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ANTHROPOS 106.2011: 115 – 133 Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas Ein Literaturbericht Cristian Alvarado Leyton Abstract. – People of Latin America are gaining ever more at- batten aus einer kritischen Perspektive heraus dis- tention in the US due to their rising visibility. Two recently pub- kutiert, wobei sie häufig zu innovativen, aber immer lished comprehensive works of critical anthropologists on Latin provokativen Antworten kommen.1 America both reflect this occurring change and provide impor- tant insights into contemporary social processes. By focusing on Das relativ zeitgleiche Erscheinen zweier um- four central issues – politics of identity and essentialism, groups fassender Diskussionen neueren ethnologischen in between whiteness and difference, violence, the experiential Wissens über Lateinamerika zeigt an, dass die- space “Latin America” – this review article shows that critical ser Kontinent im Machtzentrum der internationa- anthropology offers substantial contributions to the study of Lat- in America and to the discipline in general, while expressing the len Ethnologie, den USA, stetig an Bedeutung ge- conviction that a politically committed analysis heightens an- winnt. Dies liegt auch an der seit den 1980er Jahren thropology’s relevance. zunehmenden demografischen, politischen und me- dialen Präsenz lateinamerikanischer ImmigrantIn Cristian Alvarado Leyton, M. A. (Hamburg 2001), Dr. phil nen in den USA. Der sprichwörtliche Hinterhof der (Hamburg 2006); Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Zentrum USA, in seiner Bedeutung für die USA wegen der der Universität Hamburg. – Feldforschung zu Deutsch-Argen- tinierInnen in Buenos Aires. Arbeitsschwerpunkte: Beziehun- Gebietsannexionen, Monroe-Doktrin, Wirtschafts- gen und Macht, Identität/Differenz, Eliten, Weißsein, Geschich- beziehungen und ständigen politisch-militärischen te der Ethnologie. – Publikationen u. a.: “ ‘Writing Culture’ – in Interventionen mit keinem anderen Kontinent ver- einem Aufsatzwettbewerb deutsch-argentinischer Schulen” (In: gleichbar, ist demografisch in das Haus eingezogen C. Alvarado Leyton und P. Erchinger [Hrsg.], Identität und Un- terschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz. und gewinnt dadurch auch an wissenschaftlichem Bielefeld 2010); “Über die Notwendigkeit weder zu vergessen Interesse. noch zu verzeihen. Ein Plädoyer ad hominem” (In: C. Alvara- Die in diesem gesellschaftlichen Kontext ange- do Leyton [Hrsg.], Der andere 11. September. Gesellschaft und fertigten Werke Sanabrias und Pooles sind informa- Ethik nach dem Militärputsch in Chile. Münster 2010); s. auch tiv und originell – nicht nur weil sie mutige Neu- Zitierte Literatur. bestimmungen der Ethnologie vornehmen und sich dabei teilweise experimenteller Zugangsweisen zu wichtigen sozialen Prozessen und Erfahrungen in Es sind zwei hervorragende Werke zur Ethnologie Lateinamerikas erschienen: die Monographie “The Anthropology of Latin America and the Caribbe- 1 Poole, Deborah (ed.), A Companion to Latin American An- an” von Harry Sanabria (2007) und der von Deb- thropology. Malden: Blackwell Publishing, 2008. 544 pp. orah Poole (2008) herausgegebene Sammelband ISBN 978-0-631-23468-5. (Blackwell Companions to An- thropology, 6) Price: € 135.00. “A Companion to Latin American Anthropology.” Sanabria, Harry: The Anthropology of Latin America and In beiden Werken werden zentrale soziale Entwick- the Caribbean. Boston: Pearson Education, 2007. 430 pp. lungen in Lateinamerika und disziplininterne De- ISBN 978-0-8173-5427-5. Price: € 37.39. https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
116 Cristian Alvarado Leyton Lateinamerika bedienen, sondern weil sie ausge- Ich wende mich im Folgenden zunächst der hend von ihren Analysen mögliche Pfade künfti- Form, den formal-thematischen Gemeinsamkei- ger ethnologischer Zusammen-/Arbeit aufweisen. ten und Differenzen beider Werke sowie den ein- Schließlich vermeiden beide Verantwortliche einen geschlagenen Richtungen der beiden Verantwortli- quasi regionalidiotischen Bias und rekurrieren fort- chen zu (1). Anschließend diskutiere ich die in ihren während auf allgemeine Entwicklungen in der in- Werken prominenten Argumente zu Identitätspolitik ternationalen Ethnologie, die sie meisterhaft mit und Essentialismen (2.1), zu sozialen Gruppen zwi- spezifischen Konstellationen in Lateinamerika zu schen Weiß- und Anderssein (2.2), zur Gewalt (2.3) verbinden wissen. Allein aus diesem Grunde sind sowie zum Verhältnis von Ethnologie und dem Er- beide Werke unbedingt empfohlen. fahrungsraum “Lateinamerika” (2.4), um mit einem Das Interesse beider Publikationen richtet sich Ausblick auf die Zukunft einer kritischen Ethnolo- auf eine theoretisch fundierte, positionierte Diskus- gie Lateinamerikas zu schließen. sion sozialer und politökonomischer Prozesse in La- teinamerika, von Macht- und Gewalterfahrungen, des Verhältnisses von ethnografischer Repräsenta 1 Formen und Interessen tion, ethnologischer Begrifflichkeiten und Kultur- differenzen, der Funktion von Kulturkritik für die Harry Sanabria, Kind puerto-ricanischer Einwande- ethnologische Analyse, gegenstandsbestimmender rInnen in die USA (16, Fn. 3), lehrt an der Univer- und methodologischer Erörterungen zum Ort der sität Pittsburgh und ist Spezialist für den boliviani Ethnologie in den Wissenschaften und der Bedeu- schen Andenraum, wo er v. a. zu Kokakonsum und tung immer stärker werdender einheimischer Ethno- -produktion gearbeitet hat. Anstoß für die Publikati- logien für das Wissensfeld “Ethnologie Lateiname- on seines gut 450 Seiten ausmachenden “textbook” rikas”. Insofern handelt es sich bei beiden Werken (xiv) sei gewesen, für Lehrzwecke kein aktuelles, mehr als um Lehrbücher im eigentlichen Sinne sys- theoretisch geleitetes Überblickswerk zur Region tematischer Aufbereitungen eines kanonisierten vorgefunden zu haben, das der kolonialen wie der Wissens, da sie historisch informierte Diskussio- gegenwärtigen Erfahrung gerecht wird (vgl. xiii ff.). nen hochaktueller Problematiken und Konstellatio- Sanabrias Arbeit, die von zwei Ressourcen im nen leisten, die zur Selbstpositionierung auffordern Internet – pdf-Dokumenten mit Listen von Inter- und keine scheinbar neutrale Wissensbank liefern netseiten, Filmen und Testfragen – ergänzt wird,2 wollen. Sie haben die “sachlich”-deskriptive Auf- ist unterteilt in zwölf thematisch gefasste Kapitel. schreibweise “ethnografischer” Daten für eine stär- Der Autor hat keine Buchstruktur angegeben, doch ker selbstreflexive aufgegeben, in die der gesamt- könnten die Kapitel in drei ungleiche Teile gefasst gesellschaftliche Metadiskurs und die eigene, auch werden: Der erste Teil ist allgemein gehalten und politische Positionierung der jeweiligen AutorInnen der Ethnologie sowie Geografie Lateinamerikas eingearbeitet wird. und der Karibik gewidmet (Kap. 1 – 2). Der zweite Der chronologisch zuerst erschienene Band von Teil ist historisch angelegt und führt in zwei Kapi- Harry Sanabria ist schon an sich eine außerordent- teln von der Vor- und Frühgeschichte über die azte- liche Leistung, da er mit seiner – bis auf ein Kapitel kischen und inkaischen Staaten (Kap. 3) zur Con- selbst verfassten – Synthese der Ethnologie Latein- quista und die bis ins 19. Jahrhundert reichende amerikas ein jahrzehntelanges Desiderat füllt, zu- Kolonialzeit (Kap. 4). Die verbleibenden acht Ka- mal er sich gegenständlich nicht auf Indigene be- pitel könnte man unter einer Ethnologie der Jetzt- schränkt, d. h. die Mehrheitsbevölkerung strukturell zeit fassen, wobei Sanabria die Themen Rasse und integriert. Das Besondere an Deborah Pooles Band Ethnizität, Gender und Sexualität, Religion im All- ist, dass 30 AutorInnen in 25 Beiträgen eigenwil- tagsleben, Gesundheit und Krankheit, Nahrung und lige, nicht durch eine Herausgeberinnenperspek Kultur, Globalisierung, Populärkultur und schließ- tive eingeschränkte, sich teilweise widersprechen- lich Gewalt und Erinnerung behandelt (Kap. 5– 12). de Beiträge liefern. Die auf unterschiedliche Weise Sanabria erteilt damit einer klassischen durch- erzielte Komplexität – bei Sanabria durch eine he- gängigen Einteilung nach gesellschaftlichen Be- terogenisierende Schreibweise, bei Poole durch die reichen wie Wirtschaft, Politik usw. oder alterna- Differenz der Ansätze und Forschungserfahrungen tiv nach Ethnien eine Absage. Hier fällt also schon von einheimischen wie fremden EthnologInnen – auf, dass indigene Gruppen für den Autoren nicht ermöglicht eine beeindruckende Offenheit ethno- logischer Analyse gegenüber widersprüchlichen 2 Siehe < http://www.pearsonhighered.com/educator/ Gesellschaftsprozessen und anderslautenden Inter- product/Anthropology-of-Latin-America-and-the- pretationen. Caribbean-The/9780205380992.page > [18. 08. 2010] Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas 117 vorrangig sind, er sie vielmehr als in größere Kol- nur Sinn machen, wenn sie in den weiteren Kon- lektive integrierte Gruppen darstellt. Deshalb tau- text, vom regionalen bis zum globalen, eingebettet chen sie in den thematischen Kapiteln unvermittelt werden, 4. Geschichte für ein Verständnis gegen- auf, etwa wenn Sanabria die Bedeutung von Meer- wärtiger Prozesse unabdingbar ist und schließlich schweinchen (260 ff.) im Kapitel über Nahrung oder 5. Subjekte trotz aller Zwänge “active agents” blei- den boomenden Differenzkonsum von geldkräftigen ben (xiv). Die Einsicht in die hohe intrakulturelle TouristInnen im Kapitel zum Tourismus diskutiert Variabilität, die der sozialen, politischen und wirt- (s. u.). Sein im klassischen Sinne unsystematischer schaftlichen Ungleichheit geschuldet sei (6 f.), formt Ansatz führt dazu, dass Sanabria gängige Formu- daher Sanabrias Schreiben, das immer versucht, den lierungen wie “economic anthropology” usw. nicht “lived experiences” (213) gerecht zu werden. verwendet, statt dessen nur Spezialisierungen, also Daher kritisiert er fortlaufend überkommene, “anthropology of food”, “… the body”, “… emo- ethnografisch informierte Bilder, indem er sie auf tions” nennt, auch im Glossar (417). In dem Index ihre Entstehung hin kontextualisiert und mit wei- findet sich nicht einmal mehr das Stichwort “kin- teren ethnografischen Daten differenziert, so etwa ship”. In dieser Anlage zeigt sich Sanabrias These bei den Bedeutungen und Praktiken des Mann- zur disziplinären Zukunft der Ethnologie, doch dazu und Frau-Seins (163 – 168, 279 – 297), den lokalen später mehr. Unterschieden in “heiß–kalt”-Nahrungsklassifika- Sanabria hat jedes Kapitel relativ ähnlich aufge- tionen (274 f.) oder den klassenbeeinflussten un- baut. Zunächst führt er mit historischen Daten in terschiedlichen Deutungen des Militärputsches in das Kapitelthema ein, um es dann in mehreren Un- Chile (363 f.). Sanabrias fortwährender Bezug auf terabschnitten anhand konkreter Beispiele aus der Individuen dient auch der Bildkritik, weil ihre Prak- Gegenwart zu diskutieren. Hierauf folgt ein mit tiken “the extent to which prevailing (and often ste- “Controversies” betitelter Abschnitt, in dem wis- reotypical) ideologies are at odds with what actu- senschaftliche Debatten und/oder gesellschaftliche ally occurs ‘on the ground’ ” (161) zeigten. Diese Problematiken entfaltet werden, so etwa die Men- Bildkritik thematisiert dabei die mediale Rezeption chú–Stoll-Debatte in dem Kapitel zu Gewalt oder und gesellschaftlichen Folgen ethnografischer Bil- die Erinnerungskonflikte im “Jubiläumsjahr” 1992 der, z. B. des Yanomami-Bildes von Chagnon (305 – in dem Kapitel zur Eroberungsgeschichte. Danach 309). Bei der im Schlusskapitel diskutierten Men- kommt ein Exkurs zur USA, um das jeweilige The- chú–Stoll-Debatte führt er LeserInnen geschickt in ma bei lateinamerikanischen ImmigrantInnen zu die neueren Debatten über ethnografische Repräsen- verfolgen, z. B. die Voudoupraxis in Brooklyn oder tation oder die Bedeutung der Subjektposition für die in den USA medial stereotypisierte Arbeitsposi- die Wissensproduktion ein (380 f.). tion von Latinas als Hausangestellte. Beendet wird Ferner ist sein Buch kulturkritisch angelegt. So jedes Kapitel mit drei Unterpunkten: einer knappen verweist er fortlaufend auf die Herrschaftsfunk Zusammenfassung, der von Marjorie Snipes ver- tion medial propagierter “dominanter” Normen der fassten Rubrik “Issues and Questions” mit drei bis Eliten (z. B. 161, 164), was strukturell dazu führt, vier Fragen zu den Kapitelthemen und einer kur- dass Eliten für ein ethnologisches Überblickswerk zen Liste der im Kapitel genannten “Key Terms ungewöhnlich präsent sind.3 Insbesondere im Ka- and Concepts”. Außerdem weist fast jedes Kapitel pitel über Gewalt, in welchem er unablässig auf die mehrmals die Rubrik “In Their Own Words” auf, in grauenvollen Konsequenzen der US-Außenpoli- der in einem grafisch abgesetzten Textfeld längere tik für viele Menschen in Lateinamerika verweist, Zitate aufgeführt werden. Bis auf das fünfte Kapitel wird Sanabrias