AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Land und Ländlichkeit - Bundeszentrale für politische Bildung

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66. Jahrgang, 46–47/2016, 14. November 2016

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Land und
    Ländlichkeit
            Claudia Neu                     Jutta Aumüller · Frank Gesemann
      NEUE LÄNDLICHKEIT.                   FLÜCHTLINGE AUFS LAND?
 EINE KRITISCHE BETRACHTUNG                       MIGRATION
                                               UND INTEGRATION
          Gerhard Henkel
                                             IM LÄNDLICHEN RAUM
     GESCHICHTE UND
  GEGENWART DES DORFES                          W. Vogelgesang · J. Kopp ·
                                                   R. Jacob · A. Hahn
   Heinrich Becker · Gesine Tuitjer               URBANE DÖRFER
     LÄNDLICHE LEBENS­
  VERHÄLTNISSE IM WANDEL                             Sigrun Langner
                                            RURBANE LANDSCHAFTEN
       Ulrike Grabski-Kieron
   POLITIK IM UND FÜR DEN
     LÄNDLICHEN RAUM

                      ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                           FÜR POLITISCHE BILDUNG
                  Beilage zur Wochenzeitung
Land und Ländlichkeit
                               APuZ 46–47/2016
CLAUDIA NEU                                          JUTTA AUMÜLLER · FRANK GESEMANN
NEUE LÄNDLICHKEIT.                                   FLÜCHTLINGE AUFS LAND? MIGRATION
EINE KRITISCHE BETRACHTUNG                           UND INTEGRATION IM LÄNDLICHEN RAUM
Mehr Ländlichkeit war nie. Doch sind Bezüge          Es gibt zahlreiche Barrieren, aber auch Chancen
auf das imaginierte Landleben immer so harmlos,      für die Integration im ländlichen Raum. Um
wie „Landlust“ und „Musikantenstadl“                 eine langfristige Ansiedlung von Geflüchteten
an­muten? In politischen Diskursen werden            realisieren zu können, sind vielfältige Hand­
sie auch benutzt, um etwa den Rückzug der            lungsansätze auf kommunaler, Landes- und
Daseinsvorsorge aus der Fläche schönzureden.         Bundesebene notwendig.
Seite 04–09                                          Seite 29–34

