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ANTHROPOS
                                                                                                                  106.2011: 115 – 133

         Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas
                                                      Ein Literaturbericht
                                                    Cristian Alvarado Leyton

Abstract. – People of Latin America are gaining ever more at-                batten aus einer kritischen Perspektive heraus dis-
tention in the US due to their rising visibility. Two recently pub-          kutiert, wobei sie häufig zu innovativen, aber immer
lished comprehensive works of critical anthropologists on Latin              provokativen Antworten kommen.1
America both reflect this occurring change and provide impor-
tant insights into contemporary social processes. By focusing on                Das relativ zeitgleiche Erscheinen zweier um-
four central issues – politics of identity and essentialism, groups          fassender Diskussionen neueren ethnologischen
in between whiteness and difference, violence, the experiential              Wissens über Lateinamerika zeigt an, dass die-
space “Latin America” – this review article shows that critical              ser Kontinent im Machtzentrum der internationa-
anthropology offers substantial contributions to the study of Lat-
in America and to the discipline in general, while expressing the
                                                                             len Ethnologie, den USA, stetig an Bedeutung ge-
conviction that a politically committed analysis heightens an-               winnt. Dies liegt auch an der seit den 1980er Jahren
thropology’s relevance.                                                      zunehmenden demografischen, politischen und me-
                                                                             dialen Präsenz lateinamerikanischer Im­mi­gran­tIn­
Cristian Alvarado Leyton, M. A. (Hamburg 2001), Dr. phil                     nen in den USA. Der sprichwörtliche Hinterhof der
(Hamburg 2006); Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Zentrum                    USA, in seiner Bedeutung für die USA wegen der
der Universität Hamburg. – Feldforschung zu Deutsch-Argen-
tinierInnen in Buenos Aires. Arbeitsschwerpunkte: Beziehun-                  Gebietsannexionen, Mon­roe-Doktrin, Wirtschafts-
gen und Macht, Identität/Differenz, Eliten, Weißsein, Geschich-              beziehungen und ständigen politisch-militärischen
te der Ethnologie. – Publikationen u. a.: “ ‘Writing Culture’ – in           Interventionen mit keinem anderen Kontinent ver-
einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen” (In:                 gleichbar, ist demografisch in das Haus eingezogen
C. Alvarado Leyton und P. Erchinger [Hrsg.], Identität und Un-
terschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz.
                                                                             und gewinnt dadurch auch an wissenschaftlichem
Bielefeld 2010); “Über die Notwendigkeit weder zu vergessen                  Interesse.
noch zu verzeihen. Ein Plädoyer ad hominem” (In: C. Alvara-                     Die in diesem gesellschaftlichen Kontext ange-
do Leyton [Hrsg.], Der andere 11. September. Gesellschaft und                fertigten Werke Sanabrias und Pooles sind informa-
Ethik nach dem Militärputsch in Chile. Münster 2010); s. auch
                                                                             tiv und originell – nicht nur weil sie mutige Neu-
Zitierte Literatur.
                                                                             bestimmungen der Ethnologie vornehmen und sich
                                                                             dabei teilweise experimenteller Zugangsweisen zu
                                                                             wichtigen sozialen Prozessen und Erfahrungen in
Es sind zwei hervorragende Werke zur Ethnologie
Lateinamerikas erschienen: die Monographie “The
Anthropology of Latin America and the Caribbe-                                1 Poole, Deborah (ed.), A Companion to Latin American An-
an” von Harry Sanabria (2007) und der von Deb-                                  thropology. Malden: Blackwell Publishing, 2008. 544 pp.
orah Poole (2008) herausgegebene Sammelband                                     ISBN 978-0-631-23468-5. (Blackwell Companions to An-
                                                                                thropology, 6) Price: € 135.00.
“A Companion to Latin American Anthropology.”                                       Sanabria, Harry: The Anthropology of Latin America and
In beiden Werken werden zentrale soziale Entwick-                               the Caribbean. Boston: Pearson Education, 2007. 430 pp.
lungen in Lateinamerika und disziplininterne De-                                ISBN 978-0-8173-5427-5. Price: € 37.39.

                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13.
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Lateinamerika bedienen, sondern weil sie ausge-                       Ich wende mich im Folgenden zunächst der
hend von ihren Analysen mögliche Pfade künfti-                     Form, den formal-thematischen Gemeinsamkei-
ger ethnologischer Zusammen-/Arbeit aufweisen.                     ten und Differenzen beider Werke sowie den ein-
Schließlich vermeiden beide Verantwortliche einen                  geschlagenen Richtungen der beiden Verantwortli-
quasi regionalidiotischen Bias und rekurrieren fort-               chen zu (1). Anschließend diskutiere ich die in ihren
während auf allgemeine Entwicklungen in der in-                    Werken prominenten Argumente zu Identitätspolitik
ternationalen Ethnologie, die sie meisterhaft mit                  und Essentialismen (2.1), zu sozialen Gruppen zwi-
spezifischen Konstellationen in Lateinamerika zu                   schen Weiß- und Anderssein (2.2), zur Gewalt (2.3)
verbinden wissen. Allein aus diesem Grunde sind                    sowie zum Verhältnis von Ethnologie und dem Er-
beide Werke unbedingt empfohlen.                                   fahrungsraum “Lateinamerika” (2.4), um mit einem
    Das Interesse beider Publikationen richtet sich                Ausblick auf die Zukunft einer kritischen Ethnolo-
auf eine theoretisch fundierte, positionierte Diskus-              gie Lateinamerikas zu schließen.
sion sozialer und politökonomischer Prozesse in La-
teinamerika, von Macht- und Gewalterfahrungen,
des Verhältnisses von ethnografischer Re­prä­sen­ta­               1 Formen und Interessen
tion, ethnologischer Begrifflichkeiten und Kultur-
differenzen, der Funktion von Kulturkritik für die                 Harry Sanabria, Kind puerto-ricanischer Einwande-
ethnologische Analyse, gegenstandsbestimmender                     rInnen in die USA (16, Fn. 3), lehrt an der Univer-
und methodologischer Erörterungen zum Ort der                      sität Pittsburgh und ist Spezialist für den boli­via­ni­
Ethnologie in den Wissenschaften und der Bedeu-                    schen Andenraum, wo er v. a. zu Kokakonsum und
tung immer stärker werdender einheimischer Ethno-                  -pro­duk­tion gearbeitet hat. Anstoß für die Publikati-
logien für das Wissensfeld “Ethnologie Lateiname-                  on seines gut 450 Seiten ausmachenden “textbook”
rikas”. Insofern handelt es sich bei beiden Werken                 (xiv) sei gewesen, für Lehrzwecke kein aktuelles,
mehr als um Lehrbücher im eigentlichen Sinne sys-                  theoretisch geleitetes Überblickswerk zur Region
tematischer Aufbereitungen eines kanonisierten                     vorgefunden zu haben, das der kolonialen wie der
Wissens, da sie historisch informierte Diskussio-                  gegenwärtigen Erfahrung gerecht wird (vgl. xiii ff.).
nen hoch­aktu­el­ler Problematiken und Konstellatio-                   Sanabrias Arbeit, die von zwei Ressourcen im
nen leisten, die zur Selbstpositionierung auffordern               Internet – pdf-Dokumenten mit Listen von Inter-
und keine scheinbar neutrale Wissensbank liefern                   netseiten, Filmen und Testfragen – ergänzt wird,2
wollen. Sie haben die “sachlich”-deskriptive Auf-                  ist unterteilt in zwölf thematisch gefasste Kapitel.
schreibweise “ethnografischer” Daten für eine stär-                Der Autor hat keine Buchstruktur angegeben, doch
ker selbstreflexive aufgegeben, in die der gesamt-                 könnten die Kapitel in drei ungleiche Teile gefasst
gesellschaftliche Metadiskurs und die eigene, auch                 werden: Der erste Teil ist allgemein gehalten und
politische Positionierung der jeweiligen AutorInnen                der Ethnologie sowie Geografie Lateinamerikas
eingearbeitet wird.                                                und der Karibik gewidmet (Kap. 1 – 2). Der zweite
    Der chronologisch zuerst erschienene Band von                  Teil ist historisch angelegt und führt in zwei Kapi-
Harry Sanabria ist schon an sich eine außerordent-                 teln von der Vor- und Frühgeschichte über die azte-
liche Leistung, da er mit seiner – bis auf ein Kapitel             kischen und inkaischen Staaten (Kap. 3) zur Con-
selbst verfassten – Synthese der Ethnologie Latein-                quista und die bis ins 19. Jahrhundert reichende
amerikas ein jahrzehntelanges Desiderat füllt, zu-                 Kolonialzeit (Kap. 4). Die verbleibenden acht Ka-
mal er sich gegenständlich nicht auf Indigene be-                  pitel könnte man unter einer Ethnologie der Jetzt-
schränkt, d. h. die Mehrheitsbevölkerung strukturell               zeit fassen, wobei Sanabria die Themen Rasse und
integriert. Das Besondere an Deborah Pooles Band                   Ethnizität, Gender und Sexualität, Religion im All-
ist, dass 30 AutorInnen in 25 Beiträgen eigenwil-                  tagsleben, Gesundheit und Krankheit, Nahrung und
lige, nicht durch eine Heraus­ge­be­rin­nen­per­spek­              Kultur, Globalisierung, Populärkultur und schließ-
tive eingeschränkte, sich teilweise widersprechen-                 lich Gewalt und Erinnerung behandelt (Kap. 5– 12).
de Beiträge liefern. Die auf unterschiedliche Weise                    Sanabria erteilt damit einer klassischen durch-
erzielte Komplexität – bei Sanabria durch eine he-                 gängigen Einteilung nach gesellschaftlichen Be-
terogenisierende Schreibweise, bei Poole durch die                 reichen wie Wirtschaft, Politik usw. oder alterna-
Differenz der Ansätze und Forschungserfahrungen                    tiv nach Ethnien eine Absage. Hier fällt also schon
von einheimischen wie fremden EthnologInnen –                      auf, dass indigene Gruppen für den Autoren nicht
ermöglicht eine beeindruckende Offenheit ethno-
logischer Analyse gegenüber widersprüchlichen                        2 Siehe < http://www.pearsonhighered.com/educator/
Gesellschaftsprozessen und anderslautenden Inter-                      product/Anthropology-of-Latin-America-and-the-
pretationen.                                                           Caribbean-The/9780205380992.page > [18. 08. 2010]