kulturkritischer Stil deutlich (s. v. a. “Cultural Politics of Race and Ethnicity” – verfasst 245 f., 356 f., 358, 361 f., 364, 370, 418). Seine Be- von Patrick C. Wilson, Spezialist für das ecuadoria- tonung von Gewalt folgt aus dem Bestreben, dieser nische Amazonasgebiet – stammen alle Kapitel aus für Lateinamerika (und den Rest der “Dritten Welt”) der Feder Sanabrias. Das Buch enthält neben einem zentralen Erfahrungsdimension gerecht zu werden, Index und Glossar eine Literaturliste von ca. 1.100 deren Untersuchung von LateinamerikanistInnen Publikationen. wie Philippe Bourgois, Antonius Robben, Nancy Eingangs skizziert Sanabria, in einer Art Selbst- Scheper-Hughes und Michael Taussig in der west- auskunft, seine politökonomische Perspektive, die lichen Ethnologie mit etabliert wurde. sich durch die Kritiken forme, dass 1. Macht und so- ziale Ungleichheit zentral zu berücksichtigen sind, 3 Etwa in ihrer wichtigen Rolle für die Vermarktung der Kar- 2. die analytische Trennung ideeller und materi- nevale in Trinidad und Bahia zwecks Differenzkonsums (325, eller Lebensbereiche Einsichten verzerrt, weil sie 329) oder für die soziale Akzeptanz des Tangos in Buenos in Wechselbeziehung stünden, 3. lokale Realitäten Aires (334). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
118 Cristian Alvarado Leyton Seine Kultur- und Bildkritik verbindet sich mit bria zwischen richtig und falsch entscheidet, dies dem politökonomischen Ansatz, was die Bedeu- den LeserInnen überlässt (7 – 15). Übernimmt er er- tung von intrakulturellen Stratifizierungen und Dif- kennbar die Position anderer – z. B. wenn Sanabria ferenzen verstärkt, so z. B. wenn er soziopolitische die offizielle Religion der Inka- und Aztekenstaa- Umbrüche in Kuba, Chile und Nicaragua von ihren ten für den Erfolg ihrer militärischen Expansion und Auswirkungen auf medial vermittelte Gender-Nor- sozialen Etablierung als erklärungsmächtig ansieht men für Frauen diskutiert (153 – 156). Wie schwie- (68 ff.) –, dann nennt er eine Quelle “for a dissent- rig die Umsetzung einer differenzsensiblen Schreib ing perspective” (70). Dazu kommen selbstkritische weise bei großen Datenmengen ist, zeigt sich, wenn Passagen, etwa wenn Sanabria vor der Periodisie- Sanabria, wohl aus Raumgründen, Candomblé, rung und Klassifikation sozialer Evolution in der Santería und Voudou nicht einzeln bespricht, son- Vor- und Frühgeschichte mehrere “caveats” anführt, dern hin und her springt (201 – 206), was er implizit um sich dann seinen Weg durch deren konstrukti mit der Abschnittsüberschrift “African Heritage” le- vistische Gemengelage zu bahnen (52 f.). Sanabrias gitimiert, dabei aber wiederholt auf ihre Unterschie- Interesse an Differenzen fügt sich sehr gut mit die- de verweist (202, 204). ser durchgängig betriebenen Quellenkritik sowie Es fällt sehr auf, dass Sanabria die ausgewähl- selbstreflexiven Kritik von Ansätzen, Konzepten, ten Themen meist konkret diskutiert, einzelne Men- Modellen, Interpretationen und Daten zusammen schen in den Vordergrund nimmt und sie durch (z. B. 25, 53, 83, 161 f., 173 f., 197 – 200, 314 f., Namensnennung und soziale Verortung im gesell- 349 f., 347 f., 378). Gerade hier lässt sich der Wert schaftlichen Ganzen plastisch macht (z. B. 188 f.). seines Werkes für die Arbeit mit Studierenden er- So widerspricht er der wissenschaftlichen The- kennen, ist doch die Quellenkritik eine für Studie- se eines marianismo, eines quasi pan-lateiname- rende im deutschsprachigen Raum zu wenig ange- rikanischen Gender-Modells für Frauen, mit drei botene Übung. Beispielen einzelner Frauen, die sowohl Wider Ungewöhnlich – und im deutschsprachigen Raum sprüchlichkeiten als auch Umdeutungen scheinbar nicht gut angesehen – ist seine an Cultural Stud- unkonformer Handlungen anzeigen (152 f., 157 ff., ies erinnernde Thematisierung der “Populärkultur” 171). Er schließt hier mit der Einschätzung, dass (Kap. 11), mit Ausführungen zu Sport, Karneval, solche unkonformen Praktiken verbreiteter waren Musik und Fernsehen. Hier kritisiert der Autor, dass als die “stereotypical accounts of gender in Latin EthnologInnen die Populärkultur zu wenig untersu- America and the Caribbean would have most be- chen würden (315). Anders jedoch als in der Cultur- lieve” (159). Immer wieder durchkreuzt Sanabria al Studies-Tradition, die auf Medienprodukte kon- ethnologische Verallgemeinerungen mit sozialen zentriert sei, bestünde die Rolle der Ethnologie in Differenzen, die die von ihm gesetzte Bedeutung der empirischen Arbeit vor Ort, etwa um deren The- individueller Erfahrungen und Praxis für die ethno- se des Widerstands über kritischen Medienkonsum logische Arbeit vermittelt. zu überprüfen (s. 316, 340). Es fällt gerade in die- Sein Ziel, “to convey ‘voices’ of both authors as sem Kapitel auf, dass Sanabria konsequent interdis- well as the peoples they study” (xv), lässt Sanabria ziplinär arbeitet und über ein breites Wissen verfügt, schon eingangs erwähnen, dass sich in seinem Buch da er viele nicht ethnologische Quellen – aus Ge- mehr Zitate als in anderen “textbooks” fänden (ebd.; schichte, Soziologie, Literatur- und Medienwissen- s. z. B. 105 ff., 197 ff.). Dieses Ziel verleiht Sana- schaft, Politologie, ergänzt von literarischen Wer- brias Ausführungen eine antiobjektivistische Stoß- ken, Spiel- und Dokumentarfilmen – zu verarbeiten richtung. Fortwährend verweist er auf den Dissens weiß. Dies erleichtert es Sanabria, den traditionellen über jeden ethnologischen Befund, kommentiert er ethnologischen Schwerpunkt von Indigenen auf die viele genannte Werke quellenkritisch (z. B. 66, 147, Gesamtbevölkerung der Region zu verlagern. 160, 167, 217), was die pluralistische Qualität eth- Weiter fällt auf, dass er seinen Gegenstand kul- nologischer Arbeit wunderbar wiedergibt. Gleich turgeografisch zweiseitig ausgeweitet hat, zum ei- im ersten Kapitel zur Ethnologie führt Sanabria die nen um die Karibik, Zeichen einer Neubesinnung in LeserInnen in die Pluralität ethnologischer Praxis der US-amerikanischen Ethnologie,4 zum anderen ein, die anschließend durch den Punkt “Debatten” um die USA, deren aus Lateinamerika immigrierte strukturell thematisiert bleibt. In der ersten Debatte Bevölkerung heute die größte Minderheit des Lan- diskutiert er die Einsichten und methodischen In- novationen von Oscar Lewis’ und Nancy Scheper- 4 So hat die Society for Latin American and Caribbean Anthro- Hughes’ Arbeiten zur Armut, um aufzuzeigen, wie pology der AAA erst 2005 “Caribbean” in ihren Namen auf- unterschiedliche theoretische Perspektiven wider- genommen. 