Trauer Wie sich die Gedenkkultur der Bundeswehr entwickelt hat - Krise
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Zeitschrift für Innere Führung Nr. 2 | 2020 Trauer Krise Die Auswirkungen der Tötung von Qassem Soleimani Wie sich die Gedenkkultur der Bundeswehr entwickelt hat Erbe Der lange Schatten der deutschen Kolonialgeschichte Ethik Moralisch handeln im Cyber war
Inhalt if - Zeitschrift für Innere Führung wurde 1956 als IFDT Information für die Truppe gegründet. Führung Bürger und Staat Sebastian Nieke Harald Stutte Die Trauerfeiern des Schwieriges Erbe des Afghanistaneinsatzes 5 deutschen Kolonialismus 27 Schritte zu einem öffentlichen Soldatengedenken Unerfüllte Forderungen Innere Führung Welt Florian Schreiner Simon Klingert Tradition erleben 12 Der Tod des Generals 34 Regionale Ausstellungen als Aspekt Die Auswirkungen der Tötung von soldatischer Persönlichkeitsbildung Qassem Soleimani Roger Mielke Cyber war - Moral im virtuellen Raum 20 Brauchen wir eine neue Ethik für den Cyber war? 2 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Inhalt Gedenken: Mit der Trauerfeier für die am Karfreitag 2010 in Afghanistan gefallenen Fallschirmjäger hat sich das Soldatengedenken in Deutschland gewandelt. Die militärischen Trauerfeiern für im Einsatz gefallene Soldaten werden heute als öffentliches Soldatengedenken mit ministerieller Beteiligung, in einer Kirche und, soweit es die Pietät zulässt, mit Medienberichterstattung begangen. (rhl) Titel: picture alliance/dpa/Marius Becker Geschichte Rubriken Frank Bauer Meinung 4 König und Kaiser 41 Die Innere Führung stärkt den Einsatzwert Kaiser Wilhelm I. als Projektionsfläche eines Jahrhunderts deutscher Geschichte Aufgeschlagen 58 Krieg in Korea Essay Mediale 60 Christoph Karich Impressum 65 Die Angsthasen 50 Schlaglicht 66 Vom verantwortungsvollen Umgang Brexit mit dem Risiko Fotos von links nach rechts: Bundeswehr/Sebastian Wilke, Bundeswehr/Patrik Bransmöller, picture alliance/ullstein bild/Haeckel Archiv, Bundeswehr/Andrea Bienert, picture alliance/akg-images, stock.adobe.com/Peshkova Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 3
Meinung Die Innere Führung stärkt den Einsatzwert Führungskultur ist genauso wichtig wie Ausbildung oder Material Mit dieser Ausgabe wechselt nicht Werte und Normen des Grundgeset- stellen. Das Karfreitagsgefecht 2010 nur die Herausgeberschaft der „if zes. Die Innere Führung ist jedoch steht im Mittelpunkt dieser Aus- – Zeitschrift für Innere Führung“ kein Selbstzweck. Sie stärkt den gabe. Die Geschehnisse und deren vom Presse- und Informations- Einsatzwert der Bundeswehr und Auswirkungen habe ich seinerzeit stab im Bundesministerium der trägt damit substanziell zu ihrer als Referent für Einsätze im Büro Verteidigung an das Zentrum Einsatzbereitschaft im Rahmen des des beamteten Staatssekretärs erlebt. Innere Führung. Zugleich erhält internationalen Krisenmanagements Das bis dahin verlustreichste Ge- das Zentrum Innere Führung sowie der Landes- und Bündnisver- fecht seit Bestehen der Bundeswehr einen neuen Kommandeur: teidigung bei. Ich bin zutiefst davon als zentraler Bestandteil unserer Brigadegeneral André Bodemann. überzeugt, dass unsere Führungs- Bundeswehrgeschichte ist Anlass kultur, die Charakter- und Per- genug, sich diesem auch in Bezug sönlichkeitsentwicklung sowie das auf unsere Erinnerungskultur zu Z ur Bundeswehr kam ich 1985 als Wehrpflichtiger. Mein Zugfüh- rer und mein Kompaniechef haben Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten ebenso wichtig sind wie Ausbildung und einsatzfähiges widmen. Denn vor allem: Verges- sen dürfen wir nie! Als ehemaliger Kommandeur des Deutschens Ein- mich damals mit ihrer Professionali- Material. satzkontingents Resolute Support tät, ihrem Auftreten und Führungs- Moderne Technologien, Medien, und COM TAAC N war für mich verhalten beeindruckt, ja begeistert gesellschaftliche Trends und vieles gerade der Ehrenhain im Camp – Innere Führung pur, meine ich. mehr beeinflussen die Einstellung Marmal in Mazar e-Sharif immer Und letztlich hat mich dies davon und das soziale Verhalten von Men- ein besonderer Ort der Erinnerung, überzeugt, Zeit- und Berufssoldat schen. Daher muss auch die Innere der Besinnung und des Gedenkens. werden zu wollen. Seitdem war ich Führung ständig weiterentwickelt wechselnd in Stabs- und Führungs- werden, um neu und verbindlich Auf künftige Begegnungen und verwendungen im Grundbetrieb Orientierung zu bieten. Die Grund- Gespräche mit Ihnen am Zentrum oder im Einsatz sowie in ministeri- sätze der Inneren Führung gelten Innere Führung in Koblenz oder an ellen Verwendungen vorrangig mit jedoch unverändert. Sie sollen, ja anderer Stelle freue ich mich. Bis da- Einsatzbezug eingesetzt. Jetzt stehe sie müssen allerdings aus innerer hin wünsche ich Ihnen viel Freude ich als Kommandeur des Zentrums Überzeugung gelebt werden. Das bei der Lektüre dieser Ausgabe! Innere Führung in der Linie der Bewährte zu wahren und zu leben Herren Generale Artur Weber und sowie – wo angebracht – die Innere Foto: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka Ulrich de Maizière bis hin zu mei- Führung zeitgemäß zu gestalten und nem direkten Vorgänger Reinhard weiter zu entwickeln, das möchte ich Zudrop. Eine große Verantwortung, mit Ihnen gemeinsam tun. So hoffe André Bodemann Führungsaufgabe und Ehre, die ich, dass es uns – im „if- Team“ – in Jahrgang 1965, Brigadegeneral, ist ich mit Demut, Dankbarkeit und dieser Ausgabe gelungen ist, für Sie seit 27. März 2020 Kommandeur des Zentrums Innere Führung. großer Freude annehme. Die Innere interessante und aktuelle Themen Zuvor war er Unterabteilungsleiter Führung war für mich stets ein aus Politik, Gesellschaft, Zeitge- Strategie und Einsatz II im Bun- bewährtes und beständiges Funda- schichte und Ethik rund um die desministerium der Verteidigung ment für verantwortliches soldati- Innere Führung auch als Anstoß in Berlin. sches Handeln unter Bindung an die für eine Diskussion zusammenzu- 4 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Führung Die Trauerfeiern des Afghanistaneinsatzes Schritte zu einem öffentlichen Soldatengedenken bei Todesfällen im Einsatz Deutsche Fallschirmjäger vor einem Allschutz-Tranportfahr- zeug (ATF) Dingo, das bei einem Anschlag zerstört wurde. Foto: privat Der Afghanistaneinsatz konfrontierte die Bundesrepublik unausweichlich mit der Frage, wie sie ihrer verstorbenen Soldaten gedenken soll. Eine wachsende Bedeutung nahmen dabei die militärischen Trauerfeiern für die Gefallenen in Deutschland ein. Dass diese sich zu einem öffentlichen Soldatengedenken entwickeln würden – mit ministeriel- ler Beteiligung, in