81 Christa Schrauf Kreativer Umgang mit dem Gesangbuch Christa Kirschbaum .................................................................................... 87 „Ein Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“ – Zum Gedenken an den „Pfarrer im Thal“ Johannes Mathesius Karl W. Schwarz ........................................................................................ 98 Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger? Michael Bünker ....................................................................................... 108 Dankesrede Michael Bünker ....................................................................................... 112 Anhang AutorInnen ............................................................................................. 116 Impressum ............................................................................................. 117
To l e r a n z . G l a u b e . H i l f e Editorial D as zweite Heft von Amt und Ge- meinde blickt auf einige besonders bemerkenswerte Ereignisse in der ersten möchte sich als Kärntner Alpach präsen- tieren. Amt und Gemeinde wird diesen Weg sehr gerne begleiten, weil unsere Jahreshälfte 2015 zurück: Kirche mit dem Stichwort „Toleranz“ ein wichtiges kultur- und gesellschaftswis- • Am 22. Mai eröffnete B undespräsident senschaftliches Datum verbindet und sich Dr. Heinz Fischer die erstmals veran- herausgefordert sieht, die in der Fresacher stalteten Europäischen Toleranzge- Erklärung zur Toleranz 2015 angeführten spräche in Fresach / Kärnten und hielt Positionen umzusetzen, etwa: Toleranz bei dieser Gelegenheit eine Rede zum und Vielfältigkeit bereichern das Leben Thema „Toleranz ist ein Lebensprin- in Europa und stellen dessen Besonder- zip“, in der er ausgehend von der klas- heit dar. sischen Antike den Begriff Toleranz durchbuchstabierte, ihren unterschied- • Am 29. April wurde in der Toleranz- lichen Facetten nachging – bis in die gemeinde Mitterbach die Nieder- Gegenwart mit ihren bedrängenden österreichische Landesausstellung Fragen nach der aktuellen Toleranz- ÖTSCHER:REICH eröffnet. Sie trägt bereitschaft, aber auch nach deren na- den Untertitel GLAUBENsREICH und türlichen Grenzen. widmet sich den Evangelischen im Öt- schergebiet („Holzknechte – Geheim- Wir dokumentieren diese Ansprache und protestanten – Reformer“). Die drei verweisen auch auf die Fresacher Erklä- Ansprachen von Superintendent Wei- rung zur Toleranz 2015. Seinem abschlie- land, Pfarrerin Dr. Lusche und Mili- ßenden Wunsch um viel Erfolg bei der tärsuperintendent DDr. Trauner laden Premiere der Europäischen Toleranzge- gleichsam zum Besuch der Ausstellung spräche fügte der Herr Bundespräsident ein, die bis 1. November geöffnet ist. auch den optimistischen Ausblick auf eine Karl-Reinhart Trauner legt einen be- erfolgreiche Fortsetzung in den kommen- sonderen Akzent auf die josefinische den Jahren hinzu. Der DenkRaum Fresach Toleranz und korrespondiert insofern hat sich ambitionierte Ziele gesetzt und mit dem Fresacher Symposion. Amt und Gemeinde 61
• Am 26. April wurde im Evangelischen wurde kuratiert von Brigitte Kepplin- Kulturzentrum Fresach die diesjähri- ger und Irene Dyk-Ploss und ist bis gen Sonderausstellung StimmKraft: 1. November im ehemaligen Diako- Kirchenlieder schreiben Geschichte nissenmutterhaus Bethanien zu sehen, eröffnet. In dieser Ausstellung wird die einem für die Ausstellung besonders Kraft des Singens in insgesamt sechs geeigneten Ort, weil, wie es in dem uns Tonlagen erkennbar gemacht: 1. Die zur Verfügung gestellten Text von Frau Geschichte des evangelischen Liedes, Rektorin Mag. Christa Schrauf nachzu- 2. Die Menschen hinter den Liedern, lesen ist, von diesem Ort richtungwei- 3. Evangelisches Lied – evangelische sende Impulse für die Entwicklung im Identität, 4. Das Lied als Jahres- und Sozial- und Gesundheitsbereich, ins- Lebensbegleiter, 5. Das evangelische besondere für die Professionalisierung Gesangbuch, 6. Das evangelische Lied der Pflegearbeit ausgegangen sind. als gesellschaftspolitisches Statement. Kuratiert wird die Ausstellung von Ale- • Am 25. April fand in Joachimsthal / xander Hanisch-Wolfram und Werner Jáchymov in Böhmen die diesjährige Horn, die nicht nur einen Katalog er- Jahrestagung der Johannes-Mathesius- stellten, sondern auch einen Wissen- Gesellschaft statt, bei der ein kleines schaftlichen Begleitband herausgaben Memorial für den Namenspatron in- (Klagenfurt: Verlag des Kärntner Lan- szeniert wurde, der vor 450 Jahren desarchivs 2015). Aus diesem Band verstorben ist, aber als maßgeblicher habe ich einen erfrischenden Beitrag Reformator in Nordböhmen, als Schul- ausgewählt, der nicht die historische meister und Liederdichter (EG 618) Dimension zum Inhalt hat, sondern den und vor allem als erster Lutherbiograph „kreativen Umgang mit dem Gesang- in Erinnerung geblieben ist. Meine Ge- buch“ heute. Die Verfasserin Christa denkrede habe ich überschrieben: „Ein Kirschbaum, Landeskirchenmusikdi- Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“ rektorin in Hessen-Nassau, die Heraus- – und in diesem Heft dokumentiert. geber und der Verleger haben freundli- cherweise den Nachdruck in Amt und • Am 9. April jährte sich die Ermor- Gemeinde ermöglicht, wofür hier be- dung des bedeutenden evangelischen sonders gedankt wird. Die Ausstellung Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906– ist bis 31. Oktober geöffnet. 1945) zum 70. Mal. Aus diesem An- lass hat Bischof Michael Bünker ei- • Am 29. April wurde in Gallneukir- nen Gedenkartikel verfasst: Dietrich chen die oberösterreichische Landess- Bonhoeffer – ein evangelischer Hei- onderausstellung 2015 eröffnet: Hilfe: liger? Er folgt damit einer Anregung LebensRisken und LebensChancen. des früheren Ratsvorsitzenden der Soziale Sicherung in Österreich. Sie EKD Wolfgang Huber und weist auf 62 Amt und Gemeinde
die zahlreichen theologischen Impulse Dieses Heft von Amt und Gemeinde sollte hin, die Bonhoeffer in seinem so radi- Ihnen noch vor den Sommerferien in die kal abgekürzten Leben setzen konnte: Hände kommen, vielleicht verleitet es Sie für die Ökumene, für das Gespräch zu einem Ausstellungsbesuch in Fresach, des Glaubens mit der säkularen Welt Gallneukirchen oder Mitterbach. Namens und für die Stellung der Kirche in den der Redaktion wünsche ich eine ange- Herausforderungen der Zeit. nehme Urlaubszeit. ■ • Am 4. Mai wurde Bischof Michael Karl Schwarz Bünker das Große Goldene Ehrenzei- chen für Verdienste um das Land Wien überreicht. In seiner Laudatio führte Stadtrat Dr. Michael Ludwig aus: „Mi- chael Bünker ist ein theologischer Ex- perte, Lehrer, Wissenschaftler, Publi- zist und Humanist“, der es durch seine geradlinige Art verstehe, „Botschaften auf den Punkt zu bringen“. Die Redak- tion von Amt und Gemeinde gratuliert dem Herausgeber für diese bemerkens- werte Auszeichnung – und bringt als besonderen rhetorischen Leckerbissen die Dankesrede zum Abdruck, die Bün- ker an den Wiener Bürgermeister Dr. Michael Häupl richtete. Amt und Gemeinde 63