2007 zog das seit 1989 erscheinende Journal of sprüchliche Ergebnisse zeitigen – ohne dass Sana- Latin American Anthropology nach. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas 119 des darstellt. Sanabria wendet damit das innovati- tische Wissenspolitik / Ethnologie der Wissenschaft ve Konzept “The Américas” an (22), das ich weiter (Cori Hayden), das Verhältnis von Agrarreformen unten diskutiere. und peasant-Konzept (Linda J. Seligmann) sowie Der Sammelband von Deborah Poole, 2008 ver- das am Beispiel Mexikos diskutierte Verhältnis von öffentlicht, vereinigt sowohl “fremde” Ethnolo- Statistik und Ethnologie (Casey Walsh). gInnen aus den USA und Großbritannien als auch Der dritte Teil, “Positions” genannt, enthält sie- einheimische lateinamerikanische EthnologInnen, ben Beiträge zu: indigener Ethnologie (Stefano Va- wobei beide Gruppen nahezu gleich stark vertreten rese, Guillermo Delgado und Rodolfo L. Meyer), sind. Schon dieser Umstand ist, so weit ich sehe, für Afro-Latinos/as (Jaime Arocha und Adriana Maya), ein im Westen erschienenes ethnologisches Über- einer Rekonzeptualisierung von “Lateinamerika” blickswerk sehr ungewöhnlich. Poole ist eine ausge- (Lynn Stephen), einer Studie zum nordargentini- wiesene Fachfrau für den zentralen Andenraum und schen Chaco als regionale Tradition ethnografischen hat sich mit Studien visueller Repräsentationen von Schreibens (Gastón Gordillo), Überlegungen zur Indigenen sowie zu sozialen Formen kapitalistischer künftigen Arbeit der Ethnologie in Lateinamerika, Ökonomie hervorgetan. Sie lehrt an der Johns Hop- diskutiert anhand der wachsenden Autonomie von kins Universität, dessen Department für Ethnologie Indigenen in Brasilien (Alcida Rita Ramos), ein Ka- eines der Zentren kritischer Ethnologie darstellt. pitel zur forensischen Ethnologie (Victoria Sanford) Der Sammelband Pooles umfasst 24, in drei und schließlich, zugleich Ausblick und Prognose, Teile geordnete Kapitel und eine kurze Einleitung ein Beitrag über die “Collaborative Anthropologies der Herausgeberin. Wie Sanabria, vermeidet Poo- in Transition” (Charles R. Hale). Ein relativ langer le ein Raster nach Ethnien oder herkömmlichen Index (26 Seiten) beendet den Band. Gesellschaftsbereichen und arbeitet mit spezifi- Während Sanabria mehr auf ethnografische Da- schen thematischen Kapiteln. Der erste, mit “Lo- ten abzielt, die mit individuellen Beispielen kon- cations” betitelte Teil widmet sich in acht Kapiteln kretisiert werden, steht in Pooles Band das theore- den Ethnologien in Argentinien (Claudia Briones tisch Allgemeine im Vordergrund, wobei nicht nur und Rosana Guber), Bolivien (Rossana Barragán), die “achievements, but also the difficulties of ‘do- Brasilien (Mariza Peirano), Kolumbien (Myriam ing anthropology’ in Latin America” (5) diskutiert Jimeno), Ecuador (Carmen Martínez Novo), Gua- werden. Das Besondere an diesem Band ist Poo- temala (Brigittine M. French), Mexiko (Salomón les Aufforderung an die AutorInnen zu verdanken, Nahmad Sittón) und Peru (Carlos Iván Degregori die Themen von ihren eigenen Arbeiten aus anzu- und Pablo Sandoval). Sie fokussieren auf die Wech- gehen statt “comprehensive overviews or summa- selbeziehungen zwischen staatlichen Institutionen, ries” zu schreiben (6), auch damit LeserInnen die Regierungspolitik und ethnologischer Wissenspro- unmittelbare Verbindung von spezifischen subjekti- duktion, wobei einfache Porträts vermieden werden. ven Feldforschungserfahrungen und der ethnologi- Die acht Kapitel sind sehr unterschiedlich: mal dis- schen Wissensproduktion über Lateinamerika nach- kutieren die AutorInnen stärker die Ethnologien in vollziehen können (6). bestimmten Ländern (Jimeno/Kolumbien, Peirano/ Bei Poole fällt auf, dass viele der AutorInnen Brasilien, Martínez/Ecuador), mal die Ethnologie versuchen, von der kritischen Diskussion neue- über diese (Degregori/Sandoval über Peru, French/ rer Forschungen, von Kontexten, Differenzen und Guatemala), mal stehen die akademischen Veranke- Machtbeziehungen aus künftige Wege ethnologi- rungen und Wechselwirkungen zwischen ethnologi- scher Arbeit zu denken. Auch hier ist die Kultur- scher Arbeit und politischen Prozessen im Vorder- kritik zentral, wieder v. a. an der intervenieren- grund (Briones und Guber zu Argentinien, Nahmad/ den Unterstützung und Initiierung militärischer Mexiko, Barragán/Bolivien). und wirtschaftlicher Gewalt in Lateinamerika sei- Der zweite und mit neun Kapiteln längste Teil tens der US-Außenpolitik (z. B. 2, 257, 328, 410, “Debates” beinhaltet Arbeiten, die Poole (6) zufol- 438 f.), insbesondere in Alonsos hervorragendem ge einige der Schlüsseldebatten darstellen, die die Artikel zur US-mexikanischen Grenze, Rassifizie- ethnologische Arbeit in Lateinamerika thematisch rung und “Souveränität” (vgl. 231 ff., 237, 240, 242, und konzeptionell “beleben” würden. Die neun Ar- 246). Die pluralistische Qualität wissenschaftlicher tikel sind über Rasse (Peter Wade), Sprache und Na- Arbeit wird bei Poole mittels der unsystematischen tion (Penelope Harvey), “Legalities and Illegalities” Form autorInnengeleiteter Kapitel angezeigt und (Mark Goodale), Grenzen und Rassifizierung/Sou- verstärkt durch eine allgemein differenzsensible veränität (Ana M. Alonso), “Postconflict”-Studien Perspektive “to show the richness and heterogeneity (Isaias Rojas Pérez), Alterität am Beispiel von Ver- of work” (Hayden: 304; s. z. B. auch 101, 462). Die wandtschaft und Gender (Olivia Harris), pharmazeu- damit eingeladene Widersprüchlichkeit und Selbst- Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
