AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jemen - Bundeszentrale für politische Bildung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
70. Jahrgang, 1–3/2020, 6. Januar 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jemen Maali Jamil Guido Steinberg JEMEN – HIN UND ZURÜCK DER JEMEN ZWISCHEN IRAN Marieke Brandt UND SAUDI-ARABIEN KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN Mareike Transfeld ANSATZPUNKTE FÜR EINEN Marie-Christine Heinze NACHHALTIGEN FRIEDEN EINE EINFÜHRUNG IM JEMEN IN DEN JEMEN-KONFLIKT Alex de Waal · Bridget Conley Rafat Al-Akhali HUNGER WIRTSCHAFTLICHE ALS KRIEGSWAFFE AUSWIRKUNGEN DES KONFLIKTS IM JEMEN ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Jemen APuZ 1–3/2020 MAALI JAMIL GUIDO STEINBERG JEMEN – HIN UND ZURÜCK DER JEMEN ZWISCHEN IRAN Wenn ich erzähle, dass ich Jemenitin bin, brau- UND SAUDI-ARABIEN chen die meisten Leute erst einmal eine Minute, Der Krieg im Jemen ist auch ein Konflikt zwi- um mein Herkunftsland auf ihrer inneren schen den Regionalmächten Saudi-Arabien und Landkarte zu verorten. Ehe ich als 15-Jährige Iran. Riad intervenierte 2015, um ein Erstarken 2005 mit meinen Eltern wieder nach Sanaa zog, der schiitischen Huthi-Rebellen zu verhindern. wusste auch ich nicht allzu viel über den Jemen. Iran baute gleichzeitig seine militärische Hilfe an Seite 04–07 die Aufständischen aus. Seite 34–40 MARIEKE BRANDT KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN MAREIKE TRANSFELD Die jemenitische Geschichte zeigt, dass es keine ANSATZPUNKTE FÜR EINEN NACHHALTIGEN einheitliche Vergangenheit des lange in kleinere FRIEDEN IM JEMEN Reiche und Einflusssphären zersplitterten Landes Auch ohne eine politische Lösung des Konflikts gibt. Auch die heute vielbeschworene nationale im Jemen gibt es viele Punkte, an denen bereits Einheit des Jemen ist eine junge Erscheinung mit jetzt angesetzt werden kann, um das Leben der geringer geschichtlicher Substanz. Zivilbevölkerung auf der lokalen Ebene zu ver- Seite 09–17 bessern und dazu beizutragen, Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Seite 41–46 MARIE-CHRISTINE HEINZE EINE EINFÜHRUNG IN DEN JEMEN-KONFLIKT Der Konflikt im Jemen ist ein Bürgerkrieg mit ALEX DE WAAL · BRIDGET CONLEY internationaler Beteiligung, der aufgrund seiner HUNGER ALS KRIEGSWAFFE Komplexität nur schwer zu lösen ist. Seine In der Geschichte moderner Kriegsführung hat Wurzeln liegen in der jüngeren Geschichte des Aushungerung viele Zwecke erfüllt und sich Landes und vor allem im nach den Protesten als mächtige und oft tödliche Waffe erwiesen. 2011 gescheiterten Transitionsprozess. Einige Hungerverbrechen sind klar umrissen, bei Seite 18–25 anderen wirken ökonomische und Umweltfakto- ren neben politischen Entscheidungen. Seite 47–52 RAFAT AL-AKHALI WIRTSCHAFTLICHE AUSWIRKUNGEN DES KONFLIKTS IM JEMEN Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges im Jemen 2015 litt das Land unter Instabilität, einer entsprechend schwachen Wirtschaft und verbreiteter Armut. Nach fünf Jahren bewaff- neten Konflikts im Land ist die jemenitische Wirtschaft fast komplett zusammengebrochen. Seite 26–33
EDITORIAL Auch im Jemen hatte der „Arabische Frühling“ zunächst Hoffnungen geweckt. Nachdem der seit über drei Jahrzehnten regierende Präsident Ali Abdullah Salih 2011 infolge von Massenprotesten zurückgetreten war, leitete die Übergangsre- gierung einen gesellschaftlichen Dialogprozess ein, dessen Ziel unter anderem eine neue Verfassung war. Jene Akteure, die wieder einen eigenen südjemeniti- schen Staat anstreben, zogen sich jedoch frühzeitig aus den Beratungen zurück. 2014 kehrten auch die schiitischen Huthis, die sich in den 2000er Jahren einen Guerillakrieg mit den Truppen des Regimes geliefert hatten, dem Prozess den Rücken und gingen, nun im Verbund mit dem gestürzten Präsidenten Salih, militärisch in die Offensive. Bis September brachten sie den Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle und nahmen die Hauptstadt Sanaa ein, wenig später rückten sie weiter in Richtung der südlichen Hafenstadt Aden vor. Anfang 2015 griff Saudi-Arabien an der Spitze einer Militärkoalition in den Konflikt ein, um die international anerkannte Regierung und Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi gegen die Huthis zu unterstützen, die ihrerseits Waf- fenlieferungen aus Iran erhielten. Seitdem herrscht im Jemen ein Krieg, dessen Folgen die Vereinten Nationen als die derzeit größte humanitäre Katastrophe weltweit einstufen: Nach UN-Schätzungen sind fast eine Viertelmillion Men- schen durch Waffengewalt oder infolge von Mangelernährung, Krankheit und fehlender medizinischer Versorgung ums Leben gekommen. Fast die Hälfte der Bevölkerung, rund 14 Millionen Menschen, ist von Hunger bedroht. In der westlichen Öffentlichkeit ist der Krieg im bereits zuvor von Instabili- tät geprägten „Armenhaus der arabischen Welt“ weniger präsent als etwa jener in Syrien. Dabei reichen die Verbindungen insbesondere US-amerikanischer, britischer, französischer und deutscher Unternehmen über Waffenhandelsver- träge mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch bis in den Jemen. Derzeit prüft der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, ob Rüstungskonzerne und Regierungen sich durch die Lieferung von Waffen beziehungsweise deren Genehmigung der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schuldig machen. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 1–3/2020 ESSAY JEMEN – HIN UND ZURÜCK Maali Jamil Der Jemen ist die Wiege eine der ältesten Zivilisa- che meiner Mutter verständigen konnte und die tionen der Welt. Seine reiche und vielfältige Ge- traditionellen Gerichte meiner beiden Eltern aß. schichte ist in unser Essen, unsere Musik, unse- Ich spielte mit Kindern, die wie ich den Jemen re Kleidung und Traditionen eingeschrieben, die vor allem aus den Erzählungen ihrer Eltern kann- sich von Region zu Region und von Stadt zu ten, aus den Traditionen und Fotoalben mit Bil- Stadt unterscheiden können – von meinen ge- dern von einem Land, das sie einst verlassen hat- liebten Meeresfrüchten in roter Sauce in Aden bis ten und von dem sie dachten, dass sie es bei ihrer zu den warmen, luftig gebackenen und mit Ho- Rückkehr unverändert vorfinden würden. Wenn nig beträufelten Süßigkeiten von Sanaa; von den wir zusahen, wie unsere Mütter und Großmütter hellen Blau-, Grün- und Goldtönen der traditio- zu der traditionellen jemenitischen Musik tanz- nellen Kleider von al-Hudaidah bis zu den kräf- ten, warteten wir geduldig, bis ein westliches Lied tigen, erdigen Farben der Trachten von al-Mahra. lief und es an ihnen war, sich hinzusetzen und uns Jemen ist ein Wandteppich mit einem nicht enden beim Tanzen zuzuschauen. Ich wusste eigentlich wollenden kulturellen Panorama, gewoben von gar nicht genau, was der Jemen überhaupt war der Zeit, der Migration und der Geschichte, mit oder was ich zu erwarten hatte, als ich zum ersten Bildelementen aus Indien, der Türkei und