GERHARD HENKEL                                       W. VOGELGESANG · J. KOPP ·
GESCHICHTE UND GEGENWART DES DORFES                  R. JACOB · A. HAHN
Dorf und Land haben ökonomische, ökolo­              STÄDTISCHE LEBENSFORMEN IM
gische, kulturelle und soziale Potenziale und        DÖRFLICHEN KONTEXT: URBANE DÖRFER
bringen diese auch in hohem Maße in die              Nachhaltige Transformationen (Mobilität,
Gesamtgesellschaft ein. Nicht nur die Stadt, auch    Multilokalität, individualisierte Lebensstile
das Dorf ist ein Erfolgsmodell der europäischen      und Wohnformen) verwandeln das traditionale
und deutschen Geschichte.                            Dorfkollektiv in posttraditionale Vergemein­
Seite 10–16                                          schaftungen. Die untersuchte Landgemeinde ist
                                                     beispielhaft für die „Verstädterung“ von Dörfern.
                                                     Seite 35–40
HEINRICH BECKER · GESINE TUITJER
LÄNDLICHE LEBENSVERHÄLTNISSE
IM WANDEL 1952, 1972, 1993 UND 2012                  SIGRUN LANGNER
Der Beitrag präsentiert Ergebnisse des For­          RURBANE LANDSCHAFTEN. LANDSCHAFTS­
schungsprojekts „Ländliche Lebensverhältnisse        ENTWÜRFE ALS PROJEKTIONEN PRODUKTIVER
im Wandel“, in dem Veränderungen der länd­           STADT-LAND-VERSCHRÄNKUNGEN
lichen Lebensverhältnisse in immer denselben         Wie urban ist das Land? Wie ländlich ist die
zehn westdeutschen und seit 1993 auch vier           Stadt? In dem Beitrag wird Raum jenseits der
ostdeutschen Dörfern untersucht werden.              Kategorien von Stadt und Land beschrieben
Seite 17–22                                          und nach produktiven Verschränkungen von
                                                     urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen,
                                                     Projektionen und Raumstrukturen gefragt.
ULRIKE GRABSKI-KIERON                                Seite 41–46
POLITIK IM UND FÜR DEN LÄNDLICHEN RAUM
Politik im und für den ländlichen Raum
stellt sich als ein Politikfeld dar, das sich über
verschiedene Ressorts hinweg im Mehrebenen­
system von EU, Bund und Bundesländern
entfaltet. Ein breites Spektrum von Instrumenten
kommt dabei zum Einsatz.
Seite 23–28
EDITORIAL
Die Entwicklung von ländlichen Regionen gestaltet sich sehr unterschiedlich, je
nach Lage, Arbeitsmarkt und politischem und gesellschaftlichem Handeln. Hat
in einigen Dörfern auch der letzte Lebensmittelladen geschlossen, der Landarzt
sein Glück woanders gesucht und kommt – wenn überhaupt – nur noch ein Bus
pro Tag, boomen andere Gegenden geradezu und wachsen an Einwohnern und
Angeboten. Von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ kann oft nicht mehr die
Rede sein.
   Die Angaben, wie viele Menschen in Deutschland auf dem Land leben,
schwanken, da „Land“ oder „ländlicher Raum“ unterschiedlich definiert werden
können. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung fasst den
städtischen Raum als Gesamtheit aller kreisfreien Großstädte und städtischen
Kreise; den ländlichen Raum bilden demnach alle ländlichen Kreise. 2014 lag der
Anteil der ländlichen Bevölkerung bei knapp 32 Prozent (etwa 25,6 Millionen
Menschen), der Flächenanteil bei fast 68 Prozent. Sinkende Einwohnerzahlen
verzeichnet der ländliche Raum insgesamt seit Jahren, wobei der Rückgang im
Osten prozentual höher ist als im Westen.
   Auch wenn der Trend zur (Re-)Urbanisierung anhält, ist angesichts der teil­
weise nicht bezahlbaren Miet- und Eigentumspreise in bestimmten Städten ein
Umzug aufs Land (wieder) eine Option. Doch nicht nur aus finanziellen Erwä­
gungen heraus erscheint ein ländliches Leben vielen Menschen als attraktiv. Die
„Landlust“ hat um sich gegriffen, Großstädter ziehen auf der Suche nach dem
„guten Leben“ raus, um ihre Vorstellungen von „Ländlichkeit“ zu verwirklichen,
oder holen das Rurale in Form von urban gardening oder urban farming in
die Stadt. So verschwimmen die Grenzen zwischen „städtisch“ und „ländlich“.

