Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich

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Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
Amt und Gemeinde
65. Jahrgang, Heft 2, 2015                                                      € 6, –

                              Toleranz.Glaube.Hilfe
                              Toleranz ist ein Lebensprinzip
                              Heinz Fischer                                        64

                              Fresacher Erklärung zur Toleranz 2015
                              Dokumentation                                        68

                              GLAUBENsREICH – Zur Eröffnung
                              der niederösterreichischen Landes-
                              ausstellungsstation in Mitterbach
                              Paul Weiland | Birgit Lusche |
                              Karl-Reinhart Trauner                                70

                              Landessonderausstellung im Haus Bethanien
                              des Diakoniewerkes Gallneukirchen
                              Christa Schrauf                                      81

                              Kreativer Umgang mit dem Gesangbuch
                              Christa Kirschbaum                                   87

                              „Ein Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“ –
                              Zum Gedenken an den „Pfarrer im Thal“
                              Johannes Mathesius
                              Karl W. Schwarz                                      98

                              Dietrich Bonhoeffer –
                              ein evangelischer Heiliger?
                              Michael Bünker                                      108

Evangelischer Presseverband   Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT

Editorial ................................................................................................... 61
Karl W. Schwarz

Toleranz ist ein Lebensprinzip ................................................................. 64
Heinz Fischer

Fresacher Erklärung zur Toleranz 2015 ................................................... 68
Dokumentation

GLAUBENsREICH – Zur Eröffnung der niederösterreichischen
Landesausstellungstation in Mitterbach am 29.4.2015 .......................... 70
Paul Weiland | Birgit Lusche | Karl-Reinhart Trauner

Landessonderausstellung im Haus Bethanien
des Diakoniewerkes Gallneukirchen ....................................................... 81
Christa Schrauf

Kreativer Umgang mit dem Gesangbuch
Christa Kirschbaum .................................................................................... 87

„Ein Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“ –
Zum Gedenken an den „Pfarrer im Thal“ Johannes Mathesius
Karl W. Schwarz ........................................................................................ 98

Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger?
Michael Bünker ....................................................................................... 108

Dankesrede
Michael Bünker ....................................................................................... 112

Anhang

AutorInnen ............................................................................................. 116
Impressum ............................................................................................. 117
 To l e r a n z . G l a u b e . H i l f e

Editorial

D    as zweite Heft von Amt und Ge-
     meinde blickt auf einige besonders
bemerkenswerte Ereignisse in der ersten
                                             möchte sich als Kärntner Alpach präsen-
                                             tieren. Amt und Gemeinde wird diesen
                                             Weg sehr gerne begleiten, weil unsere
Jahreshälfte 2015 zurück:                    Kirche mit dem Stichwort „Toleranz“ ein
                                             wichtiges kultur- und gesellschaftswis-
• Am 22. Mai eröffnete B ­ undespräsident    senschaftliches Datum verbindet und sich
  Dr. Heinz Fischer die erstmals veran-      herausgefordert sieht, die in der Fresacher
  stalteten Europäischen Toleranzge-         Erklärung zur Toleranz 2015 angeführten
  spräche in Fresach / Kärnten und hielt     Positionen umzusetzen, etwa: Toleranz
  bei dieser Gelegenheit eine Rede zum       und Vielfältigkeit bereichern das Leben
  Thema „Toleranz ist ein Lebensprin-        in Europa und stellen dessen Besonder-
  zip“, in der er ausgehend von der klas-    heit dar.
  sischen Antike den Begriff Toleranz
  durchbuchstabierte, ihren unterschied-     • Am 29. April wurde in der Toleranz-
  lichen Facetten nachging – bis in die        gemeinde Mitterbach die Nieder-
  Gegenwart mit ihren bedrängenden             österreichische Landesausstellung
  Fragen nach der aktuellen Toleranz-          ÖTSCHER:REICH eröffnet. Sie trägt
  bereitschaft, aber auch nach deren na-       den Untertitel GLAUBENsREICH und
  türlichen Grenzen.                           widmet sich den Evangelischen im Öt-
                                               schergebiet („Holzknechte – Geheim-
Wir dokumentieren diese Ansprache und          protestanten – Reformer“). Die drei
verweisen auch auf die Fresacher Erklä-        Ansprachen von Superintendent Wei-
rung zur Toleranz 2015. Seinem abschlie-       land, Pfarrerin Dr. Lusche und Mili-
ßenden Wunsch um viel Erfolg bei der           tärsuperintendent DDr. Trauner laden
Premiere der Europäischen Toleranzge-          gleichsam zum Besuch der Ausstellung
spräche fügte der Herr Bundespräsident         ein, die bis 1. November geöffnet ist.
auch den optimistischen Ausblick auf eine      Karl-Reinhart Trauner legt einen be-
erfolgreiche Fortsetzung in den kommen-        sonderen Akzent auf die josefinische
den Jahren hinzu. Der DenkRaum Fresach         Toleranz und korrespondiert insofern
hat sich ambitionierte Ziele gesetzt und       mit dem Fresacher Symposion.

Amt und Gemeinde                                                                     61
• Am 26. April wurde im Evangelischen           wurde kuratiert von Brigitte Kepplin-
  Kulturzentrum Fresach die diesjähri-          ger und Irene Dyk-Ploss und ist bis
  gen Sonderausstellung StimmKraft:             1. November im ehemaligen Diako-
  Kirchenlieder schreiben Geschichte            nissenmutterhaus Bethanien zu sehen,
  eröffnet. In dieser Ausstellung wird die      einem für die Ausstellung besonders
  Kraft des Singens in insgesamt sechs          geeigneten Ort, weil, wie es in dem uns
  Tonlagen erkennbar gemacht: 1. Die            zur Verfügung gestellten Text von Frau
  Geschichte des evangelischen Liedes,          Rektorin Mag. Christa Schrauf nachzu-
  2. Die Menschen hinter den Liedern,           lesen ist, von diesem Ort richtungwei-
  3. Evangelisches Lied – evangelische          sende Impulse für die Entwicklung im
  Identität, 4. Das Lied als Jahres- und        Sozial- und Gesundheitsbereich, ins-
  Lebensbegleiter, 5. Das evangelische          besondere für die Professionalisierung
  Gesangbuch, 6. Das evangelische Lied          der Pflegearbeit ausgegangen sind.
  als gesellschaftspolitisches Statement.
  Kuratiert wird die Ausstellung von Ale-    • Am 25. April fand in Joachimsthal /
  xander Hanisch-Wolfram und Werner            Jáchymov in Böhmen die diesjährige
  Horn, die nicht nur einen Katalog er-        Jahrestagung der Johannes-Mathesius-
  stellten, sondern auch einen Wissen-         Gesellschaft statt, bei der ein kleines
  schaftlichen Begleitband herausgaben         Memorial für den Namenspatron in-
  (Klagenfurt: Verlag des Kärntner Lan-        szeniert wurde, der vor 450 Jahren
  desarchivs 2015). Aus diesem Band            verstorben ist, aber als maßgeblicher
  habe ich einen erfrischenden Beitrag         Reformator in Nordböhmen, als Schul-
  ausgewählt, der nicht die historische        meister und Liederdichter (EG 618)
  Dimension zum Inhalt hat, sondern den        und vor allem als erster Lutherbiograph
  „kreativen Umgang mit dem Gesang-            in Erinnerung geblieben ist. Meine Ge-
  buch“ heute. Die Verfasserin Christa         denkrede habe ich überschrieben: „Ein
  Kirschbaum, Landeskirchenmusikdi-            Ketzer bleibt er, der rebellisch trotzt!“
  rektorin in Hessen-Nassau, die Heraus-       – und in diesem Heft dokumentiert.
  geber und der Verleger haben freundli-
  cherweise den Nachdruck in Amt und         • Am 9. April jährte sich die Ermor-
  Gemeinde ermöglicht, wofür hier be-          dung des bedeutenden evangelischen
  sonders gedankt wird. Die Ausstellung        Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–
  ist bis 31. Oktober geöffnet.                1945) zum 70. Mal. Aus diesem An-
                                               lass hat Bischof Michael Bünker ei-
• Am 29. April wurde in Gallneukir-            nen Gedenkartikel verfasst: Dietrich
  chen die oberösterreichische Landess-        Bonhoeffer – ein evangelischer Hei-
  onderausstellung 2015 eröffnet: Hilfe:       liger? Er folgt damit einer Anregung
  LebensRisken und LebensChancen.              des früheren Ratsvorsitzenden der
  Soziale Sicherung in Österreich. Sie         EKD Wolfgang Huber und weist auf