Äthi- Mal in Sanaa landete. opien, die in unserem Alltag immer und überall Da war dieser altmodische Flughafen und wiederzufinden sind. dann die flauschigen Sitzbezüge in dem Auto, Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich Je- in dem mich ein Cousin abholte, den ich vorher menitin bin, brauchen sie häufig erst einmal eine noch nie getroffen hatte, und all die Bilder und Minute, um mein Herkunftsland auf ihrer inne- Geräusche der noch fremden Stadt, in der ich die ren Landkarte zu verorten oder sich zu erinnern, nächsten zehn Jahre leben sollte. Auf der Fahrt mit welcher herzzerreißenden Schlagzeile sie den durch die verschlungenen Straßen der Hauptstadt Namen dieses Staates aufgeschnappt haben. Der hörte ich vom Rücksitz aus die Unterhaltung Jemen, wie wir ihn aus den Nachrichten kennen, zwischen meinem Vater und seinem Neffen mit, ist beherrscht von Bildern des Grauens: Krieg, die bei diesem Wiedersehen einen Dialekt spra- Zerstörung, humanitäre Krisen, Gesundheitskri- chen, mit dem ich nicht sehr vertraut war, da mein sen. Vor dem Krieg ging es in Nachrichten aus Vater uns gegenüber bisher immer den Dialekt dem Jemen vor allem um Themen, die mit Ter- meiner Mutter verwendet hatte. Beim Blick aus rorismus zu tun hatten, wie zum Beispiel Droh- dem Fenster bemerkte ich bereits ein Hauptele- nenangriffe, bei denen unschuldige Zivilisten ge- ment des ortsüblichen Personenkults: Die ganze tötet wurden. Die meisten Menschen sehen den Stadt war mit dem Bild des Präsidenten gepflas- Jemen durch diese Brille und sind sich der Exis- tert. Die Märkte liefen über vor Autos, Menschen tenz dieses Landes überhaupt erst seit Kurzem und Verkäufern, die mit ihrem in Endlosschleife bewusst. wiederholten Geschrei um Aufmerksamkeit für ihr Obst oder Gemüse der Saison warben. Die UNBEKANNTE Männer trugen Kleidung, die ich von Festen und HEIMAT Bildern kannte, aber als Alltagskluft sehr merk- würdig fand. Die Frauen waren von Kopf bis Fuß Ehe ich als 15-Jährige 2005 mit meinen Eltern bedeckt, und ich kam mir ohne Kopftuch irgend- wieder nach Sanaa zog, wusste auch ich nicht all- wie fehl am Platz vor. zu viel über den Jemen, auch wenn ich mich ei- Wir erreichten das Haus meines kürzlich ver- nigermaßen in der südarabischen Umgangsspra- storbenen Onkels und wurden mit der Gast- 04
Jemen APuZ freundschaft und Wärme empfangen, die ich von manchmal mit finanzieller Hilfe von Verwandten Jemeniten kannte und erwartete. Einige mei- aus dem Ausland, manchmal aber auch auf eigene ner Verwandten hatte ich vorher noch nie gese- Faust. Wir fuhren einmal zu einem Ort nicht weit hen. Es gab sogar ein paar, von denen ich über- vom Dorf meines Vaters, wo wir tagelang ohne haupt nichts wusste, nicht einmal die Vornamen. Stromanschluss lebten. Aber vor dem Sonnenun- Ein paar Cousinen, die ungefähr so alt waren wie tergang starteten die Bewohner eines der wohlha- ich, sprachen Englisch mit mir – was für eine Er- benderen Haushalte ihren Generator. Die Nach- leichterung! Ich konnte mich also ins Englische barn durften dann gegen eine geringe Gebühr den flüchten, wenn mein Arabisch mich im Stich ließ, Strom mitnutzen. was unvermeidbar war und in der ersten Zeit sehr Solche Systeme gibt es auch in größerem Maß- häufig passieren sollte. stab. Wer im Jemen Post verschicken möchte, gibt Zum Mittagessen setzten wir uns um ver- seine Sendung jemandem, der in den Überland- schiedene bunte Schüsseln und Teller herum. bus steigt und diese dann gegen etwas Geld zum Die Frauen aßen gemeinsam im einen Raum, die Empfänger befördert. Der entrichtet einen zwei- Männer im anderen. Es gab im Haus männliche ten Betrag, um schließlich seine Post zu erhalten. und weibliche Bereiche. Die Männer, die nicht Es ist bestimmt auch schon einmal etwas verlo- zur unmittelbaren Verwandtschaft gehörten, gin- ren gegangen, aber nach unserer Erfahrung ist die gen bei ihrer Ankunft direkt in den Gästetrakt Mitwirkung bei dieser Art der Postbeförderung des Hauses, während die Frauen in den anderen eine Frage der Ehre: In unserem Fall hat dieses Teil geleitet wurden. Nach und nach lernte ich, System immer funktioniert – und war zuverläs- zu welchen männlichen Verwandten ich je nach siger als der ohnehin kaum vorhandene formelle Alter und Verwandtschaftsgrad Kontakt haben Postdienst. konnte. Diese Familientreffen folgten einem eige- Das Leben in den Dörfern folgt naturgemäß nen Rhythmus, und alle wussten, wo sie sich auf- einem anderen Rhythmus als jenes in den Städten. halten durften und wo nicht. Das Essen fand stets Das erste Dorf, das ich besuchte, war recht klein reibungslos seinen Weg von der Frauenseite hinü- – es bestand aus vielleicht sieben oder acht Haus- ber zu den Männern. Ein Mann, der einen Grund halten, in denen mehrere Generationen unter ei- hatte, den für Frauen reservierten Trakt des Hau- nem Dach lebten. Die Häuser waren jeweils durch ses zu betreten, hüstelte höflich oder sagte etwas, ein Stück Land voneinander getrennt. Als ich ein- um sein Eintreten anzukündigen. Die Frauen mal mit einer Verwandten vor dem Haus unse- wiederum klopften an die Türen des Männer- rer Gastgeber stand, nannte sie mir die Namen traktes, um zu signalisieren, dass sie eine Schüssel der Familien, die in den benachbarten Häusern mit Essen davor abstellen würden. Es war nicht wohnten, und erzählte mir, wer auf der Hochzeit schwer für mich, das alles zu übernehmen, denn erwartet wurde, für die ich in den Ort gekommen dieser Umgang mit Gästen war in den meisten war. Als sie mir die Namen nannte, sagte sie mir Haushalten ganz ähnlich. Nach kurzer Zeit hat- immer dazu, in welcher Beziehung die Personen ten meine Brüder und ich uns angepasst. zu Braut und Bräutigam standen, die ebenfalls entfernt verwandt waren. Es gab eine viel größere STARKE Nähe zwischen den Menschen, denn sie pflegten GEMEINSCHAFT enge Beziehungen, zu denen es gehörte, dass die Menschen sehr stark am Leben ihrer Nachbarn Wir lernten zu schätzen, wie gemeinschaftsorien- und Verwandten Anteil nahmen. Gemeinsam lös- tiert der Jemen war, denn starke staatliche Institu- ten sie ihre Probleme, feierten, bewirtschafteten tionen oder funktionierende öffentliche Dienst- die Felder, trauerten. Als meine Verwandte auf leistungen gab es nicht. Daher taten die Leute die verschiedenen Häuser und Gehöfte zeigte, sich automatisch im Kleinen zusammen, um ihre schmeichelte das satte Grün meinen Augen – was Probleme zu lösen. Im Jemen leben gut 30 Millio- für ein herrlicher Kontrast zur trockenen Haupt- nen Menschen. 70 Prozent von ihnen wohnen auf stadt! Es hatte den Anschein, dass hinter den sanf- dem Land, in Gegenden ohne verlässliche Was- ten Hügeln nichts mehr kam. Doch als wir auf ei- ser- und Stromversorgung und mit schlechten nen dieser Hügel gestiegen waren, sahen wir auf Straßen. Die Ineffizienz der Regierung gleichen einmal weitere Dörfer, zu denen sie mir dann sie indessen mit eigenen, lokalen Lösungen aus – ebenfalls einige Geschichten e rzählte. 05