                                                     Anne Seibring

                                                                             03
APuZ 46–47/2016

                                               ESSAY

                  NEUE LÄNDLICHKEIT.
             EINE KRITISCHE BETRACHTUNG
                                          Claudia Neu

Junge Familien pachten begeistert Schrebergär­          Aktuelle Gesellschaftsanalysen legen nahe,
ten oder Äcker beim Bauern, urbane Gemein­          dass die (urbane) Mittelschicht zutiefst verunsi­
schaftsgärten schießen wie Pilze aus dem Boden,     chert, verbittert, von Statuspanik geplagt ist und
Landmagazine erreichen Millionenauflagen und        sich bei der Jagd nach der Work-Life-Balance
Wildkräutersammelkurse sind ausgebucht. Mehr        in der Rushhour des Lebens zerreibt.04 Die „er­
Landgefühl war nie. Die Trendsetter der „Neu­       schöpfte Gesellschaft“ ist auf der Suche nach
en Ländlichkeit“ sind jedoch nicht etwa Dorfbe­     Entschleunigung, authentischen Erfahrungen,
wohner, sondern zumeist Städter, die sich im An­    echter Natur, Nahraumerfahrungen und Ge­
bauen, Ernten und Einkochen versuchen. Es ist       meinschaft.05 Die Rhetorik des Verlustes treibt
müßig, zu erwähnen, dass es sich zumeist um ide­    uns in die Arme einer vermeintlich besseren, der
alisierte Vorstellungen vom Landleben handelt,      guten alten Zeit. So antwortet die Neue Länd­
die mit „realen“ Verhältnissen auf dem Land oder    lichkeit auf verschiedene gesellschaftliche Anfor­
gar in der Landwirtschaft wenig zu tun haben.01     derungen, Überforderungen, Befindlichkeiten,
Dies kann auch nicht wirklich verwundern, denn      Sehnsüchte und Ängste der Spätmoderne.
die Imaginierung des Ländlichen diente stets als
Kontrapunkt zum (modernen) Stadtleben. Die                         LÄNDLICHE IDYLLE
aktuelle Land-Renaissance steht damit in einer
langen Tradition, denn „echtes“ Landleben hatten    Die äußerst beliebten Landmagazine, die in mil­
selbst die Literaten und Maler der Frühen Neu­      lionenfacher Auflage erscheinen, sprechen zwar,
zeit nicht im Sinn, als sie Arkadien suchten und    ebenso wie die nicht weniger gern gesehenen
damit selbst idealisierte Sehnsuchtsorte in Form    Volksmusiksendungen, sozialstrukturell unter­
von Schäfer-Idyllen schufen. Auch die Aufklä­       schiedliche und medienanalytisch fein austarierte
rer des 19. Jahrhunderts verfassten die „Lieder     Nutzergruppen an, „arbeiten“ jedoch beide mit
für den Landmann“ nicht für das Landvolk, son­      der idyllischen Repräsentation des Ländlichen
dern für das gebildete Bürgertum, das sich an der   und der Landwirtschaft: Erntedank- und Okto­
vermeintlichen Natürlichkeit der Bauern und Sä­     berfest, Weinlese, Oldtimer-Traktoren, herbstli­
männer erfreute.02                                  che Wildmenüs – die Themen der neuesten „Heu­
     Der Antagonismus zwischen „unverfälsch­        ballen-Hefte“.
tem Landleben“ und „städtischer Entfremdung“            Die „ländliche Idylle“ ist, ebenso wie das Dorf
ist tief in den „Quellcode der Moderne einge­       als Ort des „guten Lebens“, von jeher fester Be­
schrieben“, so der Kulturwissenschaftler Ste­       standteil der künstlerisch-literarischen Bearbeitung
fan Höhne.03 Daher greift es zu kurz, die Idyl­     von Land.06 Seit der Antike finden sich mit dem lo-
lisierung des Landlebens à la „Musikantenstadl“     cus amoenus (dem lieblichen Ort) idealisierte Na­
oder „Landlust“ nur als schlechten Geschmack        turschilderungen, mit den Landschaften Arkadiens
von Senioren und Hausfrauen abzutun. Viel­          oder der Hirten­lite­ratur (Bukolik) ähnliche Leit­
mehr lässt sich fragen, welche Bilder von Stadt     motive, die in der Renaissance mit der Wiederent­
und Land erzeugt werden. Von wem, für wen?          deckung der antiken Klassiker zu neuer Blüte ka­
Oder anders: Auf welche gesellschaftlichen Ver­     men. Im 18. Jahrhundert entdeckten Künstler und
änderungsprozesse antwortet die Neue Länd­          Intellektuelle dann die von Menschenhand geschaf­
lichkeit?                                           fenen Kulturlandschaften als Naturlandschaften