62                                                                  Amt und Gemeinde
die zahlreichen theologischen Impulse    Dieses Heft von Amt und Gemeinde sollte
  hin, die Bonhoeffer in seinem so radi-   Ihnen noch vor den Sommerferien in die
  kal abgekürzten Leben setzen konnte:     Hände kommen, vielleicht verleitet es Sie
  für die Ökumene, für das Gespräch        zu einem Ausstellungsbesuch in Fresach,
  des Glaubens mit der säkularen Welt      Gallneukirchen oder Mitterbach. Namens
  und für die Stellung der Kirche in den   der Redaktion wünsche ich eine ange-
  Herausforderungen der Zeit.              nehme Urlaubszeit.                    ■

• Am 4. Mai wurde Bischof Michael                                   Karl Schwarz
  Bünker das Große Goldene Ehrenzei-
  chen für Verdienste um das Land Wien
  überreicht. In seiner Laudatio führte
  Stadtrat Dr. Michael Ludwig aus: „Mi-
  chael Bünker ist ein theologischer Ex-
  perte, Lehrer, Wissenschaftler, Publi-
  zist und Humanist“, der es durch seine
  geradlinige Art verstehe, „Botschaften
  auf den Punkt zu bringen“. Die Redak-
  tion von Amt und Gemeinde gratuliert
  dem Herausgeber für diese bemerkens-
  werte Auszeichnung – und bringt als
  besonderen rhetorischen Leckerbissen
  die Dankesrede zum Abdruck, die Bün-
  ker an den Wiener Bürgermeister Dr.
  Michael Häupl richtete.

Amt und Gemeinde                                                                 63
 DenkRaum Fresach

Toleranz ist ein Lebensprinzip

                                                                           Von Heinz Fischer

R     ede bei den 1. Europäischen Tole-
      ranzgesprächen: „Man braucht Kraft
zur Selbstkritik“ am 22.5.2015.1 Bundes-
                                                         das Gute und Gerechte ein (agathos und
                                                         dikaios).
                                                            Um das zu erreichen, so lehrte er, müs-
präsident Heinz Fischer in Fresach / Kärn-               sen wir die Kraft zur Selbstkritik haben
ten: „Toleranz ist ein Lebensprinzip. Sie                und über uns selbst Bescheid wissen. Ein
hilft, verschiedene Lebensentwürfe zu                    radikaler Leitsatz von Sokrates lautete:
ermöglichen und das Zusammenleben der                    eido oudena eidenai. (Ich weiß, dass ich
Menschen zu erleichtern“.                                nichts weiß).
                                                            Denn nur, wenn wir uns selbst in Frage
                                                         stellen und uns unserer Unvollkommen-
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann!                      heit bewusst sind, können wir die Mei-
Sehr geehrte Damen und Herren!                           nung des Gegenüber leichter ernst neh-
                                                         men, besser verstehen und uns damit
Mein Griechisch-Professor im Gymna-                      auseinandersetzen bzw. aus unterschied-
sium verehrte zwei Lichtgestalten der An-                lichen Meinungen und Standpunkten ver-
tike ganz besonders: Homer und Sokrates.                 nünftig auswählen (dialegesthai).
   Homer muss uns heute nicht weiter be-                    Mit anderen Worten, Dialog und Dia-
schäftigen, wohl aber Sokrates. Er stellte               lektik in Form einer Gegenüberstellung
sich den Sophisten entgegen und trat für                 von These und Antithese mit der Chance,
                                                         eine Synthese zu finden.
1    Nachdruck aus: www.bundespraesident.at/                Sokrates formulierte damit vor zwei-
     newsdetail/artikel/rede-bei-den-1-europaeischen-
     toleranzgespraechen-man-braucht-kraft-zur-selbst-
                                                         einhalb tausend Jahren eine eindeutige
     kritik, abgerufen am 3.6.2015                       Gegenposition zum Dogmatismus und zu

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der damit verbundenen Intoleranz; eine       zugleich Delikt und Sünde. Häresie wurde
Vorstufe zu einer offenen Gesellschaft.      sogar noch vielfach schärfer pönalisiert
   Aber der Einfluss des Sokrates währte     als Ungläubigkeit.
kaum länger, als die Blüte des klassischen      Weltanschauliche und religiöse Ab-
Athen. Er wurde erst im Zeitalter der Re-    weichungen führten ins Gefängnis, zum
naissance und noch mehr im Zeitalter der     individuellen Scheiterhaufen oder zum
Aufklärung wiederentdeckt und als einer      kollektiven Krieg.
der Väter der Aufklärung geschätzt.             Es war ein Verdienst der Aufklärung,
   Bemerkenswert ist, wie vieles der kri-    die Prioritäten neu zu ordnen.
tische Rationalismus des Karl Popper mit        Der Augsburger Religionsfriede von
dem Satz: „Ich kann recht haben und du       1555 war noch kein Toleranzpatent.
kannst irren, du kannst recht haben und         Aber der Satz „Cuius regio eius reli-
ich kann irren, aber zusammen können         gio“ war ein Paukenschlag, der erken-
wir der Wahrheit näher kommen“, mit          nen ließ, dass man sich nicht nur ver-
dem sokratischen Denken gemeinsam hat.       schiedene Religionen vorstellen konnte,
   Also jenem Denken, das sich weigert,      sondern auch vertraglich vereinbarte, sie
bestimmte Lehren als unumstößlich zu         anzuerkennen und zu respektieren.
betrachten. Aber die Zeit dafür war noch        Von dort zu den Toleranzpatenten im
lange nicht reif.                            letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war
   Ein unumstößlicher und nicht hinter-      es noch ein weiter Weg von zweieinviertel
fragbarer Dogmatismus beherrschte durch      Jahrhunderten.
Jahrhunderte hindurch das Denken in vie-        Aber ohne die Akzeptanz des Prinzips
len Bereichen und insbesondere im Be-        weltanschaulicher Toleranz – eine Akzep-
reich der Weltanschauung, der Religion       tanz, die bekanntlich vom Faschismus,
und der gesellschaftlichen Ordnung.          vom Stalinismus und von anderen totali-
   Das berühmte geflügelte Wort: Man         tären Systemen verweigert und bekämpft
werde kein Jota nachgeben, stammt von        wurde – ist Demokratie nicht möglich.
einem theologischen Streit beim Konzil          Denn die Hauptspielregel der Demo-
von Nicaea im frühen vierten Jahrhundert,    kratie besagt, dass das Volk als mündiger
wo es die Meinungsverschiedenheit gab,       Souverän einen friedlichen Machtwechsel
ob Gott Vater und Gottes Sohn wesens-        herbeiführen und die Macht mit Mehrheit
gleich, also homo ousios oder wesensähn-     in die Hände von Menschen legen kann,
lich (homoiousios) seien. Dieser Unter-      deren Standpunkte Einzelne oder auch
schied hat Exkommunikation, Spaltung         ganze Gruppen nicht teilen. Dies setzt
und Gewalt ausgelöst.                        allerdings voraus, dass bestimmte Spiel-
   Nichtorthodoxes Verhalten, also Tole-     regeln eingehalten werden und der Weg
ranz, und das Zulassen oder sogar Wert-      zum neuerlichen friedlichen Machtwech-
schätzen abweichender Meinungen war          sel weiterhin offen bleibt.