                                                                                                                 Anthropos  106.2011
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13.
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Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas                                                                            117

vorrangig sind, er sie vielmehr als in größere Kol-                       nur Sinn machen, wenn sie in den weiteren Kon-
lektive integrierte Gruppen darstellt. Deshalb tau-                       text, vom regionalen bis zum globalen, eingebettet
chen sie in den thematischen Kapiteln unvermittelt                        werden, 4. Geschichte für ein Verständnis gegen-
auf, etwa wenn Sanabria die Bedeutung von Meer-                           wärtiger Prozesse unabdingbar ist und schließlich
schweinchen (260 ff.) im Kapitel über Nahrung oder                        5. Subjekte trotz aller Zwänge “active agents” blei-
den boomenden Differenzkonsum von geldkräftigen                           ben (xiv). Die Einsicht in die hohe intrakulturelle
TouristInnen im Kapitel zum Tourismus diskutiert                          Variabilität, die der sozialen, politischen und wirt-
(s. u.). Sein im klassischen Sinne unsystematischer                       schaftlichen Ungleichheit geschuldet sei (6 f.), formt
Ansatz führt dazu, dass Sanabria gängige Formu-                           daher Sanabrias Schreiben, das immer versucht, den
lierungen wie “economic anthropology” usw. nicht                          “lived experiences” (213) gerecht zu werden.
verwendet, statt dessen nur Spezialisierungen, also                           Daher kritisiert er fortlaufend überkommene,
“anthropology of food”, “… the body”, “… emo-                             eth­no­gra­fisch informierte Bilder, indem er sie auf
tions” nennt, auch im Glossar (417). In dem Index                         ihre Entstehung hin kontextualisiert und mit wei-
findet sich nicht einmal mehr das Stichwort “kin-                         teren ethnografischen Daten differenziert, so etwa
ship”. In dieser Anlage zeigt sich Sanabrias These                        bei den Bedeutungen und Praktiken des Mann-
zur disziplinären Zukunft der Ethnologie, doch dazu                       und Frau-Seins (163 – ​168, 279 – ​297), den lokalen
später mehr.                                                              Unterschieden in “heiß–kalt”-Nahrungsklassifika-
    Sanabria hat jedes Kapitel relativ ähnlich aufge-                     tionen (274 f.) oder den klassenbeeinflussten un-
baut. Zunächst führt er mit historischen Daten in                         terschiedlichen Deutungen des Militärputsches in
das Kapitelthema ein, um es dann in mehreren Un-                          Chile (363 f.). Sanabrias fortwährender Bezug auf
terabschnitten anhand konkreter Beispiele aus der                         Individuen dient auch der Bildkritik, weil ihre Prak-
Gegenwart zu diskutieren. Hierauf folgt ein mit                           tiken “the extent to which prevailing (and often ste-
“Controversies” betitelter Abschnitt, in dem wis-                         reotypical) ideologies are at odds with what actu-
senschaftliche Debatten und/oder gesellschaftliche                        ally occurs ‘on the ground’ ” (161) zeigten. Diese
Problematiken entfaltet werden, so etwa die Men-                          Bildkritik thematisiert dabei die mediale Rezeption
chú–Stoll-Debatte in dem Kapitel zu Gewalt oder                           und gesellschaftlichen Folgen ethnografischer Bil-
die Erinnerungskonflikte im “Jubiläumsjahr” 1992                          der, z. B. des Yanomami-Bildes von Cha­gnon (305 – ​
in dem Kapitel zur Eroberungsgeschichte. Danach                           309). Bei der im Schlusskapitel diskutierten Men-
kommt ein Exkurs zur USA, um das jeweilige The-                           chú–Stoll-Debatte führt er LeserInnen geschickt in
ma bei lateinamerikanischen Im­mi­gran­tIn­nen zu                         die neueren Debatten über ethnografische Repräsen-
verfolgen, z. B. die Voudoupraxis in Brooklyn oder                        tation oder die Bedeutung der Subjektposition für
die in den USA medial stereotypisierte Arbeitsposi-                       die Wissensproduktion ein (380 f.).
tion von Latinas als Hausangestellte. Beendet wird                            Ferner ist sein Buch kulturkritisch angelegt. So
jedes Kapitel mit drei Unterpunkten: einer knappen                        verweist er fortlaufend auf die Herr­schafts­funk­
Zusammenfassung, der von Marjorie Snipes ver-                             tion medial propagierter “dominanter” Normen der
fassten Rubrik “Issues and Questions” mit drei bis                        Eliten (z. B. 161, 164), was strukturell dazu führt,
vier Fragen zu den Kapitelthemen und einer kur-                           dass Eliten für ein ethnologisches Überblickswerk
zen Liste der im Kapitel genannten “Key Terms                             ungewöhnlich präsent sind.3 Insbesondere im Ka-
and Concepts”. Außerdem weist fast jedes Kapitel                          pitel über Gewalt, in welchem er unablässig auf die
mehrmals die Rubrik “In Their Own Words” auf, in                          grauenvollen Konsequenzen der US-Außenpoli-
der in einem grafisch abgesetzten Textfeld längere                        tik für viele Menschen in Lateinamerika verweist,
Zitate aufgeführt werden. Bis auf das fünfte Kapitel                      wird Sanabrias kulturkritischer Stil deutlich (s. v. a.
“Cultural Politics of Race and Ethnicity” – verfasst                      245 f., 356 f., 358, 361 f., 364, 370, 418). Seine Be-
von Patrick C. Wilson, Spezialist für das ecuadoria-                      tonung von Gewalt folgt aus dem Bestreben, dieser
nische Amazonasgebiet – stammen alle Kapitel aus                          für Lateinamerika (und den Rest der “Dritten Welt”)
der Feder Sanabrias. Das Buch enthält neben einem                         zentralen Erfahrungsdimension gerecht zu werden,
Index und Glossar eine Literaturliste von ca. 1.100                       deren Untersuchung von Latein­amerika­nis­tIn­nen
Publikationen.                                                            wie Phi­lippe Bour­gois, Antonius Robben, Nancy
    Eingangs skizziert Sanabria, in einer Art Selbst-                     Scheper-Hughes und Michael Taus­sig in der west-
auskunft, seine politökonomische Perspektive, die                         lichen Ethnologie mit etabliert wurde.
sich durch die Kritiken forme, dass 1. Macht und so-
ziale Ungleichheit zentral zu berücksichtigen sind,
                                                                           3 Etwa in ihrer wichtigen Rolle für die Vermarktung der Kar-
2. die analytische Trennung ideeller und materi-                             nevale in Trinidad und Bahia zwecks Differenzkonsums (325,
eller Lebensbereiche Einsichten verzerrt, weil sie                           329) oder für die soziale Akzeptanz des Tangos in Buenos
in Wechselbeziehung stünden, 3. lokale Realitäten                            Aires (334).

