AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Land und Ländlichkeit - Bundeszentrale für politische Bildung
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66. Jahrgang, 46–47/2016, 14. November 2016 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Land und Ländlichkeit Claudia Neu Jutta Aumüller · Frank Gesemann NEUE LÄNDLICHKEIT. FLÜCHTLINGE AUFS LAND? EINE KRITISCHE BETRACHTUNG MIGRATION UND INTEGRATION Gerhard Henkel IM LÄNDLICHEN RAUM GESCHICHTE UND GEGENWART DES DORFES W. Vogelgesang · J. Kopp · R. Jacob · A. Hahn Heinrich Becker · Gesine Tuitjer URBANE DÖRFER LÄNDLICHE LEBENS VERHÄLTNISSE IM WANDEL Sigrun Langner RURBANE LANDSCHAFTEN Ulrike Grabski-Kieron POLITIK IM UND FÜR DEN LÄNDLICHEN RAUM ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Land und Ländlichkeit APuZ 46–47/2016 CLAUDIA NEU JUTTA AUMÜLLER · FRANK GESEMANN NEUE LÄNDLICHKEIT. FLÜCHTLINGE AUFS LAND? MIGRATION EINE KRITISCHE BETRACHTUNG UND INTEGRATION IM LÄNDLICHEN RAUM Mehr Ländlichkeit war nie. Doch sind Bezüge Es gibt zahlreiche Barrieren, aber auch Chancen auf das imaginierte Landleben immer so harmlos, für die Integration im ländlichen Raum. Um wie „Landlust“ und „Musikantenstadl“ eine langfristige Ansiedlung von Geflüchteten anmuten? In politischen Diskursen werden realisieren zu können, sind vielfältige Hand sie auch benutzt, um etwa den Rückzug der lungsansätze auf kommunaler, Landes- und Daseinsvorsorge aus der Fläche schönzureden. Bundesebene notwendig. Seite 04–09 Seite 29–34 GERHARD HENKEL W. VOGELGESANG · J. KOPP · GESCHICHTE UND GEGENWART DES DORFES R. JACOB · A. HAHN Dorf und Land haben ökonomische, ökolo STÄDTISCHE LEBENSFORMEN IM gische, kulturelle und soziale Potenziale und DÖRFLICHEN KONTEXT: URBANE DÖRFER bringen diese auch in hohem Maße in die Nachhaltige Transformationen (Mobilität, Gesamtgesellschaft ein. Nicht nur die Stadt, auch Multilokalität, individualisierte Lebensstile das Dorf ist ein Erfolgsmodell der europäischen und Wohnformen) verwandeln das traditionale und deutschen Geschichte. Dorfkollektiv in posttraditionale Vergemein Seite 10–16 schaftungen. Die untersuchte Landgemeinde ist beispielhaft für die „Verstädterung“ von Dörfern. Seite 35–40 HEINRICH BECKER · GESINE TUITJER LÄNDLICHE LEBENSVERHÄLTNISSE IM WANDEL 1952, 1972, 1993 UND 2012 SIGRUN LANGNER Der Beitrag präsentiert Ergebnisse des For RURBANE LANDSCHAFTEN. LANDSCHAFTS schungsprojekts „Ländliche Lebensverhältnisse ENTWÜRFE ALS PROJEKTIONEN PRODUKTIVER im Wandel“, in dem Veränderungen der länd STADT-LAND-VERSCHRÄNKUNGEN lichen Lebensverhältnisse in immer denselben Wie urban ist das Land? Wie ländlich ist die zehn westdeutschen und seit 1993 auch vier Stadt? In dem Beitrag wird Raum jenseits der ostdeutschen Dörfern untersucht werden. Kategorien von Stadt und Land beschrieben Seite 17–22 und nach produktiven Verschränkungen von urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen, Projektionen und Raumstrukturen gefragt. ULRIKE GRABSKI-KIERON Seite 41–46 POLITIK IM UND FÜR DEN LÄNDLICHEN RAUM Politik im und für den ländlichen Raum stellt sich als ein Politikfeld dar, das sich über verschiedene Ressorts hinweg im Mehrebenen system von EU, Bund und Bundesländern entfaltet. Ein breites Spektrum von Instrumenten kommt dabei zum Einsatz. Seite 23–28
EDITORIAL Die Entwicklung von ländlichen Regionen gestaltet sich sehr unterschiedlich, je nach Lage, Arbeitsmarkt und politischem und gesellschaftlichem Handeln. Hat in einigen Dörfern auch der letzte Lebensmittelladen geschlossen, der Landarzt sein Glück woanders gesucht und kommt – wenn überhaupt – nur noch ein Bus pro Tag, boomen andere Gegenden geradezu und wachsen an Einwohnern und Angeboten. Von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ kann oft nicht mehr die Rede sein. Die Angaben, wie viele Menschen in Deutschland auf dem Land leben, schwanken, da „Land“ oder „ländlicher Raum“ unterschiedlich definiert werden können. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung fasst den städtischen Raum als Gesamtheit aller kreisfreien Großstädte und städtischen Kreise; den ländlichen Raum bilden demnach alle ländlichen Kreise. 2014 lag der Anteil der ländlichen Bevölkerung bei knapp 32 Prozent (etwa 25,6 Millionen Menschen), der Flächenanteil bei fast 68 Prozent. Sinkende Einwohnerzahlen verzeichnet der ländliche Raum insgesamt seit Jahren, wobei der Rückgang im Osten prozentual höher ist als im Westen. Auch wenn der Trend zur (Re-)Urbanisierung anhält, ist angesichts der teil weise nicht bezahlbaren Miet- und Eigentumspreise in bestimmten Städten ein Umzug aufs Land (wieder) eine Option. Doch nicht nur aus finanziellen Erwä gungen heraus erscheint ein ländliches Leben vielen Menschen als attraktiv. Die „Landlust“ hat um sich gegriffen, Großstädter ziehen auf der Suche nach dem „guten Leben“ raus, um ihre Vorstellungen von „Ländlichkeit“ zu verwirklichen, oder holen das Rurale in Form von urban gardening oder urban farming in die Stadt. So verschwimmen die Grenzen zwischen „städtisch“ und „ländlich“. Anne Seibring 03
APuZ 46–47/2016 ESSAY NEUE LÄNDLICHKEIT. EINE KRITISCHE BETRACHTUNG Claudia Neu Junge Familien pachten begeistert Schrebergär Aktuelle Gesellschaftsanalysen legen nahe, ten oder Äcker beim Bauern, urbane Gemein dass die (urbane) Mittelschicht zutiefst verunsi schaftsgärten schießen wie Pilze aus dem Boden, chert, verbittert, von Statuspanik geplagt ist und Landmagazine erreichen Millionenauflagen und sich bei der Jagd nach der Work-Life-Balance Wildkräutersammelkurse sind ausgebucht. Mehr in der Rushhour des Lebens zerreibt.04 Die „er Landgefühl war nie. Die Trendsetter der „Neu schöpfte Gesellschaft“ ist auf der Suche nach en Ländlichkeit“ sind jedoch nicht etwa Dorfbe Entschleunigung, authentischen Erfahrungen, wohner, sondern zumeist Städter, die sich im An echter Natur, Nahraumerfahrungen und Ge bauen, Ernten und Einkochen versuchen. Es ist meinschaft.05 Die Rhetorik des Verlustes treibt müßig, zu erwähnen, dass es sich zumeist um ide uns in die Arme einer vermeintlich besseren, der alisierte Vorstellungen vom Landleben handelt, guten alten Zeit. So antwortet die Neue Länd die mit „realen“ Verhältnissen auf dem Land oder lichkeit auf verschiedene gesellschaftliche Anfor gar in der Landwirtschaft wenig zu tun haben.01 derungen, Überforderungen, Befindlichkeiten, Dies kann auch nicht wirklich verwundern, denn Sehnsüchte und Ängste der Spätmoderne. die Imaginierung des Ländlichen diente stets als Kontrapunkt zum (modernen) Stadtleben. Die LÄNDLICHE IDYLLE aktuelle Land-Renaissance steht damit in einer langen Tradition, denn „echtes“ Landleben hatten Die äußerst beliebten Landmagazine, die in mil