Amt und Gemeinde                                                                   65
Meine Damen und Herren!                         Und da auch diese Grundrechte in Ge-
                                             gensatz zueinander geraten könnten, gibt
Ich habe von Spielregeln gesprochen, die     es bei fast allen von ihnen sogenannte
eingehalten werden müssen, wenn das auf      Gesetzesvorbehalte, also die Möglichkeit
Toleranz aufbauende, demokratische Sys-      von Abgrenzungen oder Präzisierungen
tem funktionieren soll. Zu diesen Spiel-     zur Feinsteuerung.
regeln gehört die Anerkennung der Men-
schenwürde als unveräußerliches Prinzip      Somit kann man sagen:
und die Einhaltung bestimmter Grund-            Das Zusammenleben der Menschen
und Freiheitsrechte.                         in einer humanen, freiheitlich-demokra-
    Alle Menschen sind frei und gleich an    tischen Gesellschaft kann auf die Nor-
Würde und Rechten geboren, heißt es in       mierung und Beachtung von Grund- und
der Menschendeklaration der Vereinten        Freiheitsrechten unter denen ich die Men-
Nationen.                                    schenwürde an die erste Stelle setze, nicht
    Da unser Planet derzeit von nahezu       verzichten.
acht Milliarden Menschen bewohnt wird,          Diese Grund- und Freiheitsrechte müs-
ist es evident, dass die Freiheit des Ein-   sen der Maßstab der Rechtsordnung sein,
zelnen dort ihre Grenze finden muss, wo      müssen durch soziale Grundrechte eine
die gleichberechtigte Freiheit des Mit-      reale Lebensgrundlage erhalten und durch
menschen beginnt. Das gilt schon für die     das Prinzip der Toleranz lebbar gemacht
Familie, für das Dorf, für den Staat und     werden.
letztlich global. Und um diese Koexistenz       Wie weit reicht aber Toleranz? Wie
menschlicher Freiheitsrechte funktionsfä-    weit darf sie gehen?
hig zu machen und zu erhalten, kennt jede       Auf diese Frage ist eine quantifizie-
demokratische Verfassung in der einen        rende Antwort kaum möglich.
oder anderen Form Grund- und Freiheits-         Toleranz ist kein expliziter Bestand-
rechte im Verfassungsrang.                   teil eines Normengebäudes, sondern ein
                                             Lebensprinzip – wenn Sie wollen eine
Also z. B. Menschenwürde,                    Lebensweisheit, die hilft, das Aufeinan-
Gleichberechtigung,                          derprallen unterschiedlicher Grundwerte
Meinungsfreiheit,                            und Lebensauffassungen abzufedern, an-
Religionsfreiheit,                           dere Lebensentwürfe zu ermöglichen und
Freiheit der Kunst und der Wissenschaft,     das Zusammenleben der Menschen zu
Freiheit des Eigentumes etc.                 erleichtern. Toleranz enthält auch den
                                             Verzicht auf die Erzwingung von Do-
Das sind die liberalen Grundrechte des       minanz, ist Respekt vor der dissenting
19. Jahrhunderts, zu denen im 20. Jahr-      opinion, nimmt Rücksicht nicht nur auf
hundert soziale Grundrechte dazukamen        die Nächsten, sondern Toleranz steht da-
oder dazukommen sollten.                     her auch in einem engen Zusammenhang

66                                                                  Amt und Gemeinde
mit einem von Christentum, Humanismus     Sehr geehrte Damen und Herren!
und Aufklärung geprägtem Menschenbild
des mündigen und selbstverantwortlichen   Ich danke den Veranstaltern der Europä-
Menschen.                                 ischen Toleranzgespräche 2015, dass sie
    Wir bräuchten beides: verbindliche    sich diesem Thema in ganz besonderer
Normen, aber auch Toleranz. Eine Tole-    Weise widmen und wünsche nicht nur der
ranz, die nicht Ausdruck von Schwäche     Premiere der Europäischen Toleranzge-
ist, sondern Ausdruck des Respekts vor    spräche in Fresach Erfolg, sondern auch
den Mitmenschen und des Bekenntnisses     erfolgreiche Fortsetzung in den kommen-
zum Pluralismus.                          den Jahren.                          ■

Amt und Gemeinde                                                              67
68   Amt und Gemeinde
Informationen zur Ausstellung

                             GLAUBENsREICH. Evange-
                             lische im Ötschergebiet – Holzknechte,
                              Geheimprotestanten und Reformer

                              Altes Schulhaus Mitterbach
                              (gegenüber der Evangelischen Kirche)

Öffnungszeiten
30. April bis 1. November 2015: Mittwoch bis Sonntag, 10.00–17.00 Uhr
Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten frei zugänglich.
Eintritt: Freiwillige Spende (Richtpreis EUR 3,–)

Führungen
Fixe Führung: Jeden 1. Sonntag im Monat, 11.00 Uhr (v. a. auch für Einzelpersonen)
Gruppen-Führungen: Gegen (rechtzeitige) Voranmeldung bei Pfarrerin Dr. Birgit
Lusche (Tel. 03882 / 2275)
Führung (zusätzlich): EUR 4,–. Die Führungen dauern ca. 1 ½ Stunden und beinhalten
eine Führung durch die Ausstellung mit Besichtigung der Kirche und einen kleinen
Rundgang über den Dorfplatz zum historischen evangelischen Friedhof.

Rundwanderweg Gemeindealpe
Im Gipfelbereich der Gemeindealpe führt in 1626 m Seehöhe ein bequemer und
leicht begehbarer Wanderweg rund um das Gipfelplateau der Gemeindealpe. Die
Gehzeit beträgt etwa 40 Minuten. Entlang des Weges laden gemütliche Holzbänke
zur Rast ein. Der Rundwanderweg beginnt beim Terzerhaus und führt zunächst in
Richtung Westen. Entlang des Weges sind sechs Stationen errichtet, bei denen man
anhand von Panoramafotos, Edelstahltafeln und verschiedenen Artefakten Einblick
in die Geschichte der zugewanderten geheimprotestantischen Holzknechte im 18.
Jahrhundert bekommt.

Amt und Gemeinde                                                               69
 Geschichte der Evangelischen im Ötschergebiet

Zur Eröffnung der Ausstellung
GLAUBENsREICH

im Rahmen der niederösterreichischen Landesausstellung

ÖTSCHER:REICH am 29. April 2015 in Mitterbach.

Evangelische Geschichte im Ötschergebiet – von Holz­knechten,

Geheim­protestanten und Reformern in einer von

15 Ausstellungs­stationen der NÖ-Landesausstellung.

                                 Von Paul Weiland | Birgit Lusche |
                                             Karl-Reinhart Trauner

70                                                   Amt und Gemeinde
Meine sehr verehrten Damen und Herren,       gab zum Beispiel das Angebot, sich ge-
                                             gen Geld von einem Teil seiner Strafen
Sie erleben in der Ausstellung „GLAU-        loskaufen zu können.
BENsREICH“ in Mitterbach ein Stück              Dagegen trat einer aus dem Kreis der
niederösterreichische Geschichte, die Sie    kirchlichen Männer auf, ein Mönch und
nur hier erleben können. Sie ist einzig-     Theologe, Martin Luther. Er sagte: Men-
artig, exklusiv. Schön, dass Sie gekom-      schen werden damit betrogen. Selig wird
men sind.                                    der Mensch allein aus Gnade, allein aus
   Es ist ein Teil der Geschichte dieses     Glauben, allein durch Jesus Christus. Und
Landes, die nicht selten verdrängt wird,     das bedingungslos. In der Bibel hat er
oft vergessen ist. Darum ist diese Aus-      diese Position gefunden. Und anhand der
stellung auch weit über den evangeli-        Bibel wollte er eine Reform der ganzen
schen Bereich hinaus wertvoll, weil die      westlichen Kirche.
Erinnerung an diese Geschichte mithilft,        Wir wissen aus der Geschichte, nur
die Herkunft besser zu verstehen und die     ein Teil der Kirche ist diesem Reformge-
Gegenwart besser einordnen zu können.        danken gefolgt, der andere nicht. Seither
Warum etwas ist, wie es ist, das ist nicht   gibt es die Römisch-katholische und die
immer auf den ersten Blick erkennbar.        Evangelische Kirche.
Und wenn es ganz optimal kommt, dann            Luthers Lehren jedenfalls verbreite-
helfen diese Rück- und Einblicke auch,       ten sich sehr rasch, auch in Österreich.
Lehren zu ziehen für das aktuelle Mitei-     Innerhalb weniger Jahre fanden die Re-
nander von Menschen heute.                   form-Vorschläge von Martin Luther durch
   Um das, was diese Ausstellung hier do-    Handwerker, Studenten und Adelige, die
kumentiert, richtig einordnen zu können,     eine Zeit lang in Deutschland lebten und
muss man auch die damaligen Gegeben-         wieder in ihre Heimat zurückkehrten, eine
heiten, Umstände und Voraussetzungen         rasche Verbreitung. Aber auch das aufblü-
kurz skizzieren, die Entwicklungen und       hende Gewerbe des Buchdrucks spielte
die Lebensumstände bedenken.                 eine große Rolle. Bibeln, Predigtbücher,
   Im großen Zusammenhang geht es um         die 95 Thesen, in denen Luther seine Re-
das Thema Mensch und Bewältigung des         formvorschläge zur Diskussion vorlegte,
Lebens. Versetzen sie sich kurz zurück in    Andachtsbücher und andere Schriften ka-
das 16. Jahrhundert. Das mittelalterliche    men nach Niederösterreich und mit ihnen
Weltbild hat die Menschen noch fest im       die Inhalte der Reformation. Ende des 16.
Griff. Auch Dämonen und Geister waren        Jahrhunderts waren 90 Prozent des Adels
reale Größen. Angst war ein oft bestim-      in NÖ und zwei Drittel der Bevölkerung
mender Faktor.                               Niederösterreichs Evangelisch. Nieder-
   Von dem allen loszukommen war eine        österreich war ein evangelisches Land.
Sehnsucht der Menschen. Die damalige            Zu den Anhängern der Reformation ge-
westliche Kirche hat das ausgenutzt. Es      hörte allerdings nicht der Landesherr. Für