APuZ 1–3/2020 Ich hatte großen Respekt davor, wie die Men- schen gaben den Debatten im Unterricht eine ge- schen auf informellem Weg und ohne Hilfe der wisse Tiefe. Häufig nahmen sie unerwartet eine Regierung ihre gemeinschaftlichen Bedürfnisse politische Wendung, wenn auch nur auf meta- befriedigten, denn es zeigte, wie widerstandsfähig phorischer Ebene, denn die Menschen waren sehr und tüchtig sie waren. Doch das Fehlen starker vorsichtig, wenn es darum ging, Meinungen über staatlicher Institutionen hatte auch der Vettern- den damaligen Präsidenten, den bis 2011 regie- wirtschaft Vorschub geleistet, die so tief verwur- renden Ali Abdullah Salih, zu äußern. zelt war, dass sie Teil des Alltags geworden war. Gewisse Namen und familiäre Verbindungen hat- STURM ten enormes Gewicht, und alles hing davon ab, DER VERÄNDERUNG wen man kannte. Die Reichen wurden immer rei- cher, weil ihre Kinder die am besten bezahlten 2011 kam die Revolution. Sie war Ausdruck ei- Jobs und die besten Stipendien bekamen – aller- ner leidenschaftlichen Ablehnung des unglaub- dings nicht unbedingt wegen ihrer persönlichen lich niedrigen Lebensstandards, den politische Verdienste. Menschen ohne starkes Netzwerk und religiöse Eliten einem verarmten Volk auf- mussten allzeit bereit sein, Entscheidern jeder gezwungen hatten. Es birgt eine gewisse Iro- Art Bestechungsgelder zu zahlen, und zwar vom nie, dass die Revolution nach wie vor Millionen kleinsten Beamten bis zum höchsten Amtsträger. Menschen mit Stolz erfüllt, obwohl auch sie am Keine guten Beziehungen und kein Geld zum Be- Ende zur Beute genau dieser Eliten wurde. Die stechen zu haben, bedeutete für die verarmte Be- Proteste waren nicht nur weitgehend friedlich in völkerung in der Regel, dass es keine Chance gab, einem Land, in dem es fast so viele Waffen pro Verwaltungsvorgänge – sei es nun in der Justiz, Kopf gibt wie in den USA, sondern sie führten im Bildungswesen oder im Gesundheitsbereich – auch zum Ende einer autokratischen Herrschaft, voranzubringen. die ansonsten vom Vater an den Sohn weitergege- Während meiner Zeit im Jemen erlebte ich ben worden wäre. Augenblicke des Glücks, der Trauer, der Frustra- Im Sommer 2011, einige Monate nach Beginn tion und der Liebe. Was ich aber immer empfand, der Revolution, hatte ich bereits seit dem Vor- ist Bewunderung. 2008 fing ich an, Englisch als jahr eine dauerhafte Vereinbarung mit einem Ta- Fremdsprache zu unterrichten, und damals lern- xifahrer, einem jungen Mann, der mich jeden Tag te ich erstmals Jemeniten jeder Couleur kennen. abholte und am Arbeitsplatz absetzte. Während Zu jedem Semesterbeginn wuchs meine Schü- der Revolution war das ein sehr unsicherer Ort, lerzahl und mit ihr meine Bewunderung für die an dem es zu gewaltsamen Auseinandersetzun- Stärke dieser Menschen, die in ihre Bildung in- gen kam und Scharfschützen lauerten. Doch das vestierten. Wenn ich vormittags unterrichtete, ka- Leben ging einfach weiter, und wir fuhren je- men manchmal Mütter, die zuvor ihre Kinder zur den Tag die 20 Minuten zu meinem Arbeitsplatz Schule gebracht hatten, um dann selbst zum Un- und wieder zurück. Ich hatte eine Freundin, die terricht zu gehen. Am späten Nachmittag kamen nur einige Häuserblocks entfernt lebte und eine Hochschulstudenten in meinen Kurs, die bereits Mitfahrgelegenheit brauchte. Sie wohnte zu weit stundenlange Lehrveranstaltungen hinter sich entfernt zum Laufen, aber zu nah, als dass es sich hatten, oder Angestellte, die nach der Arbeit in für einen Fahrer gelohnt hätte, eine Tour in ihre den Englischunterricht kamen, statt nach Hause Gegend zu riskieren. Also entschieden mein Ta- zu gehen. Der Zustand des Bildungssystems war xifahrer und ich, sie jeden Tag abzuholen und und ist erschreckend, weshalb die Menschen sich mitzunehmen. Die Hauptstraßen waren blo- privaten Instituten zugewendet haben, um dort ckiert, weshalb wir unbeleuchtete Nebenstre- die Sprache zu lernen, die es ihnen ermöglichen cken nehmen mussten, auf denen wir nur das sa- soll, national und international mitzuhalten, sich hen, worauf der Lichtkegel unserer Scheinwerfer um Stipendien zu bewerben, ins Ausland zu rei- fiel. Kurz vor der Straße, in der meine Freundin sen oder einen gutbezahlten Job zu finden. Vor wohnte, blendete der Fahrer das Licht ab, öffnete mir saßen Sprachschüler aus unterschiedlichen sein Fenster und fuhr mit dem Auto langsam zu sozialen Schichten, einige zahlten selbst, andere der Kreuzung, an der sie wohnte. Dort standen hatten ein staatliches Stipendium erhalten, und Regierungssoldaten, die jede Bewegung in der die unterschiedlichen Bezugsrahmen dieser Men- Straße überwachten. Zuvor hatte meine Freun- 06
Jemen APuZ din mir erzählt, dass sie beim Blick aus ihrem nen Raum wieder aufgeben, denn heute arbei- Fenster manchmal sehen konnte, wie eine Ziga- ten mehr Frauen als je zuvor zum Beispiel als rettenkippe im Wind über die Dächer der umlie- Mediatorinnen, Forscherinnen, Bloggerinnen, genden Häuser tänzelte. Von da an sah ich mich Gründerinnen von Graswurzelinitiativen, Be- jedes Mal um, wenn wir sie absetzten, denn die treiberinnen kleiner Unternehmen, Lehrerin- herumwehenden Zigarettenkippen verrieten uns, nen, Händlerinnen, Bauingenieurinnen oder dass irgendwo auf einem der Dächer ein Scharf- Webdesignerinnen. Trotz der häufigen Polarisie- schütze lag und uns beobachtete. Wochenlang rung durch die Politik scheint es im Land eine hielten wir tagtäglich an diesem Punkt an. Die breite Bewunderung für die Erfolge zu geben, Soldaten sahen in das Auto, wiesen uns an, sie die Frauen trotz all der ideologischen und ge- auf der anderen Straßenseite abzusetzen, zu wen- sellschaftlichen Hindernisse und der Härten des den und auf demselben Weg zurück zu fahren. Krieges errungen haben. Bevor ich selbst anfing, zu fahren, war ich jahre- lang von diesem Taxifahrer abhängig, wenn ich HEUTE irgendwohin fahren wollte, und ich werde ihm ewig dankbar sein, dass er immer eine Möglich- Heute lebe ich in Europa, in Sicherheit, aber auch keit gefunden hat, uns abzuholen. gequält von den Schuldgefühlen einer Überleben- Das Schönste an der Revolution war für mich den, die ihren im Krieg verstorbenen Vater und die starke Beteiligung der Frauen. Führungspo- ihre Familie zurückgelassen hat. Seit ich den Je- sitionen waren bis dahin vor allem mit Männern men 2015 mit meinem Mann und unserem klei- besetzt gewesen, und obwohl bemerkenswerte nen Kind verlassen habe, denke ich ausnahms- Frauen es bereits geschafft hatten, zur Ministerin los jeden Tag an die Sicherheit meiner Familie. oder Botschafterin ernannt zu werden, mussten Ich bin in Gedanken bei einer ganzen Generation zahllose andere um Entscheidungsspielräume in von Kindern, die um ihre Bildung gebracht wur- ihren Familien, Gemeinden und in der Öffent- den, bei den Müttern und Vätern, die ihre Kin- lichkeit kämpfen. Die besondere Stärke, die je- der beerdigen mussten und bei einem Land, dem menitische Frauen schon immer ausgezeichnet schwere