selbst die Literaten und Maler der Frühen Neu lionenfacher Auflage erscheinen, sprechen zwar, zeit nicht im Sinn, als sie Arkadien suchten und ebenso wie die nicht weniger gern gesehenen damit selbst idealisierte Sehnsuchtsorte in Form Volksmusiksendungen, sozialstrukturell unter von Schäfer-Idyllen schufen. Auch die Aufklä schiedliche und medienanalytisch fein austarierte rer des 19. Jahrhunderts verfassten die „Lieder Nutzergruppen an, „arbeiten“ jedoch beide mit für den Landmann“ nicht für das Landvolk, son der idyllischen Repräsentation des Ländlichen dern für das gebildete Bürgertum, das sich an der und der Landwirtschaft: Erntedank- und Okto vermeintlichen Natürlichkeit der Bauern und Sä berfest, Weinlese, Oldtimer-Traktoren, herbstli männer erfreute.02 che Wildmenüs – die Themen der neuesten „Heu Der Antagonismus zwischen „unverfälsch ballen-Hefte“. tem Landleben“ und „städtischer Entfremdung“ Die „ländliche Idylle“ ist, ebenso wie das Dorf ist tief in den „Quellcode der Moderne einge als Ort des „guten Lebens“, von jeher fester Be schrieben“, so der Kulturwissenschaftler Ste standteil der künstlerisch-literarischen Bearbeitung fan Höhne.03 Daher greift es zu kurz, die Idyl von Land.06 Seit der Antike finden sich mit dem lo- lisierung des Landlebens à la „Musikantenstadl“ cus amoenus (dem lieblichen Ort) idealisierte Na oder „Landlust“ nur als schlechten Geschmack turschilderungen, mit den Landschaften Arkadiens von Senioren und Hausfrauen abzutun. Viel oder der Hirtenliteratur (Bukolik) ähnliche Leit mehr lässt sich fragen, welche Bilder von Stadt motive, die in der Renaissance mit der Wiederent und Land erzeugt werden. Von wem, für wen? deckung der antiken Klassiker zu neuer Blüte ka Oder anders: Auf welche gesellschaftlichen Ver men. Im 18. Jahrhundert entdeckten Künstler und änderungsprozesse antwortet die Neue Länd Intellektuelle dann die von Menschenhand geschaf lichkeit? fenen Kulturlandschaften als Naturlandschaften 04
Land und Ländlichkeit APuZ und priesen die Schönheit der bäuerlichen Arbeit wird als Ort des „guten Lebens“, der Tradition und ländlicher Gegenden. Bereits hier sind erste und des Bewahrens gefasst; Mensch, Tier und Na Züge einer Romantisierung der Naturlandschaften, tur leben im Einklang miteinander, was sich im im als Gegenbild zur Unterwerfung der Natur unter mer wiederkehrenden Tages- und Jahresablauf, in zunehmend ökonomische Ziele, zu erkennen. Die den Arbeits- und Bauweisen sowie dem Brauch bearbeitete Natur sollte keineswegs wieder in ihren tum wiederfindet. Die ländliche Gesellschaft gilt Urzustand versetzt werden, im Gegenteil, die bäu als eine wenig differenzierte Gemeinschaft, die sich erliche Idylle sollte konserviert werden.07 bei allem Unbill des Lebens selbstlos beisteht, und Sehnte sich das aufstrebende (klein)städtische das Dorf als eine geschlossene Gesellschaft, die au Bürgertum in Kunst, Musik und Literatur nach tark lebt und sich selbst genügt. Das Fremde stört unberührter Natur und urwüchsigem Landvolk, so und bedroht die Gemeinschaft. tritt mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft Dass die „realen“ Verhältnisse auf dem Land und der zunehmenden Verstädterung im 19. Jahr oft eher einem „Not- und Terrorzusammen hundert stärker das Motiv der Antiurbanität in den hang“09 ähnelten und die ländliche Gesellschaft Vordergrund. Land und Dorf wurden nun explizit eine stark hierarchisch gegliederte Gesellschaft zum Gegenentwurf zur entfremdenden, schmut war – zu denken sei hier nur an die unzähligen zigen, krankmachenden, anonymen Großstadt. Formen von Köttern, Kossäten, Kätnern, Hufnern Auch in den kommenden Jahren, die verschiedene und anderen Formen von Voll-, Halb-, Viertelbau Wellen von Landromantik (Lebensreform, Wan ern –, die soziale Abweichungen hart sanktionier dervogelbewegung) bis hin zur Landperversion te, war und ist freilich bis heute selten Gegenstand (NS-Blut- und Bodenideologie) erlebten, tauchen populärkultureller Darbietung. Peri pherisierung stets die gleichen Ingredienzien zur Imagination und Entleerung ländlicher Räume, Ressourcen des Ländlichen auf – das „gute Leben“, Gemein übernutzung, Armut und Arbeitslosigkeit stören schaft, Naturnähe und Homogenität.08 Das Dorf das Bild ländlicher Idylle, in der allzeit Hausgär ten blühen und Mutti Marmelade kocht. 01 „Ländlichkeit“ wird daher nicht als Raumkategorie oder -eigenschaft aufgefasst, sondern als etwas soziokulturell Herge- DAS GLÜCK LIEGT stelltes (etwa in Anlehnung an das doing gender ein doing rural). AUF DEM LAND? Dies können Diskurse, Repräsentationen, Literatur oder vermeint- lich ländliche Praktiken wie der Anbau von Obst und Gemüse sein. Es geht mithin darum, zu hinterfragen, welche kulturelle Bedeutung Nicht Antiurbanität, sondern der Wunsch nach Ländlichkeit heute hat. Naturnähe und sozialem Miteinander, Entschleu 02 Vgl. Michael Fischer, Lieder für den Landmann, in: Zeitschrift nigung und Achtsamkeit wecken die „Sehnsucht für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1/2016, S. 39–56. der Städter nach dem ‚Land‘“.10 Und das in den 03 Stefan Höhne, Die Idiotie des Stadtlebens, in: Zeitschrift für vergangenen 60 Jahren mit stetig steigender Ten Ideengeschichte 2/2015, S. 39–46. 04 Vgl. Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014; denz: 1956 antworteten auf die Frage „Wo ha Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013. ben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz allge 05 Vgl. Stefan Grünewald, Die erschöpfte Gesellschaft, Frank mein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der furt/M.–New York 2013. Stadt?“ 54 Prozent der Befragten, dies sei in der 06 Selbstverständlich soll keineswegs verschwiegen werden, Stadt der Fall, wohingegen lediglich 19 Prozent dass Rückständigkeit, soziale Enge, Härte und Armut, eben die unschönen Seiten des Landlebens, stets sehr präsent in Kunst und dem Land eine höhere Attraktivität bescheinigten. Literatur waren. Zu denken sei nur an „Schlafes Bruder“ von Robert Bereits 1977 hatte sich die Einschätzung zuguns Schneider oder „Schwabenkinder“ von Jo Baier. ten des Landes geändert: 43 Prozent entschieden 07 Vgl. Eva Barlösius/Claudia Neu, Die Wildnis wagen, in: Ber sich für das Landleben, nur noch 39 Prozent für liner Debatte Initial 6/2001, S. 65–76; Christoph Baumann, Die die Stadt. Heute erscheint das Stadtleben den Be Lust am Ländlichen, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumfor- schung (BBSR) (Hrsg.), Landflucht? Gesellschaft in Bewegung, Bonn fragten nur noch halb so attraktiv wie das Land 2016, S. 249–259. leben: 2014 stimmten 41 Prozent für das Land, 08 Vgl. Werner Bätzing, Das Dorf als Ort des guten Lebens zwi- schen Inszenierung und Verschwinden, in: Hans-Peter Ecker (Hrsg.), Orte des guten Lebens – Entwürfe humaner Lebensräume, Würz- 09 Utz Jeggle/Albert Illien, Die Dorfgemeinschaft als Not- und burg 2007, S. 103–114; Werner Nell/Marc Weiland, Imaginati- Terrorzusammenhang, in: Hans Günter Wehling (Hrsg.), Dorfpolitik, onsraum Dorf, in: dies. (Hrsg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr Opladen 1978, S. 38–53. des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, 10 Thomas Petersen, Die Sehnsucht der Städter nach dem „Land“, S. 13–50. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 7. 2014. 05