einer Kirche und, soweit es die Pietät zulässt, mit Medienberichterstattung – war zunächst keineswegs zu erwarten. I m April 2010 bietet sich der Bun- desrepublik ein seit langem unge- kanntes Bild. In einer Dorfkirche im Die Kirche ist voll besetzt; unter den Gästen im Schiff und auf der Empore befinden sich ebenfalls zahlreiche Wortwahl aber betritt zu Guttenberg Neuland. „Was wir am Karfreitag bei Kundus erleben mussten, das niedersächsischen Selsingen stehen Soldaten. Hinter den Särgen tritt bezeichnen die meisten verständli- drei flaggenbedeckte Särge flan- Verteidigungsminister Karl-Theodor cherweise als Krieg. Ich auch“, lautet kiert von drei Soldaten je Seite und zu Guttenberg an ein Pult. Und hält die in der Folge vielzitierte Passage. einem auf dem Kopfende ruhenden eine Trauerrede. Es ist nicht die erste Krieg – sowohl Kritiker als auch Gefechtshelm. Die Särge füllen den eines deutschen Verteidigungsmi- Befürworter des Bundeswehrein- Altarraum nahezu vollständig aus. nisters in einer Kirche. Mit seiner satzes in Afghanistan hatten Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 5
Führung Das Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin würdigt seit 2009 ausdrück- lich alle in Folge ihres Dienstes ver- storbenen Bundeswehrangehörigen. Der 2014 bei Potsdam eingeweihte Wald der Erinnerung (Foto) dient als Ort der persönlichen Trauer. Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke diesen Begriff aus jeweils eigenen die Soldaten eines gewaltsamen eingeweihte Wald der Erinnerung Motiven über mehrere Jahre hinweg Todes für das deutsche Volk gestor- als Ort der persönlichen Trauer von der Bundesregierung gefordert. ben sind, war in der Bundesrepublik dient, hat sich im Laufe des Afgha- Der Minister hatte sich ihm zuvor jedoch kein einfacher. nistaneinsatzes mit den zentralen angenähert, von „kriegsähn- Zwar waren in Auslandseinsätzen Trauerfeiern für gefallene Soldaten lichen Zuständen“ in Afghanistan vor 2010 Soldaten der Bundeswehr ein weiterer wichtiger Teil des Sol- gesprochen und davon, dass man gefallen und weitere durch Unfälle datengedenkens etabliert. Der Weg „umgangssprachlich von Krieg reden“ und andere Umstände im Zusam- dahin folgte jedoch keinem Automa- könne. Wirklich ausgesprochen hatte menhang mit dem Dienst uns Leben tismus, sondern er beruht auf mehre- er den Begriff Krieg jedoch erstmals gekommen. ren Weichenstellungen. in seiner Trauerrede für die drei Der ISAF-Afghanistaneinsatz, in deutschen Fallschirmjäger, die im dem 35 deutsche Soldaten fielen, Militärische Trauerfeiern. Das Gefecht am 2. April 2010 nahe Kun- bedeutete für die Bundesrepublik, Soldatengedenken in Demokratien dus gefallen sind. die sich bislang in militärischer ist nicht selbstverständlich, sondern Die rechtlichen Folgen des Kriegs- Zurückhaltung übte, allerdings eine ist untrennbar mit der Herausbil- begriffs, die im Grundgesetz Zäsur. Der Einsatz stellte die Bun- dung des Nationalstaats und der festgelegt sind, und ob er der kom- desregierung vor die Frage, wie die Aufstellung von Wehrpflichtarmeen plexen Einsatzrealität Afghanistans Bundesrepublik der verstorbenen verbunden. Zuvor war das militä- gerecht wurde, können hier nicht Soldaten gedenken soll. Während rische Handwerk „Angelegenheit erörtert werden. Bemerkenswert das seit 2009 bestehende Ehrenmal eines eigenen Standes“ gewesen, „bei ist allerdings, dass sein erstmaliger der Bundeswehr in Berlin ausdrück- dem der Tod gewissermaßen zum Gebrauch durch den Minister an den lich alle in Folge des Dienstes ver- Berufsrisiko gehörte“, so die Histo- Särgen getöteter Soldaten erfolgte. storbenen Bundeswehrangehörigen riker Michael Jeismann und Rolf Der Weg zu der Anerkennung, dass würdigt und der 2014 bei Potsdam Westheider. Das änderte sich erst 6 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Führung Während einer Gedenkveranstal- tung am Volkstrauertag im Bun- desverteidigungsministerium tragen Soldaten am 18. Novem- ber 2018 Kränze in das Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin. Foto: Bundeswehr/Uwe Grauwinkel zahlreiche Soldaten der Bundes- Lesetipps: wehr durch Unfälle ihr Leben und Hettling, Manfred; Echternkamp, Jörg (Hg.): Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengeden- vielen von ihnen wurde mit einer ken in der Bundesrepublik. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2008. militärischen Trauerfeier gedacht. De Libero, Loretana: Tod im Einsatz. Deutsche Soldaten in Afghanistan. Zentrum für Eine Formensprache dafür wurde Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, 2014. seit den Sechzigerjahren in der Zen- Nieke, Sebastian: Gefallene Helfer. Das Soldatengedenken der Bundesrepublik zwischen tralen Dienstvorschrift 10/8, heute militärischer Zurückhaltung und professionsethischer Würdigung der Bundeswehr. Zeit- der Zentralrichtlinie „Formen und schrift für Außen- und Sicherheitspolitik 9(1), S.79-100. Verlag VS, Wiesbaden, 2016. Feiern der Bundeswehr“ gefunden. Voraussetzung einer solchen Trauer- feier ist stets das Einverständnis der mit der Französischen Revolution nationalsozialistischen Militarismus Angehörigen. Das Zeremoniell sieht und den Befreiungskriegen gegen durch eine gewisse Zurückhaltung die Bedeckung des aufgebahrten Napoleon. Da nun Staatsbürger zum im militärischen Zeremoniell. Die Sarges mit der Bundesdienstflagge Dienst an der Waffe verpflichtet Bundeswehr tritt insbesondere am und einer militärischen Kopfbede- wurden, verlangte auch der Solda- Volkstrauertag mit Kranzniederle- ckung vor. Auf einem Ordenskissen tentod nach Anerkennung durch das gungen öffentlich in Erscheinung. werden zudem die Ehrenzeichen Gemeinwesen. Laut der Friedensforscherin Sabine des Toten präsentiert. Der Sarg wird Das Soldatengedenken in der Mannitz sei dieses Zeremoniell für von Ehrenposten flankiert und bei Bundesrepublik unterscheidet sich die Bundeswehr selbst „als Mahnung zentralen Trauerfeiern auch bei ganz bewusst von der Überhöhung vor dem Einsatz des militärischen der Überführung von Soldaten des des soldatischen Opferkultes im Instrumentariums schlechthin“ Wachbataillons getragen. Die spätere Nationalsozialismus. Die Bun- gedacht. Bestattung des Toten erfolgt zivil. Je desrepublik distanziert sich vom Auch im Kalten Krieg verloren nach Wunsch und Absprache Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 7