04
Land und Ländlichkeit APuZ

und priesen die Schönheit der bäuerlichen Arbeit                       wird als Ort des „guten Lebens“, der Tradition
und ländlicher Gegenden. Bereits hier sind erste                       und des Bewahrens gefasst; Mensch, Tier und Na­
Züge einer Romantisierung der Naturlandschaften,                       tur leben im Einklang miteinander, was sich im im­
als Gegenbild zur Unterwerfung der Natur unter                         mer wiederkehrenden Tages- und Jahresablauf, in
zunehmend ökonomische Ziele, zu erkennen. Die                          den Arbeits- und Bauweisen sowie dem Brauch­
bearbeitete Natur sollte keineswegs wieder in ihren                    tum wiederfindet. Die ländliche Gesellschaft gilt
Urzustand versetzt werden, im Gegenteil, die bäu­                      als eine wenig differenzierte Gemeinschaft, die sich
erliche Idylle sollte konserviert werden.07                            bei allem Unbill des Lebens selbstlos beisteht, und
     Sehnte sich das aufstrebende (klein)städtische                    das Dorf als eine geschlossene Gesellschaft, die au­
Bürgertum in Kunst, Musik und Literatur nach                           tark lebt und sich selbst genügt. Das Fremde stört
unberührter Natur und urwüchsigem Landvolk, so                         und bedroht die Gemeinschaft.
tritt mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft                          Dass die „realen“ Verhältnisse auf dem Land
und der zunehmenden Verstädterung im 19. Jahr­                         oft eher einem „Not- und Terrorzusammen­
hundert stärker das Motiv der Antiurbanität in den                     hang“09 ähnelten und die ländliche Gesellschaft
Vordergrund. Land und Dorf wurden nun explizit                         eine stark hierarchisch gegliederte Gesellschaft
zum Gegenentwurf zur entfremdenden, schmut­                            war – zu denken sei hier nur an die unzähligen
zigen, krankmachenden, anonymen Großstadt.                             Formen von Köttern, Kossäten, Kätnern, Hufnern
Auch in den kommenden Jahren, die verschiedene                         und anderen Formen von Voll-, Halb-, Viertelbau­
Wellen von Landromantik (Lebensreform, Wan­                            ern –, die soziale Abweichungen hart sanktionier­
dervogelbewegung) bis hin zur Landperversion                           te, war und ist freilich bis heute selten Gegenstand
(NS-Blut- und Bodenideologie) erlebten, tauchen                        populärkultureller Darbietung. Peri­     pherisierung
stets die gleichen Ingredienzien zur Imagination                       und Entleerung ländlicher Räume, Ressourcen­
des Ländlichen auf – das „gute Leben“, Gemein­                         übernutzung, Armut und Arbeitslosigkeit stören
schaft, Naturnähe und Homogenität.08 Das Dorf                          das Bild ländlicher Idylle, in der allzeit Hausgär­
                                                                       ten blühen und Mutti Marmelade kocht.
01 „Ländlichkeit“ wird daher nicht als Raumkategorie oder
-eigen­schaft aufgefasst, sondern als etwas soziokulturell Herge-                         DAS GLÜCK LIEGT
stelltes (etwa in Anlehnung an das doing gender ein doing rural).                         AUF DEM LAND?
Dies können Diskurse, Repräsentationen, Literatur oder vermeint-
lich ländliche Praktiken wie der Anbau von Obst und Gemüse sein.