APuZ 46–47/2016 21 Prozent für die Stadt. Mithin hält nur noch je rungssicherung. Ihnen geht es vor allem anderen der Fünfte das Stadtleben für besser. Das Glück um das „gute Leben“. Genuss, Geschmack und vermutet die Mehrheit der Befragten ohnehin gutes Gewissen beim Konsum stehen im Vorder eher auf dem Land (Großstädter zu 23 Prozent, grund. Klein-/Mittelstädter zu 38 Prozent und Landbe Eine weitere Gruppe fühlt sich zu den Ide wohner zu 54 Prozent). Gleichwohl bleibt der en praktischer Landarbeit hingezogen: die grüne Zuzug in die Städte ungebremst. Lediglich knapp Familie. Die jungen Erwachsenen, oft junge El 32 Prozent der Bevölkerung lebt noch im ländli tern, möchten für sich und ihre Kinder frisches chen Umland oder im ländlichen Raum.11 In Ver selbstangebautes Gemüse produzieren und ver bindung mit der Vorstellung einer intakten Ge arbeiten. Um dem Nachwuchs einen Bezug zur meinschaft und guter Nachbarschaften steht wohl Natur und den Nahrungsquellen zu vermitteln, auch die Annahme, dass Einsamkeit eher Städter wird eine Parzelle im Selbsternteprojekt oder heimsucht als Landbewohner (Land: 27 Prozent, ein Schrebergarten gepachtet oder auch bei ei Stadt: 39 Prozent). So bleibt die Stadt der Raum nem urbanen Gemeinschaftsgarten mitgemacht. zum Überleben im Alltag, während das Land der Die grüne Familie fühlt sich einem nachhalti Raum der Imagination eines besseren Lebens ist. gen Lebensstil verpflichtet, kauft gern im Bio laden und kocht vollwertig. (Teil-)Selbstversor BASTELBOGEN gung und Lebensmittelverarbeitung werden als FÜR DAS LANDLEBEN Freizeitspaß für die ganze Familie, aber durchaus auch als pädagogisches Konzept in der Kinder „Landlust“ lesen ist eine Sache, eine Kräuterspirale erziehung verstanden. anlegen, einen Garten mieten oder gar als Selbst Medial wenig präsent, dennoch sicher die versorger aufs Land ziehen eine andere. Wer sind größte Gruppe der (Teil-)Selbstversorger, sind die Gestalter der Neuen Ländlichkeit? Raumpio die Heimatler, die Traditionalisten unter den niere, urbane Gärtner, Selbstversorger, Landlust Gärtnern und Köchen. Sie sind meist älter und leser – die unterschiedlichsten Phänomene und leben häufig im ländlichen Raum. Aufgewach Akteure tummeln sich auf diesem Feld. Medi sen mit großem Nutzgarten, Schrebergarten oder al besonders präsent ist die Selbstversorgerbewe auf einem Hof, ist private Hauswirtschaft für sie gung, die, mit Hunderten von Ratgebern bestens kein Fremdwort, zudem beherrschen sie die al versorgt, in ihr neues Leben als Gärtner, Kräuter ten Kulturtechniken noch. Geht es bei den neu sammler, Einkocher startet. Auf der Basis einer en Selbstversorgern vor allem um den Anbau von qualitativen Inhaltsanalyse verschiedenster Rat Obst und Gemüse und nur selten um die Haltung geber, Erlebnis- und Selbsterfahrungsberichte von von Nutztieren, so finden sich gerade im ländli Selbstversorgern konnten unterschiedliche Typen chen Raum Ostdeutschlands durchaus noch vie und Motivstrukturen extrahiert werden.12 le Halter von Kleintieren wie Hühnern, Gänsen Die Landlustigen holen sich die Anregungen oder Kaninchen.13 Das Motiv, auf Selbstgemach zur Selbstversorgung light, im Hausgarten oder tes zu setzen, ist bei den Heimatlern nicht Kon auf dem Balkon, in den genannten Landmagazi sumkritik oder der Wunsch, nachhaltig zu le nen. Auch das Sammeln von Wildkräutern und ben, vielmehr sind es Heimatverbundenheit und Einlegen der selbsterzeugten Produkte dient eher Bescheidenheit. der Entschleunigung des Alltags denn der Ernäh Den Money-Poor-Time-Rich-Typ verbindet mit den Heimatlern, dass der Eigenanbau und die Verarbeitung von Lebensmitteln nicht nur Freu 11 Vgl. BBSR, Referenz Kreise/Kreisregionen zu Kreistypen, Gebiets de bereitet, sondern auch eine Entlastung in der stand 31. 12. 2014, www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/Kreistypen4/Downloadangebote.html?nn= 443222. 13 Vgl. Claudia Neu/Ljubica Nikolic, Versorgung im ländlichen 12 Vgl. Ljubica Nikolic, Selbstversorgung – Ein Trend zwischen Raum der Zukunft: Chancen und Herausforderungen, in: Uwe Lifestyle und nachhaltiger Ernährungskultur, Vortrag, Sektion Land- Fachinger/Harald Künemund (Hrsg.), Gerontologie und ländlicher und Agrarsoziologie der DGS, Bonn, 8. 10. 2011; Claudia Neu/ Raum, Wiesbaden 2014, S. 185–208; Ljubica Nikolic, Selbstversor- dies., Die (neuen) Selbstversorger – zwischen Not und Weltan- gung zwischen Daseinsvorsorge und Ernährungssicherung – Ver- schauung, in: Peter A. Berger et al. (Hrsg.), Urbane Ungleichheiten. gleichende Analyse von zwei Fallstudien aus peripheren ländlichen Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, Wiesbaden Räumen, Masterarbeit, Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach 2014, S. 253–271. 2013. 06
Land und Ländlichkeit APuZ Haushaltskasse bringen kann. Die Hinwendung ten“ Welt sehen und versuchen, weitgehend au zu mehr Eigenarbeit und privater Hauswirtschaft tark zu leben. Der Gedanke, der sich bei vielen kann bei diesem Typus eine unfreiwillige Ent US-amerikanischen Selbsthilfeprojekten wie den scheidung sein, etwa durch den Verlust des Ar communal gardens finden lässt, (anderen) Zugang beitsplatzes, oder aber eine freigewählte Redu zu Lebensmitteln sowie Gütern- und Dienstleis zierung der Erwerbsarbeit, um mehr persönliche tungen des täglichen Bedarfs zu verschaffen oder Freiräume zu erlangen. Auch hier finden wir das den öffentlichen Raum zurückzuerobern, ist we Motiv des „guten Lebens“, das Erwerbs- und Ei nig ausgeprägt.15 (Teil-)Selbstversorgung als Bei genarbeit harmonisch miteinander verbindet und trag zur Ernährungssicherung des eigenen Haus Raum für kreative Selbstentfaltung lässt. halts ist kein primäres Motiv, bei den Heimatlern Einen deutlichen Schritt in Richtung Voll- findet es jedoch traditionelle Anknüpfungspunk Selbstversorger-Leben vollziehen dann die Aus- te und wird von den Aussteigern als bewusste steiger, die sich einer alternativen Lebensweise Entscheidung gewählt. Entschleunigung, Nach verschreiben. Während der Money-Poor-Time- haltigkeit, Ökologie