Anthropos  106.2011
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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    Seine Kultur- und Bildkritik verbindet sich mit                bria zwischen richtig und falsch entscheidet, dies
dem politökonomischen Ansatz, was die Bedeu-                       den LeserInnen überlässt (7 – ​15). Übernimmt er er-
tung von intrakulturellen Stratifizierungen und Dif-               kennbar die Position anderer – z. B. wenn Sanabria
ferenzen verstärkt, so z. B. wenn er soziopolitische               die offizielle Religion der Inka- und Aztekenstaa-
Umbrüche in Kuba, Chile und Nicaragua von ihren                    ten für den Erfolg ihrer militärischen Expansion und
Auswirkungen auf medial vermittelte Gender-Nor-                    sozialen Etablierung als erklärungsmächtig ansieht
men für Frauen diskutiert (153 – ​156). Wie schwie-                (68 ff.) –, dann nennt er eine Quelle “for a dissent-
rig die Umsetzung einer differenzsensiblen Schreib­                ing perspective” (70). Dazu kommen selbstkritische
weise bei großen Datenmengen ist, zeigt sich, wenn                 Passagen, etwa wenn Sanabria vor der Periodisie-
Sanabria, wohl aus Raumgründen, Can­dom­blé,                       rung und Klassifikation sozialer Evo­lu­tion in der
San­te­ría und Voudou nicht einzeln bespricht, son-                Vor- und Frühgeschichte mehrere “caveats” anführt,
dern hin und her springt (201 – ​206), was er implizit             um sich dann seinen Weg durch deren kon­struk­ti­
mit der Abschnittsüberschrift “African Heritage” le-               vis­tische Gemengelage zu bahnen (52 f.). Sana­brias
gitimiert, dabei aber wiederholt auf ihre Unterschie-              Interesse an Differenzen fügt sich sehr gut mit die-
de verweist (202, 204).                                            ser durchgängig betriebenen Quellenkritik sowie
    Es fällt sehr auf, dass Sanabria die ausgewähl-                selbstreflexiven Kritik von Ansätzen, Konzepten,
ten Themen meist konkret diskutiert, einzelne Men-                 Modellen, Interpretationen und Daten zusammen
schen in den Vordergrund nimmt und sie durch                       (z. B. 25, 53, 83, 161 f., 173 f., 197 – ​200, 314 f.,
Namensnennung und soziale Verortung im gesell-                     349 f., 347 f., 378). Gerade hier lässt sich der Wert
schaftlichen Ganzen plastisch macht (z. B. 188 f.).                seines Werkes für die Arbeit mit Studierenden er-
So widerspricht er der wissenschaftlichen The-                     kennen, ist doch die Quellenkritik eine für Studie-
se eines marianismo, eines quasi pan-lateiname-                    rende im deutschsprachigen Raum zu wenig ange-
rikanischen Gender-Modells für Frauen, mit drei                    botene Übung.
Beispielen einzelner Frauen, die sowohl Wider­                         Ungewöhnlich – und im deutschsprachigen Raum
sprüch­lich­kei­ten als auch Umdeutungen scheinbar                 nicht gut angesehen – ist seine an Cultural Stud-
un­kon­for­mer Handlungen anzeigen (152 f., 157 ff.,               ies erinnernde Thematisierung der “Populärkultur”
171). Er schließt hier mit der Einschätzung, dass                  (Kap. 11), mit Ausführungen zu Sport, Karneval,
solche unkonformen Praktiken verbreiteter waren                    Musik und Fernsehen. Hier kritisiert der Autor, dass
als die “stereotypical accounts of gender in Latin                 EthnologInnen die Populärkultur zu wenig untersu-
America and the Caribbean would have most be-                      chen würden (315). Anders jedoch als in der Cultur-
lieve” (159). Immer wieder durchkreuzt Sanabria                    al Studies-Tradition, die auf Medienprodukte kon-
ethnologische Verallgemeinerungen mit sozialen                     zentriert sei, bestünde die Rolle der Ethnologie in
Differenzen, die die von ihm gesetzte Bedeutung                    der empirischen Arbeit vor Ort, etwa um deren The-
individueller Erfahrungen und Praxis für die ethno-                se des Widerstands über kritischen Medienkonsum
logische Arbeit vermittelt.                                        zu überprüfen (s. 316, 340). Es fällt gerade in die-
    Sein Ziel, “to convey ‘voices’ of both authors as              sem Kapitel auf, dass Sanabria konsequent interdis-
well as the peoples they study” (xv), lässt Sana­bria              ziplinär arbeitet und über ein breites Wissen verfügt,
schon eingangs erwähnen, dass sich in seinem Buch                  da er viele nicht ethnologische Quellen – aus Ge-
mehr Zitate als in anderen “textbooks” fänden (ebd.;               schichte, Soziologie, Literatur- und Medienwissen-
s. z. B. 105 ff., 197 ff.). Dieses Ziel verleiht Sana-             schaft, Politologie, ergänzt von literarischen Wer-
brias Ausführungen eine antiobjektivistische Stoß-                 ken, Spiel- und Dokumentarfilmen – zu verarbeiten
richtung. Fortwährend verweist er auf den Dissens                  weiß. Dies erleichtert es Sanabria, den traditionellen
über jeden ethnologischen Befund, kommentiert er                   ethnologischen Schwerpunkt von Indigenen auf die
viele genannte Werke quellenkritisch (z. B. 66, 147,               Gesamtbevölkerung der Region zu verlagern.
160, 167, 217), was die pluralistische Qualität eth-                   Weiter fällt auf, dass er seinen Gegenstand kul-
nologischer Arbeit wunderbar wiedergibt. Gleich                    turgeografisch zweiseitig ausgeweitet hat, zum ei-
im ersten Kapitel zur Ethnologie führt Sanabria die                nen um die Karibik, Zeichen einer Neubesinnung in
LeserInnen in die Pluralität ethnologischer Praxis                 der US-amerikanischen Ethnologie,4 zum anderen
ein, die anschließend durch den Punkt “Debatten”                   um die USA, deren aus Lateinamerika immigrierte
strukturell thematisiert bleibt. In der ersten Debatte             Bevölkerung heute die größte Minderheit des Lan-
diskutiert er die Einsichten und methodischen In-
novationen von Oscar Lewis’ und Nancy Scheper-
                                                                     4 So hat die Society for Latin American and Caribbean Anthro-
Hughes’ Arbeiten zur Armut, um aufzuzeigen, wie                        pology der AAA erst 2005 “Caribbean” in ihren Namen auf-
unterschiedliche theoretische Perspektiven wider-                      genommen. 2007 zog das seit 1989 erscheinende Journal of
sprüchliche Ergebnisse zeitigen – ohne dass Sana-                      Latin American Anthropology nach.