DenkRaum Fresach Toleranz ist ein Lebensprinzip Von Heinz Fischer R ede bei den 1. Europäischen Tole- ranzgesprächen: „Man braucht Kraft zur Selbstkritik“ am 22.5.2015.1 Bundes- das Gute und Gerechte ein (agathos und dikaios). Um das zu erreichen, so lehrte er, müs- präsident Heinz Fischer in Fresach / Kärn- sen wir die Kraft zur Selbstkritik haben ten: „Toleranz ist ein Lebensprinzip. Sie und über uns selbst Bescheid wissen. Ein hilft, verschiedene Lebensentwürfe zu radikaler Leitsatz von Sokrates lautete: ermöglichen und das Zusammenleben der eido oudena eidenai. (Ich weiß, dass ich Menschen zu erleichtern“. nichts weiß). Denn nur, wenn wir uns selbst in Frage stellen und uns unserer Unvollkommen- Sehr geehrter Herr Landeshauptmann! heit bewusst sind, können wir die Mei- Sehr geehrte Damen und Herren! nung des Gegenüber leichter ernst neh- men, besser verstehen und uns damit Mein Griechisch-Professor im Gymna- auseinandersetzen bzw. aus unterschied- sium verehrte zwei Lichtgestalten der An- lichen Meinungen und Standpunkten ver- tike ganz besonders: Homer und Sokrates. nünftig auswählen (dialegesthai). Homer muss uns heute nicht weiter be- Mit anderen Worten, Dialog und Dia- schäftigen, wohl aber Sokrates. Er stellte lektik in Form einer Gegenüberstellung sich den Sophisten entgegen und trat für von These und Antithese mit der Chance, eine Synthese zu finden. 1 Nachdruck aus: www.bundespraesident.at/ Sokrates formulierte damit vor zwei- newsdetail/artikel/rede-bei-den-1-europaeischen- toleranzgespraechen-man-braucht-kraft-zur-selbst- einhalb tausend Jahren eine eindeutige kritik, abgerufen am 3.6.2015 Gegenposition zum Dogmatismus und zu 64 Amt und Gemeinde
der damit verbundenen Intoleranz; eine zugleich Delikt und Sünde. Häresie wurde Vorstufe zu einer offenen Gesellschaft. sogar noch vielfach schärfer pönalisiert Aber der Einfluss des Sokrates währte als Ungläubigkeit. kaum länger, als die Blüte des klassischen Weltanschauliche und religiöse Ab- Athen. Er wurde erst im Zeitalter der Re- weichungen führten ins Gefängnis, zum naissance und noch mehr im Zeitalter der individuellen Scheiterhaufen oder zum Aufklärung wiederentdeckt und als einer kollektiven Krieg. der Väter der Aufklärung geschätzt. Es war ein Verdienst der Aufklärung, Bemerkenswert ist, wie vieles der kri- die Prioritäten neu zu ordnen. tische Rationalismus des Karl Popper mit Der Augsburger Religionsfriede von dem Satz: „Ich kann recht haben und du 1555 war noch kein Toleranzpatent. kannst irren, du kannst recht haben und Aber der Satz „Cuius regio eius reli- ich kann irren, aber zusammen können gio“ war ein Paukenschlag, der erken- wir der Wahrheit näher kommen“, mit nen ließ, dass man sich nicht nur ver- dem sokratischen Denken gemeinsam hat. schiedene Religionen vorstellen konnte, Also jenem Denken, das sich weigert, sondern auch vertraglich vereinbarte, sie bestimmte Lehren als unumstößlich zu anzuerkennen und zu respektieren. betrachten. Aber die Zeit dafür war noch Von dort zu den Toleranzpatenten im lange nicht reif. letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war Ein unumstößlicher und nicht hinter- es noch ein weiter Weg von zweieinviertel fragbarer Dogmatismus beherrschte durch Jahrhunderten. Jahrhunderte hindurch das Denken in vie- Aber ohne die Akzeptanz des Prinzips len Bereichen und insbesondere im Be- weltanschaulicher Toleranz – eine Akzep- reich der Weltanschauung, der Religion tanz, die bekanntlich vom Faschismus, und der gesellschaftlichen Ordnung. vom Stalinismus und von anderen totali- Das berühmte geflügelte Wort: Man tären Systemen verweigert und bekämpft werde kein Jota nachgeben, stammt von wurde – ist Demokratie nicht möglich. einem theologischen Streit beim Konzil Denn die Hauptspielregel der Demo- von Nicaea im frühen vierten Jahrhundert, kratie besagt, dass das Volk als mündiger wo es die Meinungsverschiedenheit gab, Souverän einen friedlichen Machtwechsel ob Gott Vater und Gottes Sohn wesens- herbeiführen und die Macht mit Mehrheit gleich, also homo ousios oder wesensähn- in die Hände von Menschen legen kann, lich (homoiousios) seien. Dieser Unter- deren Standpunkte Einzelne oder auch schied hat Exkommunikation, Spaltung ganze Gruppen nicht teilen. Dies setzt und Gewalt ausgelöst. allerdings voraus, dass bestimmte Spiel- Nichtorthodoxes Verhalten, also Tole- regeln eingehalten werden und der Weg ranz, und das Zulassen oder sogar Wert- zum neuerlichen friedlichen Machtwech- schätzen abweichender Meinungen war sel weiterhin offen bleibt. Amt und Gemeinde 65
Meine Damen und Herren! Und da auch diese Grundrechte in Ge- gensatz zueinander geraten könnten, gibt Ich habe von Spielregeln gesprochen, die es bei fast allen von ihnen sogenannte eingehalten werden müssen, wenn das auf Gesetzesvorbehalte, also die Möglichkeit Toleranz aufbauende, demokratische Sys- von Abgrenzungen oder Präzisierungen tem funktionieren soll. Zu diesen Spiel- zur Feinsteuerung. regeln gehört die Anerkennung der Men- schenwürde als unveräußerliches Prinzip Somit kann man sagen: und die Einhaltung bestimmter Grund- Das Zusammenleben der Menschen und Freiheitsrechte. in einer humanen, freiheitlich-demokra- Alle Menschen sind frei und gleich an tischen Gesellschaft kann auf die Nor- Würde und Rechten geboren, heißt es in mierung und Beachtung von Grund- und der Menschendeklaration der Vereinten Freiheitsrechten unter denen ich die Men- Nationen. schenwürde an die erste Stelle setze, nicht Da unser Planet derzeit von nahezu verzichten. acht Milliarden Menschen bewohnt wird, Diese Grund- und Freiheitsrechte müs- ist es evident, dass die Freiheit des Ein- sen der Maßstab der Rechtsordnung sein, zelnen dort ihre Grenze finden muss, wo müssen durch soziale Grundrechte eine die gleichberechtigte Freiheit des Mit- reale Lebensgrundlage erhalten und durch menschen beginnt. Das gilt schon für die das Prinzip der Toleranz lebbar gemacht Familie, für das Dorf, für den Staat und werden. letztlich global. Und um diese Koexistenz Wie weit reicht aber Toleranz? Wie menschlicher Freiheitsrechte funktionsfä- weit darf sie gehen? hig zu machen und zu erhalten, kennt jede Auf diese Frage ist