120 Cristian Alvarado Leyton positionierung steigert sich durch die hegemonial amerikanischen EthnologInnen, die in “westlichen” politische Auffassung ethnologischer Arbeit in La- Überblicksarbeiten ihresgleichen sucht.6 Sanabria teinamerika (vgl. Poole: 2), die direkt seitens der hat dies unverständlicherweise unterlassen; in sei- beteiligten lateinamerikanischen AutorInnen in das ner umfassenden Literaturliste finden sich nicht Buch einfließt und indirekt der kritischen Ausrich- einmal klassische Arbeiten von einheimischen Eth- tung der Herausgeberin und ihrer AutorInnen ge- nologInnen, etwa von Guillermo Bonfil Batalla, schuldet ist. Auch ihr Band weist daher die Poly- Larissa Lomnitz oder José María Arguedas. Gera- phonie als zentrales Charakteristikum auf.5 de seine kritische Bemerkung zur weltweiten Wis Formal betrachtet sind beide Bände gut editiert, sensasymmetrie infolge neoliberaler Globalisierung in den Texten und jeweiligen Literaturlisten finden (283) ließe es doch für wünschenswert erscheinen, sich nur wenige nennenswerte Uneinheitlichkeiten die einheimischen Ethnologien substantiell zu be- und Fehler. Poole ist als Herausgeberin nicht auf- rücksichtigen. gefallen, dass sich bei Rojas (255, 270) drei Zei- Von den zahlreichen Diskussionen und Thesen len wörtlich wiederholen, was kein guter Stil ist. konzentriere ich mich im Folgenden auf diejeni- Der einzige schwerwiegende Fehler ist, dass Rojas gen, die ich in beiden Werken als wichtigste her- (254 f.) und Sanford (487) für die Opfer der argen- ausgestellt sehe. Hier mache ich vier umfassende tinischen Militärdiktatur die aus dem ersten, 1984 Forschungsaspekte lateinamerikanischer Realität veröffentlichten “Nunca más”-Aufklärungsbericht aus und beginne mit Identitätspolitik und Essenti- genannte Anzahl von 10.000 Menschen referie- alismen. ren, während Briones und Guber (12) die heute als Opfer anerkannten 30.000 Menschen nennen (vgl. CONADEP 2008: 8, 297). Ärgerlich bei Sanabria 2.1 Identitätspolitik und Essentialismen ist eigentlich nur, dass in seiner Literaturliste mehr als zehn zitierte Arbeiten nicht aufgeführt sind, v. a. Auch wenn Indigene in Lateinamerika heute eine aus dem von Wilson verfassten Artikel zu “Race and demografische Minderheit unter vielen darstellen, ethnicity”. Bei Poole ist der trotz der Detailliertheit haben sie in der “Conquista” als Andere des iberi- und Länge mangelhafte Index kritikwürdig. So ist schen Selbst den prominenten Ort in der Imagina- etwa die in ihrem Band virulente Rede über “Weiß tion Lateinamerikas eingenommen, der sich in der sein” im Index nicht entsprechend verarbeitet wor- Ethnologie bis heute reproduziert. den, auch wenn bereits für hiermit zusammenhän- Vielfach aufgesuchter Bezugspunkt der Auto gende Nennungen 13 Stichwörter aufgeführt sind. rInnen ist, dass nach langen, in den 1960er Jah- Schlagwörter fehlen auch für vielgenannte wichtige ren einsetzenden politischen Kämpfen und orga- Namen; diese Mängel schränken die Brauchbarkeit nisatorischen Vernetzungen indigener Gruppen die des Indexes ein. Landesparlamente von 16 lateinamerikanischen Angesichts der wissenschaftlichen Güte beider Ländern und Kanada bis zum Jahre 2000 ihre Ver- Werke fallen die wenigen editorischen Mängel aber fassungen geändert haben und Indigene, z. T. auch nicht ins Gewicht. Ihren inhaltlichen Aussagen wen- Afro-Latinos/as, international einklagbare Rechts- de ich mich nun exemplarisch zu. ansprüche erhielten (Stephen: 436). Diese beinhal- ten den Gemeindebesitz von Territorien und Boden- schätzen sowie die “kulturelle” Souveränität über 2 Diskussionen und Thesen ihre Sprachen, Gebräuche und materiellen Objekte. Das rechtliche Eingeständnis, eine multikulturelle Die wichtigste inhaltliche Differenz zwischen bei- Nation zu sein, hat das Selbstbild Lateinamerikas den Werken liegt darin, dass Poole trotz der erwähn- radikal verändert, weil die hegemoniale Gesell- ten Meidung eines Ethnienrasters mit ihrer Auto- schaftsideologie des “mestizaje” damit konterka- rInnenwahl den Schwerpunkt auf Indigene gelegt riert wird. hat, während Sanabria grundsätzlich die Gesamt- Das politische Korrelat dieser für indigene Grup- bevölkerung Lateinamerikas thematisieren will. pen positiven Entwicklungen sind die fast zeitgleich Die zweite wichtige inhaltliche Differenz folgt aus einsetzenden neoliberalen Gesellschaftsumbauten, Pooles Berücksichtigung von einheimischen latein- die bei den AutorInnen für Unbehagen sorgen. So 5 Poole schreibt, der Band “offers … a cross-section of voices 6 Um diese ungewöhnlich hohe Teilnahme von EthnologInnen speaking from within the varied spaces occupied by Latin aus Lateinamerika sicherzustellen, hat Poole Mittel für Über- American anthropologies … in which political commitment setzungen organisiert (xiv). Hier zeigt sich ein Wandel im and polemic have never been conceived of as outside the do- Umgang mit fremdsprachlichen Arbeiten in der AAA und main of anthropology” (7). ihrer Leitung (s. Dominguez 2008). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas 121 wird zum einen kritisiert, wie die von internationa- multiethnischen Inkastaat zum Symbol der Vergan- lem Recht erzwungene Anerkennung der Autono- genheit und eines Zukunftsprojektes werden, das mie- und Landrechte indigener Gruppen eher der es den indigenen Gruppen zudem ermöglichte, sich Anspruchsbegrenzung dient als dem Minderheiten- von der Idee einer bolivianischen Mestizenidentität schutz (Hale: 504). Hale zufolge habe es daher im abzusetzen (44). Die auch ethnologisch ausgelöste Kontext der negativen sozialen Konsequenzen neo- Bewegung “from the denial of all things ethnic to liberaler Reformen ein “disenchantment” indigener their current prestige and political centrality” ist es, Gruppen gegeben, v. a. in Ecuador und Bolivien, so die heute bolivianische Politik wie Ethnologie be- dass sie sich in einer Radikalisierungsphase befän- stimme (49). den und ihre Suche nach politischen und wirtschaft- Barragán unterschätzt hier aber m. E. die Rol- lichen Alternativen intensivierten (513). Zum ande- le der von ihr kaum erwähnten (35), noch nicht ren wird vermehrt auf die seit den 1990er Jahren lange historisch untersuchten indigenen Rebellen sprunghaft angestiegenen “Kommodifizierungen”, und Aufstände (vgl. Varese et al.: 389) für die Er- die Verwandlung kultureller Produkte zu Waren ver- starkung der indigenen Bewegung Boliviens. Dies wiesen, die im gestiegenen Differenzkonsum nicht würde die von ihr hervorgehobene Bedeutung der nur von TouristInnen, sondern auch von Landsleu- Beziehung zwischen EthnologInnen und indigener ten gekauft werden und ursächlich auf Essentialisie- Bewegung abschwächen, aber dennoch ist es ihr gut rungsprozesse zurückgehen. gelungen, das politische Potential des scheinbar ge- Für beide Prozesse wird die entscheidende Be- ringfügigen semantischen Statuswechsels vom “Ge- deutung indigener Sprachen herausgestellt, stellen schlagensein” (defeated) zu dem des Unterdrückt- doch für viele AutorInnen die linguistischen Studien und Ausgebeutetseins herauszustellen (40). von indigenen Intellektuellen und EthnologInnen Auch für Sanabria ist die zunehmende Sprach- eine wichtige Basis des indigenen Ethnonationalis- hoheit indigener Gruppen, die sie infrastrukurell in mus mit seinen Essentialismen dar (vgl. in Poole Form eigener Institute und Verlage wie Abya Yala 2008: 32, 40, 116 f., 