AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jemen - Bundeszentrale für politische Bildung

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jemen - Bundeszentrale für politische Bildung
70. Jahrgang, 1–3/2020, 6. Januar 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
       Jemen
         Maali Jamil                             Guido Steinberg
 JEMEN – HIN UND ZURÜCK                        DER JEMEN
                                             ZWISCHEN IRAN
       Marieke Brandt
                                            UND SAUDI-ARABIEN
    KLEINE GESCHICHTE
        DES JEMEN                               Mareike Transfeld
                                        ANSATZPUNKTE FÜR EINEN
    Marie-Christine Heinze
                                         NACHHALTIGEN FRIEDEN
     EINE EINFÜHRUNG
                                               IM JEMEN
  IN DEN JEMEN-KONFLIKT
                                          Alex de Waal · Bridget Conley
       Rafat Al-Akhali
                                                  HUNGER
    WIRTSCHAFTLICHE
                                              ALS KRIEGSWAFFE
     AUSWIRKUNGEN
 DES KONFLIKTS IM JEMEN

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jemen - Bundeszentrale für politische Bildung
Jemen
                                      APuZ 1–3/2020
MAALI JAMIL                                        GUIDO STEINBERG
JEMEN – HIN UND ZURÜCK                             DER JEMEN ZWISCHEN IRAN
Wenn ich erzähle, dass ich Jemenitin bin, brau-    UND SAUDI-ARABIEN
chen die meisten Leute erst einmal eine Minute,    Der Krieg im Jemen ist auch ein Konflikt zwi-
um mein Herkunftsland auf ihrer inneren            schen den Regionalmächten Saudi-Arabien und
Landkarte zu verorten. Ehe ich als 15-Jährige      Iran. Riad intervenierte 2015, um ein Erstarken
2005 mit meinen Eltern wieder nach Sanaa zog,      der schiitischen Huthi-Rebellen zu verhindern.
wusste auch ich nicht allzu viel über den Jemen.   Iran baute gleichzeitig seine militärische Hilfe an
Seite 04–07                                        die Aufständischen aus.
                                                   Seite 34–40
MARIEKE BRANDT
KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN                        MAREIKE TRANSFELD
Die jemenitische Geschichte zeigt, dass es keine   ANSATZPUNKTE FÜR EINEN NACHHALTIGEN
einheitliche Vergangenheit des lange in kleinere   FRIEDEN IM JEMEN
Reiche und Einflusssphären zersplitterten Landes   Auch ohne eine politische Lösung des Konflikts
gibt. Auch die heute vielbeschworene nationale     im Jemen gibt es viele Punkte, an denen bereits
Einheit des Jemen ist eine junge Erscheinung mit   jetzt angesetzt werden kann, um das Leben der
geringer geschichtlicher Substanz.                 Zivilbevölkerung auf der lokalen Ebene zu ver-
Seite 09–17                                        bessern und dazu beizutragen, Voraussetzungen
                                                   für einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
                                                   Seite 41–46
MARIE-CHRISTINE HEINZE
EINE EINFÜHRUNG IN DEN JEMEN-KONFLIKT
Der Konflikt im Jemen ist ein Bürgerkrieg mit      ALEX DE WAAL · BRIDGET CONLEY
internationaler Beteiligung, der aufgrund seiner   HUNGER ALS KRIEGSWAFFE
Komplexität nur schwer zu lösen ist. Seine         In der Geschichte moderner Kriegsführung hat
Wurzeln liegen in der jüngeren Geschichte des      Aushungerung viele Zwecke erfüllt und sich
Landes und vor allem im nach den Protesten         als mächtige und oft tödliche Waffe erwiesen.
2011 gescheiterten Transitionsprozess.             Einige Hungerverbrechen sind klar umrissen, bei
Seite 18–25                                        anderen wirken ökonomische und Umweltfakto-
                                                   ren neben politischen Entscheidungen.
                                                   Seite 47–52
RAFAT AL-AKHALI
WIRTSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN
DES KONFLIKTS IM JEMEN
Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges
im Jemen 2015 litt das Land unter Instabilität,
einer entsprechend schwachen Wirtschaft und
verbreiteter Armut. Nach fünf Jahren bewaff-
neten Konflikts im Land ist die jemenitische
Wirtschaft fast komplett zusammengebrochen.
Seite 26–33
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EDITORIAL
Auch im Jemen hatte der „Arabische Frühling“ zunächst Hoffnungen geweckt.
Nachdem der seit über drei Jahrzehnten regierende Präsident Ali Abdullah Salih
2011 infolge von Massenprotesten zurückgetreten war, leitete die Übergangsre-
gierung einen gesellschaftlichen Dialogprozess ein, dessen Ziel unter anderem
eine neue Verfassung war. Jene Akteure, die wieder einen eigenen südjemeniti-
schen Staat anstreben, zogen sich jedoch frühzeitig aus den Beratungen zurück.
2014 kehrten auch die schiitischen Huthis, die sich in den 2000er Jahren einen
Guerillakrieg mit den Truppen des Regimes geliefert hatten, dem Prozess den
Rücken und gingen, nun im Verbund mit dem gestürzten Präsidenten Salih,
militärisch in die Offensive. Bis September brachten sie den Nordwesten des
Landes unter ihre Kontrolle und nahmen die Hauptstadt Sanaa ein, wenig später
rückten sie weiter in Richtung der südlichen Hafenstadt Aden vor.
   Anfang 2015 griff Saudi-Arabien an der Spitze einer Militärkoalition in den
Konflikt ein, um die international anerkannte Regierung und Präsident Abd
Rabbuh Mansur Hadi gegen die Huthis zu unterstützen, die ihrerseits Waf-
fenlieferungen aus Iran erhielten. Seitdem herrscht im Jemen ein Krieg, dessen
Folgen die Vereinten Nationen als die derzeit größte humanitäre Katastrophe
weltweit einstufen: Nach UN-Schätzungen sind fast eine Viertelmillion Men-
schen durch Waffengewalt oder infolge von Mangelernährung, Krankheit und
fehlender medizinischer Versorgung ums Leben gekommen. Fast die Hälfte der
Bevölkerung, rund 14 Millionen Menschen, ist von Hunger bedroht.
   In der westlichen Öffentlichkeit ist der Krieg im bereits zuvor von Instabili-
tät geprägten „Armenhaus der arabischen Welt“ weniger präsent als etwa jener
in Syrien. Dabei reichen die Verbindungen insbesondere US-amerikanischer,
britischer, französischer und deutscher Unternehmen über Waffenhandelsver-
träge mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch bis
in den Jemen. Derzeit prüft der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag,
ob Rüstungskonzerne und Regierungen sich durch die Lieferung von Waffen
beziehungsweise deren Genehmigung der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schuldig
machen.

                                                   Anne-Sophie Friedel

                                                                               03
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                                                 ESSAY