ökologische Krisen bevorstehen, auf die hat, ist für Menschen, denen dieses Land fremd wir in keiner Weise vorbereitet sind. Ich denke an ist, nur schwer erkennbar. Häufig werden wir als ein Volk, das durch Kriegsherren und Ideologi- demütig, unterwürfig oder allzu gefällig wahrge- en polarisiert ist. Doch ich habe auch Hoffnung nommen, und vielleicht ist das ja sogar die Wahr- für den Jemen angesichts der jungen Menschen, heit. Doch zu dieser Wahrheit gehört auch, dass die nicht aufgeben. Sie schreiben, publizieren, fil- es die Frauen sind, die unter all den Mängeln der men, forschen, gründen Firmen, finden techni- Verwaltung und Gesellschaft am meisten zu lei- sche Lösungen, führen friedliche Dialoge, vernet- den haben. Jemenitische Frauen mussten sich in zen sich in der Diaspora. Wir wenden uns gegen einer äußerst patriarchalischen Gesellschaft ih- diesen anhaltenden Zustand des Chaos und der ren Weg durchs Leben bahnen, um jede Chan- Teilung, gegen die Abwärtsspirale, die den Jemen ce kämpfen, immer wieder aufs Neue ihren Wert seit einigen Jahren erfasst hat. Ich hoffe, dass der unter Beweis stellen. Sie mussten die negativen Geist der Revolution wenigstens in den Küns- Etiketten und Stigmata abwehren, die an jenen ten weiterlebt und dass ich einmal in einen Je- hängen bleiben, die gesellschaftliche Normen men zurückkehren kann, in dem die Revolution herausfordern. Sie mussten ihren Platz in einer erfolgreich war. Gesellschaft neu definieren, die ihren Beitrag außerhalb der eigenen vier Wände nicht immer Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson, schätzt, in einem Land, in dem Männer struk- Herzberg am Harz. turell privilegiert sind. Der Konflikt hat inzwi- schen neue Entwicklungen angestoßen. Frauen haben die Gelegenheit genutzt, sich Rollen an- zunähern, die noch vor wenigen Jahren für sie MAALI JAMIL einen hohen sozialen Preis gehabt hätten. Es ist ist eine jemenitische Lehrerin und Autorin. Sie lebt kaum vorstellbar, dass sie, sollte der Konflikt und studiert derzeit in den Niederlanden, wo sie einmal ein Ende nehmen, diesen neu gewonne- weiter unterrichtet und über den Jemen schreibt. 07
Atlas des Arabischen Frühlings Episoden – die Video-Edition Fast zehn Jahre nach Beginn der Proteste und Umstürze #0 Prolog in vielen arabischen Ländern ist es an der Zeit, eine #1 Eine Region im Aufbruch Bilanz zu ziehen: Was ist in den Jahren des Arabischen #2 Revolution und Rückfall Frühlings passiert, wie sieht es in Nordafrika und in Nahost in der Folge aus? Gemeinsam mit den Autorin- #3 Stabilität und Gewalt nen und Autoren des Magazins zenith hat sich Younes #4 Flucht Al-Amayra, Mitglied des Satirekollektivs „Die Datteltä- #5 Europas Dilemma ter“, auf eine Spurensuche begeben. Sie nehmen die #6 Geopolitik Umbrüche in Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und ihren Nachbarländern unter die Lupe und sprechen mit #7 Islam und Islamismus Experten und Akteuren, um die Entwicklungen in der #8 Frauen und Männer Region besser zu verstehen. Dabei beschäftigen sie #9 Jugend sich auch mit den überregionalen Folgen – von Demo- kratisierung und Machtwechsel über Bürgerkriege bis hin zu Fluchtbewegungen. Die Veränderungen, die mit Leitung: Daniel Gerlach (V.i.S.d.P.), dem Arabischen Frühling ihren Anfang nahmen, haben Florian Guckelsberger tiefe Spuren hinterlassen. In zehn Episoden werden die Regie: Florian Guckelsberger historischen Umbrüche erfahrbar. Und es zeigt sich Producer: Riza-Rocco Avsar auch, wie stark Europa mit der arabischen Welt in Produktion: Bundeszentrale für politische Verbindung steht. Bildung, Deutscher Levante Verlag GmbH ATLAS DES ARABISCHEN FRÜHLINGS VIDEO-EDITION www.bpb.de/adaf
Jemen APuZ KLEINE GESCHICHTE DES JEMEN Marieke Brandt 3000 Jahre Geschichte des Jemen auf wenigen Es gibt die Idee vom Jemen als einer natür- Seiten darzustellen – eine Geschichte, die eben- lichen Einheit, und es gibt die Vision eines po- so glanzvoll wie wechselhaft ist –, ist nahezu ein litisch geeinten Jemen. Die Geschichte des Lan- Ding der Unmöglichkeit. Es gibt keine gemeinsa- des hat jedoch nur kurz und ausnahmsweise me Geschichte aller Landesteile des Jemen, eben- größere politische Strukturen gesehen, die weit so wie es, bis auf wenige Dekaden, nie eine po- mehr durch ihre Referenzen an Religion, Dy- litische und staatliche Einheit gegeben hat. Die nastien oder Ideologien definiert wurden als heutige Hauptstadt Sanaa und der Norden bli- durch territoriale Integrität. Macht war auf eine cken auf eine andere Geschichte zurück als die Vielzahl kleiner Zentren verteilt, die auf ihre ei- Regionen al-Mahra und Hadhramaut im Osten; genen kleinen Lokalgeschichten zurückblick- und die Geschichte der Stadt Aden und des Sü- ten. Nahezu immer regierten mehrere Herr- dens unterscheidet sich von beiden. In den ver- scher gleichzeitig über Reiche, die einander oft gangenen drei Jahrtausenden war das Gebiet, das bekämpften und sich überlagerten, wuchsen wir Jemen nennen, keine politische Entität, son- und zerfielen. Der Wunsch nach staatlicher Ein- dern oft wenig mehr als eine amorphe und ständig heit bildete sich erst in einem Kontext heraus, wechselnde Ansammlung kleiner Reiche. der von ausländischen Mächten vorbereitet und Die Idee vom Jemen als einer natürlichen geformt worden war, und der 1990 schließlich Einheit hingegen ist sehr alt und geht bis auf die zur Vereinigung des damaligen Nord- und Süd- Zeit des frühen Islam zurück. Die Grenzen der jemen führte, die sich schon vier Jahre später in meisten Staaten des Nahen Ostens wurden von einen Bürgerkrieg verstrickten, dessen Wunden Kolonialmächten erschaffen, viele von ihnen – niemals heilten und dessen Folgen Nord und etwa Jordanien und der Irak – sind Erfindungen Süd anschließend wieder auseinandertrieben. mit wenig geschichtlicher Substanz. Im Jemen Heute, im Zeitalter erneuter Bürgerkriege und ist dies anders. Auf der Arabischen Halbinsel ausländischer Interventionen, ist der Traum von stellt der Raum des Jemen, obgleich aus einer der politischen Einheit des Jemen abermals in Vielzahl unterschiedlicher Naturräume beste- weite Ferne gerückt. hend, eine Einheit für sich dar, die durch natür- liche Land- und Wassergrenzen definiert und DAS ANTIKE von ihrem Umland unterschieden wird; schon SÜDARABIEN früh sprechen Historiker und Geografen, etwa al-Hasan al-Hamdani im 10. Jahrhundert, von Trotz der natürlichen Land- und Seebarrieren, diesem Raum als „al-Yaman“.01 Im Süden und die das Land umgrenzen, war der Jemen nie iso- Westen ist der Jemen vom Meer umschlossen; im liert; die geläufigen Beschreibungen als „verbote- Osten, zwischen Jemen und Oman, befindet sich nes Land“ oder „verschlossenes Königreich“ sind das dünn besiedelte Gebiet von al-Mahra. Nörd- unzutreffend. Der Jemen und seine Bewohner lich des Hadhramaut wird der Jemen von der ge- unterhielten immer Beziehungen mit dem Aus- waltigen Sandwüste des Rub al-Khali, des Leeren land und waren beständig durch Handel, Pilger-, Viertels begrenzt, die es von den Machtzentren Karawanen- und Gelehrtennetzwerke in die Au- Saudi-Arabiens trennt wie ein Meer. Nur im ber- ßenwelt eingebunden.02 gigen Nordwesten ist der Übergang zwischen Je- Im Jahrtausend vor Christus boten die geo- men und Saudi-Arabien fließend und umstritten; grafische Lage und die natürlichen Ressourcen auf große Gebiete – die heute saudischen Provin- des Landes die Voraussetzungen für die Entste- zen Asir, Dschaizan und Nadschran – erheben hung hoch entwickelter Kulturen. Die legen- beide Staaten Anspruch. dären südarabischen Reiche der Antike – Saba, 09