Es geht mithin darum, zu hinterfragen, welche kulturelle Bedeutung
                                                                       Nicht Antiurbanität, sondern der Wunsch nach
Ländlichkeit heute hat.                                                Naturnähe und sozialem Miteinander, Entschleu­
02 Vgl. Michael Fischer, Lieder für den Landmann, in: Zeitschrift      nigung und Achtsamkeit wecken die „Sehnsucht
für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1/2016, S. 39–56.              der Städter nach dem ‚Land‘“.10 Und das in den
03 Stefan Höhne, Die Idiotie des Stadtlebens, in: Zeitschrift für
                                                                       vergangenen 60 Jahren mit stetig steigender Ten­
Ideengeschichte 2/2015, S. 39–46.
04 Vgl. Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014;
                                                                       denz: 1956 antworteten auf die Frage „Wo ha­
Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013.             ben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz allge­
05 Vgl. Stefan Grünewald, Die erschöpfte Gesellschaft, Frank­          mein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der
furt/M.–New York 2013.                                                 Stadt?“ 54 Prozent der Befragten, dies sei in der
06 Selbstverständlich soll keineswegs verschwiegen werden,
                                                                       Stadt der Fall, wohingegen lediglich 19 Prozent
dass Rückständigkeit, soziale Enge, Härte und Armut, eben die
unschönen Seiten des Landlebens, stets sehr präsent in Kunst und
                                                                       dem Land eine höhere Attraktivität bescheinigten.
Literatur waren. Zu denken sei nur an „Schlafes Bruder“ von Robert     Bereits 1977 hatte sich die Einschätzung zuguns­
Schneider oder „Schwabenkinder“ von Jo Baier.                          ten des Landes geändert: 43 Prozent entschieden
07 Vgl. Eva Barlösius/Claudia Neu, Die Wildnis wagen, in: Ber­         sich für das Landleben, nur noch 39 Prozent für
liner Debatte Initial 6/2001, S. 65–76; Christoph Baumann, Die
                                                                       die Stadt. Heute erscheint das Stadtleben den Be­
Lust am Ländlichen, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumfor-
schung (BBSR) (Hrsg.), Landflucht? Gesellschaft in Bewegung, Bonn
                                                                       fragten nur noch halb so attraktiv wie das Land­
2016, S. 249–259.                                                      leben: 2014 stimmten 41 Prozent für das Land,
08 Vgl. Werner Bätzing, Das Dorf als Ort des guten Lebens zwi-
schen Inszenierung und Verschwinden, in: Hans-Peter Ecker (Hrsg.),
Orte des guten Lebens – Entwürfe humaner Lebensräume, Würz-            09 Utz Jeggle/Albert Illien, Die Dorfgemeinschaft als Not- und
burg 2007, S. 103–114; Werner Nell/Marc Weiland, Imaginati-            Terrorzusammenhang, in: Hans Günter Wehling (Hrsg.), Dorfpolitik,
onsraum Dorf, in: dies. (Hrsg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr      Opladen 1978, S. 38–53.
des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014,      10 Thomas Petersen, Die Sehnsucht der Städter nach dem „Land“,
S. 13–50.                                                              in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 7. 2014.