Amt und Gemeinde                                                                    71
ihn war das Eindringen und die Durchset-      Kulturen leben, das konnte hier schon im
zung der reformatorischen Bewegung ein        18. Jahrhundert eingeübt werden. Aber
Problem, ja eine Anfechtung. Die gewalt-      auch so ist der Titel zu verstehen: Die
same Gegenreformation im Bewusstsein,         Holzknechte haben einen reichen, tiefen
dass der Herrscher eines Landes auch die      Glauben mitgebracht, der es ihnen ermög-
Religion der Bewohner vorgeben kann,          licht hat, ihrem Glauben ohne kirchliche
hatte im 17. Jahrhundert massive Folgen       Strukturen, ohne Unterstützung, je gegen
für die Evangelischen in Niederösterreich.    Gewalt und Verfolgung treu zu bleiben.
Zahlreiche sind ausgewandert. Fast alle          Eine Wende brachte der aufgeklärte
von ihnen nach Franken. Viele sind wie-       Kaiser Josef II. Er erließ im Jahr 1781 das
der katholisch geworden. Ganz wenige in       Toleranzpatent, das evangelisches Leben
NÖ haben ihren Glauben im Geheimen            unter bestimmten Voraussetzungen auch
gelebt. Das waren nicht mehr als ein paar     öffentlich duldete. Wo 500 Evangelische
Handvoll Menschen, vor allem im Gebiet        oder 100 evangelische Familien lebten,
um den Sonntagberg (Rosina Steinauer).        konnte ein Bethaus errichtet werden.
Ende des 17.Jahrhunderts gab es praktisch        Die ehemaligen Geheimprotestan-
keine Evangelischen in Niederösterreich.      ten wurden zum Fundament der neuen
   So war das Einwandern der geheim-          evangelischen Kirche in Niederösterreich.
protestantischen Holzknechte ab dem           1785 wurde die Evangelische Pfarrge-
Jahr 1747 in die Region um den Ötscher        meinde Mitterbach gegründet, und noch
gleichsam ein zweiter Beginn evange-          im Jahr 1785 das Bethaus errichtet und
lischen Lebens in Niederösterreich. Sie       eingeweiht, das den Grundbestand der
wurden von Adeligen und von Stiften we-       heutigen Kirche bildet, erweitert im Jahr
gen ihrer Kompetenz angeworben, um das        1849 um einen Turm. Und – typisch für
Holz in den damaligen Urwäldern dieser        evangelische Gemeinden – schon im Jahr
Region zu schlägern und auch durch das        1786 wurde die Schule errichtet. Weitere
unwegsame Gelände Richtung Wien oder          Schulen wurden von der Evangelischen
Richtung St. Pölten zu bringen. Dass sie      Gemeinde Mitterbach in Naßwald, Ul-
Geheimprotestanten waren, merkte man          reichsberg und Lahnsattel gegründet.
erst später.                                     Nach dem Toleranzpatent haben die
   Die Geschichte der Holzknechte, ihre       Menschen dieser Region hier gelernt, zu-
kulturelle Leistung, ihre Glaubenstiefe ist   nächst nebeneinander, aber dann auch
das Thema dieser Ausstellung. Die Aus-        miteinander zu leben. Für die Frage, wie
stellung hat den Titel GLAUBENsREICH          können Menschen angesichts einer sehr
und meint das in eine zweifache Richtung.     belastenden Geschichte lernen, wieder gut
Der Glaube der Region hier ist reicher und    und zukunftsorientiert miteinander um-
vielfältiger geworden. Das, was wir heute     zugehen – das ist eine in vielen Gebieten
in unserer Gesellschaft mit verschiedenen     unserer Welt aktuelle Frage – kann die Ge-
Religionen und sehr unterschiedlichen         schichte in dieser Region Beispiel und Le-

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benshilfe sein. Symbolisch hat die Markt-    Geheimprotestantismus“, „Toleranzzeit“
gemeinde Annaberg diese Geschichte in        und „Kirche heute“ versucht. Sie zeigt im
ihrer Festtracht zum Ausdruck gebracht.      Erdgeschoss einen Schulraum, in dem die
Während für die Farben die Kleidung der      Geschichte der Evangelischen Schulen in
in der Wallfahrtskirche abgebildeten Hei-    Mitterbach und Ulreichsberg gezeigt wird.
ligen Anna Grundlage war, wurde für den      Exemplarisch wird das Thema „Evange-
Schnitt des Rockes in Erinnerung an die      lische Kirche und Bildung“ an der Loos-
Einwanderung der evangelischen Holz-         dorfer Schulordnung dargestellt. In einem
knechte der sogenannte „Salzkammer-          Film ist die Geschichte der Pfarrgemeinde
gutrock“ gewählt.                            Mitterbach zu sehen und zu hören.
   Ein zweiter sehr aktueller Bezug ist         In den Räumen im 1. Stock der Alten
die Frage von Glaube und Öffentlichkeit.     Schule sind im Zentrum des 1. Raumes
Das Toleranzpatent ermöglichte eine ge-      eine alte Lutherbibel aus dem Besitz ei-
wisse Sichtbarkeit. Bethäuser durften        ner Holzknechtfamilie und eine Axt. Die
gebaut werden, aber sehr restriktiv, ohne    Bibel ist zugleich Hinweis, dass Evange-
Turm, ohne runde Fenster, ohne Eingang       lische Kirche nicht mit dem 16. Jahrhun-
von der Hauptstraße. Die gegenwärtige        dert beginnt, sondern so alt ist wie die
Diskussion dazu ist zum Beispiel bei         Bibel. Sie ist das Zentrum evangelischen
der Frage des Baus von Moscheen: mit         Glaubens.
oder ohne Minarett? Oder grundsätzlich          In diesem Raum gibt es auch eine Hör-
stellt sich heute oft die Frage: wie weit    station, bei der Lieder der Holzknechte
kann und darf Glaube sichtbar sein und       zu hören sind, die sie aus ihrer ehema-
werden in der Öffentlichkeit? Die Dis-       ligen Heimat mitgebracht haben und in
kussion um in Schulen oder Kindergär-        der neuen Heimat weiter tradiert haben.
ten angebrachte Kreuze ist ein Beispiel         Der Anstellung, der Arbeit und dem
dafür, die sich häufenden Beschwerden        Glaubensleben der Holzknechte ist ein
und Anzeigen wegen des Glockenläutens        weiterer Raum gewidmet. Dazu gibt es
ein anderes.                                 auch Darstellungen des Ötschergebie-
   Die Ausstellung will mithelfen, diesen    tes und des Siedlungsgebietes der Holz-
Teil der oft vergessenen Geschichte Nie-     knechte, aber auch Rezepte von Holz-
derösterreichs in Erinnerung zu rufen. Sie   knechtspeisen.
will einen Beitrag zum besseren Verstehen       Der Geheimprotestantismus wird in
der Vergangenheit leisten, um damit in       einem dunklen Raum dargestellt mit Be-
eine tragfähige Zukunft gehen zu können.     schreibungen von Geheimgottesdiensten,
   Die Ausstellung kann aufgrund der         Bibelverstecken, der Ausstellung von lu-
Fülle des Materials und des zur Verfügung    therischen Büchern, die in der Gegenre-
stehenden Raumes nur exemplarisch sein.      formation verbrannt hätten werden sollen,
Das wurde anhand der Schwerpunktthe-         aber gerettet werden konnten. In einer
men „Evangelisch-Sein“, „Holzknechte“,       Hörstation sind u. a. Tipps zu hören, wie