                  JEMEN – HIN UND ZURÜCK
                                             Maali Jamil

Der Jemen ist die Wiege eine der ältesten Zivilisa-   che meiner Mutter verständigen konnte und die
tionen der Welt. Seine reiche und vielfältige Ge-     traditionellen Gerichte meiner beiden Eltern aß.
schichte ist in unser Essen, unsere Musik, unse-      Ich spielte mit Kindern, die wie ich den Jemen
re Kleidung und Traditionen eingeschrieben, die       vor allem aus den Erzählungen ihrer Eltern kann-
sich von Region zu Region und von Stadt zu            ten, aus den Traditionen und Fotoalben mit Bil-
Stadt unterscheiden können – von meinen ge-           dern von einem Land, das sie einst verlassen hat-
liebten Meeresfrüchten in roter Sauce in Aden bis     ten und von dem sie dachten, dass sie es bei ihrer
zu den warmen, luftig gebackenen und mit Ho-          Rückkehr unverändert vorfinden würden. Wenn
nig beträufelten Süßigkeiten von Sanaa; von den       wir zusahen, wie unsere Mütter und Großmütter
hellen Blau-, Grün- und Goldtönen der traditio-       zu der traditionellen jemenitischen Musik tanz-
nellen Kleider von al-Hudaidah bis zu den kräf-       ten, warteten wir geduldig, bis ein westliches Lied
tigen, erdigen Farben der Trachten von al-Mahra.      lief und es an ihnen war, sich hinzusetzen und uns
Jemen ist ein Wandteppich mit einem nicht enden       beim Tanzen zuzuschauen. Ich wusste eigentlich
wollenden kulturellen Panorama, gewoben von           gar nicht genau, was der Jemen überhaupt war
der Zeit, der Migration und der Geschichte, mit       oder was ich zu erwarten hatte, als ich zum ersten
Bildelementen aus Indien, der Türkei und Äthi-        Mal in Sanaa landete.
opien, die in unserem Alltag immer und überall             Da war dieser altmodische Flughafen und
wiederzufinden sind.                                  dann die flauschigen Sitzbezüge in dem Auto,
    Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich Je-       in dem mich ein Cousin abholte, den ich vorher
menitin bin, brauchen sie häufig erst einmal eine     noch nie getroffen hatte, und all die Bilder und
Minute, um mein Herkunftsland auf ihrer inne-         Geräusche der noch fremden Stadt, in der ich die
ren Landkarte zu verorten oder sich zu erinnern,      nächsten zehn Jahre leben sollte. Auf der Fahrt
mit welcher herzzerreißenden Schlagzeile sie den      durch die verschlungenen Straßen der Hauptstadt
Namen dieses Staates aufgeschnappt haben. Der         hörte ich vom Rücksitz aus die Unterhaltung
Jemen, wie wir ihn aus den Nachrichten kennen,        zwischen meinem Vater und seinem Neffen mit,
ist beherrscht von Bildern des Grauens: Krieg,        die bei diesem Wiedersehen einen Dialekt spra-
Zerstörung, humanitäre Krisen, Gesundheitskri-        chen, mit dem ich nicht sehr vertraut war, da mein
sen. Vor dem Krieg ging es in Nachrichten aus         Vater uns gegenüber bisher immer den Dialekt
dem Jemen vor allem um Themen, die mit Ter-           meiner Mutter verwendet hatte. Beim Blick aus
rorismus zu tun hatten, wie zum Beispiel Droh-        dem Fenster bemerkte ich bereits ein Hauptele-
nenangriffe, bei denen unschuldige Zivilisten ge-     ment des ortsüblichen Personenkults: Die ganze
tötet wurden. Die meisten Menschen sehen den          Stadt war mit dem Bild des Präsidenten gepflas-
Jemen durch diese Brille und sind sich der Exis-      tert. Die Märkte liefen über vor Autos, Menschen
tenz dieses Landes überhaupt erst seit Kurzem         und Verkäufern, die mit ihrem in Endlosschleife
bewusst.                                              wiederholten Geschrei um Aufmerksamkeit für
                                                      ihr Obst oder Gemüse der Saison warben. Die
                 UNBEKANNTE                           Männer trugen Kleidung, die ich von Festen und
                   HEIMAT                             Bildern kannte, aber als Alltagskluft sehr merk-
                                                      würdig fand. Die Frauen waren von Kopf bis Fuß
Ehe ich als 15-Jährige 2005 mit meinen Eltern         bedeckt, und ich kam mir ohne Kopftuch irgend-
wieder nach Sanaa zog, wusste auch ich nicht all-     wie fehl am Platz vor.
zu viel über den Jemen, auch wenn ich mich ei-             Wir erreichten das Haus meines kürzlich ver-
nigermaßen in der südarabischen Umgangsspra-          storbenen Onkels und wurden mit der Gast-

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Jemen APuZ

freundschaft und Wärme empfangen, die ich von          manchmal mit finanzieller Hilfe von Verwandten
Jemeniten kannte und erwartete. Einige mei-            aus dem Ausland, manchmal aber auch auf eigene
ner Verwandten hatte ich vorher noch nie gese-         Faust. Wir fuhren einmal zu einem Ort nicht weit
hen. Es gab sogar ein paar, von denen ich über-        vom Dorf meines Vaters, wo wir tagelang ohne
haupt nichts wusste, nicht einmal die Vornamen.        Stromanschluss lebten. Aber vor dem Sonnenun-
Ein paar Cousinen, die ungefähr so alt waren wie       tergang starteten die Bewohner eines der wohlha-
ich, sprachen Englisch mit mir – was für eine Er-      benderen Haushalte ihren Generator. Die Nach-
leichterung! Ich konnte mich also ins Englische        barn durften dann gegen eine geringe Gebühr den
flüchten, wenn mein Arabisch mich im Stich ließ,       Strom ­mitnutzen.
was unvermeidbar war und in der ersten Zeit sehr           Solche Systeme gibt es auch in größerem Maß-
häufig passieren sollte.                               stab. Wer im Jemen Post verschicken möchte, gibt
    Zum Mittagessen setzten wir uns um ver-            seine Sendung jemandem, der in den Überland-
schiedene bunte Schüsseln und Teller herum.            bus steigt und diese dann gegen etwas Geld zum
Die Frauen aßen gemeinsam im einen Raum, die           Empfänger befördert. Der entrichtet einen zwei-
Männer im anderen. Es gab im Haus männliche            ten Betrag, um schließlich seine Post zu erhalten.
und weibliche Bereiche. Die Männer, die nicht          Es ist bestimmt auch schon einmal etwas verlo-
zur unmittelbaren Verwandtschaft gehörten, gin-        ren gegangen, aber nach unserer Erfahrung ist die
gen bei ihrer Ankunft direkt in den Gästetrakt         Mitwirkung bei dieser Art der Postbeförderung
des Hauses, während die Frauen in den anderen          eine Frage der Ehre: In unserem Fall hat dieses
Teil geleitet wurden. Nach und nach lernte ich,        System immer funktioniert – und war zuverläs-
zu welchen männlichen Verwandten ich je nach           siger als der ohnehin kaum vorhandene formelle
Alter und Verwandtschaftsgrad Kontakt haben            Postdienst.
konnte. Diese Familientreffen folgten einem eige-          Das Leben in den Dörfern folgt naturgemäß
nen Rhythmus, und alle wussten, wo sie sich auf-       einem anderen Rhythmus als jenes in den Städten.
halten durften und wo nicht. Das Essen fand stets      Das erste Dorf, das ich besuchte, war recht klein
reibungslos seinen Weg von der Frauenseite hinü-       – es bestand aus vielleicht sieben oder acht Haus-
ber zu den Männern. Ein Mann, der einen Grund          halten, in denen mehrere Generationen unter ei-
hatte, den für Frauen reservierten Trakt des Hau-      nem Dach lebten. Die Häuser waren jeweils durch
ses zu betreten, hüstelte höflich oder sagte etwas,    ein Stück Land voneinander getrennt. Als ich ein-
um sein Eintreten anzukündigen. Die Frauen             mal mit einer Verwandten vor dem Haus unse-
wiederum klopften an die Türen des Männer-             rer Gastgeber stand, nannte sie mir die Namen
traktes, um zu signalisieren, dass sie eine Schüssel   der Familien, die in den benachbarten Häusern
mit Essen davor abstellen würden. Es war nicht         wohnten, und erzählte mir, wer auf der Hochzeit
schwer für mich, das alles zu übernehmen, denn         erwartet wurde, für die ich in den Ort gekommen
dieser Umgang mit Gästen war in den meisten            war. Als sie mir die Namen nannte, sagte sie mir
Haushalten ganz ähnlich. Nach kurzer Zeit hat-         immer dazu, in welcher Beziehung die Personen
ten meine Brüder und ich uns ­angepasst.               zu Braut und Bräutigam standen, die ebenfalls
                                                       entfernt verwandt waren. Es gab eine viel größere
                   STARKE                              Nähe zwischen den Menschen, denn sie pflegten
                GEMEINSCHAFT                           enge Beziehungen, zu denen es gehörte, dass die
                                                       Menschen sehr stark am Leben ihrer Nachbarn
Wir lernten zu schätzen, wie gemeinschaftsorien-       und Verwandten Anteil nahmen. Gemeinsam lös-
tiert der Jemen war, denn starke staatliche Institu-   ten sie ihre Probleme, feierten, bewirtschafteten
tionen oder funktionierende öffentliche Dienst-        die Felder, trauerten. Als meine Verwandte auf
leistungen gab es nicht. Daher taten die Leute         die verschiedenen Häuser und Gehöfte zeigte,
sich automatisch im Kleinen zusammen, um ihre          schmeichelte das satte Grün meinen Augen – was
Probleme zu lösen. Im Jemen leben gut 30 Millio-       für ein herrlicher Kontrast zur trockenen Haupt-
nen Menschen. 70 Prozent von ihnen wohnen auf          stadt! Es hatte den Anschein, dass hinter den sanf-
dem Land, in Gegenden ohne verlässliche Was-           ten Hügeln nichts mehr kam. Doch als wir auf ei-
ser- und Stromversorgung und mit schlechten            nen dieser Hügel gestiegen waren, sahen wir auf
Straßen. Die Ineffizienz der Regierung gleichen        einmal weitere Dörfer, zu denen sie mir dann
sie indessen mit eigenen, lokalen Lösungen aus –       ebenfalls einige Geschichten e­ rzählte.