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APuZ 46–47/2016

21 Prozent für die Stadt. Mithin hält nur noch je­                     rungssicherung. Ihnen geht es vor allem anderen
der Fünfte das Stadtleben für besser. Das Glück                        um das „gute Leben“. Genuss, Geschmack und
vermutet die Mehrheit der Befragten ohnehin                            gutes Gewissen beim Konsum stehen im Vorder­
eher auf dem Land (Großstädter zu 23 Prozent,                          grund.
Klein-/Mittelstädter zu 38 Prozent und Landbe­                              Eine weitere Gruppe fühlt sich zu den Ide­
wohner zu 54 Prozent). Gleichwohl bleibt der                            en praktischer Landarbeit hingezogen: die grüne
Zuzug in die Städte ungebremst. Lediglich knapp                         Familie. Die jungen Erwachsenen, oft junge El­
32 Prozent der Bevölkerung lebt noch im ländli­                         tern, möchten für sich und ihre Kinder frisches
chen Umland oder im ländlichen Raum.11 In Ver­                          selbstangebautes Gemüse produzieren und ver­
bindung mit der Vorstellung einer intakten Ge­                          arbeiten. Um dem Nachwuchs einen Bezug zur
meinschaft und guter Nachbarschaften steht wohl                         Natur und den Nahrungsquellen zu vermitteln,
auch die Annahme, dass Einsamkeit eher Städter                          wird eine Parzelle im Selbsternteprojekt oder
heimsucht als Landbewohner (Land: 27 Prozent,                           ein Schrebergarten gepachtet oder auch bei ei­
Stadt: 39 Prozent). So bleibt die Stadt der Raum                        nem urbanen Gemeinschaftsgarten mitgemacht.
zum Überleben im Alltag, während das Land der                           Die grüne Familie fühlt sich einem nachhalti­
Raum der Imagination eines besseren Lebens ist.                         gen Lebensstil verpflichtet, kauft gern im Bio­
                                                                       laden und kocht vollwertig. (Teil-)Selbstversor­
                    BASTELBOGEN                                        gung und Lebensmittelverarbeitung werden als
                 FÜR DAS LANDLEBEN                                     Freizeitspaß für die ganze Familie, aber durchaus
                                                                       auch als pädagogisches Konzept in der Kinder­
„Landlust“ lesen ist eine Sache, eine Kräuterspirale                   erziehung verstanden.
anlegen, einen Garten mieten oder gar als Selbst­                           Medial wenig präsent, dennoch sicher die
versorger aufs Land ziehen eine andere. Wer sind                       größte Gruppe der (Teil-)Selbstversorger, sind
die Gestalter der Neuen Ländlichkeit? Raumpio­                         die Heimatler, die Traditionalisten unter den
niere, urbane Gärtner, Selbstversorger, Landlust­                      Gärtnern und Köchen. Sie sind meist älter und
leser – die unterschiedlichsten Phänomene und                          leben häufig im ländlichen Raum. Aufgewach­
Akteure tummeln sich auf diesem Feld. Medi­                            sen mit großem Nutzgarten, Schrebergarten oder
al besonders präsent ist die Selbstversorgerbewe­                      auf einem Hof, ist private Hauswirtschaft für sie
gung, die, mit Hunderten von Ratgebern bestens                         kein Fremdwort, zudem beherrschen sie die al­
versorgt, in ihr neues Leben als Gärtner, Kräu­ter­                    ten Kulturtechniken noch. Geht es bei den neu­
sammler, Einkocher startet. Auf der Basis einer                        en Selbstversorgern vor allem um den Anbau von
qualitativen Inhaltsanalyse verschiedenster Rat­                       Obst und Gemüse und nur selten um die Haltung
geber, Erlebnis- und Selbsterfahrungsberichte von                      von Nutztieren, so finden sich gerade im ländli­
Selbstversorgern konnten unterschiedliche Typen                        chen Raum Ostdeutschlands durchaus noch vie­
und Motivstrukturen extrahiert werden.12                               le Halter von Kleintieren wie Hühnern, Gänsen
    Die Landlustigen holen sich die Anregungen                         oder Kaninchen.13 Das Motiv, auf Selbstgemach­
zur Selbstversorgung light, im Hausgarten oder                         tes zu setzen, ist bei den Heimatlern nicht Kon­
auf dem Balkon, in den genannten Landmagazi­                           sumkritik oder der Wunsch, nachhaltig zu le­
nen. Auch das Sammeln von Wildkräutern und                             ben, vielmehr sind es Heimatverbundenheit und
Einlegen der selbsterzeugten Produkte dient eher                       ­Bescheidenheit.
der Entschleunigung des Alltags denn der Ernäh­                             Den Money-Poor-Time-Rich-Typ verbindet
                                                                       mit den Heimatlern, dass der Eigenanbau und die
                                                                       Verarbeitung von Lebensmitteln nicht nur Freu­
11 Vgl. BBSR, Referenz Kreise/Kreisregionen zu Kreistypen, Gebiets­
                                                                       de bereitet, sondern auch eine Entlastung in der
stand 31. 12. 2014, www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/
Raumabgrenzungen/Kreistypen4/Downloadangebote.html?​nn=​
443222.                                                                13 Vgl. Claudia Neu/Ljubica Nikolic, Versorgung im länd­lichen
12 Vgl. Ljubica Nikolic, Selbstversorgung – Ein Trend zwischen         Raum der Zukunft: Chancen und Herausforderungen, in: Uwe
Lifestyle und nachhaltiger Ernährungskultur, Vortrag, Sektion Land-    Fachinger/Harald Künemund (Hrsg.), Gerontologie und ländlicher
und Agrarsoziologie der DGS, Bonn, 8. 10. 2011; Claudia Neu/           Raum, Wiesbaden 2014, S. 185–208; Ljubica Nikolic, Selbstversor-
dies., Die (neuen) Selbstversorger – zwischen Not und Weltan-          gung zwischen Daseinsvorsorge und Ernährungssicherung – Ver-
schauung, in: Peter A. Berger et al. (Hrsg.), Urbane Ungleichheiten.   gleichende Analyse von zwei Fallstudien aus peripheren ländlichen
Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, Wiesbaden          Räumen, Masterarbeit, Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach
2014, S. 253–271.                                                      2013.