                                                                                                                 Anthropos  106.2011
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas                                                                     119

des darstellt. Sanabria wendet damit das innovati-                        tische Wissenspolitik / Ethnologie der Wissenschaft
ve Konzept “The Américas” an (22), das ich weiter                         (Cori Hayden), das Verhältnis von Agrarreformen
unten diskutiere.                                                         und peasant-Konzept (Linda J. Seligmann) sowie
    Der Sammelband von Deborah Poole, 2008 ver-                           das am Beispiel Mexikos diskutierte Verhältnis von
öffentlicht, vereinigt sowohl “fremde” Ethnolo-                           Statistik und Ethnologie (Casey Walsh).
gInnen aus den USA und Großbritannien als auch                                Der dritte Teil, “Positions” genannt, enthält sie-
einheimische lateinamerikanische EthnologInnen,                           ben Beiträge zu: indigener Ethnologie (Stefano Va-
wobei beide Gruppen nahezu gleich stark vertreten                         rese, Guillermo Delgado und Rodolfo L. Meyer),
sind. Schon dieser Umstand ist, so weit ich sehe, für                     Afro-Latinos/as (Jaime Arocha und Adriana Maya),
ein im Westen erschienenes ethnologisches Über-                           einer Rekonzeptualisierung von “Lateinamerika”
blickswerk sehr ungewöhnlich. Poole ist eine ausge-                       (Lynn Stephen), einer Studie zum nordargentini-
wiesene Fachfrau für den zentralen Andenraum und                          schen Chaco als regionale Tradition ethnografischen
hat sich mit Studien visueller Repräsentationen von                       Schreibens (Gastón Gordillo), Überlegungen zur
Indigenen sowie zu sozialen Formen kapitalistischer                       künftigen Arbeit der Ethnologie in Lateinamerika,
Ökonomie hervorgetan. Sie lehrt an der Johns Hop-                         diskutiert anhand der wachsenden Autonomie von
kins Universität, dessen Department für Ethnologie                        Indigenen in Brasilien (Alcida Rita Ramos), ein Ka-
eines der Zentren kritischer Ethnologie darstellt.                        pitel zur forensischen Ethnologie (Victoria Sanford)
    Der Sammelband Pooles umfasst 24, in drei                             und schließlich, zugleich Ausblick und Prognose,
­Teile geordnete Kapitel und eine kurze Einleitung                        ein Beitrag über die “Collaborative Anthropologies
 der Herausgeberin. Wie Sanabria, vermeidet Poo-                          in Transition” (Charles R. Hale). Ein relativ langer
 le ein Raster nach Ethnien oder herkömmlichen                            Index (26 Seiten) beendet den Band.
 Gesellschaftsbereichen und arbeitet mit spezifi-                             Während Sanabria mehr auf ethnografische Da-
 schen thematischen Kapiteln. Der erste, mit “Lo-                         ten abzielt, die mit individuellen Beispielen kon-
 cations” betitelte Teil widmet sich in acht Kapiteln                     kretisiert werden, steht in Pooles Band das theore-
 den Ethnologien in Argentinien (Claudia Briones                          tisch Allgemeine im Vordergrund, wobei nicht nur
 und Rosana Guber), Bolivien (Rossana Barragán),                          die “achievements, but also the difficulties of ‘do-
 Bra­si­lien (Mariza Peirano), Kolumbien (Myriam                          ing anthropology’ in Latin America” (5) diskutiert
 Jimeno), Ecuador (Carmen Martínez Novo), Gua-                            werden. Das Besondere an diesem Band ist Poo-
 temala (Brigittine M. French), Mexiko (Salomón                           les Aufforderung an die AutorInnen zu verdanken,
 Nahmad Sittón) und Peru (Carlos Iván Degregori                           die Themen von ihren eigenen Arbeiten aus anzu-
 und Pablo Sandoval). Sie fokussieren auf die Wech-                       gehen statt “comprehensive overviews or summa-
 selbeziehungen zwischen staatlichen Institutionen,                       ries” zu schreiben (6), auch damit LeserInnen die
 Regierungspolitik und ethnologischer Wissenspro-                         unmittelbare Verbindung von spezifischen subjekti-
 duktion, wobei einfache Porträts vermieden werden.                       ven Feldforschungserfahrungen und der ethnologi-
 Die acht Kapitel sind sehr unterschiedlich: mal dis-                     schen Wissensproduktion über Lateinamerika nach-
 kutieren die AutorInnen stärker die Ethnologien in                       vollziehen können (6).
 bestimmten Ländern (Jimeno/Kolumbien, Peirano/                               Bei Poole fällt auf, dass viele der AutorInnen
 Brasilien, Martínez/Ecuador), mal die Ethnologie                         versuchen, von der kritischen Diskussion neue-
 über diese (Degregori/Sandoval über Peru, French/                        rer Forschungen, von Kontexten, Differenzen und
 Guatemala), mal stehen die akademischen Veranke-                         Macht­bezie­hun­gen aus künftige Wege ethnologi-
 rungen und Wechselwirkungen zwischen ethnologi-                          scher Arbeit zu denken. Auch hier ist die Kultur-
 scher Arbeit und politischen Prozessen im Vorder-                        kritik zentral, wieder v. a. an der intervenieren-
 grund (Briones und Guber zu Argentinien, Nahmad/                         den Unterstützung und Initiierung militärischer
 Mexiko, Barragán/Bolivien).                                              und wirt­schaft­licher Gewalt in Lateinamerika sei-
    Der zweite und mit neun Kapiteln längste Teil                         tens der US-Außenpolitik (z. B. 2, 257, 328, 410,
 “Debates” beinhaltet Arbeiten, die Poole (6) zufol-                      438 f.), insbesondere in Alonsos hervorragendem
 ge einige der Schlüsseldebatten darstellen, die die                      Artikel zur US-mexikanischen Grenze, Rassifizie-
 ethnologische Arbeit in Lateinamerika thematisch                         rung und “Souveränität” (vgl. 231 ff., 237, 240, 242,
 und konzeptionell “beleben” würden. Die neun Ar-                         246). Die pluralistische Qualität wissenschaftlicher
 tikel sind über Rasse (Peter Wade), Sprache und Na-                      Arbeit wird bei Poole mittels der unsystematischen
 tion (Penelope Harvey), “Legalities and Illegalities”                    Form au­to­rIn­nen­gelei­teter Kapitel angezeigt und
 (Mark Goodale), Grenzen und Rassifizierung/Sou-                          verstärkt durch eine allgemein differenzsensible
 veränität (Ana M. Alonso), “Postconflict”-Studien                        Perspektive “to show the richness and heterogeneity
 (Isaias Rojas Pérez), Alterität am Beispiel von Ver-                     of work” (Hayden: ​304; s. z. B. auch 101, 462). Die
 wandtschaft und Gender (Olivia Harris), pharmazeu-                       damit eingeladene Widersprüchlichkeit und Selbst-