sowie Konsumkritik und Rich-Typ die Bindung zur Erwerbsarbeit nicht Konsumverzicht spielen eine wichtigere Rolle. ganz verloren hat, sondern lediglich die Arbeits Lebensmittelproduktion und -konsumption wer zeit reduziert, verlässt der Aussteiger seine „alte den vorrangig als Mittel der Stilisierung und sozi Welt“. Dieser Typus investiert einen Großteil sei alen Abgrenzung verwendet – mehr individueller ner Zeit in die Selbstversorgung. Er wohnt vor Wohlfühlfaktor denn politischer Aktionismus. wiegend im ländlichen Raum oder den Stadtrand lagen und bewirtschaftet entweder Mietäcker JENSEITS DER IDYLLE oder das zum Wohnhaus gehörende Grundstück. Konsumkritik wird entweder auf kultureller Ebe Nun wirkt das doch alles recht idyllisch! Land ne als Herrschaftskritik geübt oder als Kritik am magazine erfreuen ein Millionenpublikum, urba Naturverbrauch und der Naturzerstörung. ne Gärtner begrünen die städtischen Brachen und Noch einen Schritt weiter gehen die Aktivis- Kinder werden auf Mietäckern an gesunde Er ten, die so unabhängig und ressourcenschonend nährung herangeführt. Soweit – so harmlos? Ein wie möglich leben wollen. Sie konzentrieren sich Blick auf die aktuellen politischen Diskurse um ähnlich wie die Aussteiger darauf, möglichst nur den Wandel des Wohlfahrtsstaates und den Rück zu verbrauchen, was sie auch produzieren. Aller zug der Daseinsvorsorge aus der Fläche macht dings steht hier Autarkie nicht synonym für so deutlich, dass auch hier die Schlagworte der länd ziale Isolation, sondern impliziert vielmehr Ver lichen Imagination auftauchen: das „gute Leben“, netzung und Kooperation mit Gleichgesinnten. Gemeinschaft und Homogenität – allerdings als Unter den Aktivisten sind etwa die Organisa Trojaner, um mit diesen positiv besetzten Bildern toren der Transitiontown-Bewegung14 oder ur gesellschaftliche Veränderungen und harte politi baner Gemeinschaftsgärten wie dem Allmende- sche Einschnitte zu verschleiern. Kontor in Berlin zu finden. Das Dorf als Ort des „guten Lebens“ hat eine Zusammenfassend lässt die vorgestellte In lange Tradition. Das „gute Leben“ meint aber haltsanalyse einen ersten Eindruck über die Band heute zunehmend das gute individuelle Leben, breite der unterschiedlichen (Teil-)Selbstversor nicht etwa ein besseres Leben für alle. Für natur gung zu, ohne Angaben über die quantitative liebende Neubürger in der Uckermark, so konnte Verteilung der Typen geben zu können. An dem die Geografin Julia Rössel zeigen, ist die ländliche einen Ende der Skala stehen die Landlustigen, die Idylle vor allem ein Privatvergnügen, das auch Selbstversorger light, die die private Hauswirt schaft für sich als Freizeitbeschäftigung entdeckt 15 Im Projekt INNSULA des Zentrums für Agrarlandforschung haben. Am anderen Ende stehen die Aussteiger wurde u. a. eine Typologie urbaner Landwirtschaft erstellt, die und Aktivisten, die Selbstversorgung als Gegen auch nach den Hauptzielen der Gärtner fragt. Drei Ausrichtungen strategie zur kapitalistischen „konsumverseuch ließen sich erkennen: 1. die Subsistenzorientierten (Ziel: Zugang zu (Bio-)Lebensmitteln), 2. die soziokulturell Ausgerichteten (Ziel: Gemeinschaftsleben, Bildung, Kultur), 2. die kommerziell Ausge- 14 Vgl. Philipp Krohn, Schrumpfen von unten, 26. 12. 2013, richteten (Ziel: Einkommen, Arbeitsplätze schaffen). Vgl. Regine www.faz.net/aktuell/wirtschaft/transition-towns-schrumpfen-von- Berges et al., Urbane Landwirtschaft – Innovationsfelder für die unten-12727247.html. nachhaltige Stadt?, Müncheberg 2014, S. 14. 07
APuZ 46–47/2016 schon mal mit den Anforderungen der Land nity) heißt das Zauberwort. Mit dem Rückzug wirtschaft vor Ort in Konflikt gerät.16 Ganz ähn des Wohlfahrtsstaates aus einzelnen Bereichen lich verhält es sich auf der politischen Ebene: Die der Daseinsvorsorge, besonders aber aus der Flä Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist auf che, geht eine verstärkte Suche nach Kooperati gegeben – entgegen anderslautender politischer onspartnern und Allianzen mit Unternehmen Beschwörungen. Die Solidarität zwischen pros und Bürgern einher. Gerade in ländlichen Räu perierenden Metropolen und darniederliegenden men wird gerne an die „ureigenen Kräfte“ wie Regionen sinkt. Entlegene ländliche Räume wer Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches En den ihrem Schicksal überlassen. Und die Kanzle gagement appelliert, um die Bürger auf ihre neu rin lässt das „gute Leben“ suchen.17 en „Aufgaben“, wie etwa die Unterstützung von Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die dass der allmähliche Abbau von Infrastrukturen, heimeligen Begriffe „Nachbarschaftshilfe“, „So die schleichende Akzeptanz von Versorgungs lidarität“ und „Gemeinschaft“ verschleiern aber engpässen oder die Abwertung des öffentlichen letztlich nur, dass die Kosten für die wegbrechen Raums zu regionalen und kulturellen Eigenhei den sozialen und kulturellen Daseinsvorsorge ten umgedeutet werden. Verödete Räume wer leistungen mehr und mehr privatisiert werden, den in Kreativzonen umbenannt, Raumpioniere während die Anforderungen an die individuel sollen sterbenden Dörfern neues Leben einhau len Bewältigungskompetenzen steigen. War es chen, Dorfläden und Bürgerbusse müssen loka ein wohlfahrtstaatlicher Gewinn, dass im Notfall le Defizite ausgleichen. Die soziale Frage nach Hilfe- und Unterstützungsleistungen zuverlässig Gleichheit und Zusammenhalt wird auf der Su zu erwarten waren, so schwindet diese Sicherheit che nach dem „guten Leben“ emotional individu mehr und mehr. Mit dem Hinweis auf das genu alisiert. Diese Fragmentierung der sozialen Frage in Dörfliche wird Solidarität re-familialisiert und in Teilaspekte des „guten Lebens“, in private oder mithin wieder Angelegenheit lieber Verwandter regionale Wohlfühlfaktoren, ist insofern besorg und wohlmeinender Nachbarn. niserregend, da der Wert der gleichen Lebens Angesichts der aktuellen Debatten um die verhältnisse ein zentrales, normatives und struk Aufnahme von Flüchtlingen, die mit Aufmär turelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der schen „besorgter Bürger“, brennenden Flücht demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des lingsunterkünften sowie einem deutlichen sozialen Zusammenhalts repräsentiert.18 Es reicht Rechtsruck in der Parteienlandschaft einherge nicht, dass urbane Mittelschichten sich mithilfe hen, entsteht der Eindruck, dass Teile der Öf von Bastelbögen, Strickanleitung und Tomaten fentlichkeit, aber auch der Politik glauben, wirt samen das Dorf in die Stadt holen, während an schaftliche, soziale oder kulturelle Homogenität dernorts Dörfer veröden. sei nach wie vor möglich. Dass dies ein fataler