APuZ 1–3/2020 Himyar, Main, Qataban, Hadhramaut – orga- ren Rückschlägen begleiteter Prozess. Nach Mu- nisierten und kontrollierten den Karawanen- hammads Tod 632 fielen Teile der jemenitischen handel über die Arabische Halbinsel und später Stämme wieder vom Islam ab und wurden in den auch Teile des Seewegs von Afrika, Indien und Feldzügen des ersten Kalifen Abu Bakr abermals China nach Mesopotamien, Ägypten und in den unterworfen. Erst nach dem Sieg der Muslime Mittelmeerraum inklusive Rom. Insbesondere in diesen sogenannten Ridda-Kriegen wurde der Handel mit Luxusgütern wie dem begehr- der Jemen dem Islamischen Kalifat untergeord- ten Weihrauch brachte ihnen großen Reichtum. net und Provinz des islamischen Reiches.05 Bis Sie schufen einige der beeindruckendsten Bau- zur Ankunft der Ayyubiden 1173 wurden gro- ten der Antike, etwa den Staudamm von Ma- ße Teile des nördlichen und südlichen Jemen von rib, der zu den Weltwundern der Antike gerech- einer Anzahl islamischer (sunnitischer und is- net wurde, und die Tempelanlagen von Marib, mailitischer) Dynastien beherrscht – den Ziya- Sirwah und Qarnaw. Ihr legendärer Reichtum diden, Yufiriden, Najahiden, Sulayhiden, Sulay- weckte Begehrlichkeiten; ein Versuch des römi- maniden, Hamdaniden und Mahdiden –, deren schen Feldherrn Aelius Gallus 25 vor Christus, Herrschaft jedoch lokal und fragmentiert blieb das Königreich von Saba zu erobern, scheiterte und die sich häufig in Machtkämpfen miteinan- jedoch.03 der befanden.06 In den ersten Jahrhunderten nach Chris- Das Jahr 897 ist für Jemens islamische Ge- tus wurde den südarabischen Reichen durch die schichte besonders bedeutend. In jenem Jahr Verlagerung der Handelswege allmählich die legte Yahya bin al-Husayn ar-Rassi, genannt wirtschaftliche Grundlage entzogen, und inter- al-Hadi ila l-Haqq („der zum Recht führt“), in ne Kämpfe schwächten ihre Macht. 525 erober- der Region von Saada im nördlichen Jemen die ten die christlichen, aus Abessinien stammenden Grundlagen für einen theokratischen zaiditisch- Aksumiten mit byzantinischer Unterstützung schiitischen Staat. Der Ankunft von al-Hadi Südarabien, nachdem sich zuvor Teile der Bevöl- war ein langwieriger Konflikt zwischen loka- kerung dem Judentum zugewandt hatten. Um len Stämmen vorausgegangen, den diese aus ei- 575 gelangte der Jemen in die Abhängigkeit des gener Kraft nicht mehr zu lösen vermochten, neupersischen Sassanidenreiches und wurde we- weswegen sie al-Hadi aus Medina einluden, in nig später zur persischen Provinz.04 ihrem Konflikt zu vermitteln.07 Nach erfolg- reicher Vermittlung schuf al-Hadi in Saada die ANKUNFT DES ISLAM Grundlagen eines zaiditischen Staates, der unge- UND DIE ISLAMISCHEN REICHE wöhnlich lange – vom 9. Jahrhundert bis 1962 – überdauerte. Noch zu Lebzeiten des Propheten Muhammad, Al-Hadi war ein sayyid, ein Nachfahre des um 630 und während der Herrschaft des sassa- Propheten Muhammad.08 Die Zaidiyya, auch nidischen Governeurs Badhan kam der Jemen Fünfer-Schia genannt, ist eine schiitische Glau- mit dem Islam in Berührung. Während dieser bensrichtung, die im 8. Jahrhundert am Kaspi- Zeit wurden die Moscheen von Dschanad (nahe schen Meer entstand.09 Herzstück der Zaidiyya Taizz) und die Große Moschee von Sanaa er- baut. Der Übertritt des Jemen zum Islam war 05 Vgl. Elias S. Shoufani, Al-Riddah and the Muslim Conquest jedoch ein uneinheitlicher, zum Teil von schwe- of Arabia, Toronto 1973. Der arabische Ausdruck ridda bedeu- tet „Apostasie“, also die Abwendung von einer Religion. 06 Vgl. Rex Smith, The Political History of the Islamic Yemen 01 Vgl. David Heinrich Müller, Al-Hamdanis Geographie der down to the First Turkish Invasion (1–945/622–1538), in: Daum arabischen Halbinsel, 2 Bde., Leiden 1884/1891. (Anm. 4), S. 129–139. 02 Vgl. Laurent Bonnefoy, Yemen and the World. Beyond 07 Vgl. Johann Heiss, War and Mediation for Peace in a Tribal Insecurity, New York 2018. Society (Yemen, 9 th Century), in: Andre Gingrich/Sylvia Haas/ 03 Vgl. Hermann von Wissmann, Die Geschichte des Sa- Gabriele Paleczek (Hrsg.), Kinship, Social Change and Evolution, bäerreiches und der Feldzug des Aelius Gallus, in: Hildegard Horn 1989, S. 63–74. Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, 08 Sayyid (plural sada) ist ein Ehrentitel der Nachkommen des Teil II: Principat, Berlin 1977, S. 308–544. Propheten Muhammad, die über seine Tochter Fatima und deren 04 Vgl. Walter W. Müller, Outline of the History of Ancient Ehemann Ali ibn Abi Talib von ihm abstammen. Southern Arabia, in: Werner Daum (Hrsg.), Yemen. 3000 Years 09 Vgl. Wilferd Madelung, Der Imam al-Qasim ibn Ibrahim und of Art and Civilisation in Arabia Felix, Innsbruck 1987, S. 49–54. die Glaubenslehre der Zaiditen, Berlin 1965. 10
Jemen APuZ ist die Forderung nach der geistigen und welt- ihres einstigen Herrschaftsbereiches behaup- lichen Führung der zaiditischen Gemeinschaft ten, wo sie 1454 von den Tahiriden gestürzt durch einen sayyid, einen Nachkommen des Pro- wurden.11 pheten. Fortan gehörten der Herrscher des zaidi- tischen Staates – genannt Imam – und die meisten DIE OSMANISCHEN seiner Notabeln einer anderen genealogischen Li- OKKUPATIONEN nie an als seine Untertanen, von denen der größte Teil tribaler Abstammung war. 1516 besetzten die Mamluken Gebiete des Jemen, Trotz der glücklichen Begleitumstände bei denen bereits ein Jahr später – in Reaktion auf die seiner Etablierung unterlagen der Einfluss und portugiesischen Expansionen entlang des Roten die Ausdehnung des zaiditischen Reiches in Meeres und nach Indien – die Osmanen folgten. den kommenden Jahrhunderten dramatischen Während dieser sogenannten ersten osmanischen Schwankungen. Der zaiditische Imam konkur- Okkupation eroberten die Osmanen Teile des Je- rierte mit den Herrschern anderer kleiner Rei- men inklusive Sanaa. Den Qasimiten – den Ima- che, die sich im Jemen gebildet hatten. 