                                                                                                       05
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    Ich hatte großen Respekt davor, wie die Men-     schen gaben den Debatten im Unterricht eine ge-
schen auf informellem Weg und ohne Hilfe der         wisse Tiefe. Häufig nahmen sie unerwartet eine
Regierung ihre gemeinschaftlichen Bedürfnisse        politische Wendung, wenn auch nur auf meta-
befriedigten, denn es zeigte, wie widerstandsfähig   phorischer Ebene, denn die Menschen waren sehr
und tüchtig sie waren. Doch das Fehlen starker       vorsichtig, wenn es darum ging, Meinungen über
staatlicher Institutionen hatte auch der Vettern-    den damaligen Präsidenten, den bis 2011 regie-
wirtschaft Vorschub geleistet, die so tief verwur-   renden Ali Abdullah Salih, zu äußern.
zelt war, dass sie Teil des Alltags geworden war.
Gewisse Namen und familiäre Verbindungen hat-                           STURM
ten enormes Gewicht, und alles hing davon ab,                     DER VERÄNDERUNG
wen man kannte. Die Reichen wurden immer rei-
cher, weil ihre Kinder die am besten bezahlten       2011 kam die Revolution. Sie war Ausdruck ei-
Jobs und die besten Stipendien bekamen – aller-      ner leidenschaftlichen Ablehnung des unglaub-
dings nicht unbedingt wegen ihrer persönlichen       lich niedrigen Lebensstandards, den politische
Verdienste. Menschen ohne starkes Netzwerk           und religiöse Eliten einem verarmten Volk auf-
mussten allzeit bereit sein, Entscheidern jeder      gezwungen hatten. Es birgt eine gewisse Iro-
Art Bestechungsgelder zu zahlen, und zwar vom        nie, dass die Revolution nach wie vor Millionen
kleinsten Beamten bis zum höchsten Amtsträger.       Menschen mit Stolz erfüllt, obwohl auch sie am
Keine guten Beziehungen und kein Geld zum Be-        Ende zur Beute genau dieser Eliten wurde. Die
stechen zu haben, bedeutete für die verarmte Be-     Proteste waren nicht nur weitgehend friedlich in
völkerung in der Regel, dass es keine Chance gab,    einem Land, in dem es fast so viele Waffen pro
Verwaltungsvorgänge – sei es nun in der Justiz,      Kopf gibt wie in den USA, sondern sie führten
im Bildungswesen oder im Gesundheitsbereich –        auch zum Ende einer autokratischen Herrschaft,
voranzubringen.                                      die ansonsten vom Vater an den Sohn weitergege-
    Während meiner Zeit im Jemen erlebte ich         ben worden wäre.
Augenblicke des Glücks, der Trauer, der Frustra-          Im Sommer 2011, einige Monate nach Beginn
tion und der Liebe. Was ich aber immer empfand,      der Revolution, hatte ich bereits seit dem Vor-
ist Bewunderung. 2008 fing ich an, Englisch als      jahr eine dauerhafte Vereinbarung mit einem Ta-
Fremdsprache zu unterrichten, und damals lern-       xifahrer, einem jungen Mann, der mich jeden Tag
te ich erstmals Jemeniten jeder Couleur kennen.      abholte und am Arbeitsplatz absetzte. Während
Zu jedem Semesterbeginn wuchs meine Schü-            der Revolution war das ein sehr unsicherer Ort,
lerzahl und mit ihr meine Bewunderung für die        an dem es zu gewaltsamen Auseinandersetzun-
Stärke dieser Menschen, die in ihre Bildung in-      gen kam und Scharfschützen lauerten. Doch das
vestierten. Wenn ich vormittags unterrichtete, ka-   Leben ging einfach weiter, und wir fuhren je-
men manchmal Mütter, die zuvor ihre Kinder zur       den Tag die 20 Minuten zu meinem Arbeitsplatz
Schule gebracht hatten, um dann selbst zum Un-       und wieder zurück. Ich hatte eine Freundin, die
terricht zu gehen. Am späten Nachmittag kamen        nur einige Häuserblocks entfernt lebte und eine
Hochschulstudenten in meinen Kurs, die bereits       Mitfahrgelegenheit brauchte. Sie wohnte zu weit
stundenlange Lehrveranstaltungen hinter sich         entfernt zum Laufen, aber zu nah, als dass es sich
hatten, oder Angestellte, die nach der Arbeit in     für einen Fahrer gelohnt hätte, eine Tour in ihre
den Englischunterricht kamen, statt nach Hause       Gegend zu riskieren. Also entschieden mein Ta-
zu gehen. Der Zustand des Bildungssystems war        xifahrer und ich, sie jeden Tag abzuholen und
und ist erschreckend, weshalb die Menschen sich      mitzunehmen. Die Hauptstraßen waren blo-
privaten Instituten zugewendet haben, um dort        ckiert, weshalb wir unbeleuchtete Nebenstre-
die Sprache zu lernen, die es ihnen ermöglichen      cken nehmen mussten, auf denen wir nur das sa-
soll, national und international mitzuhalten, sich   hen, worauf der Lichtkegel unserer Scheinwerfer
um Stipendien zu bewerben, ins Ausland zu rei-       fiel. Kurz vor der Straße, in der meine Freundin
sen oder einen gutbezahlten Job zu finden. Vor       wohnte, blendete der Fahrer das Licht ab, öffnete
mir saßen Sprachschüler aus unterschiedlichen        sein Fenster und fuhr mit dem Auto langsam zu
sozialen Schichten, einige zahlten selbst, andere    der Kreuzung, an der sie wohnte. Dort standen
hatten ein staatliches Stipendium erhalten, und      Regierungssoldaten, die jede Bewegung in der
die unterschiedlichen Bezugsrahmen dieser Men-       Straße überwachten. Zuvor hatte meine Freun-

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Jemen APuZ

din mir erzählt, dass sie beim Blick aus ihrem       nen Raum wieder aufgeben, denn heute arbei-
Fenster manchmal sehen konnte, wie eine Ziga-        ten mehr Frauen als je zuvor zum Beispiel als
rettenkippe im Wind über die Dächer der umlie-       Mediatorinnen, Forscherinnen, Bloggerinnen,
genden Häuser tänzelte. Von da an sah ich mich       Gründerinnen von Graswurzelinitiativen, Be-
jedes Mal um, wenn wir sie absetzten, denn die       treiberinnen kleiner Unternehmen, Lehrerin-
herumwehenden Zigarettenkippen verrieten uns,        nen, Händlerinnen, Bauingenieurinnen oder
dass irgendwo auf einem der Dächer ein Scharf-       Webdesignerinnen. Trotz der häufigen Polarisie-
schütze lag und uns beobachtete. Wochenlang          rung durch die Politik scheint es im Land eine
hielten wir tagtäglich an diesem Punkt an. Die       breite Bewunderung für die Erfolge zu geben,
Soldaten sahen in das Auto, wiesen uns an, sie       die Frauen trotz all der ideologischen und ge-
auf der anderen Straßenseite abzusetzen, zu wen-     sellschaftlichen Hindernisse und der Härten des
den und auf demselben Weg zurück zu fahren.          Krieges errungen haben.
Bevor ich selbst anfing, zu fahren, war ich jahre-
lang von diesem Taxifahrer abhängig, wenn ich                               HEUTE
irgendwohin fahren wollte, und ich werde ihm
ewig dankbar sein, dass er immer eine Möglich-       Heute lebe ich in Europa, in Sicherheit, aber auch
keit gefunden hat, uns abzuholen.                    gequält von den Schuldgefühlen einer Überleben-
     Das Schönste an der Revolution war für mich     den, die ihren im Krieg verstorbenen Vater und
die starke Beteiligung der Frauen. Führungspo-       ihre Familie zurückgelassen hat. Seit ich den Je-
sitionen waren bis dahin vor allem mit Männern       men 2015 mit meinem Mann und unserem klei-
besetzt gewesen, und obwohl bemerkenswerte           nen Kind verlassen habe, denke ich ausnahms-
Frauen es bereits geschafft hatten, zur Ministerin   los jeden Tag an die Sicherheit meiner Familie.
oder Botschafterin ernannt zu werden, mussten        Ich bin in Gedanken bei einer ganzen Generation
zahllose andere um Entscheidungsspielräume in        von Kindern, die um ihre Bildung gebracht wur-
ihren Familien, Gemeinden und in der Öffent-         den, bei den Müttern und Vätern, die ihre Kin-
lichkeit kämpfen. Die besondere Stärke, die je-      der beerdigen mussten und bei einem Land, dem
menitische Frauen schon immer ausgezeichnet          schwere ökologische Krisen bevorstehen, auf die
hat, ist für Menschen, denen dieses Land fremd       wir in keiner Weise vorbereitet sind. Ich denke an
ist, nur schwer erkennbar. Häufig werden wir als     ein Volk, das durch Kriegsherren und Ideologi-
demütig, unterwürfig oder allzu gefällig wahrge-     en polarisiert ist. Doch ich habe auch Hoffnung
nommen, und vielleicht ist das ja sogar die Wahr-    für den Jemen angesichts der jungen Menschen,
heit. Doch zu dieser Wahrheit gehört auch, dass      die nicht aufgeben. Sie schreiben, publizieren, fil-
es die Frauen sind, die unter all den Mängeln der    men, forschen, gründen Firmen, finden techni-
Verwaltung und Gesellschaft am meisten zu lei-       sche Lösungen, führen friedliche Dialoge, vernet-
den haben. Jemenitische Frauen mussten sich in       zen sich in der Diaspora. Wir wenden uns gegen
einer äußerst patriarchalischen Gesellschaft ih-     diesen anhaltenden Zustand des Chaos und der
ren Weg durchs Leben bahnen, um jede Chan-           Teilung, gegen die Abwärtsspirale, die den Jemen
ce kämpfen, immer wieder aufs Neue ihren Wert        seit einigen Jahren erfasst hat. Ich hoffe, dass der
unter Beweis stellen. Sie mussten die negativen      Geist der Revolution wenigstens in den Küns-
Etiketten und Stigmata abwehren, die an jenen        ten weiterlebt und dass ich einmal in einen Je-
hängen bleiben, die gesellschaftliche Normen         men zurückkehren kann, in dem die Revolution
herausfordern. Sie mussten ihren Platz in einer      erfolgreich war.
Gesellschaft neu definieren, die ihren Beitrag
außerhalb der eigenen vier Wände nicht immer         Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson,
schätzt, in einem Land, in dem Männer struk-         Herzberg am Harz.
turell privilegiert sind. Der Konflikt hat inzwi-
schen neue Entwicklungen angestoßen. Frauen
haben die Gelegenheit genutzt, sich Rollen an-
zunähern, die noch vor wenigen Jahren für sie        MAALI JAMIL
einen hohen sozialen Preis gehabt hätten. Es ist     ist eine jemenitische Lehrerin und Autorin. Sie lebt
kaum vorstellbar, dass sie, sollte der Konflikt      und studiert derzeit in den Niederlanden, wo sie
einmal ein Ende nehmen, diesen neu gewonne-          weiter unterrichtet und über den Jemen schreibt.