eine quantifizie- demokratische Verfassung in der einen rende Antwort kaum möglich. oder anderen Form Grund- und Freiheits- Toleranz ist kein expliziter Bestand- rechte im Verfassungsrang. teil eines Normengebäudes, sondern ein Lebensprinzip – wenn Sie wollen eine Also z. B. Menschenwürde, Lebensweisheit, die hilft, das Aufeinan- Gleichberechtigung, derprallen unterschiedlicher Grundwerte Meinungsfreiheit, und Lebensauffassungen abzufedern, an- Religionsfreiheit, dere Lebensentwürfe zu ermöglichen und Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, das Zusammenleben der Menschen zu Freiheit des Eigentumes etc. erleichtern. Toleranz enthält auch den Verzicht auf die Erzwingung von Do- Das sind die liberalen Grundrechte des minanz, ist Respekt vor der dissenting 19. Jahrhunderts, zu denen im 20. Jahr- opinion, nimmt Rücksicht nicht nur auf hundert soziale Grundrechte dazukamen die Nächsten, sondern Toleranz steht da- oder dazukommen sollten. her auch in einem engen Zusammenhang 66 Amt und Gemeinde
mit einem von Christentum, Humanismus Sehr geehrte Damen und Herren! und Aufklärung geprägtem Menschenbild des mündigen und selbstverantwortlichen Ich danke den Veranstaltern der Europä- Menschen. ischen Toleranzgespräche 2015, dass sie Wir bräuchten beides: verbindliche sich diesem Thema in ganz besonderer Normen, aber auch Toleranz. Eine Tole- Weise widmen und wünsche nicht nur der ranz, die nicht Ausdruck von Schwäche Premiere der Europäischen Toleranzge- ist, sondern Ausdruck des Respekts vor spräche in Fresach Erfolg, sondern auch den Mitmenschen und des Bekenntnisses erfolgreiche Fortsetzung in den kommen- zum Pluralismus. den Jahren. ■ Amt und Gemeinde 67
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Informationen zur Ausstellung GLAUBENsREICH. Evange- lische im Ötschergebiet – Holzknechte, Geheimprotestanten und Reformer Altes Schulhaus Mitterbach (gegenüber der Evangelischen Kirche) Öffnungszeiten 30. April bis 1. November 2015: Mittwoch bis Sonntag, 10.00–17.00 Uhr Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten frei zugänglich. Eintritt: Freiwillige Spende (Richtpreis EUR 3,–) Führungen Fixe Führung: Jeden 1. Sonntag im Monat, 11.00 Uhr (v. a. auch für Einzelpersonen) Gruppen-Führungen: Gegen (rechtzeitige) Voranmeldung bei Pfarrerin Dr. Birgit Lusche (Tel. 03882 / 2275) Führung (zusätzlich): EUR 4,–. Die Führungen dauern ca. 1 ½ Stunden und beinhalten eine Führung durch die Ausstellung mit Besichtigung der Kirche und einen kleinen Rundgang über den Dorfplatz zum historischen evangelischen Friedhof. Rundwanderweg Gemeindealpe Im Gipfelbereich der Gemeindealpe führt in 1626 m Seehöhe ein bequemer und leicht begehbarer Wanderweg rund um das Gipfelplateau der Gemeindealpe. Die Gehzeit beträgt etwa 40 Minuten. Entlang des Weges laden gemütliche Holzbänke zur Rast ein. Der Rundwanderweg beginnt beim Terzerhaus und führt zunächst in Richtung Westen. Entlang des Weges sind sechs Stationen errichtet, bei denen man anhand von Panoramafotos, Edelstahltafeln und verschiedenen Artefakten Einblick in die Geschichte der zugewanderten geheimprotestantischen Holzknechte im 18. Jahrhundert bekommt. Amt und Gemeinde 69
Geschichte der Evangelischen im Ötschergebiet Zur Eröffnung der Ausstellung GLAUBENsREICH im Rahmen der niederösterreichischen Landesausstellung ÖTSCHER:REICH am 29. April 2015 in Mitterbach. Evangelische Geschichte im Ötschergebiet – von Holzknechten, Geheimprotestanten und Reformern in einer von 15 Ausstellungsstationen der NÖ-Landesausstellung. Von Paul Weiland | Birgit Lusche | Karl-Reinhart Trauner 70 Amt und Gemeinde
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gab zum Beispiel das Angebot, sich ge- gen Geld von einem Teil seiner Strafen Sie erleben in der Ausstellung „GLAU- loskaufen zu können. BENsREICH“ in Mitterbach ein Stück Dagegen trat einer aus dem Kreis der niederösterreichische Geschichte, die Sie kirchlichen Männer auf, ein Mönch und nur hier erleben können. Sie ist einzig- Theologe, Martin Luther. Er sagte: Men- artig, exklusiv. Schön, dass Sie gekom- schen werden damit betrogen. Selig wird men sind. der Mensch allein aus Gnade, allein aus Es ist ein Teil der Geschichte dieses Glauben, allein durch Jesus Christus. Und Landes, die nicht selten verdrängt wird, das bedingungslos. In der Bibel hat er oft vergessen ist. Darum ist diese Aus- diese Position gefunden. Und anhand der stellung auch weit über den evangeli- Bibel wollte er eine Reform der ganzen schen Bereich hinaus wertvoll, weil die westlichen Kirche. Erinnerung an diese Geschichte mithilft, Wir wissen aus der Geschichte, nur die Herkunft besser zu verstehen und die ein Teil der Kirche ist diesem Reformge- Gegenwart besser einordnen zu können. danken gefolgt, der andere nicht. Seither Warum etwas ist, wie es ist, das ist nicht gibt es die Römisch-katholische und die immer auf den ersten Blick erkennbar. Evangelische Kirche. Und wenn es ganz optimal kommt, dann Luthers Lehren jedenfalls verbreite- helfen diese Rück- und Einblicke auch, ten sich sehr rasch, auch in Österreich. Lehren zu ziehen für das aktuelle Mitei- Innerhalb weniger Jahre fanden die Re- nander von Menschen heute. form-Vorschläge von Martin Luther durch Um das, was diese Ausstellung hier do- Handwerker, Studenten und Adelige, die kumentiert, richtig einordnen zu können, eine Zeit lang in Deutschland lebten und muss man auch die damaligen Gegeben- wieder in ihre Heimat zurückkehrten, eine heiten, Umstände und Voraussetzungen rasche Verbreitung. Aber auch das aufblü- kurz skizzieren, die Entwicklungen und hende Gewerbe des Buchdrucks spielte die Lebensumstände bedenken. eine große Rolle. Bibeln, Predigtbücher, Im großen Zusammenhang geht es um die 95 Thesen, in denen Luther seine Re- das Thema Mensch und Bewältigung des formvorschläge zur Diskussion vorlegte, Lebens. Versetzen sie sich kurz zurück in Andachtsbücher und andere Schriften ka- das 16. Jahrhundert. Das mittelalterliche men nach Niederösterreich und mit ihnen Weltbild hat die Menschen noch fest im die Inhalte der Reformation. Ende des 16. Griff. Auch Dämonen und Geister waren Jahrhunderts waren 90 Prozent des Adels reale Größen. Angst war ein oft bestim- in NÖ und zwei Drittel der Bevölkerung mender Faktor. Niederösterreichs Evangelisch. Nieder- Von dem allen loszukommen war eine österreich war ein evangelisches Land. Sehnsucht der Menschen. Die damalige Zu den Anhängern der Reformation ge- westliche Kirche hat das ausgenutzt. Es hörte allerdings nicht der Landesherr. Für Amt und Gemeinde 71