Amt und Gemeinde                                                                   73
sich Geheimprotestanten im Umgang mit          Heute leben in Niederösterreich in 28
römisch-katholischen Autoritäten und An-    evangelischen Pfarrgemeinden, die flä-
liegen verhalten sollten.                   chenmäßig das gesamte Bundesland ab-
   Martin Luther und die Grundsätze der     decken und bei Mitterbach auch in die
Reformation, das Toleranzpatent, aber       Steiermark reichen, rund 42.000 Evan-
auch die Struktur der Evangelischen Kir-    gelische. Die knapp 500 Holzknechte im
che und die Evangelische Kirche in Nie-     18. Jahrhundert waren der neue Beginn
derösterreich heute sind weitere Themen     evangelischen Lebens in Niederösterreich
der Ausstellung.                            nach der Gegenreformation.            ■

                                                                        Paul Weiland

Geistliche Einstimmung:                     GLAUBENsREICH
GLAUBENsREICH                               Es ist bereits über 200 Jahre her, dass
                                            Martin Luther lebte und mit seinen The-
                                            sen das Denken für immer veränderte:
GLAUBENsREICH                                  Die Möglichkeit, die Bibel in der eige-
Das waren die Vorfahren der Evange-         nen Sprache zu lesen und zu hören, das
lischen Pfarrgemeinde Mitterbach. Sie       Wissen, dass jeder Mensch unabhängig
sind Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem     von seiner Leistung und Herkunft gleich
Dachsteingebiet hierher gewandert mit       viel wert ist, weil Gott ihn gerecht spricht
Sack und Pack.                              allein durch den Glauben und die Zuver-
   Das Holz und der gesicherte Arbeits-     sicht, dass wir einen liebenden Gott ha-
platz als Holzknechte des Stiftes Lilien-   ben, der uns durch das Leben begleitet
feld hatten sie zur Wanderung bewogen.      – das wussten und daran glaubten auch
Doch die Holzknechte hatten noch einen      diese Holzknechte. Und so lebte sie als
anderen bedeutsamen Grund für ihren         sogenannte Geheimprotestanten in den
Zusammenhalt: Es war ihr evangelischer      Wäldern des Ötscher.
Glaube, an dem sie im Geheimen fest-
hielten.

74                                                                  Amt und Gemeinde
GLAUBENsREICH                                Bethaus Ulreichsberg, sowie in den Rö-
Ihrem Zusammenhalten, ihrem starken          misch-katholischen Kirchen in Lackenhof
Glauben – gewonnen aus dem Wort Got-         und Hinterwildalpen.
tes, ihrem Mut und ihrer Standfestigkeit        Die Gemeinde ist heute verwurzelt im
– ist es zu verdanken, dass – sobald es im   festen Glauben, nährt sich von der Tradi-
Jahr 1781 geduldet wurde, evangelisch        tion und der Leistung unserer Vorfahren.
zu sein – hier nun offiziell eine evange-    Zusammenhalt und Standfestigkeit zeich-
lische Gemeinde entstand. Der lang er-       nen die Nachkommen der Holzknechte
sehnte Wunsch ging bald in Erfüllung:Am      nach wir vor aus. So sind wir als evange-
Christtag im Jahr 1785 wurde die Ein-        lische Gemeinde im Mariazeller Land be-
weihung dieses – damals noch Bethau-         müht, auf Gottes Wort immer wieder neu
ses – gefeiert.                              zu hören, an die Grundlagen der Bibel zu
                                             erinnern und treu dem reformatorischen
GLAUBENsREICH                                Bekenntnis in der Tradition der Kirche
Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die evan-      Jesu Christi zu leben und vor allem ei-
gelische Gemeinde, eine evangelische         nes zu sein:
Schule wurde gebaut, ein eigener Friedhof
entstand. Im Jahr 1849 wurde der Traum       GLAUBENsREICH
von einem Turm und Glocken wahr. Eine        Oder um es mit den Worte Martin Luthers
besondere Orgel stimmte bald in den Lob-     auszudrücken:
gesang der Gemeinde mit ein.
   Unsere Pfarrgemeinde ist die älteste      „Denn wir sind es nicht, die die Kirche
Gemeinde in Niederösterreich und eine        erhalten,
rein lutherische Gemeinde nach dem              unser Vorfahren sind es auch nicht ge-
Augsburger Bekenntnis. Sie ist somit eine    wesen,
Toleranzgemeinde.                               unsere Nachkommen werden´s auch
   Rund 750 Gemeindemitglieder zählt         nicht sein,
sie. Sie gehört zur Diözese Niederöster-        sondern der ist es gewesen, ist´s noch,
reich – obwohl auch ein großer Teil der      wird´s sein,
Gemeindemitglieder in der Steiermark            der spricht: Ich bin bei euch bis zum
wohnt.                                       Weltende.“
   In Mitterbach ist rund ein Drittel der
Bevölkerung evangelisch. Das relativ         In diesem Sinne darf ich Sie alle heute
große Gemeindegebiet geht vom Anna-          Abend recht herzlich hier in unserer Tole-
berg bis zum Seeberg, von Ulreichsberg       ranzkirche begrüßen. Schön, dass Sie sich
bis nach Lackenhof sowie nach Hinter-        auf den Weg gemacht haben. Ich wünsche
wildalpen. Unsere Hauptkirche steht in       Ihnen heute einen gesegneten Eröffnungs-
Mitterbach, ebenso feiern wir Gottes-        abend und eine erfüllten Besuch bei un-
dienst in unserer Kirche in Reith und im     serer Ausstellung:

Amt und Gemeinde                                                                    75
GLAUBENsREICH                                     Dafür gilt es vor allem Gott zu danken
Evangelisch im Ötschergebiet.                   und ich bitte sie zu einem Dank- und Se-
Holzknechte – Geheimprotestanten –              gensgebet aufzustehen:
Reformer.
                                                Gebet:
Dankeswort:
                                                Gnädiger Gott, wir danken dir, dass wir
Liebe Schwestern und Brüder,                      heute dieses schönen Eröffnungsabend
                                                  miteinander feiern können.
es ist reizvoll und bedarf Interesse sich eh-   Wir danken dir für die Frauen und Män-
renamtlich zu engagieren. Dieser Dienst           ner, die so selbstverständlich und un-
soll Anerkennung finden. Ein jeder der            eigennützig sich hier engagieren und
ehrenamtlich dient, soll dafür Gewinn an          somit ihren Dienst an der Kirche und
Wissen, an Fähigkeiten und an persönli-           an dir tun.
cher Erfüllung erhalten. Hier für diese         Wir danken dir dafür dass sie so viel ge-
Ausstellung ist dies in eindrucksvoller           leistet haben, durch ihre Tatkraft und
Weise geschehen. Seit zwei Jahren wird            Begeisterung und immer wieder neue
von vielen hier gesammelt, geforscht, in-         Ideen die Arbeit vorangebracht haben.
terviewt, gefilmt, organisiert und disku-       Dankbar sind wir heute auch für die Be-
tiert – sich ausgetauscht und informiert.         gegnungen und Gespräche, für die Re-
    Ohne diesen Einsatz gäbe es heute             den und Grußworte, die uns bestärken
diesen Eröffnungsabend und diese                  in unserem Engagement.
Ötscher:Reich Station nicht mit dieser          Gnädiger Gott, du bist unser Schöpfer,
Ausstellung, mit den geführten Wande-             du hast uns beschenkt mit Kräften und
rungen, mit dem Rundwanderweg auf der             Talenten, du hast uns Augen gegeben
Gemeindealpen und den Buchpublikati-              für unsere Mitmenschen.
onen. Dafür gilt es DANKE zu sagen.             Gib uns deinen Segen für die Menschen
    Besonders danken möchte ich vor al-           die hier ein und ausgehen werden,
lem einer Person, die von Anfang an diese         segne die Begegnungen und Gesprä-
Idee mitgetragen hat und viele andere             che, segne diese Ötscher:Reich Station:
motiviert hat und zum Gelingen der Aus-         GLAUBENsREICH
stellung besonders beitragen hat: unserer
Presbyterin Gertraud Susanna Resch.             Das gewähre uns der dreieinige Gott,
    Mögen wir alle die nächsten Monate          der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
weiterhin so zusammenhalten und arbei-
ten, so dass diese Ötscher:Reich Station        Amen.                                  ■
Mitterbach für die Besucher und für uns
zu einem besonderen und nachhaltigem                                      Birgit Lusche
Erlebnis wird.