                                                                                                            07
Atlas des Arabischen Frühlings                                                        Episoden
– die Video-Edition

Fast zehn Jahre nach Beginn der Proteste und Umstürze                                #0 Prolog
in vielen arabischen Ländern ist es an der Zeit, eine               #1 Eine Region im Aufbruch
Bilanz zu ziehen: Was ist in den Jahren des Arabischen
                                                                     #2 Revolution und Rückfall
Frühlings passiert, wie sieht es in Nordafrika und in
Nahost in der Folge aus? Gemeinsam mit den Autorin-                     #3 Stabilität und Gewalt
nen und Autoren des Magazins zenith hat sich Younes                                     #4 Flucht
Al-Amayra, Mitglied des Satirekollektivs „Die Datteltä-                    #5 Europas Dilemma
ter“, auf eine Spurensuche begeben. Sie nehmen die
                                                                                    #6 Geopolitik
Umbrüche in Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und
ihren Nachbarländern unter die Lupe und sprechen mit                   #7 Islam und Islamismus
Experten und Akteuren, um die Entwicklungen in der                        #8 Frauen und Männer
Region besser zu verstehen. Dabei beschäftigen sie                                   #9 Jugend
sich auch mit den überregionalen Folgen – von Demo-
kratisierung und Machtwechsel über Bürgerkriege bis
hin zu Fluchtbewegungen. Die Veränderungen, die mit
                                                                Leitung: Daniel Gerlach (V.i.S.d.P.),
dem Arabischen Frühling ihren Anfang nahmen, haben
                                                                             Florian Guckelsberger
tiefe Spuren hinterlassen. In zehn Episoden werden die                Regie: Florian Guckelsberger
historischen Umbrüche erfahrbar. Und es zeigt sich                     Producer: Riza-Rocco Avsar
auch, wie stark Europa mit der arabischen Welt in         Produktion: Bundeszentrale für politische
Verbindung steht.                                         Bildung, Deutscher Levante Verlag GmbH

              ATLAS DES ARABISCHEN FRÜHLINGS
                      VIDEO-EDITION

                                      www.bpb.de/adaf
Jemen APuZ

           KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN
                                         Marieke Brandt

3000 Jahre Geschichte des Jemen auf wenigen               Es gibt die Idee vom Jemen als einer natür-
Seiten darzustellen – eine Geschichte, die eben-     lichen Einheit, und es gibt die Vision eines po-
so glanzvoll wie wechselhaft ist –, ist nahezu ein   litisch geeinten Jemen. Die Geschichte des Lan-
Ding der Unmöglichkeit. Es gibt keine gemeinsa-      des hat jedoch nur kurz und ausnahmsweise
me Geschichte aller Landesteile des Jemen, eben-     größere politische Strukturen gesehen, die weit
so wie es, bis auf wenige Dekaden, nie eine po-      mehr durch ihre Referenzen an Religion, Dy-
litische und staatliche Einheit gegeben hat. Die     nastien oder Ideologien definiert wurden als
heutige Hauptstadt Sanaa und der Norden bli-         durch territoriale Integrität. Macht war auf eine
cken auf eine andere Geschichte zurück als die       Vielzahl kleiner Zentren verteilt, die auf ihre ei-
Regionen al-Mahra und Hadhramaut im Osten;           genen kleinen Lokalgeschichten zurückblick-
und die Geschichte der Stadt Aden und des Sü-        ten. Nahezu immer regierten mehrere Herr-
dens unterscheidet sich von beiden. In den ver-      scher gleichzeitig über Reiche, die einander oft
gangenen drei Jahrtausenden war das Gebiet, das      bekämpften und sich überlagerten, wuchsen
wir Jemen nennen, keine politische Entität, son-     und zerfielen. Der Wunsch nach staatlicher Ein-
dern oft wenig mehr als eine amorphe und ständig     heit bildete sich erst in einem Kontext heraus,
wechselnde Ansammlung kleiner Reiche.                der von ausländischen Mächten vorbereitet und
     Die Idee vom Jemen als einer natürlichen        geformt worden war, und der 1990 schließlich
Einheit hingegen ist sehr alt und geht bis auf die   zur Vereinigung des damaligen Nord- und Süd-
Zeit des frühen Islam zurück. Die Grenzen der        jemen führte, die sich schon vier Jahre später in
meisten Staaten des Nahen Ostens wurden von          einen Bürgerkrieg verstrickten, dessen Wunden
Kolonialmächten erschaffen, viele von ihnen –        niemals heilten und dessen Folgen Nord und
etwa Jordanien und der Irak – sind Erfindungen       Süd anschließend wieder auseinandertrieben.
mit wenig geschichtlicher Substanz. Im Jemen         Heute, im Zeitalter erneuter Bürgerkriege und
ist dies anders. Auf der Arabischen Halbinsel        ausländischer Interventionen, ist der Traum von
stellt der Raum des Jemen, obgleich aus einer        der politischen Einheit des Jemen abermals in
Vielzahl unterschiedlicher Naturräume beste-         weite Ferne gerückt.
hend, eine Einheit für sich dar, die durch natür-
liche Land- und Wassergrenzen definiert und                           DAS ANTIKE
von ihrem Umland unterschieden wird; schon                            SÜDARABIEN
früh sprechen Historiker und Geografen, etwa
al-Hasan al-Hamdani im 10. Jahrhundert, von          Trotz der natürlichen Land- und Seebarrieren,
diesem Raum als „al-Yaman“.01 Im Süden und           die das Land umgrenzen, war der Jemen nie iso-
Westen ist der Jemen vom Meer umschlossen; im        liert; die geläufigen Beschreibungen als „verbote-
Osten, zwischen Jemen und Oman, befindet sich        nes Land“ oder „verschlossenes Königreich“ sind
das dünn besiedelte Gebiet von al-Mahra. Nörd-       unzutreffend. Der Jemen und seine Bewohner
lich des Hadhramaut wird der Jemen von der ge-       unterhielten immer Beziehungen mit dem Aus-
waltigen Sandwüste des Rub al-Khali, des Leeren      land und waren beständig durch Handel, Pilger-,
Viertels begrenzt, die es von den Machtzentren       Karawanen- und Gelehrtennetzwerke in die Au-
Saudi-Arabiens trennt wie ein Meer. Nur im ber-      ßenwelt eingebunden.02
gigen Nordwesten ist der Übergang zwischen Je-           Im Jahrtausend vor Christus boten die geo-
men und Saudi-Arabien fließend und umstritten;       grafische Lage und die natürlichen Ressourcen
auf große Gebiete – die heute saudischen Provin-     des Landes die Voraussetzungen für die Entste-
zen Asir, Dschaizan und Nadschran – erheben          hung hoch entwickelter Kulturen. Die legen-
beide Staaten Anspruch.                              dären südarabischen Reiche der Antike – Saba,