Führung mit den Angehörigen kann auch auf dem Fliegerhorst Wunstorf. Sichtbarkeit mangele, steht er in der diese von militärischem Geleit Zuletzt hielt Verteidigungsminis- Kritik. Die ministeriellen Trauereden begleitet werden. Den musikalischen terin Ursula von der Leyen im sind somit ein wichtiges Element für Schlusspunkt der Trauerfeier bildet August 2017 die Trauerrede für zwei die Öffentlichkeit des Gedenkens das üblich mit der Trompete into- Soldaten, die beim Absturz ihres und koppeln dieses zugleich zurück nierte Lied vom guten Kameraden. Kampfhubschraubers Tiger in Mali an den politischen Auftrag. Neben der Ansprache eines Geist- ums Leben gekommen waren. Eine Der Afghanistaneinsatz war in der lichen gibt es eine Trauerrede eines ministerielle Rede gibt einer Trauer- deutschen politischen Öffentlichkeit militärischen Vorgesetzten. Schon feier „zwangsläufig einen politischen lange als Friedenssicherungs- und vor 1990 übernahm in einigen Fällen, Charakter“, so die Historikerin Wiederaufbaumission wahrgenom- wenn beispielsweise ein schwerer Loretana de Libero. Sie unterstreicht men worden. Die Lage im Verant- Unfall öffentliche Aufmerksamkeit die politische Verantwortung für den wortungsbereich der Bundeswehr in auf sich zog, der Bundesminister Einsatz der Bundeswehr und erzeugt Nordafghanistan änderte sich aller- der Verteidigung diese weltliche gleichzeitig eine gesteigerte Auf- dings spätestens 2007 durch ein ver- Trauerrede. merksamkeit in Politik und Medien. mehrtes Einsickern Aufständischer Die Tatsache, dass eine Mehrheit drastisch. Die deutschen Kräfte Politische Verantwortung. An die- der Deutschen die Bundeswehr vor waren zunehmenden Angriffen ser Praxis wurde später festgehalten. allem durch die Medien wahrnimmt, ausgesetzt, erlitten steigende Verluste So hielt bereits Verteidigungsmi- verschafft dem Gedenken eine und mussten sich ab 2009 regelmä- nister Volker Rühe für den 1993 in überregionale Sichtbarkeit. Weil es ßig im offenen Gefecht durchsetzen. Kambodscha erschossenen Feldwe- dem Standort des Ehrenmals der Die offiziellen Verlautbarungen bel Alexander Arndt eine Trauerrede Bundeswehr am Bendlerblock an wurden dieser veränderten Einsatz- Verstorbene Bundeswehrangehörige im Auslandseinsatz Deutschland beteiligte sich seit 1992 mit insgesamt 431.421 Soldatinnen und Soldaten in bisher 53 Einsätzen, Stand Januar 2019 Adria Georgien 1 Sharp Guard UNOMIG United Nations Observer Mission in Georgia 1 Irak Kambodscha 1 Ausbildungsuntertützung UNTAC United Nations Transitional Autority in Cambodia 1 Mali Litauen 2 MINUSMA Multidimensionale EFP Enhanced Forward Presence 1 35 Gefallene Verstorbene 24 Integrierte Stabilisierungsmission durch Fremd- deutsche Soldaten der Vereinten Nationen in Mali einwirkung Afghanistan Bosnien ISAF International Security Assistance Force/ 59 19 SFOR Stabilisation Force/ Resolute Support EUFOR European Union Force Gefallen 114 37 durch militärischen oder paramilitärischen Einfluss Kosovo 29 KFOR Kosovo Force 114 Verstorben 77 durch Unfall, natürlichen Tod oder Suizid Grafik: Bundeswehr/Daniela Hebbel 8 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Führung realität jedoch lange nicht gerecht Kirchen, Gewerkschaften und der Kundus getöteten Hauptfeldwebel – der Historiker Klaus Naumann Wirtschaft ein klares Bekenntnis zur Mischa Meier hingegen nicht mehr spricht von einem „Vermeidungsdis- Bundeswehr, die „in Afghanistan in am Flughafen, sondern in einer Kir- kurs“. Insbesondere Verteidigungs- einem schweren Kampf “ stehe. Der- che am Stationierungsort des Fall- minister Franz-Josef Jung sah sich weil sprach sich in Umfragen eine schirmjägers in Zweibrücken abzu- ab 2008 zunehmend in der Kritik, wachsende Mehrheit der Deutschen halten. Die ehrenvolle Aufnahme des weil er die gewaltsame Realität des für die Beendigung des Einsatzes aus. Toten am Flugzeug blieb bestehen. Einsatzes nicht anerkannte. Da Jung Der Wechsel in eine Kirche kam dem am Begriff „Stabilisierungseinsatz“ Ortswechsel. Im Verteidigungsmi- privaten Trauerbedürfnis entgegen. festhielt, wurde von ihm mehrfach nisterium fiel die Entscheidung für Viele Angehörige deutscher Soldaten gefordert, den Krieg in Afghanistan einen Ortswechsel der Trauerfeiern. hatten die Atmosphäre des Hangars ausdrücklich als solchen zu benen- Bis 2007 hatten sie in einem Han- als wenig pietätvoll empfunden. nen. „In Deutschland besteht ein gar auf dem militärischen Teil des Während bereits der Ortswechsel großes Bedürfnis nach einer Kriegs- Flughafens Köln/Bonn stattgefun- selbst einen großen symbolischen erklärung“, spitzte es der Journalist den. Die Toten werden hier nach Schritt in die Öffentlichkeit bedeu- Stefan Kornelius Mitte 2009 zu, der Überführung aus Afghanistan tete, ließ das zuständige Presse- und „und zwar im Sinne von: Den Krieg bereits mit militärischen Ehren in Informationszentrum des Heeres in erklären, ihn in Worte fassen.“ Der Empfang genommen, wie es auch in Zweibrücken den Medien erstmals Wehrbeauftragte Reinhold Robbe vielen verbündeten Staaten üblich ist. Zugang zu den Trauerfeiern. Presse, kritisierte zur selben Zeit, dass die Im Sommer 2008 entschied Minister Fernsehen und Hörfunk wurden Einsatzrealität in der Öffentlichkeit Jung allerdings, die Trauerfeier für aktiv zur Berichterstattung eingela- verdrängt werde und forderte von den durch eine Sprengfalle nahe den und erschienen in wachsen- Trauerfeier für den bei einem Anschlag am 27. August 2008 in Kundus getöte- ten Soldaten Hauptfeldwebel Mischa Meier. Der Bundesminister der Ver- teidigung, Dr. Franz Josef Jung, nahm zusammen mit dem Generalinspek- teur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, an der Trauerfeier teil. Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 9
Führung Der Bundesminister der Vertei- digung Karl-Theodor zu Gutten- berg bei der Trauerfeier für die im Karfreitagsgefecht 2010 in Afgha- nistan gefallenen Soldaten in der St.-Lamberti-Kirche in Selsingen bei Seedorf in Niedersachsen. Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke der Zahl. An der Trauerfeier nach von Premier Stephen Harper nach tung dar. In Folge der Forderungen dem Karfreitagsgefecht nahmen über breiter öffentlicher Kritik wieder nach mehr Anerkennung der 100 Medienvertreter teil. Zugleich zurückgenommen. getöteten Soldaten, sprach Minister wurde sichergestellt, dass der pie- In einer Phase der zunehmend Jung bei der Trauerfeier in Zwei- tätvolle Rahmen gewahrt bleibt. So kontroversen Diskussion über den brücken Ende 2008 erstmals von finden bis heute die Akkreditie- Afghanistaneinsatz, entwickelte Gefallenen. Insbesondere der Bun- rungen der angereisten Journalisten die Bundesrepublik das Soldaten- deswehrverband hatte diese Wort- abseits der Trauerfeier statt, und die gedenken zu einer Geste mit mehr wahl zuvor öffentlich gefordert. Im Bundeswehr stellt einen Bustrans- Öffentlichkeit. An den Trauerfeiern amtlichen Sprachgebrauch war der port zur Kirche bereit. Vor Ort nahmen jetzt auch häufiger weitere Gefallenenbegriff stets vermieden sendet ein regionaler Fernsehsender Mitglieder des Bundeskabinetts, worden, doch seit der Zweibrücker live aus der Kirche, der das Signal Bundestagsabgeordnete, Minister- Trauerfeier findet er auch über den anderen Medien zur Verfügung präsidenten der Bundesländer und Gedenkkontext hinaus in der Kom- stellt. Wegen des häufig begrenzten andere politische Mandatsträ- munikation der Bundeswehr und Platzes wird die Trauerfeier auch auf ger teil. Bundeskanzlerin Angela des Verteidigungsministeriums eine Großleinwand nahe der Kirche Merkel hielt nach dem Karfreitags- offiziell Verwendung. Jahrzehn- übertragen. gefecht im April 2010 selbst eine telang war der Begriff den Toten vielbeachtete Trauerrede für die vergangener Kriege vorbehalten Öffentlichkeit. In Demokratien drei getöteten Fallschirmjäger und gewesen. Auf die Trauerfeiern fol- zeigt sich eine mediale Sensibilität nahm noch an zwei weiteren Trau- gend wurde er von zahlreichen Zei- in Bezug auf den Soldatentod im erfeiern teil, bei denen Minister zu tungen in ihrer Berichterstattung Auslandseinsatz. In den USA etwa Guttenberg sprach. übernommen. Anderthalb Jahre war die Rückführung getöteter Sol- später bei der Trauerfeier nach daten auf der Dover Air Force Base Anerkennung. Erstmals fielen dem Karfreitagsgefecht sprach für Medien lange tabu, und erst wichtige Worte aus der Diskussion Minister zu Guttenberg von Krieg. Präsident Barack Obama hob den über den Einsatz in den Trauer- Auch Bundeskanzlerin Merkel sogenannten „Dover Ban“ 2009 auf. reden. Die Trauerfeier nach dem ging in ihrer Trauerrede darauf Der in Kanada 2006 erlassene Bann Karfreitagsgefecht stellte nur einen ein. Viele Medien interpretierten für den Stützpunkt Trenton, wurde Schritt von mehreren in diese Rich- die Wortwahl als Anerkennung des 10 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Führung Die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten in Selsingen. Foto: Bundeswehr/Dana Kazda soldatischen Dienstes unter zuneh- ziehung kirchlicher Symbolik der mender Gewalterfahrung. Andere jeweiligen Konfession hielt sich in Aspekte der Reden blieben weniger Grenzen. Gleichzeitig hatte es vor Foto: privat beachtet, darunter die vermehrte dem Ortswechsel keine vernehm- Bezugnahme auf den Diensteid. bare Kritik am nichtöffentlichen Sebastian Nieke Jahrgang 1985, Poli- Bereits Minister zu Guttenberg Raum des Gedenkens oder Forde- tikwissenschaftler und verwies in mehreren Trauerreden rungen nach mehr Sichtbarkeit und Redakteur an der Bundesakademie ausdrücklich auf die Eideserfüllung einem einfacheren Medienzugang für Sicherheitspolitik (BAKS) in der Gefallenen. Sein Nachfolger gegeben, wie es in Kanada der Fall Berlin, befasst sich mit sicherheits- Thomas de Maizière stellte bei der gewesen war. politischer Kommunikation. Als Trauerfeier für einen Mitte 2011 Gleichwohl deutet die Nüchtern- Staatsbürger in Uniform setzt er sich durch eine Sprengfalle getöteten heit darauf hin, dass die Bundes- seit 2007 mit dem Soldatengeden- Fahrer eines Schützenpanzers bevölkerung entgegen mancher ken der Bundesrepublik auseinan- Marder auch die Singularität die- Behauptung auch angesichts des der. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder. ses Eides heraus: „Niemand sonst Soldatentodes zwischen Anerken- als Soldaten leisten diesen Eid, nung der Bundeswehr und Kritik Kurz gefasst: und niemandem sonst verlangen an einem Einsatz differenziert – Mit dem Afghanistaneinsatz wir diesen Eid ab. Er war bereit, ein Befund, der sich regelmäßig entwickelten sich die zentralen dafür das Äußerste zu geben: sein in Umfragen zeigt. Dass das Trauerfeiern für Verstorbene zu eigenes Leben.“ Bevölkerung Gedenken gerade in Zeiten kontro- einem wichtigen Teil des Soldaten- und Medien nahmen das sich verser Diskussion erkennbar in die gedenkens in Deutschland. Dass entwickelnde Gedenken mit einer Öffentlichkeit geholt wurde, wird diese Trauerfeiern gerade in Zeiten ausgesprochenen Nüchternheit auf. zugleich dem Leitbild des Staats- kontroverser Diskussion um die Einerseits blieb der Vorwurf einer bürgers in Uniform in besonderem Anwendung des Kriegsbegriffes und die Benennung Gefallener erkennbar vermeintlichen Militarisierung des Maße gerecht. Mit den zentralen in die Öffentlichkeit gerückt sind, öffentlichen Raumes aus. Auch die Trauerfeiern für Gefallene bekam wird dem Leitbild des Staatsbürgers Kritik an der Verknüpfung von ein wichtiger Teil des Soldatenge- in Uniform in besonderem Maße Trauer und Politischem oder mili- denkens in Deutschland eine ange- gerecht. tärischen Formen und unter Einbe- messene Würdigung. Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 11
Innere Führung Tradition erleben Regionale Ausstellungen als Aspekt soldatischer Persönlichkeitsbildung Die Streitkräftebasis ist seit Jahren „Eine Armee entsteht nicht aus dem Nichts. Sie ist wie ein Baum, des- um eine eigene selbstbewussten sen Wurzeln tief in die Vergangenheit hineinreichen. Schnitte man die Traditionsfindung bemüht. Den Wurzeln ab, stürbe der Baum“, so beschrieb der ehemalige General- Anfang hat sie mit der Regionalen inspekteur Ulrich de Maizière die Bedeutung von Tradition und Tradi- Ausstellung Streitkräftebasis auf tionspflege für moderne Streitkräfte. Gleichermaßen stellte er jedoch der Hardthöhe in Bonn gemacht. auch klar: „Abgestorbene oder kranke Wurzeln sind abzuschneiden, gesunde Wurzeln zu erhalten, neu wachsende Wurzeln zu kräftigen.“ D ie Stärkung und Weiterentwick- Auch die Bundeswehr des 21. Jahr- für die sie mit der „Regionalen Foto: Bundeswehr/Roland Alpers lung der eigenen Identität und hunderts kennt neu wachsende Wur- Ausstellung Streitkräftebasis“ auf die Vertiefung des vertrauensgelei- zeln. Dies gilt insbesondere für die der Hardthöhe in Bonn den ersten teten Verhältnisses von Streitkräften jüngeren Organisationsbereiche, wie großen Schritt gegangen ist. und Gesellschaft gehören zu den die Streitkräftebasis oder den Bereich bestimmenden Merkmalen im Cyber- und Informationsraum, die Tradition und Identität in der Selbstverständnis der Bundeswehr ihren Platz innerhalb der Tradition Streitkräftebasis. Die Streitkräf- seit ihrer Gründung. Die Wert- der Bundeswehr etablieren. Die Streit- tebasis wurde im Oktober 2000 schätzung des Auftrags, des eigenen kräftebasis – immerhin der personell als eigenständiger militärischer Dienstes und nicht zuletzt die Aner- zweitstärkste Organisationsbereich Organisationsbereich aufgestellt. Sie kennung der eigenen Leistungen für der Bundeswehr – arbeitet seit eini- bündelt Aufgaben, die zuvor von und