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Toleranz                                      solutismus, die Ideen der Aufklärung wa-
                                              ren beiden wichtig.
I.                                                Zum Ausdruck kommt diese Grundhal-
Der Herrscher bestimmt,                       tung in Friedrichs Politischem Testament
was die Untertanen zu                         aus dem Jahr 1752 (überarbeitet 1768), in
glauben haben. Das ist –                      dem er die Prinzipien seiner Herrschaft
vielleicht etwas drastisch ausgedrückt –      darlegt. Er erklärt darin, dass ein Staats-
die Religionspolitik der absoluten Herr-      system – und das ist noch ganz absolu-
scher. Es geht dabei nicht unbedingt um       tistisch gedacht – „nur aus einem Kopfe
Wahrheit, sondern um den Herrschaftsan-       entspringen (kann); also muß es aus dem
spruch: Im Zeitalter des Absolutismus ge-     des Herrschers hervorgehen.“ Knapp da-
hen die Herrscher davon aus, dass sie alles   nach findet sich aber auch die berühmte
beherrschen, einschließlich des Glaubens      Formel, dass „der Herrscher … der erste
und Denkens. Nur so ist es erklärlich, dass   Diener des Staates“ sein muss. „Man for-
Kaiserin Maria Theresia einerseits am         dert … von ihm, daß er werktätig für das
Gebiet des heutigen Österreichs Protes-       Wohl des Staates arbeite …“ Das ist das
tanten wegen ihres Glaubens hart verfolgt     aufgeklärte Moment seines Denkens.
und aus dem Land jagt, andererseits in            Der Herrscher ist der erste Diener.
Galizien ebenfalls Protestanten religiöse     Aber Diener des Staates sind alle, vom
Freiheiten gewährt. Alles hängt von der       einfachen Bürger bis zur einflussreichen
Entscheidung des Herrschers ab.               Organisation, die eine Schlüsselposition
    Maria Theresias Sohn Joseph II., seit     für das Funktionieren eines Staates ein-
1765 Kaiser des Heiligen Römischen            nimmt.
Reiches und seit dem Tod seiner Mutter            Damit kommt die Kirche ins Blickfeld.
1780 auch Herrscher in den habsburgi-         Maria Theresia vertrat ein ganzheitliches
schen Kernländern, sieht das schon ein        Weltbild ohne Brüche zwischen Staat und
wenig anders. Für ihn ist der preußische      Kirche, für Joseph II. wird auch die Kir-
König Friedrich II. ein gewisses Vorbild.     che zum Diener des Staates. Wenn man
Die Beziehung zwischen Joseph II. und         so will, könnte man sagen, dass der Jo-
dem fast 30 Jahre älteren Preußenkönig        sephinismus darauf abzielt, die Religi-
ist eigenartig. Politisch waren sie Kontra-   onsgemeinschaften – und auch die junge
henten im Ringen um die Vorherrschaft         Evangelische Kirche – wenn schon nicht
im Deutschen Reich; wobei Friedrich er-       zu Instrumenten der Politik, so doch zu
folgreicher war, hatte er doch von den        Trägern (und Dienern) des Staates zu ma-
Habsburgern das schöne und reiche Schle-      chen.
sien erobert. In weltanschaulichen Dingen         Aufgeklärt ist auch die persönliche reli-
kann man jedoch zwischen Joseph und           giöse Überzeugung. Joseph wird auch hier
Friedrich viele Parallelen finden. Beide      in manchem Friedrich ähnlich sein, der in
waren Vertreter des sog. aufgeklärten Ab-     seinem Politischen Testament ausführt:

Amt und Gemeinde                                                                        77
„… Für die Politik ist es völlig belanglos,       Nach der absolutistischem Form des
ob ein Herrscher religiös ist oder nicht.      Patents wird es jedoch sehr aufgeklärt:
… man muß (nur) auf die große Masse            „Uiberzeugt eines Theils von der Schäd-
soweit Rücksicht nehmen, daß man ihre          lichkeit alles Gewissenzwanges, und an-
religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei,   derer Seits von dem grossen Nutzen, der
welchem Glauben sie angehören  …“ –            für die Religion, und dem Staat, aus einer
Das ist Aufklärung in Reinkultur!              wahren christlichen Tolleranz entspringet,
                                               haben Wir Uns bewogen gefunden“, die
                                               Evangelische und Orthodoxe Kirche zu
II.                                            erlauben. Es geht also („Schädlichkeit
Ein Ausdruck absolutistischen Herrschens       alles Gewissenszwanges“) um die Forde-
ist es jedoch, dass Joseph II. ein Tole-       rung der Aufklärung nach „Ausgang des
ranzpatent erlässt. Wie seine Mutter Ma-       Menschen aus seiner … Unmündigkeit“,
ria Theresia verbietet – oder toleriert er     wie es Immanuel Kant ungefähr gleich-
aber andere Meinungen: „Wir Joseph der         zeitig (1784) ausgedrückt hat.
Zweyte, von Gottes Gnaden erwählter               Aber es geht durchaus auch um Prak-
Römischer Kaiser zu allen Zeiten Mehrer        tisch-Handfestes, wenn Joseph als erster
des Reiches, … Unsere k. k. landesfürst-       Diener des Staates den „grossen Nutzen“
liche Gnade, und geben euch gnädigst           der Toleranz anspricht. Man muss dabei
zu vernehmen.“ Das Toleranzpatent ist          wissen: Die Vertreibungen der Protestan-
ein einseitiger Rechtsakt; der Joseph üb-      ten v. a. aus Tirol unter Maria Theresia
rigens sehr unter den Nägeln gebrannt          haben diese Länder fast an den wirtschaft-
haben muss, denn er erfolgt unmittelbar        lichen Ruin gebracht, weil plötzlich die
nachdem er die Alleinherrschaft in den         Facharbeiter gefehlt haben.
habsburgischen Ländern erhält.                    Die Evangelischen haben zu Recht das
   Er betrifft die Evangelischen Augsbur-      Toleranzpatent als Befreiung nach rund
gischen (d. h. lutherischen) und Helveti-      250-jähriger Unterdrückung gefeiert, aus
schen (d. h. reformierten) Bekenntnisses       heutiger Sicht tun sich doch auch viele
– er führt dabei gleich die bis heute übli-    Fragen auf. Das Wort „Toleranz“ kommt
chen Bezeichnungen ein – sowie die Grie-       vom lateinischen tolero „ertragen, aus-
chisch-Orthodoxen (andere hat es damals        halten, erdulden …, es aushalten“. Die
in Österreich nicht gegeben). Wenig spä-       Bestimmungen des österreichischen To-
ter (1782) werden mit einem ganz ähnli-        leranzpatents 1781 machen dies deutlich,
chen Patent die Juden (zumindest in Wien       die Katholische Kirche bleibt weiterhin
und Niederösterreich) ebenfalls toleriert.     die bestimmende. Die anderen waren die
In Folge des Toleranzpatents begründe-         Nicht-Katholiken, die Akatholischen; die
ten sich fast 50 Pfarrgemeinden, die sog.      Evangelischen werden wenigsten als „Re-
Toleranzgemeinden, auf dem Gebiet des          ligionsverwandte“ definiert.
heutigen Österreichs.