                                                                                                     09
APuZ 1–3/2020

Himyar, Main, Qataban, Hadhramaut – orga-                             ren Rückschlägen begleiteter Prozess. Nach Mu-
nisierten und kontrollierten den Karawanen-                           hammads Tod 632 fielen Teile der jemenitischen
handel über die Arabische Halbinsel und später                        Stämme wieder vom Islam ab und wurden in den
auch Teile des Seewegs von Afrika, Indien und                         Feldzügen des ersten Kalifen Abu Bakr abermals
China nach Mesopotamien, Ägypten und in den                           unterworfen. Erst nach dem Sieg der Muslime
Mittelmeerraum inklusive Rom. Insbesondere                            in diesen sogenannten Ridda-Kriegen wurde
der Handel mit Luxusgütern wie dem begehr-                            der Jemen dem Islamischen Kalifat untergeord-
ten Weihrauch brachte ihnen großen Reichtum.                          net und Provinz des islamischen Reiches.05 Bis
Sie schufen einige der beeindruckendsten Bau-                         zur Ankunft der Ayyubiden 1173 wurden gro-
ten der Antike, etwa den Staudamm von Ma-                             ße Teile des nördlichen und südlichen Jemen von
rib, der zu den Weltwundern der Antike gerech-                        einer Anzahl islamischer (sunnitischer und is-
net wurde, und die Tempelanlagen von Marib,                           mailitischer) Dynastien beherrscht – den Ziya-
Sirwah und Qarnaw. Ihr legendärer Reichtum                            diden, Yufiriden, Najahiden, Sulayhiden, Sulay-
weckte Begehrlichkeiten; ein Versuch des römi-                        maniden, Hamdaniden und Mahdiden –, deren
schen Feldherrn Aelius Gallus 25 vor Christus,                        Herrschaft jedoch lokal und fragmentiert blieb
das Königreich von Saba zu erobern, scheiterte                        und die sich häufig in Machtkämpfen miteinan-
jedoch.03                                                             der befanden.06
    In den ersten Jahrhunderten nach Chris-                               Das Jahr 897 ist für Jemens islamische Ge-
tus wurde den südarabischen Reichen durch die                         schichte besonders bedeutend. In jenem Jahr
Verlagerung der Handelswege allmählich die                            legte Yahya bin al-Husayn ar-Rassi, genannt
wirtschaftliche Grundlage entzogen, und inter-                        al-Hadi ila l-Haqq („der zum Recht führt“), in
ne Kämpfe schwächten ihre Macht. 525 erober-                          der Region von Saada im nördlichen Jemen die
ten die christlichen, aus Abessinien stammenden                       Grundlagen für einen theokratischen zaiditisch-
Aksumiten mit byzantinischer Unterstützung                            schiitischen Staat. Der Ankunft von al-Hadi
Südarabien, nachdem sich zuvor Teile der Bevöl-                       war ein langwieriger Konflikt zwischen loka-
kerung dem Judentum zugewandt hatten. Um                              len Stämmen vorausgegangen, den diese aus ei-
575 gelangte der Jemen in die Abhängigkeit des                        gener Kraft nicht mehr zu lösen vermochten,
neupersischen Sassanidenreiches und wurde we-                         weswegen sie al-Hadi aus Medina einluden, in
nig später zur persischen Provinz.04                                  ihrem Konflikt zu vermitteln.07 Nach erfolg-
                                                                      reicher Vermittlung schuf al-Hadi in Saada die
            ANKUNFT DES ISLAM                                         Grundlagen eines zaiditischen Staates, der unge-
         UND DIE ISLAMISCHEN REICHE                                   wöhnlich lange – vom 9. Jahrhundert bis 1962 –
                                                                     ­überdauerte.
Noch zu Lebzeiten des Propheten Muhammad,                                 Al-Hadi war ein sayyid, ein Nachfahre des
um 630 und während der Herrschaft des sassa-                          Propheten Muhammad.08 Die Zaidiyya, auch
nidischen Governeurs Badhan kam der Jemen                             Fünfer-Schia genannt, ist eine schiitische Glau-
mit dem Islam in Berührung. Während dieser                            bensrichtung, die im 8. Jahrhundert am Kaspi-
Zeit wurden die Moscheen von Dschanad (nahe                           schen Meer entstand.09 Herzstück der Zaidiyya
Taizz) und die Große Moschee von Sanaa er-
baut. Der Übertritt des Jemen zum Islam war                          05 Vgl. Elias S. Shoufani, Al-Riddah and the Muslim Conquest
jedoch ein uneinheitlicher, zum Teil von schwe-                      of Arabia, Toronto 1973. Der arabische Ausdruck ridda bedeu-
                                                                     tet „Apostasie“, also die Abwendung von einer Religion.
                                                                     06 Vgl. Rex Smith, The Political History of the Islamic Yemen
01 Vgl. David Heinrich Müller, Al-Hamdanis Geographie der            down to the First Turkish Invasion (1–945/622–1538), in: Daum
arabischen Halbinsel, 2 Bde., Leiden 1884/1891.                      (Anm. 4), S. 129–139.
02 Vgl. Laurent Bonnefoy, Yemen and the World. Beyond                07 Vgl. Johann Heiss, War and Mediation for Peace in a Tribal
Insecurity, New York 2018.                                           Society (Yemen, 9 th Century), in: Andre Gingrich/Sylvia Haas/
03 Vgl. Hermann von Wissmann, Die Geschichte des Sa-                 Gabriele Paleczek (Hrsg.), Kinship, Social Change and Evolution,
bäerreiches und der Feldzug des Aelius Gallus, in: Hildegard         Horn 1989, S. 63–74.
Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt,       08 Sayyid (plural sada) ist ein Ehrentitel der Nachkommen des
Teil II: Principat, Berlin 1977, S. 308–544.                         Propheten Muhammad, die über seine Tochter Fatima und deren
04 Vgl. Walter W. Müller, Outline of the History of Ancient          Ehemann Ali ibn Abi Talib von ihm abstammen.
Southern Arabia, in: Werner Daum (Hrsg.), Yemen. 3000 Years          09 Vgl. Wilferd Madelung, Der Imam al-Qasim ibn Ibrahim und
of Art and Civilisation in Arabia Felix, Innsbruck 1987, S. 49–54.   die Glaubenslehre der Zaiditen, Berlin 1965.