ihn war das Eindringen und die Durchset- Kulturen leben, das konnte hier schon im zung der reformatorischen Bewegung ein 18. Jahrhundert eingeübt werden. Aber Problem, ja eine Anfechtung. Die gewalt- auch so ist der Titel zu verstehen: Die same Gegenreformation im Bewusstsein, Holzknechte haben einen reichen, tiefen dass der Herrscher eines Landes auch die Glauben mitgebracht, der es ihnen ermög- Religion der Bewohner vorgeben kann, licht hat, ihrem Glauben ohne kirchliche hatte im 17. Jahrhundert massive Folgen Strukturen, ohne Unterstützung, je gegen für die Evangelischen in Niederösterreich. Gewalt und Verfolgung treu zu bleiben. Zahlreiche sind ausgewandert. Fast alle Eine Wende brachte der aufgeklärte von ihnen nach Franken. Viele sind wie- Kaiser Josef II. Er erließ im Jahr 1781 das der katholisch geworden. Ganz wenige in Toleranzpatent, das evangelisches Leben NÖ haben ihren Glauben im Geheimen unter bestimmten Voraussetzungen auch gelebt. Das waren nicht mehr als ein paar öffentlich duldete. Wo 500 Evangelische Handvoll Menschen, vor allem im Gebiet oder 100 evangelische Familien lebten, um den Sonntagberg (Rosina Steinauer). konnte ein Bethaus errichtet werden. Ende des 17.Jahrhunderts gab es praktisch Die ehemaligen Geheimprotestan- keine Evangelischen in Niederösterreich. ten wurden zum Fundament der neuen So war das Einwandern der geheim- evangelischen Kirche in Niederösterreich. protestantischen Holzknechte ab dem 1785 wurde die Evangelische Pfarrge- Jahr 1747 in die Region um den Ötscher meinde Mitterbach gegründet, und noch gleichsam ein zweiter Beginn evange- im Jahr 1785 das Bethaus errichtet und lischen Lebens in Niederösterreich. Sie eingeweiht, das den Grundbestand der wurden von Adeligen und von Stiften we- heutigen Kirche bildet, erweitert im Jahr gen ihrer Kompetenz angeworben, um das 1849 um einen Turm. Und – typisch für Holz in den damaligen Urwäldern dieser evangelische Gemeinden – schon im Jahr Region zu schlägern und auch durch das 1786 wurde die Schule errichtet. Weitere unwegsame Gelände Richtung Wien oder Schulen wurden von der Evangelischen Richtung St. Pölten zu bringen. Dass sie Gemeinde Mitterbach in Naßwald, Ul- Geheimprotestanten waren, merkte man reichsberg und Lahnsattel gegründet. erst später. Nach dem Toleranzpatent haben die Die Geschichte der Holzknechte, ihre Menschen dieser Region hier gelernt, zu- kulturelle Leistung, ihre Glaubenstiefe ist nächst nebeneinander, aber dann auch das Thema dieser Ausstellung. Die Aus- miteinander zu leben. Für die Frage, wie stellung hat den Titel GLAUBENsREICH können Menschen angesichts einer sehr und meint das in eine zweifache Richtung. belastenden Geschichte lernen, wieder gut Der Glaube der Region hier ist reicher und und zukunftsorientiert miteinander um- vielfältiger geworden. Das, was wir heute zugehen – das ist eine in vielen Gebieten in unserer Gesellschaft mit verschiedenen unserer Welt aktuelle Frage – kann die Ge- Religionen und sehr unterschiedlichen schichte in dieser Region Beispiel und Le- 72 Amt und Gemeinde
benshilfe sein. Symbolisch hat die Markt- Geheimprotestantismus“, „Toleranzzeit“ gemeinde Annaberg diese Geschichte in und „Kirche heute“ versucht. Sie zeigt im ihrer Festtracht zum Ausdruck gebracht. Erdgeschoss einen Schulraum, in dem die Während für die Farben die Kleidung der Geschichte der Evangelischen Schulen in in der Wallfahrtskirche abgebildeten Hei- Mitterbach und Ulreichsberg gezeigt wird. ligen Anna Grundlage war, wurde für den Exemplarisch wird das Thema „Evange- Schnitt des Rockes in Erinnerung an die lische Kirche und Bildung“ an der Loos- Einwanderung der evangelischen Holz- dorfer Schulordnung dargestellt. In einem knechte der sogenannte „Salzkammer- Film ist die Geschichte der Pfarrgemeinde gutrock“ gewählt. Mitterbach zu sehen und zu hören. Ein zweiter sehr aktueller Bezug ist In den Räumen im 1. Stock der Alten die Frage von Glaube und Öffentlichkeit. Schule sind im Zentrum des 1. Raumes Das Toleranzpatent ermöglichte eine ge- eine alte Lutherbibel aus dem Besitz ei- wisse Sichtbarkeit. Bethäuser durften ner Holzknechtfamilie und eine Axt. Die gebaut werden, aber sehr restriktiv, ohne Bibel ist zugleich Hinweis, dass Evange- Turm, ohne runde Fenster, ohne Eingang lische Kirche nicht mit dem 16. Jahrhun- von der Hauptstraße. Die gegenwärtige dert beginnt, sondern so alt ist wie die Diskussion dazu ist zum Beispiel bei Bibel. Sie ist das Zentrum evangelischen der Frage des Baus von Moscheen: mit Glaubens. oder ohne Minarett? Oder grundsätzlich In diesem Raum gibt es auch eine Hör- stellt sich heute oft die Frage: wie weit station, bei der Lieder der Holzknechte kann und darf Glaube sichtbar sein und zu hören sind, die sie aus ihrer ehema- werden in der Öffentlichkeit? Die Dis- ligen Heimat mitgebracht haben und in kussion um in Schulen oder Kindergär- der neuen Heimat weiter tradiert haben. ten angebrachte Kreuze ist ein Beispiel Der Anstellung, der Arbeit und dem dafür, die sich häufenden Beschwerden Glaubensleben der Holzknechte ist ein und Anzeigen wegen des Glockenläutens weiterer Raum gewidmet. Dazu gibt es ein anderes. auch Darstellungen des Ötschergebie- Die Ausstellung will mithelfen, diesen tes und des Siedlungsgebietes der Holz- Teil der oft vergessenen Geschichte Nie- knechte, aber auch Rezepte von Holz- derösterreichs in Erinnerung zu rufen. Sie knechtspeisen. will einen Beitrag zum besseren Verstehen Der Geheimprotestantismus wird in der Vergangenheit leisten, um damit in einem dunklen Raum dargestellt mit Be- eine tragfähige Zukunft gehen zu können. schreibungen von Geheimgottesdiensten, Die Ausstellung kann aufgrund der Bibelverstecken, der Ausstellung von lu- Fülle des Materials und des zur Verfügung therischen Büchern, die in der Gegenre- stehenden Raumes nur exemplarisch sein. formation verbrannt hätten werden sollen, Das wurde anhand der Schwerpunktthe- aber gerettet werden konnten. In einer men „Evangelisch-Sein“, „Holzknechte“, Hörstation sind u. a. Tipps zu hören, wie Amt und Gemeinde 73