durch die Öffentlichkeit spielen gen Jahren intensiv an einer eigenen, den Teilstreitkräften Heer, Luftwaffe hierbei eine entscheidende Rolle. selbstbewussten Traditionsfindung, und Marine in Eigenverantwortung 12 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Innere Führung Deutschland ist für die NATO als Transit- land eine strategische Drehscheibe: Die 3. Brigade der 4. US-Infanteriedivision ver- legt über Bremerhaven nach Polen. Im Rahmen des sogenannten Host Nation Support organisiert die Streitkräfteba- sis große Teile der logistischen Unter- stützung. Schwere Fahrzeuge wie Pan- zer werden auf der Bahn transportiert. Foto: Bundeswehr/Alyssa Bier Das Traditionshaus oder in den zentralen militärischen der Streitkräftebasis Dienststellen wahrgenommen wurden. Die Streitkräftebasis vereint in ihrem Portfolio einzigartige Unterstüt- zungsleistungen für die Bundeswehr und ihre ressortübergreifenden sowie multinationalen Partner. TRADITION DER STREITKRÄFTEBASIS Zudem ist der Inspekteur der Streit- kräftebasis in Personalunion der VIELFALT UNTER- TRADITION DREHSCHEIBE Nationale Territoriale Befehlshaber. STÜTZUNG DER DEUTSCHLAND Als dieser verantwortet er den Hei- UND FÄHIGKEITEN BEFÄHIGUNG matschutz und übernimmt eine für die Bündnisverteidigung besondere Verantwortung: als mögliches Auf- TRADITION DER BUNDESWEHR marschgebiet und vor allem Transit- land ist Deutschland für die NATO WERTE UND NORMEN zur strategischen Drehscheibe und des Gundgesetzes/Soldatengesetzes zum Träger der Bündnisverteidi- gung in Europa geworden. Dies wird DEUTSCHE GESCHICHTE wesentlich gestützt durch die Grafik: KdoSKB Referat Innere Führung/Bundeswehr/Daniela Hebbel Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 13
Innere Führung unter dem Dach der Streitkräftebasis sowohl die Geschichte als auch Lernorte der historisch-politischen, vereinten Dienststellen mit ihren die Leistungen der Bundeswehr wie auch der ethischen Bildung wer- einzigartigen Fähigkeiten. Dies sind und ihrer Dienststellen vor Ort den, das Bewusstsein für die eigene zum einen die spezifischen, langen darzustellen. Dabei soll, im Sinne Tradition schärfen und dadurch Traditionen der Logistik, der Feldjä- des Traditionsverständnisses, „der die soldatische Identität stärken. ger, der ABC-Abwehr und des Streit- Stolz der Angehörigen der Bundes- Gegenwärtig verfügt die Bundeswehr kräfteamtes. Zum anderen bilden wehr auf die erbrachten Leistungen flächendeckend über 19 Regionale auch das Kommando Territoriale im Grundbetrieb und im Einsatz“ Ausstellungen unterschiedlichster Aufgaben und das Multinationale gefördert werden. Im Einklang mit Couleur und Qualität. Kommando Operative Führung neu erlassenen Richtlinien zum Tra- eigene Identitäten aus, die die Streit- ditionsverständnis und zur Traditi- Einbindung in die Persönlichkeits- kräftebasis nachhaltig prägen. onspflege sollen diese standort- und bildung. Die Regionale Ausstellung Gemeinsam ist dem Organisations- verbandsbezogenen Ausstellungen Streitkräftebasis in Bonn zeigt, wie sich bereich Streitkräftebasis jedoch seit jeher der Zweck der Unterstützung und Befähigung sämtlicher Orga- „ Generalleutnant Schelleis : Fo nisationsbereiche und damit der t o: gesamten Bundeswehr im Grund- Bu nd betrieb ebenso wie als wichtiger es w „Wir bieten hier eine Fülle von ehr/Jonas Web Bestandteil der Auslandseinsätze. Anregungen, wie man sich Dies seit nunmehr 20 Jahren täglich dem Thema Tradition in der zu leisten, ist Tradition der Streit- Streitkräftebasis nähern kann." er kräftebasis. Damit einher geht auch Generalinspekteur Eberhard Zorn der Auftrag, dieses Selbstverständnis resümierte nach einem Rundgang im Dienstalltag aktiv zu vermitteln durch die Ausstellungsräume: und zu leben. Die Tradition der "Mit dieser Regionalen Ausstellung hat Streitkräftebasis speist sich daher die SKB deutlich vorgelegt." ebenso wie die der gesamten Bun- deswehr in einem integrativen Pro- zess aus der deutschen Geschichte. Basierend auf den Werten und Nor- men des Grund- sowie des Soldaten- gesetzes und zentral geprägt durch die Tradition der Bundeswehr ent- wickelt sie jedoch auch ein eigenes, spezifisches Traditionsverständnis. Dabei soll die Tradition der Streit- kräftebasis nicht als statisch, sondern vielmehr als dynamisch und sich ste- tig weiterentwickelnd wahrgenom- men werden. Sie lässt sich mit einem Bauwerk vergleichen, das mit weite- ren tragenden Elementen verstärkt wird. Diese veranschaulicht das auf S.13 abgebildete Traditionshaus". " Regionale Ausstellungen: Stolz Der Seminarraum dient für Ver- fördern – Identität stärken – tiefungsseminare im Rah- Unterstützung geben. Im Rahmen men der Inneren Führung. der „Agenda Attraktivität“ wurde eine Möglichkeit geschaffen, über Foto: Bundeswehr/Sahir Kermani sogenannte Regionale Ausstellungen 14 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Innere Führung die Zielsetzung der Traditionsstiftung pflege rückt: Damit bekommt die Aus- Spezialisten, ihre Aufgabe kompetent in den Teilstreitkräften und Organi- einandersetzung mit Geschichte einen wahrzunehmen. „Vertrauen, Ver- sationsbereichen umsetzen lässt und individuellen Charakter und trägt zur antwortung, Vorbild und Vielfalt im welche Aspekte besondere Beachtung Persönlichkeitsbildung bei. gemeinsamen Dialog“ soll daher nicht finden müssen, um sie auch mittelfris- Der vielfältige kulturelle Ursprung der nur Wahlspruch, sondern Organisa- tig zum Erfolg zu führen. Bundeswehr ist ihr Kapital, das es jetzt tionsprinzip der Streitkräftebasis und Sie distanziert sich daher von einem und zukünftig auszugestalten gilt. Die damit ein eigener Traditionswert wer- rein historisch geprägten Traditionsbe- unterschiedlichsten Fähigkeiten, die den und sein, den es künftig zu leben griff, sondern versteht Tradition und gelebte Vielfalt und die dauerhafte und weiter zu gestalten gilt. deren Pflege vielmehr als Katalysator, Bereitstellung und Unterstützung zen- Das fordernde und multiple Ein- der Fortschritt ermöglichen muss, in traler militärischer Fähigkeiten sind satzspektrum der Gegenwart stellt dem er auf Gegenwart und Zukunft Eigenschaften, die ein Fortschritts- hohe Ansprüche an die Psyche und des Dienstes in der Bundeswehr aus- denken erfordern und das Nutzen die Physis der Soldatinnen und gerichtet wird. „Wo kommen wir her?“ verschiedenster Erfahrungshorizonte Soldaten. Im multinationalen oder „Wer sind wir?“ aber auch „Wer wollen und Kenntnisse von Menschen mit zivil-militärischen Umfeld und in wir (künftig) sein?“ Diese Fragen unterschiedlichen Prägungen nach fernen Einsatzländern mit fremden bestimmen maßgeblich die Identität sich ziehen. Nur dadurch können Kulturen reicht es nicht mehr aus, der Streitkräftebasis. Dieses Konzept bestimmte Denkansichten und Verhal- fachlich und körperlich gut aufge- wurde deshalb gewählt, weil es die ein- tensweisen zur Tradition werden. stellte Soldatinnen und Soldaten zelnen Angehörigen der Bundeswehr Die Vielfalt der Fähigkeiten verlangt entsenden zu können. Vielmehr in den Mittelpunkt der Traditions- Vertrauen in die Spezialistinnen und kommt einer gefestigten und Fachwissen rund um die Streitkräf- tebasis war gefragt. Viel Anklang fand das Brettspiel "Kennen Sie unsere Streitkräftebasis?" Gene- ralinspekteur Eberhard Zorn und Generalleutnant Martin Schelleis probierten das Spiel bei der Aus- stellungseröffnung persönlich aus. Foto: Bundeswehr/Roland Alpers Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 15