10
Jemen APuZ

ist die Forderung nach der geistigen und welt-            ihres einstigen Herrschaftsbereiches behaup-
lichen Führung der zaiditischen Gemeinschaft              ten, wo sie 1454 von den Tahiriden gestürzt
durch einen sayyid, einen Nachkommen des Pro-             wurden.11
pheten. Fortan gehörten der Herrscher des zaidi-
tischen Staates – genannt Imam – und die meisten                          DIE OSMANISCHEN
seiner Notabeln einer anderen genealogischen Li-                           OKKUPATIONEN
nie an als seine Untertanen, von denen der größte
Teil tribaler Abstammung war.                             1516 besetzten die Mamluken Gebiete des Jemen,
    Trotz der glücklichen Begleitumstände bei             denen bereits ein Jahr später – in Reaktion auf die
seiner Etablierung unterlagen der Einfluss und            portugiesischen Expansionen entlang des Roten
die Ausdehnung des zaiditischen Reiches in                Meeres und nach Indien – die Osmanen folgten.
den kommenden Jahrhunderten dramatischen                  Während dieser sogenannten ersten osmanischen
Schwankungen. Der zaiditische Imam konkur-                Okkupation eroberten die Osmanen Teile des Je-
rierte mit den Herrschern anderer kleiner Rei-            men inklusive Sanaa. Den Qasimiten – den Ima-
che, die sich im Jemen gebildet hatten. 1173              men der qasimitischen Dynastie, die zu jener Zeit
wurden Teile des Jemen von den Ayyubiden                  über die Zaiditen herrschten – gelang es, große
besetzt, die unter Turanshah – dem Bruder des             Teile der nördlichen Stämme hinter sich zu verei-
ägyptischen Sultans Saladin – die südlichen Tei-          nen und für den Kampf gegen die ungeliebten os-
le des Jemen inklusive der Küstenebene des Ro-            manischen Besatzer zu mobilisieren. Beim Abzug
ten Meeres eroberten. Mit ihrer starken Armee             der Osmanen 1635 befanden sich die Qasimiten
und effizienten Verwaltung besiegten sie die              auf dem Höhepunkt ihrer Macht und konnten
kleinen Dynastien des südlichen Jemen und der             ihre Herrschaft über große Teile des nördlichen
Küsten­ebene und schufen auf diese Weise etwas,           und südlichen Jemen inklusive des Hadhramaut
das der politischen Entität „Jemen“ zum ersten            im Osten ausdehnen. Anschließend jedoch be-
Mal entfernt ähnlich sah. Der Norden des Je-              gannen sie sich zunehmend in internen Macht-
men blieb jedoch in der Hand der zaiditischen             kämpfen aufzureiben und die Kontrolle über ihr
Imame.                                                    Reich zu verlieren.12
    Ab Mitte des 13. Jahrhunderts brachte der                 Das zaiditische Reich befand sich noch in
Aufstieg der Rasuliden, deren Herrschaft jener            dieser Phase der Zerrüttung, als die Osmanen
der Ayyubiden folgte, Teilen des Jemen eine               nach Öffnung des Suezkanals 1869 abermals
mehr als zwei Jahrhunderte währende kulturel-             den Jemen besetzten und sich 1872 in Sanaa
le Blütezeit. Die Rasuliden förderten nicht nur           etablierten.13 Auch die zweite osmanische Ok-
den Handel und sorgten damit für wirtschaftli-            kupation bewirkte galvanische Prozesse unter
che Prosperität, sondern auch die Wissenschaf-            den zaiditischen Stämmen des Nordjemen. Im
ten, Astronomie, Literatur und Künste. Unter              frühen 20. Jahrhundert gelang es Imam Yahya
rasulidischer Herrschaft wurden einzigartige              Hamid al-Din, auch er ein Abkomme der qasi-
Moscheen, unter anderem die Aschrafiya-Mo-                mitischen Linie, einen großen Teil der starken
schee in Taizz, sowie Burgen und Paläste er-              Stämme des nördlichen Hochlandes zu vereinen
baut. Die Rasuliden beherrschten neben dem                und mit ihnen gegen die Osmanen zu Felde zu
jemenitischen Kernland – der Norden blieb                 ziehen, die zugleich in einem Krieg mit dem –
weiter unter Kontrolle der Zaiditen – auch Tei-           mit Italien verbündeten – Idrisi-Herrscher des
le des Hadhramaut sowie des Hedschas bis                  Asir verwickelt waren, der ebenfalls entlang der
nach Mekka. Das führte zu Konflikten mit den              Küstenebene des Roten Meeres expandierte.14
ägyptischen Mamluken, die ebenfalls die Herr-             Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches
schaft über die Heiligen Stätten Mekka und
Medina beanspruchten.10 Im 14. Jahrhundert                11 Vgl. Rex Smith, Rasulids, in: The Encyclopedia of Islam,
gelang es den Zaiditen, den Rasuliden Sanaa zu            Bd. 8, Leiden 1995, S. 455 ff.
entreißen. Im 15. Jahrhundert konnten sich die            12 Vgl. Paul Dresch, Tribes, Government and History in Yemen,
                                                          Oxford 1989, S. 212–218.
Rasuliden nur noch in den südlichen Gebieten
                                                          13 Vgl. Caesar E. Farah, The Sultan’s Yemen. 19 th-Century
                                                          Challenges to Ottoman Rule, London 2002.
10 Vgl. Noha Sadek, Custodians of the Holy Sanctuaries:   14 Vgl. Anne K. Bang, The Idrisi State of Asir 1906–1934,
Rasulid-Mamluk Rivalry in Mecca, Berlin 2019.             Bergen 1996.

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während des Ersten Weltkrieges führte auch im                     en, die später den saudischen Staat formten, zu-
Jemen zum Abzug der osmanischen Truppen.                          rückgedrängt hatten und am Roten Meer entlang
Imam Yahya dehnte seine Macht in jene Gebiete                     bis nach Taizz expandierten. Kurz darauf, mit der
aus, die zuvor unter osmanischer Herrschaft ge-                   zweiten osmanischen Okkupation des jemeniti-
wesen waren.                                                      schen Hochlandes, wurde die strategische Bedeu-
     Yahyas ungewöhnlich großes Machtbewusst-                     tung des Stützpunkts Aden als Bollwerk gegen
sein und seine harte Hand bei der Durchsetzung                    die Osmanen nochmals verstärkt. Zudem dien-
seiner Ziele führten jedoch bald zu Auseinander-                  te der Hafen von Aden, einer der größten na-
setzungen mit gerade jenen Stämmen, die die Ba-                   türlichen Seehäfen der Welt, der Bekohlung und
sis seiner militärischen Macht gewesen waren und                  Trinkwasserversorgung der britischen Schiffe auf
ihm zum Sieg gegen die Osmanen verholfen hat-                     dem Seeweg nach Indien. Ab 1869, mit der Eröff-
ten.15 Yahyas Nachfolger, Imam Ahmad, setz-                       nung des Suezkanals, lag Aden am Schnittpunkt
te diese Politik der harten Hand gegenüber den                    der Routen von und nach Suez und Indien, Lon-
Stämmen fort. Tribale Aufstände und Rebellionen                   don und Singapur und war der drittgrößte Seeha-
nahmen zu, in deren Verlauf sich wichtige Stäm-                   fen seiner Zeit.19
me vom Imam abwandten und sich mit den „Frei-                         Nur die Kronkolonie mit dem Hafen befand
en Jemeniten“ verbündeten: nationalistischen Wi-                  sich unter der direkten Kontrolle der Briten. Im
derstandsgruppen, die hauptsächlich von Aden                      Hinterland entstand das sogenannte Protektorat
aus auf den Sturz des Imam hinarbeiteten.16                       Aden: ein Zusammenschluss neun lokaler Stäm-
     Als Imam Ahmad starb, kam es am 26. Sep-                     me, deren Herrscher – hier Sultane oder Emi-
tember 1962 zur Revolution. In dem anschließen-                   re genannt – Kooperationsverträge mit den Bri-
den Bürgerkrieg wurden die Royalisten von Sau-                    ten eingingen.20 Das Protektorat wuchs, als die
di-Arabien, hinter denen Großbritannien stand,                    Briten auch Kooperationsverträge mit dem Sul-
und die Republikaner von Ägypten unterstützt.                     tan von al-Mahra und Sokotra sowie mit den
Mit Beginn des Sechstagekrieges 1967 mit Isra-                    Herrschern der Quayti- und Kathiri-Dynastien
el sahen sich die Ägypter jedoch gezwungen, ihr                   im Hadhramaut eingingen, die in der Mitte des
Engagement im Jemen aufzugeben. Da aber auch                      19. Jahrhunderts mit britischer Unterstützung
Saudi-Arabien begann, sich schrittweise von den                   staatsähnliche Gebilde aufbauten.21 Ihre Gren-
Royalisten abzuwenden, vermochten die Repu-                       zen waren jedoch nicht immer eindeutig defi-
blikaner 1970 zu siegen.17                                        niert; einige, wie das Sultanat von al-Mahra und
                                                                  Sokotra, verfügten nur über rudimentäre Ver-
                       DIE BRITEN                                 waltungsstrukturen. Kronkolonie und Protekto-
                        IN ADEN                                   rat zusammen umfassten im Großen und Ganzen
                                                                  jene Territorien, die später zum Südjemen wer-
Im Süden des Jemen nahm die Geschichte einen                      den sollten. Die Trennlinie zwischen den Ein-
besonderen Verlauf, als die Briten 1839 die Ha-                   flusssphären der Briten und der Osmanen in Süd-
fenstadt Aden besetzten.18 Die so entstehende                     arabien – die Anglo-Türkische Linie – wiederum
Kronkolonie Aden war für das britische Empire                     ähnelte bereits der Grenze zwischen dem späte-
aus mehreren Gründen von zentraler geostrategi-                   ren Nord- und Südjemen.
scher und wirtschaftlicher Bedeutung. Zunächst
diente Aden als strategische Basis gegen die Prä-                                       NORD-
senz mamlukisch-osmanischer Truppen auf der                                          UND SÜDJEMEN
Arabischen Halbinsel, die im Auftrag des osma-
nischen Sultans die Wahhabiten in Zentralarabi-                   Die Welle der Unabhängigkeitsbewegungen
                                                                  und des arabischen Nationalismus in den re-
15 Vgl. Abd al-Aziz al-Masudi, al-Yaman al-muasir [Contem-        volutionären 1960er Jahren brachten auch im
porary Yemen], Kairo 2006, S. 138 f.
16 Vgl. J. Leigh Douglas, The Free Yemeni Movement
1935–1962, Beirut 1987.                                           19 Ebd.
17 Vgl. Asher Orkaby, Beyond the Arab Cold War. The Inter-        20 Vgl. John Matthew Willis, Unmaking North and South.
 national History of the Yemen Civil War, 1962–68, Oxford 2017.   Cartographies of the Yemeni Past, 1857–1934, London 2012.
 18 Vgl. R. J. Gavin, Aden Under British Rule. 1839–1967,         21 Vgl. William Harold Ingrams, A Report on the Social, Econo-
­London 1975.                                                     mic and Political Conditions of the Hadhramaut, London 1937.