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Den Evangelischen und Orthodoxen           Wahrheit vertreten kann. Gerade diese
wird keine öffentliche Religionsausübung      Erkenntnis macht Toleranz erst möglich,
zuerkannt, nur ein „Privat-Exercitium“        verpflichtet aber zum Überprüfen der ei-
allenthalben gestattet. „Der katholischen     genen wie auch der anderer Position; das
Religion allein soll der Vorzug des öffent-   erinnert an den evangelischen Grundsatz,
lichen Religions-Exercitii verbleiben …“.     dass die Kirche sich laufend erneuern
Erinnert sei an das Politische Testament      muss („ecclesia semper reformanda“).
Friedrichs II.: „… man muß auf die große         Der Staat Josephs war aber – anders
Masse … Rücksicht nehmen“.                    als heute – nicht säkular und auch nicht
   Dementsprechend hatten die tolerier-       religionsneutral. Es gab auch keineswegs
ten, erduldeten Konfessionen auch nicht       das, was heute als Trennung von Staat
das Recht auf einen regelrechten Kir-         und Kirche bzw. Politik und Religion ein
chenbau: „In Ansehung des Betthauses          Grundprinzip des modernen Staates ist.
befehlen Wir ausdrücklich, daß, wo es            Die Toleranzgesetzgebung basierte auf
nicht schon anders ist, solches kein Ge-      einem obrigkeitlichen Akt und nicht auf
läut, keine Glocken, Thürme, und keinen       einem Konsens einer zivilreligiösen Ge-
öffentlichen Eingang von der Gasse, so        sellschaft, wo wir Toleranz heute veran-
eine Kirche vorstelle, haben …“               kern. Der Schlüsselfaktor für die Toleranz
   Das Toleranzpatent verwendet also den      Josephs war der Herrscherwille, heute
Begriff „Toleranz“ in einem sehr engen        können Überzeugungen nicht staatlich
Verständnis, von Gleichberechtigung ist       vorgeschrieben werden. Der Schlüssel-
das Toleranzpatent weit entfernt.             faktor der Toleranz heute kann nur ein
                                              gesellschaftlicher Konsens sein, der ide-
                                              altypisch seinen sichtbaren Ausdruck im
III.                                          staatlichen Recht, v. a. dem Grundrecht,
Zusammenfassend und aus heutiger, mo-         findet.
derner Perspektive kann bemerkt werden:          Nota bene: Wenn wir heute von Tole-
   Joseph II. machte mit seiner Toleranz-     ranz reden, dann meinen wir nicht eigent-
gesetzgebung Österreich endgültig und         lich das Erleiden des anderen, sondern
offiziell zu einem multikonfessionellen       üblicherweise eigentlich die Akzeptanz.
und pluralen Staat. Er erkannte, dass der     „Accipere“ heißt annehmen, mittragen,
Herrscher oder der Staat den Glauben          solidarisieren, das Anliegen des anderen
(oder auch andere Überzeugungen) der          – zumindest teilweise – zu meinem eige-
Menschen, selbst wenn sie Untertanen          nen Anliegen machen.
sind, bestimmen darf und kann.                   Schwierige Fragen stehen hinter sol-
   Die Aufklärung hat den Menschen            chen Überlegungen. Toleranz ist über-
beigebracht, dass der „Wahrheit“ immer        haupt damit die Basis politisch-gesell-
etwas Subjektives anhaftet und niemand        schaftlichen Lebens. Ohne sie ist moderne
einen Absolutheitsanspruch mit seiner         Gesellschaft nicht mehr denkbar, ohne

Amt und Gemeinde                                                                     79
Erdulden und Geltenlassen des Anderen.        Der damalige Unterrichtsminister Hein-
Toleranz kann aber nicht gegenüber allen      rich Drimmel hat anlässlich des Protestan-
anderen Positionen geübt werden. Notfalls     tengesetzes 1961 von der „freien Kirche
kann auch die Pflicht bestehen, Wider-        im freien Staat“ gesprochen.
stand zu leisten. Was ist das Maß, was           Dass das Protestantengesetz 1961, die
sind die Kriterien, das eine Mal tolerant     heutige staatskirchenrechtliche Grundlage
zu sein, das andere Mal gerade nicht? Es      der Evangelischen Kirche, als Gesetz der
gibt eine Grenze der Toleranz, nämlich        Republik ebenfalls ein zwar demokratisch
dann, wenn Menschen geknechtet, kör-          legitimierter, dennoch obrigkeitlicher Akt
perlich und seelisch verletzt, Gottes gute    war, mag zwar ein Schönheitsfehler sein,
Schöpfung zerstört, Liebe und Gerech-         die Evangelischen sind, soweit ich das
tigkeit verraten werden. Toleranz kann        weiß, mit dem Gesetz aber durchaus sehr
dazu verpflichten, intolerant zu werden.      zufrieden.
   Dass Joseph keine Trennung von Kir-           Die gesellschaftliche und auch – wenn
che und Staat vornahm und keine Äqui-         man so will – staatstragende Rolle der
distanz zu den Konfessionen bzw. Re-          Religionsgemeinschaften erfolgt heute in
ligionen vertrat, liegt nicht nur daran,      freier Zusammenarbeit mit dem Staat, der
dass dafür die Zeit noch nicht reif war,      den Mehrwert der Arbeit der Religions-
sondern auch am „grossen Nutzen“ der          gemeinschaften für das gesellschaftliche
Toleranz für den Staat. Die Katholische       Leben anerkennt. Zu denken ist hier v. a.
Kirche war zu Josephs Zeit und ist auch       an den Religionsunterricht. Der Staat er-
heute mit ihren 73,6 % an der Wohnbe-         hält den Religionsunterricht, weil er um
völkerung (Stand 2001; bei der Regis-         den Beitrag der Religionsgemeinschaf-
terzählung 2011 war die Erhebung von          ten in der Schule weiß, die immerhin die
Religion und Umgangssprache nicht zu-         Aufgabe hat, „an der Entwicklung der
lässig) noch immer ein hochbedeutender        Anlagen der Jugend nach den sittlichen,
gesellschaftlicher Faktor, überdies (nach     religiösen und sozialen Werten sowie nach
dem Staat selbst) der zweifellos größte       den Werten des Wahren, Guten und Schö-
Kulturträger Österreichs. Aber auch die       nen … mitzuwirken“ (SchOG, § 2, lit. 1).
Evangelische Kirche ist trotz ihrer statis-      Eine vollständige Trennung von Staat
tischen Kleinheit ein nicht zu unterschät-    und Kirche, gesellschaftlichem Leben und
zendes gesellschaftliches und kulturelles     Religion ist schon deshalb nicht möglich,
Element.                                      weil sich in der einzelnen Person diese
   Stand für Joseph II. das Dienen als        beiden Bereiche verschränken. Wert- und
Untertanen des Staates im Vordergrund,        religiöse Haltungen prägen das Handeln
so sind heute weder die Religionsgemein-      des Menschen in der Gesellschaft. ■
schaften Diener des Staates noch der Staat
der Diener der Religionsgemeinschaften.                       Karl-Reinhart Trauner

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 Soziale Sicherung in Österreich

Landessonderausstellung im Haus
Bethanien des Diakoniewerkes

Das ehemalige Diakonissenmutterhaus Bethanien des Diakonie-

werkes ist bis zum 1. November 2015 Austragungsort der ober-

österreichischen Landessonderausstellung „Hilfe. LebensRisken

LebensChancen“, die Soziales in den Mittelpunkt rückt. Das

Haus Bethanien ist für eine Ausstellung mit diesem Schwerpunkt

ein idealer Ort, weil von diesem richtungsweisende Impulse für

die Entwicklung im Sozial- und Gesundheitsbereich, insbeson-

dere für die Professionalisierung der Pflegearbeit ausgegangen

sind. Das für die Geschichte des Diakoniewerkes so bedeu-

tungsvolle Haus konnte auf diese Weise generalsaniert und für

eine zeitgemäße Nachnutzung adaptiert werden.

                                             Von Christa Schrauf

Amt und Gemeinde                                                 81
Die Ausstellung zeigt auf zwei Stock-
                                              werken, auf circa 1000 m², die Ge-
                                              schichte der sozialen Sicherung in Ös-
                                               terreich, wobei auf der Entwicklung in
                                               Oberösterreich und damit auch dem
                                                Beitrag des Diakoniewerkes ein be-
                                                 sonderes Augenmerk liegt.
                                                     Es wird die Geschichte des öster­
                                                  reichischen Sozialsystems skiz-
                                                   ziert. Erste soziale Maßnahmen hat
                                                   Josef  II. im 18. Jahrhundert mit ei-
                                                    nem Findelhaus in Wien gesetzt.
                                                    Bis zum 1. Weltkrieg waren Men-
                                                     schen in sozialen Notlagen auf pri-
                                                      vate und kommunale Fürsorge und
                                                      Wohltätigkeit angewiesen. Kon-
                                            fessionelle Vereine, wie das Diakonie-
                                            werk ab dem Jahr 1874, tragen in dieser
                                            vorsozialstaatlichen Zeit wesentlich zur
Die Ausstellung                             Behebung von sozialen Nöten bei.
                                               Das Arbeiter-Unfallversicherungsge-
Die wissenschaftliche Verantwortung für     setz von 1889 sollte als erste staatliche
das inhaltliche Konzept hatten die Sozio-   Maßnahme das Risiko der Erwerbsunfä-
login und Historikerin Brigitte Kepplin-    higkeit abfedern.
ger und die Soziologin und emeritierte         1920 in der Zwischenkriegszeit folgte
Universitätsprofessorin Irene Dyk-Ploss,    das Gesetz über die Arbeitslosenversi-
beide vom Institut für Gesellschafts- und   cherung (ALVG). Während der Zeit des
Sozialpolitik der Johannes Kepler Univer-   Ständestaates, der mit einer hohen Ar-
sität Linz, die jeweils umfassende For-     beitslosigkeit konfrontiert war, werden
schungs- und Publikationstätigkeiten im     Sozialleistungen reduziert.
Bereich der Sozialwissenschaften vorwei-       Der Nationalsozialismus mit seinem
sen können. Die Ausstellungsgestaltung      rassistischen wohlfahrtsstaatlichen Sys-
wurde federführend von Gerhard Abel         tem macht Unterstützungsleistungen von
von PLANET architects abgewickelt. Von      einem erbgesundheitlichen Zeugnis ab-
Seiten des Landes Oberösterreich hatte      hängig und unterstützt nur diejenigen,
Reinhold Kräter, der neue Kulturdirektor    die in das ideologische Konzept passen,
des Landes Oberösterreich, die Gesamt-      womit einer großen Anzahl von Personen
projektleitung inne.                        die Berechtigung zum Erhalt von Sozial-
                                            leistungen verlorengeht.