1173 men der qasimitischen Dynastie, die zu jener Zeit wurden Teile des Jemen von den Ayyubiden über die Zaiditen herrschten – gelang es, große besetzt, die unter Turanshah – dem Bruder des Teile der nördlichen Stämme hinter sich zu verei- ägyptischen Sultans Saladin – die südlichen Tei- nen und für den Kampf gegen die ungeliebten os- le des Jemen inklusive der Küstenebene des Ro- manischen Besatzer zu mobilisieren. Beim Abzug ten Meeres eroberten. Mit ihrer starken Armee der Osmanen 1635 befanden sich die Qasimiten und effizienten Verwaltung besiegten sie die auf dem Höhepunkt ihrer Macht und konnten kleinen Dynastien des südlichen Jemen und der ihre Herrschaft über große Teile des nördlichen Küstenebene und schufen auf diese Weise etwas, und südlichen Jemen inklusive des Hadhramaut das der politischen Entität „Jemen“ zum ersten im Osten ausdehnen. Anschließend jedoch be- Mal entfernt ähnlich sah. Der Norden des Je- gannen sie sich zunehmend in internen Macht- men blieb jedoch in der Hand der zaiditischen kämpfen aufzureiben und die Kontrolle über ihr Imame. Reich zu verlieren.12 Ab Mitte des 13. Jahrhunderts brachte der Das zaiditische Reich befand sich noch in Aufstieg der Rasuliden, deren Herrschaft jener dieser Phase der Zerrüttung, als die Osmanen der Ayyubiden folgte, Teilen des Jemen eine nach Öffnung des Suezkanals 1869 abermals mehr als zwei Jahrhunderte währende kulturel- den Jemen besetzten und sich 1872 in Sanaa le Blütezeit. Die Rasuliden förderten nicht nur etablierten.13 Auch die zweite osmanische Ok- den Handel und sorgten damit für wirtschaftli- kupation bewirkte galvanische Prozesse unter che Prosperität, sondern auch die Wissenschaf- den zaiditischen Stämmen des Nordjemen. Im ten, Astronomie, Literatur und Künste. Unter frühen 20. Jahrhundert gelang es Imam Yahya rasulidischer Herrschaft wurden einzigartige Hamid al-Din, auch er ein Abkomme der qasi- Moscheen, unter anderem die Aschrafiya-Mo- mitischen Linie, einen großen Teil der starken schee in Taizz, sowie Burgen und Paläste er- Stämme des nördlichen Hochlandes zu vereinen baut. Die Rasuliden beherrschten neben dem und mit ihnen gegen die Osmanen zu Felde zu jemenitischen Kernland – der Norden blieb ziehen, die zugleich in einem Krieg mit dem – weiter unter Kontrolle der Zaiditen – auch Tei- mit Italien verbündeten – Idrisi-Herrscher des le des Hadhramaut sowie des Hedschas bis Asir verwickelt waren, der ebenfalls entlang der nach Mekka. Das führte zu Konflikten mit den Küstenebene des Roten Meeres expandierte.14 ägyptischen Mamluken, die ebenfalls die Herr- Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches schaft über die Heiligen Stätten Mekka und Medina beanspruchten.10 Im 14. Jahrhundert 11 Vgl. Rex Smith, Rasulids, in: The Encyclopedia of Islam, gelang es den Zaiditen, den Rasuliden Sanaa zu Bd. 8, Leiden 1995, S. 455 ff. entreißen. Im 15. Jahrhundert konnten sich die 12 Vgl. Paul Dresch, Tribes, Government and History in Yemen, Oxford 1989, S. 212–218. Rasuliden nur noch in den südlichen Gebieten 13 Vgl. Caesar E. Farah, The Sultan’s Yemen. 19 th-Century Challenges to Ottoman Rule, London 2002. 10 Vgl. Noha Sadek, Custodians of the Holy Sanctuaries: 14 Vgl. Anne K. Bang, The Idrisi State of Asir 1906–1934, Rasulid-Mamluk Rivalry in Mecca, Berlin 2019. Bergen 1996. 11
APuZ 1–3/2020 während des Ersten Weltkrieges führte auch im en, die später den saudischen Staat formten, zu- Jemen zum Abzug der osmanischen Truppen. rückgedrängt hatten und am Roten Meer entlang Imam Yahya dehnte seine Macht in jene Gebiete bis nach Taizz expandierten. Kurz darauf, mit der aus, die zuvor unter osmanischer Herrschaft ge- zweiten osmanischen Okkupation des jemeniti- wesen waren. schen Hochlandes, wurde die strategische Bedeu- Yahyas ungewöhnlich großes Machtbewusst- tung des Stützpunkts Aden als Bollwerk gegen sein und seine harte Hand bei der Durchsetzung die Osmanen nochmals verstärkt. Zudem dien- seiner Ziele führten jedoch bald zu Auseinander- te der Hafen von Aden, einer der größten na- setzungen mit gerade jenen Stämmen, die die Ba- türlichen Seehäfen der Welt, der Bekohlung und sis seiner militärischen Macht gewesen waren und Trinkwasserversorgung der britischen Schiffe auf ihm zum Sieg gegen die Osmanen verholfen hat- dem Seeweg nach Indien. Ab 1869, mit der Eröff- ten.15 Yahyas Nachfolger, Imam Ahmad, setz- nung des Suezkanals, lag Aden am Schnittpunkt te diese Politik der harten Hand gegenüber den der Routen von und nach Suez und Indien, Lon- Stämmen fort. Tribale Aufstände und Rebellionen don und Singapur und war der drittgrößte Seeha- nahmen zu, in deren Verlauf sich wichtige Stäm- fen seiner Zeit.19 me vom Imam abwandten und sich mit den „Frei- Nur die Kronkolonie mit dem Hafen befand en Jemeniten“ verbündeten: nationalistischen Wi- sich unter der direkten Kontrolle der Briten. Im derstandsgruppen, die hauptsächlich von Aden Hinterland entstand das sogenannte Protektorat aus auf den Sturz des Imam hinarbeiteten.16 Aden: ein Zusammenschluss neun lokaler Stäm- Als Imam Ahmad starb, kam es am 26. Sep- me, deren Herrscher – hier Sultane oder Emi- tember 1962 zur Revolution. In dem anschließen- re genannt – Kooperationsverträge mit den Bri- den Bürgerkrieg wurden die Royalisten von Sau- ten eingingen.20 Das Protektorat wuchs, als die di-Arabien, hinter denen Großbritannien stand, Briten auch Kooperationsverträge mit dem Sul- und die Republikaner von Ägypten unterstützt. tan von al-Mahra und Sokotra sowie mit den Mit Beginn des Sechstagekrieges 1967 mit Isra- Herrschern der Quayti- und Kathiri-Dynastien el sahen sich die Ägypter jedoch gezwungen, ihr im Hadhramaut eingingen, die in der Mitte des Engagement im Jemen aufzugeben. Da aber auch 19. Jahrhunderts mit britischer Unterstützung Saudi-Arabien begann, sich schrittweise von den staatsähnliche Gebilde aufbauten.21 Ihre Gren- Royalisten abzuwenden, vermochten die Repu- zen waren jedoch nicht immer eindeutig defi- blikaner 1970 zu siegen.17 niert; einige, wie das Sultanat von al-Mahra und Sokotra, verfügten nur über rudimentäre Ver- DIE BRITEN waltungsstrukturen. Kronkolonie und Protekto- IN ADEN rat zusammen umfassten im Großen und Ganzen jene Territorien, die später zum Südjemen wer- Im Süden des Jemen nahm die Geschichte einen den sollten. Die Trennlinie zwischen den Ein- besonderen Verlauf, als die Briten 1839 die Ha- flusssphären der Briten und der Osmanen in Süd- fenstadt Aden besetzten.18 Die so entstehende arabien – die Anglo-Türkische Linie – wiederum Kronkolonie Aden war für das britische Empire ähnelte bereits der Grenze zwischen dem späte- aus mehreren Gründen von zentraler geostrategi- ren Nord- und Südjemen. scher und wirtschaftlicher Bedeutung. Zunächst diente Aden als strategische Basis gegen die Prä- NORD- senz mamlukisch-osmanischer Truppen auf der UND SÜDJEMEN Arabischen Halbinsel, die im Auftrag des osma- nischen Sultans die Wahhabiten in Zentralarabi- Die Welle der Unabhängigkeitsbewegungen und des arabischen Nationalismus in den re- 15 Vgl. Abd al-Aziz al-Masudi, al-Yaman al-muasir [Contem- volutionären 1960er Jahren brachten auch im porary Yemen], Kairo 2006, S. 138 f. 16 Vgl. J. Leigh Douglas, The Free Yemeni Movement 1935–1962, Beirut 1987. 19 Ebd. 17 Vgl. Asher Orkaby, Beyond the Arab Cold War. The Inter- 20 Vgl. John Matthew Willis, Unmaking North and South. national History of the Yemen Civil War, 1962–68, Oxford 2017. Cartographies of the Yemeni Past, 1857–1934, London 2012. 18 Vgl. R. J. Gavin, Aden Under British Rule. 1839–1967, 21 Vgl. William Harold Ingrams, A Report on the Social, Econo- London 1975. mic and Political Conditions of the Hadhramaut, London 1937. 12