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                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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positionierung steigert sich durch die hegemonial                       amerikanischen EthnologInnen, die in “westlichen”
politische Auffassung ethnologischer Arbeit in La-                      Überblicksarbeiten ihresgleichen sucht.6 Sanabria
teinamerika (vgl. Poole: 2), die direkt seitens der                     hat dies unverständlicherweise unterlassen; in sei-
beteiligten lateinamerikanischen AutorInnen in das                      ner umfassenden Literaturliste finden sich nicht
Buch einfließt und indirekt der kritischen Ausrich-                     einmal klassische Arbeiten von einheimischen Eth-
tung der Herausgeberin und ihrer AutorInnen ge-                         nologInnen, etwa von Guillermo Bonfil Batalla,
schuldet ist. Auch ihr Band weist daher die Poly-                       Larissa Lomnitz oder José María Arguedas. Gera-
phonie als zentrales Charakteristikum auf.5                             de seine kritische Bemerkung zur weltweiten Wis­
     Formal betrachtet sind beide Bände gut editiert,                   sens­asym­metrie infolge neoliberaler Globalisierung
in den Texten und jeweiligen Literaturlisten finden                     (283) ließe es doch für wünschenswert erscheinen,
sich nur wenige nennenswerte Uneinheitlichkeiten                        die einheimischen Ethnologien substantiell zu be-
und Fehler. Poole ist als Herausgeberin nicht auf-                      rücksichtigen.
gefallen, dass sich bei Rojas (255, 270) drei Zei-                          Von den zahlreichen Diskussionen und Thesen
len wörtlich wiederholen, was kein guter Stil ist.                      konzentriere ich mich im Folgenden auf diejeni-
Der einzige schwerwiegende Fehler ist, dass Rojas                       gen, die ich in beiden Werken als wichtigste her-
(254 f.) und San­ford (487) für die Opfer der argen-                    ausgestellt sehe. Hier mache ich vier umfassende
tinischen Militärdiktatur die aus dem ersten, 1984                      Forschungsaspekte lateinamerikanischer Realität
veröffentlichten “Nunca más”-Aufklärungsbericht                         aus und beginne mit Identitätspolitik und Essenti-
genannte Anzahl von 10.000 Menschen referie-                            alismen.
ren, während Briones und Guber (12) die heute als
Opfer anerkannten 30.000 Menschen nennen (vgl.
­CONADEP 2008: 8, 297). Ärgerlich bei Sanabria                          2.1 Identitätspolitik und Essentialismen
 ist eigentlich nur, dass in seiner Literaturliste mehr
 als zehn zitierte Arbeiten nicht aufgeführt sind, v. a.                Auch wenn Indigene in Lateinamerika heute eine
 aus dem von Wilson verfassten Artikel zu “Race and                     demografische Minderheit unter vielen darstellen,
 ethnicity”. Bei Poole ist der trotz der Detailliertheit                haben sie in der “Conquista” als Andere des iberi-
 und Länge mangelhafte Index kritikwürdig. So ist                       schen Selbst den prominenten Ort in der Imagina-
 etwa die in ihrem Band virulente Rede über “Weiß­                      tion Lateinamerikas eingenommen, der sich in der
 sein” im Index nicht entsprechend verarbeitet wor-                     Ethnologie bis heute reproduziert.
 den, auch wenn bereits für hiermit zusammenhän-                            Vielfach aufgesuchter Bezugspunkt der Au­to­
 gende Nennungen 13 Stichwörter aufgeführt sind.                        rIn­nen ist, dass nach langen, in den 1960er Jah-
 Schlagwörter fehlen auch für vielgenannte wichtige                     ren einsetzenden politischen Kämpfen und orga-
 Namen; diese Mängel schränken die Brauchbarkeit                        nisatorischen Vernetzungen indigener Gruppen die
 des Indexes ein.                                                       Landesparlamente von 16 lateinamerikanischen
     Angesichts der wissenschaftlichen Güte beider                      Ländern und Kanada bis zum Jahre 2000 ihre Ver-
 Werke fallen die wenigen editorischen Mängel aber                      fassungen geändert haben und Indigene, z. T. auch
 nicht ins Gewicht. Ihren inhaltlichen Aussagen wen-                    Afro-Latinos/as, international einklagbare Rechts-
 de ich mich nun exemplarisch zu.                                       ansprüche erhielten (Stephen: ​436). Diese beinhal-
                                                                        ten den Gemeindebesitz von Territorien und Boden-
                                                                        schätzen sowie die “kulturelle” Souveränität über
2 Diskussionen und Thesen                                               ihre Sprachen, Gebräuche und materiellen Objekte.
                                                                        Das rechtliche Eingeständnis, eine multikulturelle
Die wichtigste inhaltliche Differenz zwischen bei-                      Nation zu sein, hat das Selbstbild Lateinamerikas
den Werken liegt darin, dass Poole trotz der erwähn-                    radikal verändert, weil die hegemoniale Gesell-
ten Meidung eines Ethnienrasters mit ihrer Auto-                        schaftsideologie des “mestizaje” damit konterka-
rInnenwahl den Schwerpunkt auf Indigene gelegt                          riert wird.
hat, während Sanabria grundsätzlich die Gesamt-                             Das politische Korrelat dieser für indigene Grup-
bevölkerung Lateinamerikas thematisieren will.                          pen positiven Entwicklungen sind die fast zeitgleich
Die zweite wichtige inhaltliche Differenz folgt aus                     einsetzenden neoliberalen Gesellschaftsumbauten,
Pooles Berücksichtigung von einheimischen latein-                       die bei den AutorInnen für Unbehagen sorgen. So
 5 Poole schreibt, der Band “offers … a cross-section of voices           6 Um diese ungewöhnlich hohe Teilnahme von EthnologInnen
   speaking from within the varied spaces occupied by Latin                 aus Lateinamerika sicherzustellen, hat Poole Mittel für Über-
   American anthropologies … in which political commitment                  setzungen organisiert (xiv). Hier zeigt sich ein Wandel im
   and polemic have never been conceived of as outside the do-              Umgang mit fremdsprachlichen Arbeiten in der AAA und
   main of anthropology” (7).                                               ihrer Leitung (s. Dominguez 2008).

                                                                                                                      Anthropos  106.2011
                                                     https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas                                                                               121