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1955 wird in der zweiten Republik der       lung zu vermitteln, unter anderem indem
bis heute bedeutungsvollste wohlfahrts-        sie für die Besucherinnen und Besucher
staatliche Meilenstein in der Geschichte       zahlreiche interaktive Beteiligungsmög-
Österreichs mit dem Allgemeinen Sozi-          lichkeiten bereit hält oder diese einlädt,
alversicherungs-gesetz (ASVG) gelegt,          sich auf imaginäre Weise in die Situation
womit Kranken-, Unfall- und Pensions-          von Menschen zu versetzen, die von Ar-
versicherung geregelt wurden.                  mut, Behinderung oder Arbeitslosigkeit
   Die Ausstellung widmet sich auch der        betroffen werden, um dann zu erleben,
ehrenamtlichen und freiwilligen Arbeit,        welche Sicherungsmechanismen dann
die maßgeblich zur gesellschaftlichen          aktiv werden.
Kohäsion beiträgt. Sie beschäftigt sich           Die Ausstellung zeigt, wie wichtig Soli-
mit den gegenwärtigen Fragestellungen          darität als Grundlage für gesellschaftliche
einer Gesellschaft des langen Lebens und       Verantwortung ist, aber auch welche Be-
thematisiert deren zukünftige Herausfor-       deutung individuelle Verantwortung hat.
derungen.
   Der Ausstellungsgestaltung wurde in
der Umsetzung viel Kreativität abverlangt,     Der Inklusionsanspruch
da wenige klassische Ausstellungsobjekte
zur Verfügung standen und ein Gesetzes-        Das Team der Landessonderausstellung
werk wie das der Allgemeinen Sozial-           hat sich für die Landessonderausstellung
versicherung beispielsweise anschaulich        um inklusive Bedingungen bemüht, um
umgesetzt werden wollte.                       Barrierefreiheit in einem umfassenden
   Das ASVG wird als Schiff plastisch ins      Sinn. Erstmals sind bei einer oberöster-
Bild gesetzt, das bei seiner Fahrt durch das   reichischen Landesausstellung die Inhalte
Meer der Lebensrisiken abhängig ist vom        zusätzlich durchgängig auch in „Leichter
Treibstoff Erwerbstätigkeit und den Steu-      Sprache“ zu lesen. Eine Premiere stellt
ern, die über diesen Weg lukriert werden       auch der Ausstellungskatalog in „Leich-
können, zur Absicherung bei Verlust der        ter Sprache“ dar, der die Beiträge in einer
Arbeitsfähigkeit oder des Arbeitsplatzes.      leicht verständlichen Sprache und über-
Je höher die Beschäftigungsquote, umso         sichtlichen Form zusammenfasst. Es wer-
mehr Beiträge zur Sozialversicherung           den Audioführungen in Gebärdenspra-
sind möglich, die Lebensrisiken mini-          che und Informationen in Brailleschrift
mieren und Lebenschancen optimieren            angeboten.
helfen. Aber dieses erste soziale Netz ist        Ein Museumsshop, der mit Produkten
nicht ausreichend. Es bedarf eines zwei-       aus den Werkstätten bestückt ist, macht
ten Netzes für diejenigen, welchen der         den gesellschaftlichen Beitrag, den Men-
Zugang zum ersten Netz verwehrt bleibt,        schen mit Behinderung leisten können,
weil sie nicht erwerbstätig sein können.       sichtbar. Die Bücherinsel des Diakonie-
Auch dieses Netz versucht die Ausstel-         werkes ist auch Teil des Museumsshops.

Amt und Gemeinde                                                                       83
Ein vielfältiges                               gelischen Schwesternschaft, die sich als
Veranstaltungsangebot                          Glaubens-, Wohn- und Dienstgemein-
                                               schaft verstand, war ein neues Mutterhaus
Diakoniewerk und Politische Gemeinde           erforderlich geworden. Das alte und erste
Gallneukirchen haben als Partner der Lan-      Mutterhaus im Pfarrhaus und früheren
dessonderausstellung ein breites und um-       Starhemberg‘schen Pflegschaftsgerichts-
fangreiches Veranstaltungsprogramm kon-        gebäude war wegen der stetig zunehmen-
zipiert, das die Ausstellung in diesen sechs   den Zahl der Diakonissen zu klein gewor-
Monaten begleitet. Das Diakoniewerk gibt       den, daher entschloss sich der Vorstand
mit der Reihe „… trotzdem Mensch blei-         des Vereines der Inneren Mission, aus
ben“ die Möglichkeit der Auseinander-          dem das Diakoniewerk hervorgegangen
setzung mit sozial- und gesellschaftspo-       ist, zum Bau eines neuen Mutterhauses.
litischen Themen, wie der Demographie,         1909, als bereits 95 Schwestern im akti-
der Generationensolidarität oder Sozi-         ven Dienst standen, wurde das neue Mut-
alraumorientierung aber auch ethischen         terhaus seiner Bestimmung übergeben,
Fragestellungen. Die Veranstaltungsreihe       welches im Stil des Späthistorismus mit
„Wort Musik Leben“ ist ein weiteres An-        Jugendstilelementen an der Fassade er-
gebot des Diakoniewerkes, zu diesem            richtet worden ist.
kommen noch die KreativInklusiv-Tage               Das Raumkonzept des Hauses sah
für Kinder und Jugendliche und weitere         von Anfang an einen Funktionsmix vor.
dazu, auch die Programmpunkte, die von         Es war hauptsächlich der Wohnort und
unterschiedlichen Vereinen und Initiati-       das geistliche Zentrum der Diakonissen,
ven der politischen Gemeinde und auch          aber auch Ausbildungsstätte für den Nach-
der evangelischen Pfarrgemeinde und der        wuchs. Es fungierte als „Damenheim“, wo
katholischen Pfarre angeboten werden.          Wohnen mit Pflege verbunden war und be-
                                               herbergte die Küche, die der Versorgung
                                               aller im Diakoniewerk Arbeitenden und
Das historische Diakonissen-                   zu Betreuenden diente. Auch ein Schrif-
mutterhaus Bethanien                           tenverkauf war im Haus untergebracht.
                                                   Die Diakonissen haben ein Jahrhundert
Das ehemalige Diakonissenmutterhaus            lang von Gallneukirchen ausgehend in die
Bethanien – es war von 1909 bis 2010           österreichischen Bundesländer und zur
in Betrieb – ist der Austragungsort der        Zeit der Monarchie in deren Kronländer
Ausstellung. Die Diakonissen haben in          hineingewirkt und waren europaweit mit
der Tradition der Nächstenliebe Jesu sich      den Häusern ihrer Provenienz vernetzt.
für Menschen in notvollen Lebenslagen          Sie haben einen unverzichtbaren Beitrag
engagiert und darin ihre Berufung und          in der Entstehung des Gesundheitswesens
Lebensaufgabe gesehen. Mehr als drei           und der Entwicklung der sozialen Arbeit
Jahrzehnte nach der Gründung der evan-         geleistet. Sie haben mit ihrem vielfälti-

84                                                                   Amt und Gemeinde
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