Irr Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach glaube ist, zeigt sich gerade an den Entwicklun Nahraumerfahrungen, nach lokalen Produkten gen in entlegenen ländlichen Räumen. Das Dorf, und zwischenmenschlichen Kontakten scheint fantasierter Ort sozialer Gleichheit, entwickelt groß in Zeiten der Digitalisierung. Die dörfliche sich unter Schrumpfungsbedingungen eben nicht Gemeinschaft, oft als Idealform menschlichen zurück zu einem imaginierten sozialen Ganzen, Zusammenlebens imaginiert, in der enge sozia das im Transformationsprozess zur postmoder le Kontakte Geborgenheit und Sicherheit spen nen Gesellschaft irgendwie verloren gegangen den, scheint nun auch für Politiker attraktiv, die war, doch potenziell wieder herstellbar ist. Die nicht mehr wissen, wie sie die Konsequenzen des funktionalen Differenzierungen der ökonomi demografischen Wandel in den Griff bekommen schen, sozialen und politischen Wirklichkeit, die sollen. Sorgende Gemeinschaft (caring commu- unter Wachstumsbedingungen entstanden sind, kehren sich unter den Bedingungen der demogra 16 Vgl. Julia Rössel, Unterwegs zum guten Leben, Bielefeld 2014, fischen De-Infrastrukturalisierung keineswegs S. 193. einfach um. Im Gegenteil: Diese „Entdichtung“ 17 Vgl. Bundeskanzleramt, Gut leben – Lebensqualität in wird von einer stärkeren sozialen Ausdifferenzie Deutschland, www.gut-leben-in-deutschland.de/DE/Ueber/der- dialog-im-ueberblick/_node.html. rung und Polarisierung der Arbeits- und Lebens 18 Vgl. Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Der Wert weisen begleitet werden. Infrastrukturelle und gleicher Lebensverhältnisse, Bonn 2015, S. 3. sozialstrukturelle Perforationen und Lichtungen, 08
Land und Ländlichkeit APuZ Polarisierungen und Ungleichheiten breiten sich dial gehypt – das Grundrauschen zu einer neu bereits inmitten prosperierender Regionen aus. en gesellschaftlichen Stimmung liefern können, Der demografische Wandel führt zu keiner „Ret die im besten Fall den Weg zu mehr Nachhaltig ro-Homogenität“ räumlicher und sozialer Wirk keit, Ressourcenschonung und Solidarität weist. lichkeiten, in der eine Region, ein Ort, ein Quar Gleichzeitig gilt es, einen Blick darauf zu haben, tier zu ihren „Ursprüngen“ zurückkehrt.19 dass diese positive Belegung durch die „reale“ Ländlichkeit nicht überholt wird, die im schlech GESELLSCHAFTLICHES testen Fall „Bullerbü in braun“,20 Homogenitäts GRUNDRAUSCHEN fantasien und einfache Antworten auf komplexe Fragen favorisiert. So bleibt die Neue Ländlichkeit, was sie seit dem Idyll Arkadiens immer schon war, nämlich ein ir disches Paradies, eine Welt imaginierten Glücks, die Orientierung in Zeiten fundamentaler Um brüche gibt. Empirisch betrachtet, sind die Ak tivisten der Neuen Ländlichkeit (Raumpioniere, CLAUDIA NEU städtische Gemeinschaftsgärtner, Selbstversor ist Professorin für die Soziologie Ländlicher Räume ger) wohl eher eine kleine Gruppe, die aber – me an den Universitäten Göttingen und Kassel. claudia.neu@uni-goettingen.de 19 Vgl. dies., Demographie und Demokratie, Hamburg 2012, S. 105 f. 20 Christian Thiele, Bullerbü in braun, in: Die Zeit, 17. 11. 2011. Politisch, aktuell und digital APuZ – auch im ePub-Format für Ihren E-Reader. Kostenfrei auf www.bpb.de/apuz 09
APuZ 46–47/2016 GESCHICHTE UND GEGENWART DES DORFES Gerhard Henkel Wenn jemand von einem Dorf erzählt, das er ge wohnern ausgewiesen wird, ist im Einzelfall oft rade besucht hat, wird ihm mit Sicherheit bald schwer zu begründen. die Frage gestellt: Wie groß ist das Dorf denn ei Wir haben das Wort „Dorf“ bisher vor al gentlich? Die Größe einer Siedlung ist für uns lem als einen Begriff der Siedlungsgröße ken offenbar ein wichtiges Ordnungsraster. Die un nengelernt. Doch in der Regel hat „das Dorf“ terschiedlichen Größen signalisieren auch etwas eine umfassendere Bedeutung. Im Duden heißt über die inneren Eigenschaften. Von einem gro es schlicht „ländliche Ortschaft“ und „Gesamt ßen Dorf erwarten wir zum Beispiel, dass es dort heit der Dorfbewohner“.02 In dieser Bedeutung eine Kirche, eine Schule, einen Gasthof und ei ist das Wort seit dem Mittelalter geläufig. „Dorf“ nen Sportplatz gibt. In einem kleinen Dorf ver ist also ein Sammelbegriff für den ländlichen Le muten wir eine kleine Kapelle, einen Kinder bensraum, das Gegenstück zur Stadt – ein Sam garten und auf jeden Fall eine Feuerwehr, aber melbegriff für die rund 35 000 Ortschaften des nicht unbedingt einen Tennisplatz oder eine ländlichen Raumes in Deutschland, die sich heute Apotheke. als Dorf bezeichnen, ob sie nun am Rande einer Für Deutschland gilt die folgende Klassifi Großstadt oder im Erzgebirge liegen. Jedes dieser zierung der ländlichen Siedlungsgrößen, die im Dörfer hat ein anderes Aussehen und eine andere Wesentlichen von der Anzahl der Hausstätten wirtschaftliche Basis. und der Einwohnerzahl abhängt: Einzelsiedlung, Können wir heute das Dorf im Unterschied kleine Gruppensiedlung, große Gruppensiedlung zur Stadt noch einheitlich und inhaltlich genau (Dorf), Kleinstadt. Gemeinhin unterscheidet man er definieren? Das „alte“ Dorf hatte es da leich vier Größenstufen des deutschen beziehungswei ter. Es wurde durch seine agrarwirtschaftlichen se mitteleuropäischen Dorfes:01 Tätigkeiten bestimmt. Diese klassische Defini tion, die bis vor wenigen Jahrzehnten galt, ist –– das kleine bis mäßig große Dorf mit 20 bis nicht mehr allzu hilfreich. Heute werden daher 100 Hausstätten beziehungsweise 100 bis häufiger soziale und kulturelle Kriterien heran 500 Einwohnern, gezogen. Das Dorf wird mit Dorfgemeinschaft, –– das mittelgroße Dorf mit 100 bis 400 Haus Nachbarschaftshilfe, Traditionsbewusstsein, Kir stätten beziehungsweise 500 bis 2000 Ein chentreue, mit engen sozialen Netzwerken und wohnern, hohem ehrenamtlichen Engagement, seiner Ver –– das große Dorf mit 400 bis 1000 Hausstät einsdichte und Aktivkultur, mit Naturnähe oder ten beziehungsweise 2000 bis 5000 Einwoh insgesamt mit seinen ländlichen Lebensstilen be nern und schrieben. Eher nüchtern und pragmatisch ist je –– das sehr große Dorf mit mehr als 1000 Haus doch die Definition, die sich am äußeren Dorfbild stätten und 5000 Einwohnern. orientiert: Wir sprechen von einem Dorf, wenn die Gestalt der Siedlung von der Agrarwirtschaft Für die beiden letztgenannten Größenstufen geprägt wird, das heißt durch Bauern-, Land werden vielfach auch die Bezeichnungen „Groß arbeiter- und Handwerkerhäuser, Gehöfte und dorf“ und „Stadtdorf“ gebraucht, womit die sta Gutshöfe, auch wenn die Landwirtschaft selbst tistische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.03 wird. Der Übergang vom Großdorf zur ländli Wir orientieren uns damit also an den überliefer chen Kleinstadt, die heute im Allgemeinen mit ten Bauformen der Vergangenheit, die tief in die 5000 bis 25 000, bisweilen sogar bis 50 000 Ein Dorfgeschichte zurückreichen. 10