Innere Führung belastbaren Persönlichkeit zuneh- mit den Teilnehmerinnen und Ausstellungen seinen stetigen Beitrag mende Bedeutung zu. Über die Ein- Teilnehmern ist zugleich Impulsge- zur Identitätsstiftung und zur Tradi- bindung in ein bedarfsorientiertes, ber für die Weiterentwicklung der tionspflege der Bundeswehr. methodisch-didaktisches Konzept, Identität der Streitkräftebasis. So dem „Lernort Bonn“, wird unterstri- entwickelt sich Tradition nicht zu Tradition in der Bundeswehr – chen, wie sich Regionale Ausstel- einer erzwungenen Einbahnstraße, Eine historische Herausforderung. lungen im Rahmen der soldatischen sondern zu einem sich gegenseitig Traditionspflege und historisch- Persönlichkeitsbildung nutzbar beeinflussenden, wiederholenden politische sowie ethische Bildung machen lassen, um historische, poli- Prozess. sind dementsprechend nicht nur tische und ethische Kompetenzen zu Dies unterstreicht die Notwendigkeit, Führungsaufgaben. Alle Angehörigen schaffen und Sensibilität zu schärfen. die Sammlungen und Regionalen der Bundeswehr tragen gemeinsam Dazu werden im Kontext von dreitä- Ausstellungen aktiv in die tägliche die Verantwortung dafür, dass die gigen Programmen mittels Modulen Aus- und Weiterbildung von Solda- Tradition in den Köpfen der Men- Schwerpunktthemen vertieft, die tinnen und Soldaten einzubinden. schen verankert bleibt. Eine lebendige von der historisch-politischen Aus- Denn dieser Austausch mit den von Menschen getragene Tradition ist einandersetzung am authentischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Ausdruck eines selbstbewussten Tra- Lernort über ethische Bildung bis ist dabei explizit Teil der Traditions- ditionsverständnisses der Bundeswehr. hin zu modernem Vielfaltsmanage- arbeit. Nur durch eine dauerhafte Der neue Traditionserlass betont ment reichen. Nutzbarmachung und Nutzung als nicht nur die Führungsverantwortung Dies soll jedoch kein Selbstzweck Lernorte zur Persönlichkeitsbildung der Vorgesetzten in der Traditions- sein, im Gegenteil: Der Austausch leistet das Konzept der Regionalen pflege, er gibt auch konkrete Aufträge Soldaten von Heer und Marine des Wachbataillons sind im Ehrenhof des Kanzleramtes in Berlin anläss- lich des Besuchs des peruani- schen Staatspräsidenten am ange- treten. Das Antreten gehört zu den Traditionen in der Bundeswehr. Foto: picture alliance/dpa/Hans-Joachim Rech 16 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Innere Führung für die Ausgestaltung einer leben- trollierter deutscher Streitkräfte eine antwortung und soldatische Motiva- digen Tradition vor. Hierzu zählen dauerhafte Herausforderung dar. tion deutlich heraus. Entsprechend • die fortlaufend schöpferische Der erste, heute weniger bekannte ambivalent ist daher aus heutiger Gestaltung einer wertegebundenen Traditionserlass entstand in diesem Perspektive der sprachliche Duktus, Bildung, Kontext bereits 1965 unter Ägide wenn mit Bezug zum Zeitalter der • die ständige Überprüfung und des damaligen Verteidigungsminis- Weltkriege festgestellt wurde: „Rechte Fortentwicklung der Tradition mit ters Kai-Uwe von Hassel (CDU). Er Traditionspflege ist nur möglich dem Ziel der Gegenwarts- und wurde wesentlich von ehemaligen in Dankbarkeit und Ehrfurcht vor Zukunftsorientierung, Angehörigen aus Reichswehr und den Leistungen und Leiden der • die nachhaltige Vermitt- Wehrmacht verfasst und geprägt, die Vergangenheit.“ (TradErl 1965, II 8) lung von Identitäts- und sich der Defizite in der politischen Andererseits wurde jedoch bereits Traditionsverständnis, Kontrolle früherer deutscher Armeen die feste Verankerung des mündigen • die Würdigung und Entfaltung der sehr bewusst waren. Als Produkt des „Staatsbürgers in Uniform“ in einem bundeswehreigenen Geschichte Wandels von Weltkrieg und Nach- neuen, demokratischen Deutsch- in den Teilstreitkräften und krieg zum Kalten Krieg stellte er in land unterstrichen und eine rein an Verantwortungsbereichen. vielerlei Hinsicht einen Kompromiss soldatisches Kriegerethos geknüpfte Durch die zahlreichen Brüche, Dis- dar. Einerseits transportierte er noch Dienstausübung kritisiert: „Der kontinuitäten und Besonderheiten die Vorstellungen vom „loyalen deut- Soldat der sich, als unpolitischer der deutschen Militärgeschichte stellt schen Landser“, stellte andererseits Soldat einer falschen Tradition fol- die Traditionsfindung und -pflege jedoch bereits zentrale Prinzipien der gend, auf das militärische Handwerk demokratischer, vom Parlament kon- Inneren Führung wie Führungsver- beschränkt, versäumt einen Der Stellvertreter des Generalin- spekteurs der Bundeswehr, Vize- admiral Joachim Rühle, trägt beim vierten Workshop zur Überarbeitung des Traditionserlasses im Novem- ber 2017 in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin vor. Foto: Bundeswehr/Oliver Lang Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 17