wird zum einen kritisiert, wie die von internationa-                      multi­eth­ni­schen Inka­staat zum Symbol der Vergan-
lem Recht erzwungene Anerkennung der Autono-                              genheit und eines Zukunftsprojektes werden, das
mie- und Landrechte indigener Gruppen eher der                            es den indigenen Gruppen zudem ermöglichte, sich
Anspruchsbegrenzung dient als dem Minderheiten-                           von der Idee einer bolivianischen Mestizenidentität
schutz (Hale: ​504). Hale zufolge habe es daher im                        abzusetzen (44). Die auch ethnologisch ausgelöste
Kontext der negativen sozialen Konsequenzen neo-                          Bewegung “from the denial of all things ethnic to
liberaler Reformen ein “disenchantment” indigener                         their current prestige and political centrality” ist es,
Gruppen gegeben, v. a. in Ecuador und Bolivien, so                        die heute bolivianische Politik wie Ethnologie be-
dass sie sich in einer Radikalisierungsphase befän-                       stimme (49).
den und ihre Suche nach politischen und wirtschaft-                          Barragán unterschätzt hier aber m. E. die Rol-
lichen Alternativen intensivierten (513). Zum ande-                       le der von ihr kaum erwähnten (35), noch nicht
ren wird vermehrt auf die seit den 1990er Jahren                          lange historisch untersuchten indigenen Rebellen
sprunghaft angestiegenen “Kommodifizierungen”,                            und Aufstände (vgl. Varese et al.: 389) für die Er-
die Verwandlung kultureller Produkte zu Waren ver-                        starkung der indigenen Bewegung Boliviens. Dies
wiesen, die im gestiegenen Differenzkonsum nicht                          würde die von ihr hervorgehobene Bedeutung der
nur von TouristInnen, sondern auch von Landsleu-                          Beziehung zwischen EthnologInnen und indigener
ten gekauft werden und ursächlich auf Essentialisie-                      Bewegung abschwächen, aber dennoch ist es ihr gut
rungsprozesse zurückgehen.                                                gelungen, das politische Potential des scheinbar ge-
    Für beide Prozesse wird die entscheidende Be-                         ringfügigen semantischen Statuswechsels vom “Ge-
deutung indigener Sprachen herausgestellt, stellen                        schlagensein” (defeated) zu dem des Unterdrückt-
doch für viele AutorInnen die linguistischen Stu­dien                     und Ausgebeutetseins herauszustellen (40).
von indigenen Intellektuellen und EthnologInnen                              Auch für Sanabria ist die zunehmende Sprach-
eine wichtige Basis des indigenen Ethnonationalis-                        hoheit indigener Gruppen, die sie infrastrukurell in
mus mit seinen Essentialismen dar (vgl. in Poole                          Form eigener Institute und Verlage wie Abya Yala
2008: ​32, 40, 116 f., 129, 386 f.). Unintendiert hat-                    absichern, für das organisatorische Erstarken der in-
te das Summer Institute of Linguistics (SIL) daran                        digenen Bewegungen seit den 1980er Jahren wich-
Anteil, weil es zwecks Missionierung die linguis-                         tig (26 f., 130). Er betont dabei die Bedeutung ih-
tische Aufnahme indigener Sprachen förderte, was                          rer kolonialen Erfahrung, denn kein einziger Aspekt
sie aber “as valid systems of thought, even for theo-                     zeitgenössischer Lebensweise sei nicht “heavily in-
logical, and broader political communication” legi-                       flected” durch die gut 300 Jahre währende Kolonial-
timierte, wie Varese et al. (382) in ihrem Beitrag zur                    zeit (103; vgl. 85, 102 ff.). Dies führt Penelope Har-
indigenen Ethnologie schreiben. Ihnen zufolge wei-                        vey in ihrem um Sprachnormierungen kreisenden
sen nicht zufällig einige der radikalsten indigenen                       Beitrag zur These, dass indigene Sprachen erst dann
politischen Anführer im Amazonas eine Ausbildung                          zu differenzübergreifenden Identitätszeichen wer-
zum Prediger seitens des SIL auf (382).                                   den konnten, als sie durch die Abstraktion gespro-
    Solchen Interaktionen zwischen Wissenschaft                           chener Sprache eine zeitlose, “stable rule-governed”
und Politik geht Barragán in ihrem Beitrag zur Eth-                       Form erhielten, die ihre Assoziation mit Identität er-
nologie in Bolivien nach. Ihre These ist, dass die                        leichterte (197).7 Die Forderung nach bilingual ver-
lokale ethnologische Forschung, an der ausgebilde-                        mittelter Bildung, um auch in der eigenen Sprache
te Indigene teilnehmen, Konzepten wie ayllu eine                          und nicht nur “through the cultural lens of the lan-
wissenschaftlich begründete Legitimation verschafft                       guage of power” (201) zu lernen, musste demnach
habe, die dazu beitrug, dass indigene Organisatio-                        zentral sein. Martínez behauptet daher in ihrem Bei-
nen mit diesen Begriffen politisch-soziale Rech-                          trag zu Ecuador, dass die bilinguale Erziehung ein
te einfordern; auch sei von ihnen die ethnologi-                          Schlüsselmoment für das Verstehen der politischen
sche Kritik der politökonomischen Unterdrückung                           Kultur und die organisatorische Effizienz der indi-
der Indigenen aufgenommen worden (49). Der in                             genen Bewegungen sei (99).
den 1980er Jahren einsetzende Paradigmenwech-                                Hier treten die strategischen Essentialisierungen
sel vom Modell der Klasse zur Ethnizität, der sich                        indigener Gruppen auf den Plan, um die der Artikel
der ethnohistorisch ausgemachten historischen Tie-                        Frenchs zur Ethnologie Guatemalas kreist. Während
fe gegenwärtiger indigener Praxis verdankte (33),                         die Kritik von EthnologInnen an Essentialisierun-
ermöglichte Barragán zufolge die Verbindung heu-
tiger indigener Gemeinden mit ihrer inkaischen Ver-
                                                                           7 French (116 f.) z. B. bestätigt dies für die “neue” Pan-Ma-
gangenheit. So konnte ethnologisch verdeutlicht                              ya-Identität seit den 1990er Jahren, weil erst mit einer nor-
werden, dass heutige “ethnische Regionen” denen                              mierten Mayasprache (s. u.) die “fundamental essences” der
des 16. Jahrhunderts ähneln (32, 43). Dies ließ den                          Maya­kultur objektiviert werden konnten.

Anthropos  106.2011
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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122                                                                                                          Cristian Alvarado Leyton

gen, die der Unterdrückung dienen, eindeutig sei,                  Landflucht einer Kommodifizierung des Afroseins
gebe es keinen Konsens darüber, wie man mit den                    Vorschub geleistet und in Kolumbien “a true ethno-
Essentialisierungen der “Anderen” umgeht (112).                    boom” ausgelöst (414).
Frenchs These lautet, dass zu Guatemala arbeiten-                      AfrokolumbianerInnen, deren Anteil an der Ge-
de EthnologInnen nicht versuchten, das Paradox des                 samtbevölkerung auf 26 % geschätzt wird (416),
strategischen Essentialismus zu lösen, sondern sei-                nutzten in ihrer Suche nach Einkommensquellen
ne Unlösbarkeit akzeptierten (123). Dies hätte den                 die essentialistischen Vorstellungen über das Afro-
Vorteil, die Vielzahl der involvierten Akteure, kon­               sein im Bereich der Nahrung, Fußball, Musik oder
fli­gie­ren­de Wissensregime und “erasures” alternati-             Religion. Einige afrokolumbianische Frauen fingen
ver Identitäten in Essentialisierungspraktiken wahr-               z. B. an, ihre mobilen Kochstände “afrikanisch”
zunehmen ebenso wie den Einfluss transnationaler                   zu kleiden und erzielten damit materielle Vorteile
Wirtschaftskräfte (109 f.; s. a. 113). Daher würde                 (s. 405, 407 f., 411 ff.).8 Kritisch sehen Arocha und
diese sichtbar gemachte Spannung von mit unter-                    Maya die Zukunft, denn es stelle sich die Frage,
schiedlichen politischen Zielen versehenen Essen-                  wie AfrokolumbianerInnen vermeiden können, in
tialismen die Ethnologie Guatemalas ins Zentrum                    diesen Klischees gefangen zu werden “and hence
der allgemeinen Debatte über Essentialisierungen                   barred from having access to other work and social
stellen (112).                                                     options that require specialized skills and higher ed-
     An Frenchs Beitrag bleibt infolge ihres Gegen-                ucation” (414). Die von staatlichen und privatwirt-
standes – der Ethnologie über Guatemala – leider                   schaftlichen Akteuren geförderte Kommodifizierung
unklar, wie die einheimischen EthnologInnen zu                     “schwarzer Kultur” würde zudem die zeitgleich be-
den Essentialisierungen stehen, ganz abgesehen von                 triebene Ausgrenzungspolitik verdecken (414). Sie
den vorhandenen Kritiken “fremder” For­sche­rIn­nen                ziehen hieraus den Schluss, dass eine Kulturzerstö-
wie Hale (512), der selbstkritisch schreibt, dass Eth-             rung, eine “ethnic annihilation” durch Kommodifi-
nologInnen interne Widersprüche der Maya­be­we­                    zierung stattfände (418; s. a. 405 f., 411).
gung vor der Öffentlichkeit abschirmten (s. a. Ro-                     Eine Schwierigkeit, die afrokolumbianische Be-
jas: ​266). Aber schon Frenchs Thematisierung von                  völkerung sichtbar zu machen, um auch “normale”
“erasures” bildet zwangsläufig eine Kritik ab, etwa                Bürgerrechte einzufordern, liege dabei in der unter-
wenn sie die “ausradierte”, für Herrschaftsprozesse                entwickelten Methodik der Zählung, ob über Anga-
und Eliten zentrale Bedeutung des Weißseins the-                   ben zur Hautfarbe oder Ethnizität (414 f.). Immer
matisiert (118 f.) oder auf die internen Konflikte                 würde jedoch die Selbstdefinition durch die über
verweist, die mit den linguistischen Normierungen                  400 Jahre währende Indoktrination weißer Überle-
“der” Maya­spra­che einhergehen (117). Ihre Idee,                  genheit erschwert (417). Sie kritisieren auch, dass
Essentialisierungen nicht zu kritisieren, bleibt da-               Afrolatinos/as in US-Zeitschriften noch immer ver-
her unverständlich. Insofern ­teile ich eher die von               gleichsweise wenig untersucht würden, trotz des
Harvey (210) ausgemachte Aufgabe ethnologischer                    Forschungsbooms seit Mitte der 1990er Jahre (399,
Arbeit “in tracking instability and syncretic forms                414). Da eine der Hauptquellen ihrer Diskriminie-
in contexts where purity is asserted from all points               rung die ethnografische Unsichtbarkeit sei, wären
of the political spectrum”.                                        EthnologInnen also mitverantwortlich (400, 417).
     Einen analytischen Akzentwechsel von Essen-                       Die Stärke des Beitrages von Arocha und Maya
tialisierungen auf die hierdurch ermöglichten Kom-                 liegt in ihrer kritischen Nachzeichnung der einhei-
modifizierungen kultureller Produkte nehmen Jai-                   mischen Forschungsgeschichte zu Afrokolumbien
me Arocha und Adriana Maya vor. Ihr Aufsatztitel                   sowie ihrer begründeten Kulturkritik. Doch gerade
“Afro-Latin American Peoples” trügt jedoch, weil                   weil es sich hier um eines der neueren Forschungs-
sie v. a. deren Situation in Kolumbien diskutie-                   felder handelt, wäre es gut gewesen, wenn sie Bra-
ren. Sie gehen von der doppelten Bewegung aus,                     silien und die Karibik wenigstens allgemein be-
dass die neoliberalen Umbauten zu einer staatli-                   rücksichtigt hätten. Doch auch für Afrokolumbien
chen Zele­bra­tion kultureller Diversität führten, zu-             haben sie bereits klassische Arbeiten von Wade zu
gleich aber die staatlich anerkannten politischen                  wenig bzw. bei Ecuador wichtige Arbeiten (Ra­hier,
Rechte schwächten (401). Sobald Gemeinderäte                       de la Torre u. a.) gar nicht berücksichtigt, ebenso
jene Verträge unterzeichnen, die ihnen einen kol-                  wenig wie die frühen Forschungen von afroameri-
lektiven Landbesitz zugestehen, werden Gemeinden
von Paramilitärs, dem inoffiziellen Arm der Staats-
                                                                     8 Sanabria zeigt die Folgen des Differenzkonsums v. a. im
macht, heimgesucht, weshalb der kolumbianische                         Kon­text des Tourismus auf, z. B. am “schwarzen” Karneval
Staat “forms of cosmetic multiculturalism” betrei-                     in Bahia oder der “ethnischen” Handwerksproduktion (2007: ​
be (418). Nach Arocha und Maya hat die massive                         328, 284 – 288; s. a. French 2008: 122).