sich Geheimprotestanten im Umgang mit Heute leben in Niederösterreich in 28 römisch-katholischen Autoritäten und An- evangelischen Pfarrgemeinden, die flä- liegen verhalten sollten. chenmäßig das gesamte Bundesland ab- Martin Luther und die Grundsätze der decken und bei Mitterbach auch in die Reformation, das Toleranzpatent, aber Steiermark reichen, rund 42.000 Evan- auch die Struktur der Evangelischen Kir- gelische. Die knapp 500 Holzknechte im che und die Evangelische Kirche in Nie- 18. Jahrhundert waren der neue Beginn derösterreich heute sind weitere Themen evangelischen Lebens in Niederösterreich der Ausstellung. nach der Gegenreformation. ■ Paul Weiland Geistliche Einstimmung: GLAUBENsREICH GLAUBENsREICH Es ist bereits über 200 Jahre her, dass Martin Luther lebte und mit seinen The- sen das Denken für immer veränderte: GLAUBENsREICH Die Möglichkeit, die Bibel in der eige- Das waren die Vorfahren der Evange- nen Sprache zu lesen und zu hören, das lischen Pfarrgemeinde Mitterbach. Sie Wissen, dass jeder Mensch unabhängig sind Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem von seiner Leistung und Herkunft gleich Dachsteingebiet hierher gewandert mit viel wert ist, weil Gott ihn gerecht spricht Sack und Pack. allein durch den Glauben und die Zuver- Das Holz und der gesicherte Arbeits- sicht, dass wir einen liebenden Gott ha- platz als Holzknechte des Stiftes Lilien- ben, der uns durch das Leben begleitet feld hatten sie zur Wanderung bewogen. – das wussten und daran glaubten auch Doch die Holzknechte hatten noch einen diese Holzknechte. Und so lebte sie als anderen bedeutsamen Grund für ihren sogenannte Geheimprotestanten in den Zusammenhalt: Es war ihr evangelischer Wäldern des Ötscher. Glaube, an dem sie im Geheimen fest- hielten. 74 Amt und Gemeinde
GLAUBENsREICH Bethaus Ulreichsberg, sowie in den Rö- Ihrem Zusammenhalten, ihrem starken misch-katholischen Kirchen in Lackenhof Glauben – gewonnen aus dem Wort Got- und Hinterwildalpen. tes, ihrem Mut und ihrer Standfestigkeit Die Gemeinde ist heute verwurzelt im – ist es zu verdanken, dass – sobald es im festen Glauben, nährt sich von der Tradi- Jahr 1781 geduldet wurde, evangelisch tion und der Leistung unserer Vorfahren. zu sein – hier nun offiziell eine evange- Zusammenhalt und Standfestigkeit zeich- lische Gemeinde entstand. Der lang er- nen die Nachkommen der Holzknechte sehnte Wunsch ging bald in Erfüllung:Am nach wir vor aus. So sind wir als evange- Christtag im Jahr 1785 wurde die Ein- lische Gemeinde im Mariazeller Land be- weihung dieses – damals noch Bethau- müht, auf Gottes Wort immer wieder neu ses – gefeiert. zu hören, an die Grundlagen der Bibel zu erinnern und treu dem reformatorischen GLAUBENsREICH Bekenntnis in der Tradition der Kirche Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die evan- Jesu Christi zu leben und vor allem ei- gelische Gemeinde, eine evangelische nes zu sein: Schule wurde gebaut, ein eigener Friedhof entstand. Im Jahr 1849 wurde der Traum GLAUBENsREICH von einem Turm und Glocken wahr. Eine Oder um es mit den Worte Martin Luthers besondere Orgel stimmte bald in den Lob- auszudrücken: gesang der Gemeinde mit ein. Unsere Pfarrgemeinde ist die älteste „Denn wir sind es nicht, die die Kirche Gemeinde in Niederösterreich und eine erhalten, rein lutherische Gemeinde nach dem unser Vorfahren sind es auch nicht ge- Augsburger Bekenntnis. Sie ist somit eine wesen, Toleranzgemeinde. unsere Nachkommen werden´s auch Rund 750 Gemeindemitglieder zählt nicht sein, sie. Sie gehört zur Diözese Niederöster- sondern der ist es gewesen, ist´s noch, reich – obwohl auch ein großer Teil der wird´s sein, Gemeindemitglieder in der Steiermark der spricht: Ich bin bei euch bis zum wohnt. Weltende.“ In Mitterbach ist rund ein Drittel der Bevölkerung evangelisch. Das relativ In diesem Sinne darf ich Sie alle heute große Gemeindegebiet geht vom Anna- Abend recht herzlich hier in unserer Tole- berg bis zum Seeberg, von Ulreichsberg ranzkirche begrüßen. Schön, dass Sie sich bis nach Lackenhof sowie nach Hinter- auf den Weg gemacht haben. Ich wünsche wildalpen. Unsere Hauptkirche steht in Ihnen heute einen gesegneten Eröffnungs- Mitterbach, ebenso feiern wir Gottes- abend und eine erfüllten Besuch bei un- dienst in unserer Kirche in Reith und im serer Ausstellung: Amt und Gemeinde 75
GLAUBENsREICH Dafür gilt es vor allem Gott zu danken Evangelisch im Ötschergebiet. und ich bitte sie zu einem Dank- und Se- Holzknechte – Geheimprotestanten – gensgebet aufzustehen: Reformer. Gebet: Dankeswort: Gnädiger Gott, wir danken dir, dass wir Liebe Schwestern und Brüder, heute dieses schönen Eröffnungsabend miteinander feiern können. es ist reizvoll und bedarf Interesse sich eh- Wir danken dir für die Frauen und Män- renamtlich zu engagieren. Dieser Dienst ner, die so selbstverständlich und un- soll Anerkennung finden. Ein jeder der eigennützig sich hier engagieren und ehrenamtlich dient, soll dafür Gewinn an somit ihren Dienst an der Kirche und Wissen, an Fähigkeiten und an persönli- an dir tun. cher Erfüllung erhalten. Hier für diese Wir danken dir dafür dass sie so viel ge- Ausstellung ist dies in eindrucksvoller leistet haben, durch ihre Tatkraft und Weise geschehen. Seit zwei Jahren wird Begeisterung und immer wieder neue von vielen hier gesammelt, geforscht, in- Ideen die Arbeit vorangebracht haben. terviewt, gefilmt, organisiert und disku- Dankbar sind wir heute auch für die Be- tiert – sich ausgetauscht und informiert. gegnungen und Gespräche, für die Re- Ohne diesen Einsatz gäbe es heute den und Grußworte, die uns bestärken diesen Eröffnungsabend und diese in unserem Engagement. Ötscher:Reich Station nicht mit dieser Gnädiger Gott, du bist unser Schöpfer, Ausstellung, mit den geführten Wande- du hast uns beschenkt mit Kräften und rungen, mit dem Rundwanderweg auf der Talenten, du hast uns Augen gegeben Gemeindealpen und den Buchpublikati- für unsere Mitmenschen. onen. Dafür gilt es DANKE zu sagen. Gib uns deinen Segen für die Menschen Besonders danken möchte ich vor al- die hier ein und ausgehen werden, lem einer Person, die von Anfang an diese segne die Begegnungen und Gesprä- Idee mitgetragen hat und viele andere che, segne diese Ötscher:Reich Station: motiviert hat und zum Gelingen der Aus- GLAUBENsREICH stellung besonders beitragen hat: unserer Presbyterin Gertraud Susanna Resch. Das gewähre uns der dreieinige Gott, Mögen wir alle die nächsten Monate der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. weiterhin so zusammenhalten und arbei- ten, so dass diese Ötscher:Reich Station Amen. ■ Mitterbach für die Besucher und für uns zu einem besonderen und nachhaltigem Birgit Lusche Erlebnis wird. 76 Amt und Gemeinde