Innere Führung Foto: Bundeswehr/Patrik Bransmöller Am interaktiven Medientisch werden zusätzliche Inhalte zugänglich gemacht. wesentlichen Teil seiner beschwo- das Ende des Kalten Krieges, zahl- eine permanente, kritische Ausei- renen Dienstpflicht als Soldat einer reiche Auslandseinsätze als Armee nandersetzung mit der deutschen Demokratie.“ (TradErl 1965, II 17) im Bündnis oder die Aussetzung Militärgeschichte erfordert. Im Seit dem grundlegend moderni- der Verpflichtung zur Ableistung Mai 2017 hat die damalige Vertei- sierten Folgeerlass, der „Richtlinie des Grundwehrdienstes haben der digungsministerin Dr. Ursula von zum Traditionsverständnis und Truppe ein neues, verändertes Gesicht der Leyen (CDU) daher die erneute Traditionspflege in der Bundeswehr“ gegeben. Frauen und Männer dienen Überarbeitung des Traditionser- vom 20. September 1982 unter Ver- nunmehr gleichberechtigt, neue zivile lasses angewiesen und die neuen teidigungsminister Hans Apel (SPD), und militärische Organisationsbe- „Richtlinien zum Traditionsver- unterlag die deutsche Verteidigungs- reiche wurden geschaffen, um den ständnis und zur Traditionspflege politik und somit auch ihr wesent- sicherheits- und verteidigungspoli- 2018" in Kraft gesetzt. " licher Akteur wiederum starken tischen Herausforderungen des 21. Den Resonanzraum der Traditions- strukturellen und sozio-politischen Jahrhunderts gerecht zu werden. Die findung bildet seither die gesamte Veränderungen. Bundeswehr ist stetig und ständig ein- deutsche Geschichte. Der Traditi- Die Bundeswehr hat sich nach dem gebunden in internationale Einsätze onserlass lässt damit ausdrücklich Mauerfall 1990 und dem Ende der der NATO, der EU sowie der UN; sie einen ganzheitlichen Betrachtungs- bipolaren Weltordnung über die ist fest integriert in multinationale rahmen der Militärgeschichte zu „Armee der Einheit“ schließlich Bündnisstrukturen. und fordert die kritische Auseinan- zur „Armee im Einsatz“ wesentlich Gleichermaßen sind demokratische dersetzung mit deren Höhen und weiterentwickelt. Neue sicherheits- Streitkräfte als Teil der Gesellschaft Tiefen auf Grundlage der Werte und politische Voraussetzungen, wie deren Wandel unterworfen, was Normen des Grundgesetzes, sowie 18 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Innere Führung Das Traditionshaus der Bundeswehr Grafik: KdoSKB Referat Innere Führung/Bundeswehr/Daniela Hebbel TRADITION DER BUNDESWEHR INNERE TSK/ GESCHICHTE PERSÖNLICH- FÜHRUNG OrgBer DER KEITS- BUNDESWEHR BILDUNG WERTE UND NORMEN des Soldatengesetzes WERTE UND NORMEN des Gundgesetzes DEUTSCHE GESCHICHTE des darauf aufbauenden Soldaten- Aufgabe aller Angehörigen der Bun- Florian J. Schreiner gesetzes: „Die Ursprünge der Werte deswehr. Die Bundeswehr verfügt ist Historiker beim Komman- und Normen des Grundgesetzes selbst über einen breiten Fundus, do Streitkräftebasis (SKB) und reichen weit in die Vergangenheit um mit Stolz Tradition zu stiften.“ als Sammlungsbeauftragter für die Sammlungen und Ausstellungen zurück. In diesem Verständnis las- (TradErl 2018, 3.2) in der SKB zuständig. sen sich aus allen Epochen der deut- Eingerahmt wird diese Traditi- schen Militärgeschichte vorbildliche onsfindung durch das bewährte Volker Böcker soldatisch-ethische Haltungen und Selbstverständnis und die Füh- Oberstleutnant und Grundsatz- Handlungen sowie militärische For- rungskultur der Inneren Führung referent im Referat Innere men, Symbole und Überlieferungen sowie von einer umfassenden Führung des Kommandos in das Traditionsgut der Bundes- Persönlichkeitsbildung, sowohl für SKB. Zusammen mit Florian J. wehr übernehmen.“ (TradErl 2018, Soldatinnen und Soldaten als auch Schreiner war er maßgeblich an 3.1) für die zivilen Mitarbeiterinnen und der Konzeption und dem Aufbau der Regionalen Ausstellung der SKB Fotos: Bundeswehr/Roland Alpers Weiterhin wurde insbesondere die Mitarbeiter. Hieraus erwächst die beteiligt. Geschichte der Bundeswehr und Tradition der Bundeswehr mit ihren ihrer Organisationsbereiche als greifbaren und identitätsstiftenden Kurz gefasst: zentraler Bezugspunkt der Tradi- Vorbildern. Es ist eine Führungs- Regionale Ausstellungen sind ein tionspflege etabliert. Die von ihr aufgabe dieses Traditionsverständ- wertvolles Mittel, die Ausprägung in nunmehr 65 Jahren erbrachten nis im Bewusstsein der Menschen bundeswehreigener Traditionslinien zu militärischen Leistungen bilden zu stärken und im Dienstalltag zu stärken. Die Regionale Ausstellung der das Rückgrat der eigenen Identi- vergegenwärtigen. Streitkräftebasis greift ein zukunftsori- tät: „Zentraler Bezugspunkt der Ob und wie die Ziele der Persön- entiertes Traditionsbild auf und bindet Tradition der Bundeswehr sind ihre lichkeitsbildung konkretisiert, ope- die Traditionspflege über ein eigens eigene, lange Geschichte und die rationalisiert, und schlussendlich dafür konzipiertes Seminarangebot "Lernort Bonn" in die soldatische Per- Leistungen ihrer Soldatinnen und implementiert und nutzbar gemacht sönlichkeitsbildung ein. Dafür werden Soldaten, zivilen Angehörigen sowie werden können, zählt zu den zen- sowohl historische, politische als auch Reservistinnen und Reservisten. tralen Herausforderungen für die ethische Inhalte vertieft und für die […] Diese Geschichte zu würdigen Führungskultur der Bundeswehr in Truppe nutzbar gemacht. und ihr Erbe weiterzuentwickeln ist den nächsten Jahren. Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 19
Innere Führung Cyber war – Moral im virtuellen Raum? Brauchen wir eine neue Ethik für den Cyber war? Beim Cyber war handelt es sich um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstech- nologie im virtuellen Raum, die zum Ziel hat, Ländern, Institutionen oder der Gesell- schaft auf elektronischem Weg zu schaden und wichtige Infrastrukturen zu stören. Die Anzahl der digitalen Angriffe auf deutsche Netze lässt vermuten, Deutschland befinde sich im Kriegszustand – im Cyber war. Die Schwelle zur völkerrechtlichen Bewertung von Cyber-Angriffen als bewaffnete Konflikte zur Legitimierung militärischer Gewalt ist bisher nicht defi- niert. Erheblich größere Datenmengen und genauere sowie effektivere Waffen stellen die Leistungsfähigkeit der "alten Ethik" auf die Probe. S ind wir eigentlich schon das nächste „Pearl Harbor“ werde bislang noch unscharf. Das zeigt Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert im „Cyber war“? Wenn man die eine Cyber-Attacke sein. Mit diesem auch das 2013 im NATO-Rahmen bloße Zahl der digitalen Angriffe Ausspruch vom „Cyber Pearl Har- (Cooperative Cyber Defence Center auf die deutschen Netze und Infra- bor“ aber stehen wir schon mitten of Excellence) erarbeitete „Tallinn strukturen ansieht, könnte man in einem Problem, das viel mehr ist Manual“ und sein Nachfolger „Tal- einen Kriegszustand vermuten. Im als eine Frage der Definition. Steht linn 2.0“ von 2017. Beide sollen der Frühjahr 2019 wurden allein im Deutschland als angegriffenes Land völkerrechtlichen Bewertung von Netz der Deutschen Telekom 46 Mil- also bereits in einem Kriegszustand? Cyber-Konflikten dienen. Der Cyber lionen Angriffe pro Tag registriert. Oder anders gefragt: Wann verdich- war ist demnach zunächst auch nur Die weit überwiegende Zahl der ten sich Cyber-Attacken zu einem eine semantische Eskalation - die Attacken richtete sich gegen zivile Cyber war? Wo liegt die Schwelle allerdings markiert, wie dringlich die Ziele. Entsprechend der Vorgaben jenseits derer „Cyber-Angriffe“ so Klärung der Fragen ist. In diesem des Grundgesetzes werden die nati- gravierend sind, dass sie im völker- Zusammenhang wird auch die Frage onalen Cyber-Sicherheitsstrukturen rechtlichen Sinne als bewaffnete nach einer Cyber-Ethik plausibel. auch nicht militärisch koordiniert, Konflikte bewertet werden kön- Konflikte im Cyber-Raum stellen sondern zivil – durch das BMI. nen – und damit auch den Einsatz uns vor derart neue Fragen, dass Schon 2011 befand der damalige US- militärischer Gewalt legitimieren? herkömmliche ethische Orientierung Verteidigungsminister Leon Panetta, Die Definition dieser Schwelle ist nicht mehr ausreicht. In einer Cyber- 20 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