12
Jemen APuZ

Jemen große Umbrüche. Die Arabische Re-                      ration der Hashid angehören, wurden in einfluss-
publik Jemen, auch Nordjemen genannt, war                    reiche Positionen der Regierung gesetzt und die
bereits 1962 nach dem Tod von Imam Ahmad                     Loyalität der übrigen Stammesführer des Nor-
von republikanischen Kräften ausgerufen wor-                 dens sowie der politischen Opposition durch
den, musste aber noch acht Jahre gegen die von               großzügige finanzielle Zuwendungen erkauft.24
Saudi-Arabien unterstützen Royalisten vertei-                Innenpolitisch war der Nordjemen weiter geprägt
digt werden. Die Ziele der Revolution waren                  vom Ringen verschiedener politischer Faktionen,
die Abschaffung des Imamats und des von der                  vor allem dem Bestreben eines tribal-islamisti-
Zaidiyya legitimierten politischen Herrschafts-              schen Blocks unter Scheich Abdullah al-Ahmar
anspruchs der sayyids sowie die Bildung eines                zur Ausmerzung der Linken, der von Saudi-Ara-
modernen Staates in Form einer Republik. Die                 bien unterstützt wurde. Salih hingegen verfolgte
Anfänge der nordjemenitischen Republik waren                 eine stärker inklusive Politik, vor allem, um seiner
turbulent, da verschiedene politische und gesell-            Macht eine breitere Basis zu geben und von den
schaftliche Faktionen erbittert um Macht und                 einzelnen Faktionen unabhängig zu ­regieren.25
Einfluss rangen. Der politische und finanzielle                  Auch im Süden kam es in den 1960er Jahren
Einfluss Saudi-Arabiens – das sich von den Ro-               zum politischen Umbruch. 1963 begannen lo-
yalisten abwandte, um sich schließlich mit den               kale Befreiungsgruppen mit ägyptischer und so­
Republikanern zu arrangieren – nahm enorme                   wje­tischer Unterstützung eine Rebellion gegen
Dimensionen an. Der Bürgerkrieg von 1962                     die britische Herrschaft, in deren Verlauf sich die
bis 1970 im Nordjemen hatte bei den Saudis                   Briten zum Rückzug aus Südarabien gezwungen
die Sichtweise entstehen lassen, dass die konse-             sahen. Die Volksrepublik Südjemen wurde im
quente Durchsetzung saudischer Interessen im                 November 1967 unabhängig erklärt und 1969 in
Jemen unabdingbar für die Sicherheit und Stabi-              Volksdemokratische Republik Jemen umbenannt.
lität des Königreiches sei. Zudem sahen die ult-             Der Südjemen, von einer sozialistischen Einheits-
rakonservativen Saudis den Nordjemen als stra-               partei regiert, war der einzige marxistisch orien-
tegisches Bollwerk gegen den nahezu zeitgleich               tierte Staat im Nahen Osten und unterhielt enge
entstehenden marxistisch-sozialistisch orien-                Beziehungen zur So­wjet­union und anderen kom-
tierten und als „gottlos“ angesehenen Staat im               munistischen und sozialistischen Staaten. Der
Südjemen.22                                                  Südjemen verfolgte modernistische innen- und
    Ab 1978 wurde der Nordjemen von Ali Ab-                  gesellschaftspolitische Ziele wie Landreformen,
dullah Salih regiert, einem Angehörigen des Mi-              Gleichberechtigung der Frau, Einschränkung der
litärs, der in den Wirren nach der Ermordung                 Polygamie, Verbot der Kinderheirat, Einschrän-
der Präsidenten Ibrahim al-Hamdi und Ahmad                   kung des Tribalismus und Ersetzung der Scharia
al-Ghashmi an die Macht gekommen war. Nach                   durch staatliches Gesetz. Das Familiengesetz des
schwierigen ersten Jahren, die von politischen               Südjemen galt als das progressivste seiner Zeit im
und ökonomischen Krisen sowie einem erbit-                   arabischen Kontext.26 Per Verfassung wurden der
terten Guerillakrieg zwischen Nord- und Südje-               Bevölkerung Arbeit, Wohnraum sowie freie Bil-
men überschattet wurden, gelang es Salih ab 1982,            dung und Gesundheitsversorgung zugesichert.
Nordjemen durch die Einberufung eines Allge-                 Mitte der 1980er Jahre war der Analphabetismus
meinen Volkskongresses zu konsolidieren, der in              fast vollständig beseitigt. Flügelkämpfe innerhalb
den folgenden Jahren den Charakter einer Ein-                der Sozialistischen Partei führten 1986 zu einem
heitspartei annahm.23 Weit mehr jedoch als auf               blutigen zehntägigen Bürgerkrieg, aus dem Ali
politischen und ideologischen Grundlagen be-                 Salim al-Beidh als Generalsekretär der Sozialisti-
ruhten Politik und Regierungsstil von Salih auf              schen Partei hervorging.27
den Prinzipien der Kooptation und Patronage:
Mitglieder seiner Familie und seines Stammes, die            24 Vgl. Sarah Phillips, Yemen and the Politics of Permanent
Sanhan, die der einflussreichen Stammeskonföde-              Crisis, London 2011, S. 51–74.
                                                             25 Vgl. Burrowes (Anm. 23), S. 101–113.
                                                             26 Vgl. Susanne Dahlgren, Contesting Realities. The Public
22 Vgl. Gregory Gause, Saudi-Yemeni Relations, New York      Sphere and Morality in Southern Yemen, New York 2010,
1990.                                                        S. 153–162.
23 Vgl. Robert D. Burrowes, The Yemen Arab Republic. The     27 Vgl. Noel Brehony, Yemen Divided. The Story of a Failed
Politics of Development 1962–1986, Boulder 1987, S. 124 f.   State in South Arabia, London 2013, S. 151–167.

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Jemen APuZ

    Die Beziehungen zum Nordjemen, in dem                      des Misstrauen, Entfremdung und ein zunehmend
tribal-konservative und allmählich erstarken-                  vergiftetes politisches Klima machten die weitere
de islamistische Kräfte mit Unterstützung von                  Zusammenarbeit letztlich unmöglich. Der Versuch
Saudi-Arabien die Politik des Südjemen strikt ab-              des Südens, die staatliche Unabhängigkeit wieder
lehnten, waren lange quasi unberechenbar; sie äh-              herzustellen, mündete im Mai 1994 in einen kur-
nelten einem bizarren politischen „Menuett“,28 in              zen, aber heftigen Bürgerkrieg, der die Hegemo-
dem sich militärische Konfrontationen mit Ein-                 nie des Nordens im vereinten Jemen bestätigte und
heitsversprechen abwechselten. Die in den spä-                 zementierte.31 Tausende Politiker und Militärs des
ten 1980er Jahren in der So­wjet­union einsetzende             Südens wurden anschließend vertrieben, darunter
Perestroika, aber auch das gemeinsame Interesse                al-Beidh, der ehemalige Generalsekretär der Sozia-
an der Erschließung der Ölfelder entlang der in-               listischen Partei und Vizepräsident des vereinigten
nerjemenitischen Grenze sowie Salihs Bestrebun-                Jemen, Tausende andere in den Zwangsruhestand
gen zum Ausbau seiner Machtbasis unabhängig                    ohne angemessene Pensionen versetzt.
vom tribal-islamistischen Block des Nordens,
führten zu einer Annäherung der beiden Staa-                                        ENTSTEHUNG
ten, die sich am 22. Mai 1990 zur Republik Jemen                                     DER HUTHIS
­vereinigten.29
                                                               Die Jahre der Einheit bescherten dem Jemen eine
                  PROBLEMATISCHE                               Periode der Stabilität, die sich rückblickend je-
                      EINHEIT                                  doch auch als eine Zeit der zunehmenden poli-
                                                               tischen und gesellschaftlichen Erstarrung und –
Die im Mai 1990 verabschiedete Einheitsverfas-                 trotz einer Reihe von Kommunal-, Parlaments-,
sung der Republik Jemen sah ein pluralistisches                und Präsidialwahlen – der schleichenden Ent-
politisches System und freie Wahlen vor, bis zu                demokratisierung erwies. Begünstigt von Un-
deren Durchführung politische Macht zu glei-                   zufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung,
chen Teilen zwischen dem Norden und dem Sü-                    formierten sich Widerstandsgruppen gegen das
den aufgeteilt werden sollte. Salih wurde Staats-              Salih-Regime in Sanaa, von denen vor allem zwei
chef, während al-Beidh Vizepräsident wurde. Ein                – die Huthis im Norden und die Unabhängig-
Präsidialrat und ein Übergangsparlament wurden                 keitsbewegung Hirak im Süden – den weiteren
mit Vertretern aus Nord und Süd besetzt. Die                   Verlauf der Geschichte bestimmten.
ebenfalls vorgesehene Integration der Verwaltun-                   Die Entstehung der Huthis ist das Ergebnis
gen gelang jedoch nicht; insbesondere das Militär              eines komplexen Prozesses, der weit in die Ge-
blieb de facto unter nördlichem und südlichem                  schichte des Jemen zurückreicht. Die Revoluti-
Kommando geteilt.                                              on von 1962 und die Abschaffung des Imamats
    Bei den Parlamentswahlen von 1993 konnten                  hatten die Gruppe der sayyids (der Nachkom-
Salihs Allgemeiner Volkskongress und Abdullah                  men des Propheten Muhammad) marginalisiert,
al-Ahmars islamistische Islah-Partei viele Wäh-                die seit dem 9. Jahrhundert die regierende Eli-
ler für sich gewinnen. Die Sozialistische Partei               te im zaiditischen Jemen gewesen waren.32 Im
ging geschwächt aus den Wahlen hervor, obwohl                  stark von tribalen Normen und Traditionen ge-
sie die meisten Sitze im zwar flächenmäßig größe-              prägten, ruralen Norden stiegen nach 1962 statt-
ren, jedoch weit weniger bevölkerungsstarken Sü-               dessen die Stammesführer – die Scheichs – zur
den gewonnen hatte. Das neue Parlament wurde                   politisch und wirtschaftlich einflussreichsten
daher deutlich vom Norden dominiert.30 In den                  Gruppe auf. Die Scheichs dominierten die Wirt-
anschließenden Monaten verschlechterten sich die               schaft und begannen nach 1993, die Parlaments-
Beziehungen zwischen Nord und Süd; wachsen-                    sitze quasi in der Familie zu vererben.33 Wegen