Toleranz solutismus, die Ideen der Aufklärung wa- ren beiden wichtig. I. Zum Ausdruck kommt diese Grundhal- Der Herrscher bestimmt, tung in Friedrichs Politischem Testament was die Untertanen zu aus dem Jahr 1752 (überarbeitet 1768), in glauben haben. Das ist – dem er die Prinzipien seiner Herrschaft vielleicht etwas drastisch ausgedrückt – darlegt. Er erklärt darin, dass ein Staats- die Religionspolitik der absoluten Herr- system – und das ist noch ganz absolu- scher. Es geht dabei nicht unbedingt um tistisch gedacht – „nur aus einem Kopfe Wahrheit, sondern um den Herrschaftsan- entspringen (kann); also muß es aus dem spruch: Im Zeitalter des Absolutismus ge- des Herrschers hervorgehen.“ Knapp da- hen die Herrscher davon aus, dass sie alles nach findet sich aber auch die berühmte beherrschen, einschließlich des Glaubens Formel, dass „der Herrscher … der erste und Denkens. Nur so ist es erklärlich, dass Diener des Staates“ sein muss. „Man for- Kaiserin Maria Theresia einerseits am dert … von ihm, daß er werktätig für das Gebiet des heutigen Österreichs Protes- Wohl des Staates arbeite …“ Das ist das tanten wegen ihres Glaubens hart verfolgt aufgeklärte Moment seines Denkens. und aus dem Land jagt, andererseits in Der Herrscher ist der erste Diener. Galizien ebenfalls Protestanten religiöse Aber Diener des Staates sind alle, vom Freiheiten gewährt. Alles hängt von der einfachen Bürger bis zur einflussreichen Entscheidung des Herrschers ab. Organisation, die eine Schlüsselposition Maria Theresias Sohn Joseph II., seit für das Funktionieren eines Staates ein- 1765 Kaiser des Heiligen Römischen nimmt. Reiches und seit dem Tod seiner Mutter Damit kommt die Kirche ins Blickfeld. 1780 auch Herrscher in den habsburgi- Maria Theresia vertrat ein ganzheitliches schen Kernländern, sieht das schon ein Weltbild ohne Brüche zwischen Staat und wenig anders. Für ihn ist der preußische Kirche, für Joseph II. wird auch die Kir- König Friedrich II. ein gewisses Vorbild. che zum Diener des Staates. Wenn man Die Beziehung zwischen Joseph II. und so will, könnte man sagen, dass der Jo- dem fast 30 Jahre älteren Preußenkönig sephinismus darauf abzielt, die Religi- ist eigenartig. Politisch waren sie Kontra- onsgemeinschaften – und auch die junge henten im Ringen um die Vorherrschaft Evangelische Kirche – wenn schon nicht im Deutschen Reich; wobei Friedrich er- zu Instrumenten der Politik, so doch zu folgreicher war, hatte er doch von den Trägern (und Dienern) des Staates zu ma- Habsburgern das schöne und reiche Schle- chen. sien erobert. In weltanschaulichen Dingen Aufgeklärt ist auch die persönliche reli- kann man jedoch zwischen Joseph und giöse Überzeugung. Joseph wird auch hier Friedrich viele Parallelen finden. Beide in manchem Friedrich ähnlich sein, der in waren Vertreter des sog. aufgeklärten Ab- seinem Politischen Testament ausführt: Amt und Gemeinde 77
„… Für die Politik ist es völlig belanglos, Nach der absolutistischem Form des ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. Patents wird es jedoch sehr aufgeklärt: … man muß (nur) auf die große Masse „Uiberzeugt eines Theils von der Schäd- soweit Rücksicht nehmen, daß man ihre lichkeit alles Gewissenzwanges, und an- religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, derer Seits von dem grossen Nutzen, der welchem Glauben sie angehören …“ – für die Religion, und dem Staat, aus einer Das ist Aufklärung in Reinkultur! wahren christlichen Tolleranz entspringet, haben Wir Uns bewogen gefunden“, die Evangelische und Orthodoxe Kirche zu II. erlauben. Es geht also („Schädlichkeit Ein Ausdruck absolutistischen Herrschens alles Gewissenszwanges“) um die Forde- ist es jedoch, dass Joseph II. ein Tole- rung der Aufklärung nach „Ausgang des ranzpatent erlässt. Wie seine Mutter Ma- Menschen aus seiner … Unmündigkeit“, ria Theresia verbietet – oder toleriert er wie es Immanuel Kant ungefähr gleich- aber andere Meinungen: „Wir Joseph der zeitig (1784) ausgedrückt hat. Zweyte, von Gottes Gnaden erwählter Aber es geht durchaus auch um Prak- Römischer Kaiser zu allen Zeiten Mehrer tisch-Handfestes, wenn Joseph als erster des Reiches, … Unsere k. k. landesfürst- Diener des Staates den „grossen Nutzen“ liche Gnade, und geben euch gnädigst der Toleranz anspricht. Man muss dabei zu vernehmen.“ Das Toleranzpatent ist wissen: Die Vertreibungen der Protestan- ein einseitiger Rechtsakt; der Joseph üb- ten v. a. aus Tirol unter Maria Theresia rigens sehr unter den Nägeln gebrannt haben diese Länder fast an den wirtschaft- haben muss, denn er erfolgt unmittelbar lichen Ruin gebracht, weil plötzlich die nachdem er die Alleinherrschaft in den Facharbeiter gefehlt haben. habsburgischen Ländern erhält. Die Evangelischen haben zu Recht das Er betrifft die Evangelischen Augsbur- Toleranzpatent als Befreiung nach rund gischen (d. h. lutherischen) und Helveti- 250-jähriger Unterdrückung gefeiert, aus schen (d. h. reformierten) Bekenntnisses heutiger Sicht tun sich doch auch viele – er führt dabei gleich die bis heute übli- Fragen auf. Das Wort „Toleranz“ kommt chen Bezeichnungen ein – sowie die Grie- vom lateinischen tolero „ertragen, aus- chisch-Orthodoxen (andere hat es damals halten, erdulden …, es aushalten“. Die in Österreich nicht gegeben). Wenig spä- Bestimmungen des österreichischen To- ter (1782) werden mit einem ganz ähnli- leranzpatents 1781 machen dies deutlich, chen Patent die Juden (zumindest in Wien die Katholische Kirche bleibt weiterhin und Niederösterreich) ebenfalls toleriert. die bestimmende. Die anderen waren die In Folge des Toleranzpatents begründe- Nicht-Katholiken, die Akatholischen; die ten sich fast 50 Pfarrgemeinden, die sog. Evangelischen werden wenigsten als „Re- Toleranzgemeinden, auf dem Gebiet des ligionsverwandte“ definiert. heutigen Österreichs. 78 Amt und Gemeinde
Den Evangelischen und Orthodoxen Wahrheit vertreten kann. Gerade diese wird keine öffentliche Religionsausübung Erkenntnis macht Toleranz erst möglich, zuerkannt, nur ein „Privat-Exercitium“ verpflichtet aber zum Überprüfen der ei- allenthalben gestattet. „Der katholischen genen wie auch der anderer Position; das Religion allein soll der Vorzug des öffent- erinnert an den evangelischen Grundsatz, lichen Religions-Exercitii verbleiben …“. dass die Kirche sich laufend erneuern Erinnert sei an das Politische Testament muss („ecclesia semper reformanda“). Friedrichs II.: „… man muß auf die große Der Staat Josephs war aber – anders Masse … Rücksicht nehmen“. als heute – nicht säkular und auch nicht Dementsprechend hatten die tolerier- religionsneutral. Es gab auch keineswegs ten, erduldeten Konfessionen auch nicht das, was heute als Trennung von Staat das Recht auf einen regelrechten Kir- und Kirche bzw. Politik und Religion ein chenbau: „In Ansehung des Betthauses Grundprinzip des modernen Staates ist. befehlen Wir ausdrücklich, daß, wo es Die Toleranzgesetzgebung basierte auf nicht schon anders ist, solches kein Ge- einem obrigkeitlichen Akt und nicht auf läut, keine Glocken, Thürme, und keinen einem Konsens einer zivilreligiösen