Jemen APuZ Jemen große Umbrüche. Die Arabische Re- ration der Hashid angehören, wurden in einfluss- publik Jemen, auch Nordjemen genannt, war reiche Positionen der Regierung gesetzt und die bereits 1962 nach dem Tod von Imam Ahmad Loyalität der übrigen Stammesführer des Nor- von republikanischen Kräften ausgerufen wor- dens sowie der politischen Opposition durch den, musste aber noch acht Jahre gegen die von großzügige finanzielle Zuwendungen erkauft.24 Saudi-Arabien unterstützen Royalisten vertei- Innenpolitisch war der Nordjemen weiter geprägt digt werden. Die Ziele der Revolution waren vom Ringen verschiedener politischer Faktionen, die Abschaffung des Imamats und des von der vor allem dem Bestreben eines tribal-islamisti- Zaidiyya legitimierten politischen Herrschafts- schen Blocks unter Scheich Abdullah al-Ahmar anspruchs der sayyids sowie die Bildung eines zur Ausmerzung der Linken, der von Saudi-Ara- modernen Staates in Form einer Republik. Die bien unterstützt wurde. Salih hingegen verfolgte Anfänge der nordjemenitischen Republik waren eine stärker inklusive Politik, vor allem, um seiner turbulent, da verschiedene politische und gesell- Macht eine breitere Basis zu geben und von den schaftliche Faktionen erbittert um Macht und einzelnen Faktionen unabhängig zu regieren.25 Einfluss rangen. Der politische und finanzielle Auch im Süden kam es in den 1960er Jahren Einfluss Saudi-Arabiens – das sich von den Ro- zum politischen Umbruch. 1963 begannen lo- yalisten abwandte, um sich schließlich mit den kale Befreiungsgruppen mit ägyptischer und so Republikanern zu arrangieren – nahm enorme wjetischer Unterstützung eine Rebellion gegen Dimensionen an. Der Bürgerkrieg von 1962 die britische Herrschaft, in deren Verlauf sich die bis 1970 im Nordjemen hatte bei den Saudis Briten zum Rückzug aus Südarabien gezwungen die Sichtweise entstehen lassen, dass die konse- sahen. Die Volksrepublik Südjemen wurde im quente Durchsetzung saudischer Interessen im November 1967 unabhängig erklärt und 1969 in Jemen unabdingbar für die Sicherheit und Stabi- Volksdemokratische Republik Jemen umbenannt. lität des Königreiches sei. Zudem sahen die ult- Der Südjemen, von einer sozialistischen Einheits- rakonservativen Saudis den Nordjemen als stra- partei regiert, war der einzige marxistisch orien- tegisches Bollwerk gegen den nahezu zeitgleich tierte Staat im Nahen Osten und unterhielt enge entstehenden marxistisch-sozialistisch orien- Beziehungen zur Sowjetunion und anderen kom- tierten und als „gottlos“ angesehenen Staat im munistischen und sozialistischen Staaten. Der Südjemen.22 Südjemen verfolgte modernistische innen- und Ab 1978 wurde der Nordjemen von Ali Ab- gesellschaftspolitische Ziele wie Landreformen, dullah Salih regiert, einem Angehörigen des Mi- Gleichberechtigung der Frau, Einschränkung der litärs, der in den Wirren nach der Ermordung Polygamie, Verbot der Kinderheirat, Einschrän- der Präsidenten Ibrahim al-Hamdi und Ahmad kung des Tribalismus und Ersetzung der Scharia al-Ghashmi an die Macht gekommen war. Nach durch staatliches Gesetz. Das Familiengesetz des schwierigen ersten Jahren, die von politischen Südjemen galt als das progressivste seiner Zeit im und ökonomischen Krisen sowie einem erbit- arabischen Kontext.26 Per Verfassung wurden der terten Guerillakrieg zwischen Nord- und Südje- Bevölkerung Arbeit, Wohnraum sowie freie Bil- men überschattet wurden, gelang es Salih ab 1982, dung und Gesundheitsversorgung zugesichert. Nordjemen durch die Einberufung eines Allge- Mitte der 1980er Jahre war der Analphabetismus meinen Volkskongresses zu konsolidieren, der in fast vollständig beseitigt. Flügelkämpfe innerhalb den folgenden Jahren den Charakter einer Ein- der Sozialistischen Partei führten 1986 zu einem heitspartei annahm.23 Weit mehr jedoch als auf blutigen zehntägigen Bürgerkrieg, aus dem Ali politischen und ideologischen Grundlagen be- Salim al-Beidh als Generalsekretär der Sozialisti- ruhten Politik und Regierungsstil von Salih auf schen Partei hervorging.27 den Prinzipien der Kooptation und Patronage: Mitglieder seiner Familie und seines Stammes, die 24 Vgl. Sarah Phillips, Yemen and the Politics of Permanent Sanhan, die der einflussreichen Stammeskonföde- Crisis, London 2011, S. 51–74. 25 Vgl. Burrowes (Anm. 23), S. 101–113. 26 Vgl. Susanne Dahlgren, Contesting Realities. The Public 22 Vgl. Gregory Gause, Saudi-Yemeni Relations, New York Sphere and Morality in Southern Yemen, New York 2010, 1990. S. 153–162. 23 Vgl. Robert D. Burrowes, The Yemen Arab Republic. The 27 Vgl. Noel Brehony, Yemen Divided. The Story of a Failed Politics of Development 1962–1986, Boulder 1987, S. 124 f. State in South Arabia, London 2013, S. 151–167. 13
APuZ 1–3/2020 14
Jemen APuZ Die Beziehungen zum Nordjemen, in dem des Misstrauen, Entfremdung und ein zunehmend tribal-konservative und allmählich erstarken- vergiftetes politisches Klima machten die weitere de islamistische Kräfte mit Unterstützung von Zusammenarbeit letztlich unmöglich. Der Versuch Saudi-Arabien die Politik des Südjemen strikt ab- des Südens, die staatliche Unabhängigkeit wieder lehnten, waren lange quasi unberechenbar; sie äh- herzustellen, mündete im Mai 1994 in einen kur- nelten einem bizarren politischen „Menuett“,28 in zen, aber heftigen Bürgerkrieg, der die Hegemo- dem sich militärische Konfrontationen mit Ein- nie des Nordens im vereinten Jemen bestätigte und heitsversprechen abwechselten. Die in den spä- zementierte.31 Tausende Politiker und Militärs des ten 1980er Jahren in der Sowjetunion einsetzende Südens wurden anschließend vertrieben, darunter Perestroika, aber auch das gemeinsame Interesse al-Beidh, der ehemalige Generalsekretär der Sozia- an der Erschließung der Ölfelder entlang der in- listischen Partei und Vizepräsident des vereinigten nerjemenitischen Grenze sowie Salihs Bestrebun- Jemen, Tausende andere in den Zwangsruhestand gen zum Ausbau seiner Machtbasis unabhängig ohne angemessene Pensionen versetzt. vom tribal-islamistischen Block des Nordens, führten zu einer Annäherung der beiden Staa- ENTSTEHUNG ten, die sich am 22. Mai 1990 zur Republik Jemen DER HUTHIS vereinigten.29 Die Jahre der Einheit bescherten dem Jemen eine PROBLEMATISCHE Periode der Stabilität, die sich rückblickend je- EINHEIT doch auch als eine Zeit der zunehmenden poli- tischen und gesellschaftlichen Erstarrung und – Die im Mai 1990 verabschiedete Einheitsverfas- trotz einer Reihe von Kommunal-, Parlaments-, sung der Republik Jemen sah ein pluralistisches und Präsidialwahlen – der schleichenden Ent- politisches System und freie Wahlen vor, bis zu demokratisierung erwies. Begünstigt von Un- deren Durchführung politische Macht zu glei- zufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung, chen Teilen zwischen dem Norden