28 Nach einem Ausdruck von Burrowes (Anm. 23), S. 99.          31 Vgl. Jamal al-Suwaidi, The Yemeni War of 1994, Abu Dhabi
29 Vgl. Paul Dresch, A History of Modern Yemen, Cambridge      1995.
2000, S. 183–204.                                              32 Vgl. Gabriele von Bruck, Islam, Memory, and Morality in
30 Vgl. Sheila Carapico, Campaign Politics and Coalition-      Yemen. Ruling Families in Transition, New York 2005.
Building. The 1993 Parliamentary Elections, in: Yemen Update   33 Vgl. Marieke Brandt, Tribes and Politics in Yemen. A History
33/1993, S. 37 ff.                                             of the Houthi Conflict, London 2017, S. 311 ff.

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APuZ 1–3/2020

ihrer überragenden Rolle wurden sie sowohl von                          Der Konflikt zwischen dem Regime und den
der Regierung in Sanaa als auch von Saudi-Ara-                      Rebellen begann im Sommer 2004 im Zusam-
bien mit großzügigen Patronagezahlungen be-                         menhang mit einer Polizeioperation in Husayn
dacht. Diese Ungleichverteilung von politischer                     al-Huthis Heimatdorf in den Bergen von Saada.
Partizipation und ökonomischen Ressourcen                           Im tribalen Milieu des nördlichen Hochlandes
führte zu Unzufriedenheit im einfachen Volk,                        entwickelte der Konflikt schnell eine enorme
dessen politische, soziale und ökonomische Si-                      Eigendynamik und wuchs sich in den folgen-
tuation sich nach 1962 oft nicht wesentlich ver-                    den Jahren zu einem Krieg aus, der große Tei-
bessert hatte.                                                      le der Bevölkerung des Hochlandes gegen die
     In diesem Umfeld konnten religiöse Dynami-                     Regierung mobilisierte und ab 2009 auch kurz-
ken eine ungeheure Wucht entfalten. In der Ge-                      zeitig die sensible Grenze nach Saudi-Arabien
schichte des Jemen war das Zusammenleben von                        überschritt. Die Saudis nahmen dies zum An-
schiitisch-zaiditischen und sunnitischen Grup-                      lass, einen Luftkrieg gegen die Huthis zu begin-
pen zumeist unproblematisch gewesen. Dies                           nen, um ihre Grenze zu schützen und die be-
änderte sich, als sich im Norden ab den frühen                      reits drohende Niederlage des Regimes in Sanaa
1980er Jahren radikale sunnitische Glaubensrich-                    zu verhindern; zudem fürchteten die Saudis
tungen auszubreiten begannen, die von Saudi-                        die Entstehung einer schiitischen Entente zwi-
Arabien, vom konservativ-islamistischen Block                       schen den Huthis und dem Erzfeind Iran. Der
um Scheich Abdullah al-Ahmar, sowie zeitwei-                        Krieg endete unentschieden im Februar 2010.
se – aus politischem Kalkül – von der jemeniti-                     Die Zeit nach dem Ende der Saada-Kriege bis
schen Regierung gefördert wurden.34 Auch al-                        zum Beginn der Protestbewegung des Arabi-
Qaida entwickelte eine Präsenz im Jemen, seit in                    schen Frühlings 2011 nutzten die Huthis, ihre
den späten 1980er Jahren Veteranen des Afgha-                       Macht im Norden zu konsolidieren. Es erüb-
nistan-Krieges im Jemen Zuflucht suchten.35 Der                     rigt sich zu sagen, dass sie ungeheuer von der
Anschlag auf die USS Cole im Hafen von Aden                         Schwächung des Regimes durch die Protestbe-
im Jahr 2000 wurde vom jemenitischen Ableger                        wegung und dem Sturz Salihs profitierten, mit
der al-Qaida verübt.                                                dem sie sich anschließend, bis zu Salihs Tod
     Das Gefühl der Marginalisierung und Bedro-                     2017, gegen seinen Nachfolger Abd Rabbuh
hung durch die vorwiegend von Saudi-Arabien                         Mansur Hadi verbündeten. Ab 2013 verfolgten
finanzierte Ausbreitung des radikalen Sunnis-                       die Huthis eine Doppelstrategie der politischen
mus führte dazu, dass sich ein Teil der Zaiditen                    Betätigung in Jemens Nationaler Dialogkonfe-
ab den späten 1980er Jahren ebenfalls organisier-                   renz und gleichzeitiger militärischer Expansion,
te und allmählich radikalisierte. Aus dieser zai-                   was ihnen ermöglichte, ihre politischen Visio-
ditischen Bewegung gingen in den frühen 2000er                      nen in das Abschlussdokument der Nationalen
Jahren die Huthis hervor, die den Namen ihres                       Dialogkonferenz einzubringen und anschlie-
Anführers, des sayyid Husayn al-Huthi, tru-                         ßend, im September 2014, die Hauptstadt Sanaa
gen. Unter Husayn al-Huthis Führung wurde                           militärisch zu erobern.36
die Bewegung zu einem Sammelbecken all jener
im zaiditisch geprägten Norden, die sich religi-                                       ENTSTEHUNG
ös, politisch, sozial und wirtschaftlich margina-                                   DER SÜDBEWEGUNG
lisiert fühlten und mit dem Status quo unzufrie-
den waren. Husayn al-Huthis Unwille, mit Salih                      Die zweite große Widerstandsbewegung gegen
zu kooperieren, wurde vom Regime als Provo-                         das Regime in Sanaa ging vom ehemaligen Süd-
kation empfunden.                                                   jemen aus. Der Bürgerkrieg von 1994 zwischen
                                                                    dem ehemaligen Nord- und Südjemen hatte ein
34 Zur Ausbreitung radikaler sunnitischer Glaubensrichtungen
im Jemen vgl. Laurent Bonnefoy, Salafism in Yemen. Transnatio-      36 Vgl. Brandt (Anm. 33), S. 337–342 sowie dies., The
nalism and Religious Identity, London 2011.                         Huthi Enigma. Ansar Allah and the Second Republic, in:
35 Vgl. Lisa Wedeen, Peripheral Visions. Publics, Power and         Marie-Christine Heinze (Hrsg.), Yemen and the Search for
Performance in Yemen, Chicago 2008, S. 198; Marieke Brandt,         Stability. Power, Politics and Society after the Arab Spring,
The Global and the Local. Al-Qaeda and Yemen’s Tribes, in: Oli-     London 2018, S. 160–183. Zur Nationalen Dialogkonferenz
vier Roy/Virginie Collombier (Hrsg.), Tribes and Global Jihadism,   siehe auch den Beitrag von Marie-Christine Heinze in die-
London 2017, S. 105–130.                                            sem Heft.

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