Ge- öffentlichen Eingang von der Gasse, so sellschaft, wo wir Toleranz heute veran- eine Kirche vorstelle, haben …“ kern. Der Schlüsselfaktor für die Toleranz Das Toleranzpatent verwendet also den Josephs war der Herrscherwille, heute Begriff „Toleranz“ in einem sehr engen können Überzeugungen nicht staatlich Verständnis, von Gleichberechtigung ist vorgeschrieben werden. Der Schlüssel- das Toleranzpatent weit entfernt. faktor der Toleranz heute kann nur ein gesellschaftlicher Konsens sein, der ide- altypisch seinen sichtbaren Ausdruck im III. staatlichen Recht, v. a. dem Grundrecht, Zusammenfassend und aus heutiger, mo- findet. derner Perspektive kann bemerkt werden: Nota bene: Wenn wir heute von Tole- Joseph II. machte mit seiner Toleranz- ranz reden, dann meinen wir nicht eigent- gesetzgebung Österreich endgültig und lich das Erleiden des anderen, sondern offiziell zu einem multikonfessionellen üblicherweise eigentlich die Akzeptanz. und pluralen Staat. Er erkannte, dass der „Accipere“ heißt annehmen, mittragen, Herrscher oder der Staat den Glauben solidarisieren, das Anliegen des anderen (oder auch andere Überzeugungen) der – zumindest teilweise – zu meinem eige- Menschen, selbst wenn sie Untertanen nen Anliegen machen. sind, bestimmen darf und kann. Schwierige Fragen stehen hinter sol- Die Aufklärung hat den Menschen chen Überlegungen. Toleranz ist über- beigebracht, dass der „Wahrheit“ immer haupt damit die Basis politisch-gesell- etwas Subjektives anhaftet und niemand schaftlichen Lebens. Ohne sie ist moderne einen Absolutheitsanspruch mit seiner Gesellschaft nicht mehr denkbar, ohne Amt und Gemeinde 79
Erdulden und Geltenlassen des Anderen. Der damalige Unterrichtsminister Hein- Toleranz kann aber nicht gegenüber allen rich Drimmel hat anlässlich des Protestan- anderen Positionen geübt werden. Notfalls tengesetzes 1961 von der „freien Kirche kann auch die Pflicht bestehen, Wider- im freien Staat“ gesprochen. stand zu leisten. Was ist das Maß, was Dass das Protestantengesetz 1961, die sind die Kriterien, das eine Mal tolerant heutige staatskirchenrechtliche Grundlage zu sein, das andere Mal gerade nicht? Es der Evangelischen Kirche, als Gesetz der gibt eine Grenze der Toleranz, nämlich Republik ebenfalls ein zwar demokratisch dann, wenn Menschen geknechtet, kör- legitimierter, dennoch obrigkeitlicher Akt perlich und seelisch verletzt, Gottes gute war, mag zwar ein Schönheitsfehler sein, Schöpfung zerstört, Liebe und Gerech- die Evangelischen sind, soweit ich das tigkeit verraten werden. Toleranz kann weiß, mit dem Gesetz aber durchaus sehr dazu verpflichten, intolerant zu werden. zufrieden. Dass Joseph keine Trennung von Kir- Die gesellschaftliche und auch – wenn che und Staat vornahm und keine Äqui- man so will – staatstragende Rolle der distanz zu den Konfessionen bzw. Re- Religionsgemeinschaften erfolgt heute in ligionen vertrat, liegt nicht nur daran, freier Zusammenarbeit mit dem Staat, der dass dafür die Zeit noch nicht reif war, den Mehrwert der Arbeit der Religions- sondern auch am „grossen Nutzen“ der gemeinschaften für das gesellschaftliche Toleranz für den Staat. Die Katholische Leben anerkennt. Zu denken ist hier v. a. Kirche war zu Josephs Zeit und ist auch an den Religionsunterricht. Der Staat er- heute mit ihren 73,6 % an der Wohnbe- hält den Religionsunterricht, weil er um völkerung (Stand 2001; bei der Regis- den Beitrag der Religionsgemeinschaf- terzählung 2011 war die Erhebung von ten in der Schule weiß, die immerhin die Religion und Umgangssprache nicht zu- Aufgabe hat, „an der Entwicklung der lässig) noch immer ein hochbedeutender Anlagen der Jugend nach den sittlichen, gesellschaftlicher Faktor, überdies (nach religiösen und sozialen Werten sowie nach dem Staat selbst) der zweifellos größte den Werten des Wahren, Guten und Schö- Kulturträger Österreichs. Aber auch die nen … mitzuwirken“ (SchOG, § 2, lit. 1). Evangelische Kirche ist trotz ihrer statis- Eine vollständige Trennung von Staat tischen Kleinheit ein nicht zu unterschät- und Kirche, gesellschaftlichem Leben und zendes gesellschaftliches und kulturelles Religion ist schon deshalb nicht möglich, Element. weil sich in der einzelnen Person diese Stand für Joseph II. das Dienen als beiden Bereiche verschränken. Wert- und Untertanen des Staates im Vordergrund, religiöse Haltungen prägen das Handeln so sind heute weder die Religionsgemein- des Menschen in der Gesellschaft. ■ schaften Diener des Staates noch der Staat der Diener der Religionsgemeinschaften. Karl-Reinhart Trauner 80 Amt und Gemeinde
Soziale Sicherung in Österreich Landessonderausstellung im Haus Bethanien des Diakoniewerkes Das ehemalige Diakonissenmutterhaus Bethanien des Diakonie- werkes ist bis zum 1. November 2015 Austragungsort der ober- österreichischen Landessonderausstellung „Hilfe. LebensRisken LebensChancen“, die Soziales in den Mittelpunkt rückt. Das Haus Bethanien ist für eine Ausstellung mit diesem Schwerpunkt ein idealer Ort, weil von diesem richtungsweisende Impulse für die Entwicklung im Sozial- und Gesundheitsbereich, insbeson- dere für die Professionalisierung der Pflegearbeit ausgegangen sind. Das für die Geschichte des Diakoniewerkes so bedeu- tungsvolle Haus konnte auf diese Weise generalsaniert und für eine zeitgemäße Nachnutzung adaptiert werden. Von Christa Schrauf Amt und Gemeinde 81
Die Ausstellung zeigt auf zwei Stock- werken, auf circa 1000 m², die Ge- schichte der sozialen Sicherung in Ös- terreich, wobei auf der Entwicklung in Oberösterreich und damit auch dem Beitrag des Diakoniewerkes ein be- sonderes Augenmerk liegt. Es wird die Geschichte des öster reichischen Sozialsystems skiz- ziert. Erste soziale Maßnahmen hat Josef II. im 18. Jahrhundert mit ei- nem Findelhaus in Wien gesetzt. Bis zum 1. Weltkrieg waren Men- schen in sozialen Notlagen auf pri- vate und kommunale Fürsorge und Wohltätigkeit angewiesen. Kon- fessionelle Vereine, wie das Diakonie- werk ab dem Jahr 1874, tragen in dieser vorsozialstaatlichen Zeit wesentlich zur Die Ausstellung Behebung von sozialen Nöten bei. Das Arbeiter-Unfallversicherungsge- Die wissenschaftliche Verantwortung für setz von 1889 sollte als erste staatliche das inhaltliche Konzept hatten die Sozio- Maßnahme das Risiko der Erwerbsunfä- login und Historikerin Brigitte Kepplin- higkeit abfedern. ger und die Soziologin und emeritierte 1920 in der Zwischenkriegszeit folgte Universitätsprofessorin Irene Dyk-Ploss, das Gesetz über die Arbeitslosenversi- beide vom Institut für Gesellschafts- und cherung (ALVG). Während der Zeit des Sozialpolitik der Johannes Kepler Univer- Ständestaates, der mit einer hohen Ar- sität Linz, die jeweils umfassende For- beitslosigkeit konfrontiert war, werden schungs- und Publikationstätigkeiten im Sozialleistungen reduziert. Bereich der Sozialwissenschaften vorwei- Der Nationalsozialismus mit seinem sen können. Die Ausstellungsgestaltung rassistischen wohlfahrtsstaatlichen Sys- wurde federführend von Gerhard Abel tem macht Unterstützungsleistungen von von PLANET architects abgewickelt. Von einem erbgesundheitlichen Zeugnis ab- Seiten des Landes Oberösterreich hatte hängig und unterstützt nur diejenigen, Reinhold Kräter, der neue Kulturdirektor die in das ideologische Konzept passen, des Landes Oberösterreich, die Gesamt- womit einer großen Anzahl von Personen projektleitung inne. die Berechtigung zum Erhalt von Sozial- leistungen verlorengeht. 82 Amt und Gemeinde