129, 386 f.). Unintendiert hat- absichern, für das organisatorische Erstarken der in- te das Summer Institute of Linguistics (SIL) daran digenen Bewegungen seit den 1980er Jahren wich- Anteil, weil es zwecks Missionierung die linguis- tig (26 f., 130). Er betont dabei die Bedeutung ih- tische Aufnahme indigener Sprachen förderte, was rer kolonialen Erfahrung, denn kein einziger Aspekt sie aber “as valid systems of thought, even for theo- zeitgenössischer Lebensweise sei nicht “heavily in- logical, and broader political communication” legi- flected” durch die gut 300 Jahre währende Kolonial- timierte, wie Varese et al. (382) in ihrem Beitrag zur zeit (103; vgl. 85, 102 ff.). Dies führt Penelope Har- indigenen Ethnologie schreiben. Ihnen zufolge wei- vey in ihrem um Sprachnormierungen kreisenden sen nicht zufällig einige der radikalsten indigenen Beitrag zur These, dass indigene Sprachen erst dann politischen Anführer im Amazonas eine Ausbildung zu differenzübergreifenden Identitätszeichen wer- zum Prediger seitens des SIL auf (382). den konnten, als sie durch die Abstraktion gespro- Solchen Interaktionen zwischen Wissenschaft chener Sprache eine zeitlose, “stable rule-governed” und Politik geht Barragán in ihrem Beitrag zur Eth- Form erhielten, die ihre Assoziation mit Identität er- nologie in Bolivien nach. Ihre These ist, dass die leichterte (197).7 Die Forderung nach bilingual ver- lokale ethnologische Forschung, an der ausgebilde- mittelter Bildung, um auch in der eigenen Sprache te Indigene teilnehmen, Konzepten wie ayllu eine und nicht nur “through the cultural lens of the lan- wissenschaftlich begründete Legitimation verschafft guage of power” (201) zu lernen, musste demnach habe, die dazu beitrug, dass indigene Organisatio- zentral sein. Martínez behauptet daher in ihrem Bei- nen mit diesen Begriffen politisch-soziale Rech- trag zu Ecuador, dass die bilinguale Erziehung ein te einfordern; auch sei von ihnen die ethnologi- Schlüsselmoment für das Verstehen der politischen sche Kritik der politökonomischen Unterdrückung Kultur und die organisatorische Effizienz der indi- der Indigenen aufgenommen worden (49). Der in genen Bewegungen sei (99). den 1980er Jahren einsetzende Paradigmenwech- Hier treten die strategischen Essentialisierungen sel vom Modell der Klasse zur Ethnizität, der sich indigener Gruppen auf den Plan, um die der Artikel der ethnohistorisch ausgemachten historischen Tie- Frenchs zur Ethnologie Guatemalas kreist. Während fe gegenwärtiger indigener Praxis verdankte (33), die Kritik von EthnologInnen an Essentialisierun- ermöglichte Barragán zufolge die Verbindung heu- tiger indigener Gemeinden mit ihrer inkaischen Ver- 7 French (116 f.) z. B. bestätigt dies für die “neue” Pan-Ma- gangenheit. So konnte ethnologisch verdeutlicht ya-Identität seit den 1990er Jahren, weil erst mit einer nor- werden, dass heutige “ethnische Regionen” denen mierten Mayasprache (s. u.) die “fundamental essences” der des 16. Jahrhunderts ähneln (32, 43). Dies ließ den Mayakultur objektiviert werden konnten. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
122 Cristian Alvarado Leyton gen, die der Unterdrückung dienen, eindeutig sei, Landflucht einer Kommodifizierung des Afroseins gebe es keinen Konsens darüber, wie man mit den Vorschub geleistet und in Kolumbien “a true ethno- Essentialisierungen der “Anderen” umgeht (112). boom” ausgelöst (414). Frenchs These lautet, dass zu Guatemala arbeiten- AfrokolumbianerInnen, deren Anteil an der Ge- de EthnologInnen nicht versuchten, das Paradox des samtbevölkerung auf 26 % geschätzt wird (416), strategischen Essentialismus zu lösen, sondern sei- nutzten in ihrer Suche nach Einkommensquellen ne Unlösbarkeit akzeptierten (123). Dies hätte den die essentialistischen Vorstellungen über das Afro- Vorteil, die Vielzahl der involvierten Akteure, kon sein im Bereich der Nahrung, Fußball, Musik oder fligierende Wissensregime und “erasures” alternati- Religion. Einige afrokolumbianische Frauen fingen ver Identitäten in Essentialisierungspraktiken wahr- z. B. an, ihre mobilen Kochstände “afrikanisch” zunehmen ebenso wie den Einfluss transnationaler zu kleiden und erzielten damit materielle Vorteile Wirtschaftskräfte (109 f.; s. a. 113). Daher würde (s. 405, 407 f., 411 ff.).8 Kritisch sehen Arocha und diese sichtbar gemachte Spannung von mit unter- Maya die Zukunft, denn es stelle sich die Frage, schiedlichen politischen Zielen versehenen Essen- wie AfrokolumbianerInnen vermeiden können, in tialismen die Ethnologie Guatemalas ins Zentrum diesen Klischees gefangen zu werden “and hence der allgemeinen Debatte über Essentialisierungen barred from having access to other work and social stellen (112). options that require specialized skills and higher ed- An Frenchs Beitrag bleibt infolge ihres Gegen- ucation” (414). Die von staatlichen und privatwirt- standes – der Ethnologie über Guatemala – leider schaftlichen Akteuren geförderte Kommodifizierung unklar, wie die einheimischen EthnologInnen zu “schwarzer Kultur” würde zudem die zeitgleich be- den Essentialisierungen stehen, ganz abgesehen von triebene Ausgrenzungspolitik verdecken (414). Sie den vorhandenen Kritiken “fremder” ForscherInnen ziehen hieraus den Schluss, dass eine Kulturzerstö- wie Hale (512), der selbstkritisch schreibt, dass Eth- rung, eine “ethnic annihilation” durch Kommodifi- nologInnen interne Widersprüche der Mayabewe zierung stattfände (418; s. a. 405 f., 411). gung vor der Öffentlichkeit abschirmten (s. a. Ro- Eine Schwierigkeit, die afrokolumbianische Be- jas: 266). Aber schon Frenchs Thematisierung von völkerung sichtbar zu machen, um auch “normale” “erasures” bildet zwangsläufig eine Kritik ab, etwa Bürgerrechte einzufordern, liege dabei in der unter- wenn sie die “ausradierte”, für Herrschaftsprozesse entwickelten Methodik der Zählung, ob über Anga- und Eliten zentrale Bedeutung des Weißseins the- ben zur Hautfarbe oder Ethnizität (414 f.). Immer matisiert (118 f.) oder auf die internen Konflikte würde jedoch die Selbstdefinition durch die über verweist, die mit den linguistischen Normierungen 400 Jahre währende Indoktrination weißer Überle- “der” Mayasprache einhergehen (117). Ihre Idee, genheit erschwert (417). Sie kritisieren auch, dass Essentialisierungen nicht zu kritisieren, bleibt da- Afrolatinos/as in US-Zeitschriften noch immer ver- her unverständlich. Insofern teile ich eher die von gleichsweise wenig untersucht würden, trotz des Harvey (210) ausgemachte Aufgabe ethnologischer Forschungsbooms