und dem Sü- formierten sich Widerstandsgruppen gegen das den aufgeteilt werden sollte. Salih wurde Staats- Salih-Regime in Sanaa, von denen vor allem zwei chef, während al-Beidh Vizepräsident wurde. Ein – die Huthis im Norden und die Unabhängig- Präsidialrat und ein Übergangsparlament wurden keitsbewegung Hirak im Süden – den weiteren mit Vertretern aus Nord und Süd besetzt. Die Verlauf der Geschichte bestimmten. ebenfalls vorgesehene Integration der Verwaltun- Die Entstehung der Huthis ist das Ergebnis gen gelang jedoch nicht; insbesondere das Militär eines komplexen Prozesses, der weit in die Ge- blieb de facto unter nördlichem und südlichem schichte des Jemen zurückreicht. Die Revoluti- Kommando geteilt. on von 1962 und die Abschaffung des Imamats Bei den Parlamentswahlen von 1993 konnten hatten die Gruppe der sayyids (der Nachkom- Salihs Allgemeiner Volkskongress und Abdullah men des Propheten Muhammad) marginalisiert, al-Ahmars islamistische Islah-Partei viele Wäh- die seit dem 9. Jahrhundert die regierende Eli- ler für sich gewinnen. Die Sozialistische Partei te im zaiditischen Jemen gewesen waren.32 Im ging geschwächt aus den Wahlen hervor, obwohl stark von tribalen Normen und Traditionen ge- sie die meisten Sitze im zwar flächenmäßig größe- prägten, ruralen Norden stiegen nach 1962 statt- ren, jedoch weit weniger bevölkerungsstarken Sü- dessen die Stammesführer – die Scheichs – zur den gewonnen hatte. Das neue Parlament wurde politisch und wirtschaftlich einflussreichsten daher deutlich vom Norden dominiert.30 In den Gruppe auf. Die Scheichs dominierten die Wirt- anschließenden Monaten verschlechterten sich die schaft und begannen nach 1993, die Parlaments- Beziehungen zwischen Nord und Süd; wachsen- sitze quasi in der Familie zu vererben.33 Wegen 28 Nach einem Ausdruck von Burrowes (Anm. 23), S. 99. 31 Vgl. Jamal al-Suwaidi, The Yemeni War of 1994, Abu Dhabi 29 Vgl. Paul Dresch, A History of Modern Yemen, Cambridge 1995. 2000, S. 183–204. 32 Vgl. Gabriele von Bruck, Islam, Memory, and Morality in 30 Vgl. Sheila Carapico, Campaign Politics and Coalition- Yemen. Ruling Families in Transition, New York 2005. Building. The 1993 Parliamentary Elections, in: Yemen Update 33 Vgl. Marieke Brandt, Tribes and Politics in Yemen. A History 33/1993, S. 37 ff. of the Houthi Conflict, London 2017, S. 311 ff. 15
APuZ 1–3/2020 ihrer überragenden Rolle wurden sie sowohl von Der Konflikt zwischen dem Regime und den der Regierung in Sanaa als auch von Saudi-Ara- Rebellen begann im Sommer 2004 im Zusam- bien mit großzügigen Patronagezahlungen be- menhang mit einer Polizeioperation in Husayn dacht. Diese Ungleichverteilung von politischer al-Huthis Heimatdorf in den Bergen von Saada. Partizipation und ökonomischen Ressourcen Im tribalen Milieu des nördlichen Hochlandes führte zu Unzufriedenheit im einfachen Volk, entwickelte der Konflikt schnell eine enorme dessen politische, soziale und ökonomische Si- Eigendynamik und wuchs sich in den folgen- tuation sich nach 1962 oft nicht wesentlich ver- den Jahren zu einem Krieg aus, der große Tei- bessert hatte. le der Bevölkerung des Hochlandes gegen die In diesem Umfeld konnten religiöse Dynami- Regierung mobilisierte und ab 2009 auch kurz- ken eine ungeheure Wucht entfalten. In der Ge- zeitig die sensible Grenze nach Saudi-Arabien schichte des Jemen war das Zusammenleben von überschritt. Die Saudis nahmen dies zum An- schiitisch-zaiditischen und sunnitischen Grup- lass, einen Luftkrieg gegen die Huthis zu begin- pen zumeist unproblematisch gewesen. Dies nen, um ihre Grenze zu schützen und die be- änderte sich, als sich im Norden ab den frühen reits drohende Niederlage des Regimes in Sanaa 1980er Jahren radikale sunnitische Glaubensrich- zu verhindern; zudem fürchteten die Saudis tungen auszubreiten begannen, die von Saudi- die Entstehung einer schiitischen Entente zwi- Arabien, vom konservativ-islamistischen Block schen den Huthis und dem Erzfeind Iran. Der um Scheich Abdullah al-Ahmar, sowie zeitwei- Krieg endete unentschieden im Februar 2010. se – aus politischem Kalkül – von der jemeniti- Die Zeit nach dem Ende der Saada-Kriege bis schen Regierung gefördert wurden.34 Auch al- zum Beginn der Protestbewegung des Arabi- Qaida entwickelte eine Präsenz im Jemen, seit in schen Frühlings 2011 nutzten die Huthis, ihre den späten 1980er Jahren Veteranen des Afgha- Macht im Norden zu konsolidieren. Es erüb- nistan-Krieges im Jemen Zuflucht suchten.35 Der rigt sich zu sagen, dass sie ungeheuer von der Anschlag auf die USS Cole im Hafen von Aden Schwächung des Regimes durch die Protestbe- im Jahr 2000 wurde vom jemenitischen Ableger wegung und dem Sturz Salihs profitierten, mit der al-Qaida verübt. dem sie sich anschließend, bis zu Salihs Tod Das Gefühl der Marginalisierung und Bedro- 2017, gegen seinen Nachfolger Abd Rabbuh hung durch die vorwiegend von Saudi-Arabien Mansur Hadi verbündeten. Ab 2013 verfolgten finanzierte Ausbreitung des radikalen Sunnis- die Huthis eine Doppelstrategie der politischen mus führte dazu, dass sich ein Teil der Zaiditen Betätigung in Jemens Nationaler Dialogkonfe- ab den späten 1980er Jahren ebenfalls organisier- renz und gleichzeitiger militärischer Expansion, te und allmählich radikalisierte. Aus dieser zai- was ihnen ermöglichte, ihre politischen Visio- ditischen Bewegung gingen in den frühen 2000er nen in das Abschlussdokument der Nationalen Jahren die Huthis hervor, die den Namen ihres Dialogkonferenz einzubringen und anschlie- Anführers, des sayyid Husayn al-Huthi, tru- ßend, im September 2014, die Hauptstadt Sanaa gen. Unter Husayn al-Huthis Führung wurde militärisch zu erobern.36 die Bewegung zu einem Sammelbecken all jener im zaiditisch geprägten Norden, die sich religi- ENTSTEHUNG ös, politisch, sozial und wirtschaftlich margina- DER SÜDBEWEGUNG lisiert fühlten und mit dem Status quo unzufrie- den waren. Husayn al-Huthis Unwille, mit Salih Die zweite große Widerstandsbewegung gegen zu kooperieren, wurde vom Regime als Provo- das Regime in Sanaa ging vom ehemaligen Süd- kation empfunden. jemen aus. Der Bürgerkrieg von 1994 zwischen dem ehemaligen Nord- und Südjemen hatte ein 34 Zur Ausbreitung radikaler sunnitischer Glaubensrichtungen im Jemen vgl. Laurent Bonnefoy, Salafism in Yemen. Transnatio- 36 Vgl. Brandt (Anm. 33), S. 337–342 sowie dies., The nalism and Religious Identity, London 2011. Huthi Enigma. Ansar Allah and the Second Republic, in: 35 Vgl. Lisa Wedeen, Peripheral Visions. Publics, Power and Marie-Christine Heinze (Hrsg.), Yemen and the Search for Performance in Yemen, Chicago 2008, S. 198; Marieke Brandt, Stability. Power, Politics and Society after the Arab Spring, The Global and the Local. Al-Qaeda and Yemen’s Tribes, in: Oli- London 2018, S. 160–183. Zur Nationalen Dialogkonferenz vier Roy/Virginie Collombier (Hrsg.), Tribes and Global Jihadism, siehe auch den Beitrag von Marie-Christine Heinze in die- London 2017, S. 105–130. sem Heft. 16
Sie können auch lesen