Land und Ländlichkeit APuZ DAS ALTE DORF nem eigenen Haushalt lebten, sowie die unmit telbar auf den größeren Höfen und Gütern ar Geht es um das Thema „Dorf“, haben wir alle meist beitenden und wohnenden Knechte und Mägde. auch Bilder des „alten“ Dorfes im Kopf. Diese sind Aufstiege aus der Unterschicht waren kaum mög oft mit der Einschätzung einer „guten alten Zeit“ lich. Durch das festgefügte Dienst-Lehen-Verhält verknüpft – es sind Vorstellungen einer romanti nis zwischen Bauern und Grundherren gab es aber schen Grundstimmung: Die Dörfer liegen idyllisch auch für die Mittelschicht nur geringe Möglichkei inmitten der Natur mit Bach, Feldern und Wäldern. ten des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs. Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und große stand eindeutig die Land- und Forstwirtschaft. Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schüt Alle mittleren und größeren Höfe betrieben in zenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die der Regel den ganzen Umfang an Ackerbau und Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozia Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung. Natür len und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbe lich gab es regionale Unterschiede. Die heute üb wohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negati liche Spezialisierung der landwirtschaftlichen vere Bilder und Bewertungen zum alten Dorf. Wir Produktion war um 1800 noch weitgehend unbe haben die Armut der großen Mehrheit der Dorfbe kannt. Das wichtigste Ziel der Hofhaltung stell wohner vor Augen, die Missernten und Hungers te die Selbstversorgung der meist großen Fami nöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die be lie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung sonders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen. dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundher Das Dorfleben erscheint uns dann als ein fast täg ren und Kirche (letztere bekam den sogenannten licher Kampf ums Überleben, ohne Chancen eines Zehnten) sowie durch die ebenfalls zu leistenden wirtschaftlichen oder sozialen Aufstiegs. Hand- und Spanndienste für den Hof des Grund Die Dorfforschung zeichnet ein facettenrei herren waren die wirtschaftlichen Spielräume der ches und regional unterschiedliches Bild des Dor Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtspro fes vor 200 Jahren. Es war eine Umbruchzeit – die tokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer Ideen der Französischen Revolution gingen durch wieder um Aufschub und Erlass ihrer Abgaben Europa und drangen auch in das politisch klein baten und als Begründung Hunger und Krank gekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung heit in ihren großen Familien angaben. der Landbevölkerung aus den diversen Zwän Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist gen der Feudalzeit durch Agrar- und Bildungs in Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft reformen deutete sich in manchen Regionen be betrieben, um die eigene Nahrungsversorgung zu reits an. Aus sozialer Sicht war das Dorf um 1800 sichern. Die typisch dörflichen Handwerkszweige noch eine recht festgefügte Klassengesellschaft wie Schmiede, Stellmacher, Maurer und Zimme in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze rer versorgten vor allem die landwirtschaftlichen standen unangefochten Klerus und Adel, die beide Betriebe und dienten im Wesentlichen der Versor auch als Grundherren – als Verpächter des Landes gung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren und häufig auch mit eigenen Gütern – in Erschei war somit wirtschaftlich weitgehend selbststän nung traten. Darunter kam die Schicht der großen, dig. Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in landbesitzenden Bauern. Danach die der kleineren der Regel ganz auf das eigene Dorf bezogen. Prak Bauern und der Handwerker, die meist zur Exis tisch alle arbeitenden Dorfbewohner hatten ihren tenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft Arbeitsplatz im eigenen Dorf. Das Verbleiben im betrieben. Man würde hier heute von oberer und Dorf ermöglichte eine hohe lokale Arbeitsmobili unterer Mittelschicht sprechen. Zur zahlenmäßig tät: So konnten viele Dorfbewohner mehrere Tä umfangreichen Unterschicht gehörten damals die tigkeiten nebeneinander ausüben, zum Beispiel als landlosen Landarbeiter und Tagelöhner, die in ei Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im Winter). Auch die älteren Kinder mussten bereits bei den vielfältigen Arbeiten in Haus, Hof, Garten 01 Vgl. u. a. Cay Lienau, Die Siedlungen des ländlichen Raumes, und Flur mitanpacken und wurden damit früh in Braunschweig 19952, S. 64. 02 Duden „Deutsches Universalwörterbuch“, Wien–Zürich 1983. das Erwerbsleben einbezogen. 03 In Anlehnung an Martin Born, Geographie der ländlichen Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800 Siedlungen, Bd. 1, Stuttgart 1977. aus heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größ 11
APuZ 46–47/2016 te Sorgfalt diente einer regelmäßigen Wasserver keiten zwischen dem alten und dem modernen sorgung, an Flüssen oder Bächen liegende Dörfer Dorf. Aber dennoch ist das frühere Dorf nicht hatten hier ihre Vorteile. Andernorts waren Brun völlig verschwunden. Es wirkt weiter: durch sei nenbauten oder kleine Wasserleitungen von den lo ne alten Gebäude, durch den Boden, den Bach, kalen Quellen zu den sogenannten Kümpen inner den Wald, das Lokalklima, das man seit Genera halb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste tionen kennt, durch Geschichten, Erinnerungen man sich das Wasser mühsam in die Häuser holen. und Wertvorstellungen, die man weitergibt. Hygiene und medizinische Versorgung hatten im Wie sieht nun ein typisches Dorf von heute aus? Vergleich zu heute einen niedrigen Stand. Entspre Zunächst ist eine grundsätzliche Einschränkung zu chend hoch war die Sterblichkeitsquote vor allem machen: Natürlich gibt es nicht das typische deut bei den Kleinkindern und entsprechend niedrig die sche Dorf! Die enormen Unterschiede zwischen generelle Lebenserwartung der Menschen, die we den rund 35 000 deutschen Dörfern verbieten es niger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Ener eigentlich, ein typisches Dorf auszuwählen. Wie gieversorgung dienten Wasser- und Windmühlen, groß sollte dieses Dorf sein, soll es 300 oder 3000 zum Kochen und Heizen wurden das Holz bezie Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Groß hungsweise die Holzkohle