Innere Führung FCAS ist ein Waffensystem der nächs- ten Generation. Ein Kampfflugzeug der 6. Generation schließt sich mit sogenann- ten Remote Carriern (RC) im Verbund als Kampfkraftmultiplikatoren zusam- men. Bemannte und unbemannte Platt- formen fügen den kollektiven Fähig- keiten ihre Einzelfähigkeiten hinzu. Grafik: Eurofighter GmbH „ Mariarosaria Taddeo, Ethikerin F o t o: F i s h e r einer „Arbeitsgruppe Technikverant- am Oxford Internet Institute: wortung“ als Teil der Entwicklung St u d „In einem Informationskrieg des deutsch-französischen Großpro- io werden ICTs (Informations- und jektes „Future Combat Air System“ sL td/ Computer-Technologien) innerhalb (FCAS). a D vid einer offensiven oder defensiven F is her Militärstrategie durch einen Staat mit Militärethik für das Informations- dem Ziel der sofortigen Störung oder Kontrolle der zeitalter. Die Frage nach einer Mili- Ressourcen des Feindes eingesetzt. Der Kampf wird tärethik für das Informationszeitalter im Informationsumfeld sowohl mit physischen und umfasst allerdings mehr als „Cyber- nicht-physischen Akteuren und Zielen geführt, deren Attacken“. Hilfreich sind Überle- Gewaltschwelle je nach Umständen variieren kann.“ gungen der am Oxford Internet Institute lehrenden Ethikerin Maria- rosaria Taddeo. Sie spricht 2014 von „Information warfare“ und definiert Ethik geht es nicht nur um Konflikte dem Amt für Heeresentwicklung diese folgendermaßen: Information “ im digitalen Raum. Sie stellen ledig- gegenwärtig ein eher technischer warfare is the use of ICTs (Informa- lich eine Dimension des viel umfas- und anwendungsorientierter Zugang tion and Computer Technologies) senderen Wandels dar, der mit dem zum Digitalen, der auf Bedarfe und within an offensive or defensive mili- Eintritt in das Informationszeitalter Einsatzszenarien, Beschaffung und tary strategy endorsed by a State and begonnen hat. Von einer kritischen Implementierung ausgerichtet ist. aiming at the immediate disruption Öffentlichkeit, in der über Folgen der Ethische Fragen spielen dabei kaum or control of the enemy´s resources, Digitalisierung diskutiert wird, kom- eine Rolle. Immerhin: Im Podcast and which is waged within the infor- men Überlegungen zu einer Ethik „sicherheitshalber“ berichtete Ende mational environment, with agents für das Informationszeitalter. Inner- Januar 2020 der Münchner Poli- and targets ranging both on the phy- halb der Bundeswehr dominiert laut tikwissenschaftler Frank Sauer von sical and non-physical domains Zeitschrift für Innere Führung 2|2020 21
Innere Führung and whose level of violence may die computergestützte Vernetzung Schauen wir uns an, was ethische vary upon circumstances.” Diese unserer Lebenswelt sind mehr als Reflexion an Orientierung bieten Definition richtet sich auf staatliches nur technische Mittel. Sie setzten kann, dann fragt Ethik nach Grün- Handeln, markiert Grenzüberschrei- überkommene Lebensformen unter den und Folgen von Handlungen in tungen zwischen physischer und Druck, veränder Wissensformen Bezug auf ihre moralische Qualität. nicht-physischer Domäne und bleibt und Wissensordnungen, veränderten Es geht erstens um Entscheidungen: im Bezug auf das – für die Verwen- Ökonomien und Arbeit und bewirk- „Was soll ich tun?“ mit Blick auf dung des Kriegsbegriffes entschei- ten obendrein eine umfassende Rechte und Pflichten einerseits und denden – Gewaltniveau unscharf. Mobilisierung. Schritt für Schritt mit Blick auf Handlungsziele („Güter“ Taddeo gliedert in drei Bereiche: 1. führt dies zu einer neuen „Vermes- oder auch „Werte“) andererseits. Es Robotic weapons" mit autonomen sung der Welt“. Machtverteilungen geht zweitens um Grundhaltungen " Waffensystemen, KI (Künstliche ändern sich und Plausibilitäten wer- (oder Tugenden): „Wie sollen wir Intelligenz), und den Fragen von den verschoben. In den Sozialwis- leben?“ Und Ethik fragt drittens remote warfare; 2. „Communication senschaften spricht man von einem nach „Ver-Antwortung“ im Sinne Management“ mit den Fragen der „Dispositiv“ und bezeichnet damit von Rechtfertigungen: „Welche guten Informationssicherheit, der Sensoren die im Wesentlichen unbewusst Gründe kann ich für mein Handeln und des Datentransfers; und 3. den wirksamen Annahmen der sozialen geben?“ Die Frage nach der Moralität Bereich der „Cyber attacks“. Wirklichkeit. Sie beschreiben den und der Legitimität des Handelns Im Rahmen der Information warfare Raum des überhaupt Möglichen, muss in ihrer Eigenständigkeit beach- wird deutlich, dass die Fragen einer die Ideen (Diskurse) und Praktiken, tet und bedacht werden, so Taddeo. Cyber-Ethik den angesprochenen die Verhalten im Kern bestimmen. Die Frage kann weder in Bezug auf umfassenden Wandel betreffen: Ist „Digitalisierung“ ein solches Effektivität noch auf Legalität beant- Digitalisierung verändert unsere neues „Dispositiv“? Oder ist das, wortet werden. Nicht alles, was unter soziale Wirklichkeit tiefgreifend. was gegenwärtig geschieht und an dem Gesichtspunkt der Effektivität Dieser Wandel hat viele Facetten Dynamik immer weiter zunimmt, sinnvoll ist, muss rechtskonform und die Abstraktion „Digitalisierung“ eine Weiterentwicklung der Instru- sein. Und was rechtlich gestattet ist, wird dieser Vielfalt der Phänomene mente, die auch bislang zur Verfü- ist damit nicht unbedingt auch nicht gerecht. Sie benennt vor allem gung standen – jetzt allerdings mehr, legitim oder moralisch richtig. die technische Außenseite. Der schneller und weiter? Ist Digitalisie- Konfliktszenarien erkunden – zunehmende Datenaustausch sowie rung ein quantitativ beschreibbarer explorative Ethik. Wie sehen die Datensammlung im Rahmen Trend – oder geschieht etwas quali- Konflikte im digitalen Raum aus? gesellschaftlicher Prozesse und tativ Neues auf einer Metaebene? Was verändert sich in ihnen? Wir Der wachsende Datenaustausch im Rahmen gesellschaftlicher Prozesse und die computerge- stützte Vernetzung setzten über- kommene Lebensformen unter Druck, verändern Wissensfor- men, Ökonomien und Arbeit. Foto: stock.adobe.com/Peshkova 22 Zeitschrift für Innere Führung 2|2020
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