                                                                                                                 Anthropos  106.2011
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13.
                                  Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas                                                                                123

kanischen EthnologInnen, was sich auch an Sana-                           die sie kritisch über eine etablierte Kategorie und
bria kritisieren lässt (s. Sanabria 2007: ​201 f.; vgl.                   die Alternative einer kategorielosen Untersuchung
Yelvington 2001: ​228). Schließlich fehlt ein Hin-                        reflektieren lassen. Seligmann vermag dabei, aus
weis, wie die angenommenen Selbst­essen­tia­lisie­                        einer Differenzsensibilisierung heraus, erarbeite-
run­gen von anderen EthnologInnen wahrgenommen                            tes Wissen mit heutigen Perspektiven und aktuel-
werden, ob sie sie kritisieren, intendiert akzeptie-                      len Fragestellungen zu verknüpfen.9 Ihr Artikel ist
ren (wie von French behauptet) oder ihnen analy-                          gut geeignet, die oben erwähnte Verschiebung von
tisch unbewusst aufsitzen, weil InformantInnen mit                        Ordnungskategorien ethnografischen Wissens an-
Patronageleistungen den der Ethnologie eigenen                            zuzeigen, tritt ihr origineller Beitrag doch aus dem
Differenzkonsum befriedigen (vgl. Alvarado 2006: ​                        Bereich der traditionellen Wirtschaftsethnologie he-
252 – ​264).                                                              raus. Gewünscht hätte ich mir, dass sie die Arbei-
    Von einer anderen Seite, als Funktion ethnolo-                        ten von José María Arguedas nicht nur oberflächlich
gischer Konzepte untersucht Seligmann die Iden-                           berücksichtigt hätte (338), stehen sie doch in vie-
titätsessentialisierungen. Zu Beginn ihrer meist auf                      len Aspekten außerhalb der kritisierten Forschung –
Peru bezogenen Diskussion der “peasant studies”                           alleine als Avantgardist eines Kulturvergleichs pe-
nennt sie drei Gründe, die deren abrupte Auflösung                        ruanischer Landgemeinden mit spanischen, der
bewirkt hätten, nachdem sie zwischen 1960 und                             auf Feldforschungen in den 1950er Jahren beruht,
1980 ihren Höhepunkt fanden (326): zunächst die                           aber bis heute in der westlichen Ethnologie kaum
Schwächen des “peasant”-Konstruktes selbst, wel-                          bekannt ist (Arguedas 1968; vgl. Alvarado 2009: ​
ches ab den 1970er Jahren radikal problematisiert                         Kap. 4) und von Seligmann nicht einmal zitiert
wurde, dann die Misserfolge von Landreformen und                          wird. Ferner wäre es gerade angesichts ihres Fokus
Revolutionen und schließlich die “conditions of vi-                       auf Peru wichtig gewesen, wenigstens die vielfälti-
olence”, die auch Feldforschungen erschwerten.                            gen Forschungen spanischer EthnologInnen ab den
Selig­mann kritisiert nun das Konzept ob seiner Sim-                      1970er Jahren, geleitet von Claudio Esteva Fabre-
plizität und lässt offen, ob es zu retten oder ob nur                     gat, zu diskutieren, weil ihr Interesse dem Scheitern
noch die hinter diesem Begriff stehende wirtschaft-                       der Landreformen und den auch durch Migration
liche Tätigkeit als eine unter vielen untersuchbar sei.                   eröffneten anderen Subsistenzstrategien galt, aber
    Gerade die Ende der 1970er Jahre begonnene Mi-                        beides in “Peasant Studies” zu inkorporieren such-
grationsforschung hätte zum Niedergang der “Peas-                         ten (z. B. Contreras 1985).
ant Studies” geführt, weil sie nach Seligmann “the                            Dass solche, von Seligmann für “peasants” auf-
complexity of following and understanding linkag-                         gezeigte Verdinglichungen von Identitäten ins eth-
es that cut across nations and multiple identities”                       nologische Augenmerk rücken, wirft retrospektiv
und die bedeutsame soziale Differenz migrierter ge-                       ein Licht auf die von EthnologInnen betriebenen
genüber ländlich verankerten “peasants” anzeigten                         Primitivisierungen ihrer Gegenüber, frühe Folge des
(344). Zugleich gelingt es Seligmann zufolge nur                          Interesses an Differenzkonsum der Ethnologie. In
selten, Fragen der politischen Ökonomie und Kultur                        Gordillos herausragendem Beitrag zur Tradition des
simultan zu adressieren; Versuche, die hierfür etwa                       ethnografischen Schreibens über den Chaco entfal-
auf die Begriffe “Identität” oder “Performativität”                       tet er seine These, dass die argentinische Ethnolo-
zurückgreifen, wiesen die begriffsbedingte Schwä-                         gie durch diese Tradition bis heute geformt wird. Da
che auf, dass die Bedeutung des Arbeitens und der                         der Chaco nach Gordillo (449) die “most primitive”
Landbesitzkontrolle verdeckt bleiben (344). Wenn                          der inneren Zonen des Andersseins in Argentinien
Klassen- und Marktdynamiken stärker berücksich-                           darstellte, ist sie bis heute “enormously attractive”
tigt werden, zeige sich, dass die von Landarbeit le-                      für EthnologInnen. Er beginnt mit den ethnografi-
benden Menschen meist nicht selbstsuffizient sei-                         schen Arbeiten von Robert Lehmann-Nitsche, ei-
en, Landarbeit nur eine sekundäre Lebensstrategie                         nem deutschen Anthropologen, der Korrelationen
darstelle (337). Hier folgt sie Kearneys Kritik, dass                     von physischen und kulturellen Differenzen der
“peasants” essentialisiert wurden, um analytisch                          Toba feststellen wollte und sie dabei ihres histori-
zwischen “exchange value” (Lohn­arbeit) und “use
value” zu unterscheiden, eine analytische Dichoto-                         9 “Those who till the soil are, and have been, major and com-
mie, die mehrfache Subsistenzstrategien ausblendet                           plex actors in Latin America, whether we choose to call them
und mittelbar deren ethnologisches Verstehen ver-                            peasants or laborers on the land, ‘Indians,’ migrants, or com-
hindert (342).                                                               munity members. … While the former parameters of peas-
                                                                             ant studies … may be too limiting for this day and age, they
    Seligmanns konziser Beitrag zur komplexen For-                           provide the guidelines for … research into the interactive
schungsgeschichte der “peasants” ist ein gutes Bei-                          dynamics of land, labor, and power within the context of a
spiel für die Produktivität postmoderner Zweifel,                            global setting” (345, 346).