der lokalen Wälder oder stadt liegen oder „weit ab“ in Mecklenburg oder der getrocknete Torf aus den Moorgebieten ge der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region nutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Ener soll es sein: aus den Küstengebieten und dem Tief gieversorgung war das alte Dorf weitestgehend auf land, dem Mittelgebirge oder dem Alpenvorland? seine lokalen Ressourcen angewiesen, die allerdings Soll es ein Börden- oder ein Winzerdorf sein? Wel auch intensivst genutzt wurden. che ökonomischen Schwerpunkte soll das Dorf ha Die politische Selbstverwaltung ländlicher ben? Ist das Dorfbild eher durch historische oder Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert ha Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Regi ben kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein on, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich aus wachsen des oder schrumpfendes, ein lebendiges geprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lo oder ein lethargisches Dorf ausgesucht werden? kalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen Wir wählen ein mittelgroßes Dorf mit etwa Ordnungs- und Schutzaufgaben. Feuerwehr und 1000 Einwohnern und nennen es „Kirchhusen“. Schützenvereine hatten als älteste und wichtigs Es liegt irgendwo in der Mitte Deutschlands, etwa te Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen 35 Kilometer von einer kleineren Großstadt ent öffentlichen Aufgaben waren in speziellen inner fernt. Das Dorf hat klar erkennbar noch einen his dörflichen „Ordnungen“ festgehalten. So gab es torischen Kern mit Kirche, Schulgebäude und älte zum Beispiel für das jährliche Schützenfest Ver ren Bauernhäusern. Hier präsentiert sich das Dorf haltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen. mit seinen „schönen“ Seiten. Aber es gibt auch Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde al „normale“ Dorfbilder, wo sich Altes und Neues lerdings nur die Grundbesitzer, was sich erst zum kunterbunt mischt, und auch ein paar „hässliche“ Ende des 19. Jahrhunderts änderte. Ecken. Am Dorfrand befinden sich zwei Neubau Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit gebiete, das eine relativ geschlossen aus den 1950er stand um 1800 noch bevor. Die Antriebskräfte Jahren, ein zweites mit Häusern der 1960er Jahre der bald beginnenden revolutionären Verände bis heute. Nur noch in zwei Bauernhäusern des rungen auf dem Land, allen voran die Industri Dorfkerns wird heute Landwirtschaft (im Neben alisierung und die Agrarreformen, deuteten sich erwerb) betrieben, die übrigen werden als Wohn erst vereinzelt an. häuser genutzt. In ein ehemaliges Bauernhaus ist ein Antiquitätengeschäft eingezogen, in ein wei DAS MODERNE DORF teres ein Handwerksbetrieb, zwei alte Hofstel len stehen weitgehend leer. Die lokale Landwirt In den vergangenen 200 Jahren hat das Dorf wirt schaft wird heute hauptsächlich von mehreren schaftlich, sozial und vom Dorfbild her eine neue Aussiedlerhöfen aus betrieben, die von 1955 bis Identität gewonnen (wie natürlich auch die Stadt). 1975 in der Feldflur errichtet worden sind. Ne Die alte Agrargesellschaft, die um 1800 noch den ben den Landwirten gibt es in Kirchhusen heute ganzen Staat prägte, gilt nun auch auf dem Land noch einige Handwerksbetriebe: eine Tischlerei, nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Gemeinsam einen Elektro- und Sanitärbetrieb, eine Bäckerei, 12
Land und Ländlichkeit APuZ einen Kfz-Betrieb mit Tankstelle, dazu kommen Und wie steht es mit der kommunalen Selbst eine Versicherungsagentur, ein Steuerberater und verwaltung? Jahrhundertelang war Kirchhusen ein Architekturbüro. Zur Infrastrukturversorgung eine eigene, selbstständige Gemeinde. Seit der kom gehören ein Kindergarten, ein Feuerwehrhaus, ein munalen Gebietsreform von 1975 ist es jedoch nur Lebensmittelladen (der in Kürze schließen wird), noch „Ortsteil“ einer neu geschaffenen Einheitsge ein Gasthof mit Saal und Kegelbahn, eine Bankfi meinde. Statt eines eigenen Gemeinderats mit (frü liale und eine Postagentur. Die lokale Volksschule her) zwölf Mitgliedern wird der Ort heute durch musste im Rahmen einer großen Schulreform vor zwei Dorfbürger im Großgemeinderat vertreten. etwa 40 Jahren, die Grundschule schließlich vor Es gibt keinen eigenen Bürgermeister mehr. Mit 20 Jahren aufgegeben werden, was bis heute be der kommunalen Gebietsreform der 1960er/1970er dauert wird. Seit einigen Jahren ist die örtliche Kir Jahre ist die in Jahrhunderten gewachsene politi chengemeinde Teil eines Pastoralverbundes und sche Selbstverantwortung des Dorfes in Kirchhus muss sich inzwischen mit zwei Nachbargemeinden en, wie vielerorts auch, gebrochen worden. einen Pfarrer teilen. Zur Erfolgsbilanz des Dor In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deut fes zählt sein hoher Standard an technischer In schen Dörfer besteht die Identität von Dorf und frastruktur: die Wasserver- und -entsorgung, das Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert Strom- und Gasnetz, die Versorgung mit den mo ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein. dernen Kommunikationsmedien Telefon, Fernse Trotzdem hat sich der Ort auf Dauer nicht unter hen und Internet. kriegen lassen: So besteht seit zwei Jahren ein neu Generell hat unser Dorf in den zurückliegen er, integrativer „Förderverein Unser Dorf“, der den Jahrzehnten einen Großteil seiner Arbeits sich mit Grundsatzfragen der aktuellen und zu plätze und Infrastruktureinrichtungen verloren, künftigen Dorfentwicklung befasst und in gewis vor allem in der Landwirtschaft und im lokalen ser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats Handwerk. Außerdem haben in den vergange und Bürgermeisters fortsetzt. Ein wichtiger Vor nen Jahrzehnten mehrere Dorfläden und Gast zug des Dorfes ist das Engagement in der Dorfge höfe geschlossen. Die Dorfbewohner haben ihren meinschaft, manchmal auch als „soziales Kapital“ Arbeitsplatz heute überwiegend außerhalb des bezeichnet. Diese Werte sind nicht leicht zu fassen. Dorfes – sie sind zu Pendlern geworden. Viele Die Statistiken belegen zum Beispiel eine deutlich Dorfbewohner üben heute ehemals „städtische“ höhere Vereinsdichte beziehungsweise Vereinszu Berufe aus: Sie sind Arbeiter und Angestellte in gehörigkeit auf dem Land als in Mittel- und Groß Industrie- und Gewerbebetrieben oder Beamte städten. Auch in Kirchhusen sind praktisch alle in Kreis-, Finanz- oder Justizverwaltungen. Ihre Kinder und Jugendlichen sowie die große Mehrheit täglichen Ziele sind benachbarte Kleinstädte oder der Erwachsenen in mindestens einem der Sport – auch die 35 Kilometer entfernte Großstadt. und Musikvereine, der