seit Mitte der 1990er Jahre (399, Arbeit “in tracking instability and syncretic forms 414). Da eine der Hauptquellen ihrer Diskriminie- in contexts where purity is asserted from all points rung die ethnografische Unsichtbarkeit sei, wären of the political spectrum”. EthnologInnen also mitverantwortlich (400, 417). Einen analytischen Akzentwechsel von Essen- Die Stärke des Beitrages von Arocha und Maya tialisierungen auf die hierdurch ermöglichten Kom- liegt in ihrer kritischen Nachzeichnung der einhei- modifizierungen kultureller Produkte nehmen Jai- mischen Forschungsgeschichte zu Afrokolumbien me Arocha und Adriana Maya vor. Ihr Aufsatztitel sowie ihrer begründeten Kulturkritik. Doch gerade “Afro-Latin American Peoples” trügt jedoch, weil weil es sich hier um eines der neueren Forschungs- sie v. a. deren Situation in Kolumbien diskutie- felder handelt, wäre es gut gewesen, wenn sie Bra- ren. Sie gehen von der doppelten Bewegung aus, silien und die Karibik wenigstens allgemein be- dass die neoliberalen Umbauten zu einer staatli- rücksichtigt hätten. Doch auch für Afrokolumbien chen Zelebration kultureller Diversität führten, zu- haben sie bereits klassische Arbeiten von Wade zu gleich aber die staatlich anerkannten politischen wenig bzw. bei Ecuador wichtige Arbeiten (Rahier, Rechte schwächten (401). Sobald Gemeinderäte de la Torre u. a.) gar nicht berücksichtigt, ebenso jene Verträge unterzeichnen, die ihnen einen kol- wenig wie die frühen Forschungen von afroameri- lektiven Landbesitz zugestehen, werden Gemeinden von Paramilitärs, dem inoffiziellen Arm der Staats- 8 Sanabria zeigt die Folgen des Differenzkonsums v. a. im macht, heimgesucht, weshalb der kolumbianische Kontext des Tourismus auf, z. B. am “schwarzen” Karneval Staat “forms of cosmetic multiculturalism” betrei- in Bahia oder der “ethnischen” Handwerksproduktion (2007: be (418). Nach Arocha und Maya hat die massive 328, 284 – 288; s. a. French 2008: 122). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Zukunft einer kritischen Ethnologie Lateinamerikas 123 kanischen EthnologInnen, was sich auch an Sana- die sie kritisch über eine etablierte Kategorie und bria kritisieren lässt (s. Sanabria 2007: 201 f.; vgl. die Alternative einer kategorielosen Untersuchung Yelvington 2001: 228). Schließlich fehlt ein Hin- reflektieren lassen. Seligmann vermag dabei, aus weis, wie die angenommenen Selbstessentialisie einer Differenzsensibilisierung heraus, erarbeite- rungen von anderen EthnologInnen wahrgenommen tes Wissen mit heutigen Perspektiven und aktuel- werden, ob sie sie kritisieren, intendiert akzeptie- len Fragestellungen zu verknüpfen.9 Ihr Artikel ist ren (wie von French behauptet) oder ihnen analy- gut geeignet, die oben erwähnte Verschiebung von tisch unbewusst aufsitzen, weil InformantInnen mit Ordnungskategorien ethnografischen Wissens an- Patronageleistungen den der Ethnologie eigenen zuzeigen, tritt ihr origineller Beitrag doch aus dem Differenzkonsum befriedigen (vgl. Alvarado 2006: Bereich der traditionellen Wirtschaftsethnologie he- 252 – 264). raus. Gewünscht hätte ich mir, dass sie die Arbei- Von einer anderen Seite, als Funktion ethnolo- ten von José María Arguedas nicht nur oberflächlich gischer Konzepte untersucht Seligmann die Iden- berücksichtigt hätte (338), stehen sie doch in vie- titätsessentialisierungen. Zu Beginn ihrer meist auf len Aspekten außerhalb der kritisierten Forschung – Peru bezogenen Diskussion der “peasant studies” alleine als Avantgardist eines Kulturvergleichs pe- nennt sie drei Gründe, die deren abrupte Auflösung ruanischer Landgemeinden mit spanischen, der bewirkt hätten, nachdem sie zwischen 1960 und auf Feldforschungen in den 1950er Jahren beruht, 1980 ihren Höhepunkt fanden (326): zunächst die aber bis heute in der westlichen Ethnologie kaum Schwächen des “peasant”-Konstruktes selbst, wel- bekannt ist (Arguedas 1968; vgl. Alvarado 2009: ches ab den 1970er Jahren radikal problematisiert Kap. 4) und von Seligmann nicht einmal zitiert wurde, dann die Misserfolge von Landreformen und wird. Ferner wäre es gerade angesichts ihres Fokus Revolutionen und schließlich die “conditions of vi- auf Peru wichtig gewesen, wenigstens die vielfälti- olence”, die auch Feldforschungen erschwerten. gen Forschungen spanischer EthnologInnen ab den Seligmann kritisiert nun das Konzept ob seiner Sim- 1970er Jahren, geleitet von Claudio Esteva Fabre- plizität und lässt offen, ob es zu retten oder ob nur gat, zu diskutieren, weil ihr Interesse dem Scheitern noch die hinter diesem Begriff stehende wirtschaft- der Landreformen und den auch durch Migration liche Tätigkeit als eine unter vielen untersuchbar sei. eröffneten anderen Subsistenzstrategien galt, aber Gerade die Ende der 1970er Jahre begonnene Mi- beides in “Peasant Studies” zu inkorporieren such- grationsforschung hätte zum Niedergang der “Peas- ten (z. B. Contreras 1985). ant Studies” geführt, weil sie nach Seligmann “the Dass solche, von Seligmann für “peasants” auf- complexity of following and understanding linkag- gezeigte Verdinglichungen von Identitäten ins eth- es that cut across nations and multiple identities” nologische Augenmerk rücken, wirft retrospektiv und die bedeutsame soziale Differenz migrierter ge- ein Licht auf die von EthnologInnen betriebenen genüber ländlich verankerten “peasants” anzeigten Primitivisierungen ihrer Gegenüber, frühe Folge des (344). Zugleich gelingt es Seligmann zufolge nur Interesses an Differenzkonsum der Ethnologie. In selten, Fragen der politischen Ökonomie und Kultur Gordillos herausragendem Beitrag zur Tradition des simultan zu adressieren; Versuche, die hierfür etwa ethnografischen Schreibens über den Chaco entfal- auf die Begriffe “Identität” oder “Performativität” tet er seine These, dass die argentinische Ethnolo- zurückgreifen, wiesen die begriffsbedingte Schwä- gie durch diese Tradition bis heute geformt wird. Da che auf, dass die Bedeutung des Arbeitens und der der Chaco nach Gordillo (449) die “most primitive” Landbesitzkontrolle verdeckt bleiben (344). Wenn der inneren Zonen des Andersseins in Argentinien Klassen- und Marktdynamiken stärker berücksich- darstellte, ist sie bis heute “enormously attractive” tigt werden, zeige sich, dass die von Landarbeit le- für EthnologInnen. Er beginnt mit den ethnografi- benden Menschen meist nicht selbstsuffizient sei- schen Arbeiten von Robert Lehmann-Nitsche, ei- en, Landarbeit nur eine sekundäre Lebensstrategie nem deutschen Anthropologen, der Korrelationen darstelle (337). Hier folgt sie Kearneys Kritik, dass von physischen und kulturellen Differenzen der “peasants” essentialisiert wurden, um analytisch Toba feststellen wollte und sie dabei ihres histori- zwischen “exchange value” (Lohnarbeit) und “use value” zu unterscheiden, eine analytische Dichoto- 9 “Those who till the soil are, and have been, major and com- mie, die mehrfache Subsistenzstrategien ausblendet plex actors in Latin America, whether we choose to call them und mittelbar deren ethnologisches Verstehen ver- peasants or laborers on the land, ‘Indians,’ migrants, or com- hindert (342). munity members. … While the former parameters of peas- ant studies … may be too limiting for this day and age, they Seligmanns konziser Beitrag zur komplexen For- provide the guidelines for … research into the interactive schungsgeschichte der “peasants” ist ein gutes Bei- dynamics of land, labor, and power within the context of a spiel für die Produktivität postmoderner Zweifel, global setting” (345, 346). Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
124 Cristian Alvarado Leyton schen und politökonomischen Kontextes entkleidete “the uniqueness of Latin America as a postcolonial (450). Auf diese Weise konsolidierte er “the first Ar- population” ausmacht, da diese Bevölkerungsmi- gentinean based anthropological construction of the schungen global betrachtet einzigartig seien (279, Chaco as an eminently different, mysterious place” 282). Die Koexistenz von “race” und “mestizaje” (452). Meisterhaft zeigt Gordillo dies anhand eines führe dazu, dass Rassenkonzepte in Lateinamerika Massakers an Indigenen 1924 auf, das Lehmann- “sui generis” sind (Wade: 185). Die Physiognomie Nitsche miterlebte, da er vor Ort war – es in seinen stellt nach Wade nur einen Faktor dar, neben “ap- ethnografischen Arbeiten aber nicht erwähnte, für pearance, dress, behavior, and, especially, class sta- Gordillo “a disturbing expression of anthropologi- tus” (182). In dieser historisch bedingten kulturel- cal silencing” (447). Von hier spannt Gordillo einen len Besonderheit Lateinamerikas steckt eine Hürde Bogen zur phänomenologisch-diffusionistischen für den Kulturvergleich, weil eine vorschnelle An- Ethnologie, die mit ihrem primitivisierenden “oth- wendung der in den USA und Europa entwickelten ering” die argentinische Ethnologie bis zur Transi- “race”-Konzepte auf die kontextuell bestimmte, un- tion hegemonial bestimmt habe. systematische Praxis in Lateinamerika analytisch ir- Erst die sich in den 1960er Jahren etablierende, reführe (Wade: 183 ff.).10 relational ausgerichtete Antropología Social hätte Dieser Praxis folgen nun auch originelle Vorstel- mit dem Gegenstand “Primitive” radikal gebrochen lungen “biokultureller Mischungen” in der Rede und sich thematisch ausdifferenziert (455 f.). Ihr his- über Lateinamerika, die Hayden beleuchtet. In ih- torischer Fokus bewirkte, dass der Chaco “began to rem hervorragenden Beitrag zur Ethnologie der Wis- be de-exoticized” (456), auch Folge ihres, wie Bri- senschaft am Beispiel des pharmazeutischen Wis- ones und Guber (23 ff.) schreiben, alternativen Ver- sens und der Pharmapolitik in Mexiko untersucht ständnisses einer “strukturellen Alterität”, die sich sie, wie sich 1. der wissenschaftliche Diskurs der entlang der sozialen Differenzachsen von Klassen, “Naturgeschichte”, 2. Imaginationen der mexikani- Alter usw. entfaltet, und damit im Gegensatz zum schen Nation und 3. Verstaatlichungen der pharma- ehemals hegemonialen Prinzip “radikaler Alterität” zeutischen Industrie überkreuzen und gesellschaft- prinzipiell variabel ist. Nun konnte das erwähnte liche Selbstdeutungen im Kontakt mit europäischen Massaker auch ethnohistorisch untersucht werden verhandelt und etabliert werden (320). Dabei steht (457). Doch da sich die Antropología Social als Ge der Begriff der “permeability” im Zentrum, um die genentwurf zur primitivisierenden Forschung stili- wechselseitige diskursive Beeinflussung von latein- sierte, ist sie, so Gordillo, bis heute von der Chaco- amerikanischen und europäischen Intellektuellen in Forschung negativ geprägt (461, 447 f.). ihren Denksystemen anzuzeigen (306 f., 319).11 Ihre Sein Hinweis, Lehmann-Nitsche hätte physische These ist es, dass der Wahrnehmungs- und Klassifi- Korrelate der kulturellen Differenz von Toba ange- kationsmodus der Naturgeschichte eine diskursive nommen (450), führt mich zu den Kategorien bio- Ressource für die Imagination postkolonialer Na kultureller Identität. tion bildete (307, 320), während das lokale emische Wissen nach Europa hin wirkte. Mit ihrer im Wortsinne interdisziplinären Per- 2.2 Sozialgruppen zwischen Weiß- und Anderssein spektive zeigt sie souverän auf, wie die Unter suchung der “flora nacional [as] an assimilation- In Sanabrias Buch kreist Wilson um die Verknüp- ist narrative” (309) wirkt, das umstandslos in das fung von ethnischer Identität mit rassischer Zuge- Narrativ über die “rassische Qualität” der mexi- hörigkeit als in der Sozial- und, wie gesehen, Wis- kanischen Bevölkerung und Nationalgeschichte senschaftspraxis häufig austauschbare Synonyme wechseln kann, erleichtert durch das in Mexiko he- (etwa 144 f.). Konsequent rücken Ideen und vielfäl- gemoniale Verständnis der Wissenschaft, sie habe tige Praktiken von “race” ins Zentrum der neueren die nationale Entwicklung und Modernisierung Identitätsforschung. Wilson (129) kritisiert daher, zu unterstützen. Dieses staatlich-nationale Einge- dass die disziplinäre Ablehnung des Begriffs “race” das Ausmaß seiner Bedeutung für Lateinamerika verdunkelt. 10 Insofern geht dem Kulturvergleich von “race” eine genaue Dabei ist es ungemein paradox, dass die Grup- Prüfung emischer Kategorien notwendigerweise voraus, um penidentität des Weißseins eine prominente Funkti- die Kommensurabilität zu gewährleisten (s. a. Harris: 283; on in der sozialen Praxis in Lateinamerika innehat, vgl. Klenke 2003: 328, 330). 11 Hieran schließt Hayden (319 f.) eine Kritik der Science Stud- denn gerade hier, anders etwa als in Asien, wurden ies und Postcolonial Science Studies an, erstere seien euro- die Grenzen zwischen KolonisatorInnen und Kolo- zentrisch, während letztere an einer einseitigen Perspektive nialisierten ständig überschritten, was nach Harris festhielten. Anthropos 106.2011 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2011-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.11.2021, 21:22:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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