1955 wird in der zweiten Republik der lung zu vermitteln, unter anderem indem bis heute bedeutungsvollste wohlfahrts- sie für die Besucherinnen und Besucher staatliche Meilenstein in der Geschichte zahlreiche interaktive Beteiligungsmög- Österreichs mit dem Allgemeinen Sozi- lichkeiten bereit hält oder diese einlädt, alversicherungs-gesetz (ASVG) gelegt, sich auf imaginäre Weise in die Situation womit Kranken-, Unfall- und Pensions- von Menschen zu versetzen, die von Ar- versicherung geregelt wurden. mut, Behinderung oder Arbeitslosigkeit Die Ausstellung widmet sich auch der betroffen werden, um dann zu erleben, ehrenamtlichen und freiwilligen Arbeit, welche Sicherungsmechanismen dann die maßgeblich zur gesellschaftlichen aktiv werden. Kohäsion beiträgt. Sie beschäftigt sich Die Ausstellung zeigt, wie wichtig Soli- mit den gegenwärtigen Fragestellungen darität als Grundlage für gesellschaftliche einer Gesellschaft des langen Lebens und Verantwortung ist, aber auch welche Be- thematisiert deren zukünftige Herausfor- deutung individuelle Verantwortung hat. derungen. Der Ausstellungsgestaltung wurde in der Umsetzung viel Kreativität abverlangt, Der Inklusionsanspruch da wenige klassische Ausstellungsobjekte zur Verfügung standen und ein Gesetzes- Das Team der Landessonderausstellung werk wie das der Allgemeinen Sozial- hat sich für die Landessonderausstellung versicherung beispielsweise anschaulich um inklusive Bedingungen bemüht, um umgesetzt werden wollte. Barrierefreiheit in einem umfassenden Das ASVG wird als Schiff plastisch ins Sinn. Erstmals sind bei einer oberöster- Bild gesetzt, das bei seiner Fahrt durch das reichischen Landesausstellung die Inhalte Meer der Lebensrisiken abhängig ist vom zusätzlich durchgängig auch in „Leichter Treibstoff Erwerbstätigkeit und den Steu- Sprache“ zu lesen. Eine Premiere stellt ern, die über diesen Weg lukriert werden auch der Ausstellungskatalog in „Leich- können, zur Absicherung bei Verlust der ter Sprache“ dar, der die Beiträge in einer Arbeitsfähigkeit oder des Arbeitsplatzes. leicht verständlichen Sprache und über- Je höher die Beschäftigungsquote, umso sichtlichen Form zusammenfasst. Es wer- mehr Beiträge zur Sozialversicherung den Audioführungen in Gebärdenspra- sind möglich, die Lebensrisiken mini- che und Informationen in Brailleschrift mieren und Lebenschancen optimieren angeboten. helfen. Aber dieses erste soziale Netz ist Ein Museumsshop, der mit Produkten nicht ausreichend. Es bedarf eines zwei- aus den Werkstätten bestückt ist, macht ten Netzes für diejenigen, welchen der den gesellschaftlichen Beitrag, den Men- Zugang zum ersten Netz verwehrt bleibt, schen mit Behinderung leisten können, weil sie nicht erwerbstätig sein können. sichtbar. Die Bücherinsel des Diakonie- Auch dieses Netz versucht die Ausstel- werkes ist auch Teil des Museumsshops. Amt und Gemeinde 83
Ein vielfältiges gelischen Schwesternschaft, die sich als Veranstaltungsangebot Glaubens-, Wohn- und Dienstgemein- schaft verstand, war ein neues Mutterhaus Diakoniewerk und Politische Gemeinde erforderlich geworden. Das alte und erste Gallneukirchen haben als Partner der Lan- Mutterhaus im Pfarrhaus und früheren dessonderausstellung ein breites und um- Starhemberg‘schen Pflegschaftsgerichts- fangreiches Veranstaltungsprogramm kon- gebäude war wegen der stetig zunehmen- zipiert, das die Ausstellung in diesen sechs den Zahl der Diakonissen zu klein gewor- Monaten begleitet. Das Diakoniewerk gibt den, daher entschloss sich der Vorstand mit der Reihe „… trotzdem Mensch blei- des Vereines der Inneren Mission, aus ben“ die Möglichkeit der Auseinander- dem das Diakoniewerk hervorgegangen setzung mit sozial- und gesellschaftspo- ist, zum Bau eines neuen Mutterhauses. litischen Themen, wie der Demographie, 1909, als bereits 95 Schwestern im akti- der Generationensolidarität oder Sozi- ven Dienst standen, wurde das neue Mut- alraumorientierung aber auch ethischen terhaus seiner Bestimmung übergeben, Fragestellungen. Die Veranstaltungsreihe welches im Stil des Späthistorismus mit „Wort Musik Leben“ ist ein weiteres An- Jugendstilelementen an der Fassade er- gebot des Diakoniewerkes, zu diesem richtet worden ist. kommen noch die KreativInklusiv-Tage Das Raumkonzept des Hauses sah für Kinder und Jugendliche und weitere von Anfang an einen Funktionsmix vor. dazu, auch die Programmpunkte, die von Es war hauptsächlich der Wohnort und unterschiedlichen Vereinen und Initiati- das geistliche Zentrum der Diakonissen, ven der politischen Gemeinde und auch aber auch Ausbildungsstätte für den Nach- der evangelischen Pfarrgemeinde und der wuchs. Es fungierte als „Damenheim“, wo katholischen Pfarre angeboten werden. Wohnen mit Pflege verbunden war und be- herbergte die Küche, die der Versorgung aller im Diakoniewerk Arbeitenden und Das historische Diakonissen- zu Betreuenden diente. Auch ein Schrif- mutterhaus Bethanien tenverkauf war im Haus untergebracht. Die Diakonissen haben ein Jahrhundert Das ehemalige Diakonissenmutterhaus lang von Gallneukirchen ausgehend in die Bethanien – es war von 1909 bis 2010 österreichischen Bundesländer und zur in Betrieb – ist der Austragungsort der Zeit der Monarchie in deren Kronländer Ausstellung. Die Diakonissen haben in hineingewirkt und waren europaweit mit der Tradition der Nächstenliebe Jesu sich den Häusern ihrer Provenienz vernetzt. für Menschen in notvollen Lebenslagen Sie haben einen unverzichtbaren Beitrag engagiert und darin ihre Berufung und in der Entstehung des Gesundheitswesens Lebensaufgabe gesehen. Mehr als drei und der Entwicklung der sozialen Arbeit Jahrzehnte nach der Gründung der evan- geleistet. Sie haben mit ihrem vielfälti- 84 Amt und Gemeinde
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