Feuerwehr oder dem Schüt Zu den Errungenschaften des heutigen Dorfes zenverein aktiv. Neben den Vereinen bestehen im gehören seine Sport-, Freizeit- und Kultureinrich Dorf enge Verwandtschafts-, Nachbarschafts- tungen. Diese werden überwiegend von Vereinen oder Cliquenverbindungen, die durch ein ständi getragen, so auch in Kirchhusen. Der Sportver ges Austauschen von Gütern, Geräten und Dienst ein betreibt zwei Rasensportplätze und eine klei leistungen geprägt sind. Man trifft sich zu privaten ne Sporthalle, der Tennisverein zwei Tennisplätze, Feiern und hilft sich beim Bauen oder im Garten, jeweils mit einem zugehörigen Sportheim. Dazu bei der Betreuung von Kindern, Kranken und äl kommen drei Spielplätze, die von einem Förder teren Menschen. Dieses ständige Geben und Neh verein gepflegt werden. Den kulturtreibenden men trägt – neben einer sehr hohen Eigenheimquo Dorfvereinen steht eine Begegnungsstätte – im his te – zu einem relativ hohen Wohlstand des Dorfes torischen Schulgebäude – zur Verfügung. Ein recht bei. Ein weiterer Vorzug des Dorfes ist seine Na aktiver Heimatverein hat eine kleine Heimatstu turnähe. Sie bietet in Feld, Wald und Garten eine be mit lokalgeschichtlichen und naturkundlichen unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung, Schriften und Exponaten aufgebaut und außerdem Freizeitnutzung und körperlichen Betätigung. Vor einen Lehrpfad am Dorfbach und am stillgelegten allem der dörfliche Garten gilt inzwischen als ein Steinbruch angelegt. Zwei Musikvereine sind wie Kernbestand ländlicher Lebensqualität. die beiden Sportvereine das ganze Jahr über aktiv Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele und betreiben eine breite Jugendarbeit. Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbei 13
APuZ 46–47/2016 nen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind nicht durch Autobahn- und ICE-Strecken oder durch ihr Studium oder für ihre Firmen mona Flughäfen erschlossen sind und wirtschaftlich da telang auf anderen Kontinenten tätig. Das Dorf runter leiden, arbeitet die Raumordnung auf eine selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahl Behebung dieser Defizite hin. Für den Gesamt reiche Zuwanderer aus dem europäischen und au staat erfüllt der ländliche Raum nach Weisung der ßereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit Raumordnung die typischen flächenbezogenen Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehe „Leistungen“ wie Agrarproduktion, Ökologie malige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Ver und Umwelt sowie Freizeit und Erholung. gleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf welt Für den ländlichen Raum haben die Geset offen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter ze und Programme der Raumordnung eine große geworden, er bleibt aber „seinem Kirchhusen“ als Bedeutung. So heißt es im Bundesraumordnungs Basisstation verbunden. programm von 1975 wörtlich: „Gleichwertige Le bensbedingungen im Sinne dieses Programms sind ZWISCHEN RAUMORDNUNG gegeben, wenn für alle Bürger in allen Teilräumen UND KOMMUNALPOLITIK des Bundesgebietes ein quantitativ und qualitativ angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbs Die Entwicklung der Dörfer und des ländlichen möglichkeiten und öffentlichen Infrastrukturein Raumes wurde und wird in starkem Maße durch richtungen in zumutbarer Entfernung zur Verfü die Politik geprägt. Die Politik für das Land ist für gung steht und eine menschenwürdige Umwelt viele ein Labyrinth – sie geschieht auf verschiede vorhanden ist: in keinem dieser Bereiche soll ein nen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Fach bestimmtes Niveau unterschritten werden. In den behörden. Für alle Angelegenheiten der örtlichen ländlichen Gebieten sind wirtschaftlich und infra Gemeinschaft ist in erster Linie die Kommunalpo strukturell den übrigen Teilräumen entsprechend litik zuständig, also Bürgermeister, Ortsvorsteher, gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben.“04 Gemeinderat und Verwaltung. Aber der ländliche Aus diesen Leitforderungen ergibt sich das Prinzip Raum ist nicht autonom. Er erfährt in vielfacher der „Aktivsanierung“, das die Raumordnung gera Weise eine politische „Behandlung“ durch die Par de für den ländlichen Raum bislang nie infrage ge lamente und Ministerien des Bundes und der Län stellt hat. Aktivsanierung bedeutet, dass die staatli der. Diese führen die ländlichen Bürger und Kom che Förderung in benachteiligten Gebieten so lange munen durch ein enges Geflecht von Gesetzen, stattzufinden hat, bis eine Gleichwertigkeit der Le Vorschriften, Richtlinien, Steuern und Förder bensbedingungen mit den übrigen Teilregionen programmen am „goldenen Zügel“. Nicht wenige erreicht ist. Die in Deutschland bislang nur theo sprechen auch von Bevormundung und Fremdbe retisch diskutierte „Passivsanierung“ würde be stimmung. Ein Beispiel: Ob eine dörfliche Schu deuten, dass der Staat den wirtschaftlichen, infra le heute weiter bestehen bleiben kann, entscheidet strukturellen und demografischen Niedergang von längst nicht mehr nur der lokale Gemeinderat. Teilregionen ohne Gegensteuerung hinnähme. Es ist für das Verständnis des ländlichen Rau Die Raumordnung hat im Verlauf der vergan mes wichtig, auch dessen komplexe Fernsteue genen Jahrzehnte mehrere räumliche beziehungs rungen durch Bund und Länder kennenzuler weise formale Instrumente entwickelt, die auf den nen. Diese zeigen sich sowohl in der staatlichen ersten Blick harmlos erscheinen, aber doch kräf Raumordnung als auch in diversen Fachpolitiken. tig in die Entwicklung ländlicher (und städtischer) Aber was genau macht die staatliche Raum Regionen eingreifen. Wir unterscheiden vier ver ordnung? Vereinfacht ausgedrückt, entwickelt schiedene Instrumente, die prinzipiell jeweils zu sie überörtliche und fachübergreifende Leitvor einer formalen Gliederung des Raumes führen: das stellungen von der Ordnung und Entwicklung Zentrale-Orte-Konzept, die Siedlungs- und Ent des gesamten Staatsgebietes. Diese sollen nicht wicklungsachsen, die Vorrang- und Sanierungs nur menschen- und umweltgerecht sein, sondern gebiete sowie die Raumgliederungen beziehungs auch der Wirtschaft dienen. Konkret bemüht sich weise Gebietstypen. Das Zentrale-Orte-Konzept die Raumordnungspolitik um eine Beseitigung ist das wichtigste Instrument der Raumordnung der räumlichen Disparitäten, das heißt der Un gleichgewichte im regionalen Gefüge des Staa 04 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau tes. Wenn zum Beispiel größere Landstriche noch (Hrsg.), Bundesraumordnungsprogramm, Bonn 1975, S. 1, S. 5. 14
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