Anthropos  106.2011
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
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schen und politökonomischen Kontextes entkleidete                  “the uniqueness of Latin America as a postcolonial
(450). Auf diese Weise konsolidierte er “the first Ar-             population” ausmacht, da diese Bevölkerungsmi-
gentinean based anthropological construction of the                schungen global betrachtet einzigartig seien (279,
Chaco as an eminently different, mysterious place”                 282). Die Koexistenz von “race” und “mestizaje”
(452). Meisterhaft zeigt Gordillo dies anhand eines                führe dazu, dass Rassenkonzepte in Lateinamerika
Massakers an Indigenen 1924 auf, das Lehmann-                      “sui generis” sind (Wade: ​185). Die Physiognomie
Nitsche miterlebte, da er vor Ort war – es in seinen               stellt nach Wade nur einen Faktor dar, neben “ap-
ethnografischen Arbeiten aber nicht erwähnte, für                  pearance, dress, behavior, and, especially, class sta-
Gordillo “a disturbing expression of anthropologi-                 tus” (182). In dieser historisch bedingten kulturel-
cal silencing” (447). Von hier spannt Gordillo einen               len Besonderheit Lateinamerikas steckt eine Hürde
Bogen zur phänomenologisch-diffusionistischen                      für den Kulturvergleich, weil eine vorschnelle An-
Ethnologie, die mit ihrem primitivisierenden “oth-                 wendung der in den USA und Europa entwickelten
ering” die argentinische Ethnologie bis zur Transi-                “race”-Konzepte auf die kontextuell bestimmte, un-
tion hegemonial bestimmt habe.                                     systematische Praxis in Lateinamerika analytisch ir-
   Erst die sich in den 1960er Jahren etablierende,                reführe (Wade: ​183 ff.).10
relational ausgerichtete Antropología Social hätte                     Dieser Praxis folgen nun auch originelle Vorstel-
mit dem Gegenstand “Primitive” radikal gebrochen                   lungen “biokultureller Mischungen” in der Rede
und sich thematisch ausdifferenziert (455 f.). Ihr his-            über Lateinamerika, die Hayden beleuchtet. In ih-
torischer Fokus bewirkte, dass der Chaco “began to                 rem hervorragenden Beitrag zur Ethnologie der Wis-
be de-exoticized” (456), auch Folge ihres, wie Bri-                senschaft am Beispiel des pharmazeutischen Wis-
ones und Guber (23 ff.) schreiben, alternativen Ver-               sens und der Pharmapolitik in Mexiko untersucht
ständnisses einer “strukturellen Alterität”, die sich              sie, wie sich 1. der wissenschaftliche Diskurs der
entlang der sozialen Differenzachsen von Klassen,                  “Naturgeschichte”, 2. Imaginationen der mexikani-
Alter usw. entfaltet, und damit im Gegensatz zum                   schen Nation und 3. Verstaatlichungen der pharma-
ehemals hegemonialen Prinzip “radikaler Alterität”                 zeutischen Industrie überkreuzen und gesellschaft-
prinzipiell variabel ist. Nun konnte das erwähnte                  liche Selbstdeutungen im Kontakt mit europäischen
Massaker auch ethnohistorisch untersucht werden                    verhandelt und etabliert werden (320). Dabei steht
(457). Doch da sich die Antropología Social als Ge­                der Begriff der “permeability” im Zentrum, um die
gen­entwurf zur primitivisierenden Forschung stili-                wechselseitige diskursive Beeinflussung von latein-
sierte, ist sie, so Gordillo, bis heute von der Chaco-             amerikanischen und europäischen Intellektuellen in
Forschung negativ geprägt (461, 447 f.).                           ihren Denksystemen anzuzeigen (306 f., 319).11 Ihre
   Sein Hinweis, Lehmann-Nitsche hätte physische                   These ist es, dass der Wahrnehmungs- und Klassifi-
Korrelate der kulturellen Differenz von Toba ange-                 kationsmodus der Naturgeschichte eine diskursive
nommen (450), führt mich zu den Kategorien bio-                    Ressource für die Imagination postkolonialer Na­
kultureller Identität.                                             tion bildete (307, 320), während das lokale emische
                                                                   Wissen nach Europa hin wirkte.
                                                                       Mit ihrer im Wortsinne interdisziplinären Per-
2.2 Sozialgruppen zwischen Weiß- und Anderssein                    spektive zeigt sie souverän auf, wie die Unter­
                                                                   suchung der “flora nacional [as] an assimilation-
In Sanabrias Buch kreist Wilson um die Verknüp-                    ist narrative” (309) wirkt, das umstandslos in das
fung von ethnischer Identität mit rassischer Zuge-                 Nar­ra­tiv über die “rassische Qualität” der mexi-
hörigkeit als in der Sozial- und, wie gesehen, Wis-                kanischen Bevölkerung und Nationalgeschichte
senschaftspraxis häufig austauschbare Synonyme                     wech­seln kann, erleichtert durch das in Mexiko he-
(etwa 144 f.). Konsequent rücken Ideen und vielfäl-                gemoniale Verständnis der Wissenschaft, sie habe
tige Praktiken von “race” ins Zentrum der neueren                  die nationale Entwicklung und Modernisierung
Identitätsforschung. Wilson (129) kritisiert daher,                zu unterstützen. Dieses staatlich-nationale Einge-
dass die disziplinäre Ablehnung des Begriffs “race”
das Ausmaß seiner Bedeutung für Lateinamerika
verdunkelt.                                                        10 Insofern geht dem Kulturvergleich von “race” eine genaue
   Dabei ist es ungemein paradox, dass die Grup-                      Prüfung emischer Kategorien notwendigerweise voraus, um
penidentität des Weißseins eine prominente Funkti-                    die Kommensurabilität zu gewährleisten (s. a. Harris: 283;
on in der sozialen Praxis in Lateinamerika innehat,                   vgl. Klenke 2003: 328, 330).
                                                                   11 Hieran schließt Hayden (319 f.) eine Kritik der Science Stud-
denn gerade hier, anders etwa als in Asien, wurden                    ies und Postcolonial Science Studies an, erstere seien euro-
die Grenzen zwischen KolonisatorInnen und Kolo-                       zentrisch, während letztere an einer einseitigen Perspektive
nialisierten ständig überschritten, was nach Harris                   festhielten.

                                                                                                                 Anthropos  106.2011
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13.
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