06
Land und Ländlichkeit APuZ

Haushaltskasse bringen kann. Die Hinwendung                       ten“ Welt sehen und versuchen, weitgehend au­
zu mehr Eigenarbeit und privater Hauswirtschaft                   tark zu leben. Der Gedanke, der sich bei vielen
kann bei diesem Typus eine unfreiwillige Ent­                     US-amerikanischen Selbsthilfeprojekten wie den
scheidung sein, etwa durch den Verlust des Ar­                    communal gardens finden lässt, (anderen) Zugang
beitsplatzes, oder aber eine freigewählte Redu­                   zu Lebensmitteln sowie Gütern- und Dienstleis­
zierung der Erwerbsarbeit, um mehr persönliche                    tungen des täglichen Bedarfs zu verschaffen oder
Freiräume zu erlangen. Auch hier finden wir das                   den öffentlichen Raum zurückzuerobern, ist we­
Motiv des „guten Lebens“, das Erwerbs- und Ei­                    nig ausgeprägt.15 (Teil-)Selbstversorgung als Bei­
genarbeit harmonisch miteinander verbindet und                    trag zur Ernährungssicherung des eigenen Haus­
Raum für kreative Selbstentfaltung lässt.                         halts ist kein primäres Motiv, bei den Heimatlern
    Einen deutlichen Schritt in Richtung Voll-                    findet es jedoch traditionelle Anknüpfungspunk­
Selbstversorger-Leben vollziehen dann die Aus-                    te und wird von den Aussteigern als bewusste
steiger, die sich einer alternativen Lebensweise                  Entscheidung gewählt. Entschleunigung, Nach­
verschreiben. Während der Money-Poor-Time-                        haltigkeit, Ökologie sowie Konsumkritik und
Rich-Typ die Bindung zur Erwerbsarbeit nicht                      Konsumverzicht spielen eine wichtigere Rolle.
ganz verloren hat, sondern lediglich die Arbeits­                 Lebensmittelproduktion und -konsumption wer­
zeit reduziert, verlässt der Aussteiger seine „alte               den vorrangig als Mittel der Stilisierung und sozi­
Welt“. Dieser Typus investiert einen Großteil sei­                alen Abgrenzung verwendet – mehr individueller
ner Zeit in die Selbstversorgung. Er wohnt vor­                   Wohlfühlfaktor denn politischer Aktionismus.
wiegend im ländlichen Raum oder den Stadtrand­
lagen und bewirtschaftet entweder Mietäcker                                         JENSEITS DER IDYLLE
oder das zum Wohnhaus gehörende Grundstück.
Konsumkritik wird entweder auf kultureller Ebe­                   Nun wirkt das doch alles recht idyllisch! Land­
ne als Herrschaftskritik geübt oder als Kritik am                 magazine erfreuen ein Millionenpublikum, urba­
Naturverbrauch und der Naturzerstörung.                           ne Gärtner begrünen die städtischen Brachen und
    Noch einen Schritt weiter gehen die Aktivis-                  Kinder werden auf Mietäckern an gesunde Er­
ten, die so unabhängig und ressourcenschonend                     nährung herangeführt. Soweit – so harmlos? Ein
wie möglich leben wollen. Sie konzentrieren sich                  Blick auf die aktuellen politischen Diskurse um
ähnlich wie die Aussteiger darauf, möglichst nur                  den Wandel des Wohlfahrtsstaates und den Rück­
zu verbrauchen, was sie auch produzieren. Aller­                  zug der Daseinsvorsorge aus der Fläche macht
dings steht hier Autarkie nicht synonym für so­                   deutlich, dass auch hier die Schlagworte der länd­
ziale Isolation, sondern impliziert vielmehr Ver­                 lichen Imagination auftauchen: das „gute Leben“,
netzung und Kooperation mit Gleichgesinnten.                      Gemeinschaft und Homogenität – allerdings als
Unter den Aktivisten sind etwa die Organisa­                      Trojaner, um mit diesen positiv besetzten Bildern
toren der Transitiontown-Bewegung14 oder ur­                      gesellschaftliche Veränderungen und harte politi­
baner Gemeinschaftsgärten wie dem Allmende-                       sche Einschnitte zu verschleiern.
Kontor in Berlin zu finden.                                           Das Dorf als Ort des „guten Lebens“ hat eine
    Zusammenfassend lässt die vorgestellte In­                    lange Tradition. Das „gute Leben“ meint aber
haltsanalyse einen ersten Eindruck über die Band­                 heute zunehmend das gute individuelle Leben,
breite der unterschiedlichen (Teil-)Selbstversor­                 nicht etwa ein besseres Leben für alle. Für natur­
gung zu, ohne Angaben über die quantitative                       liebende Neubürger in der Uckermark, so konnte
Verteilung der Typen geben zu können. An dem                      die Geografin Julia Rössel zeigen, ist die ländliche
einen Ende der Skala stehen die Landlustigen, die                 Idylle vor allem ein Privatvergnügen, das auch
Selbstversorger light, die die private Hauswirt­
schaft für sich als Freizeitbeschäftigung entdeckt                15 Im Projekt INNSULA des Zentrums für Agrarlandforschung
haben. Am anderen Ende stehen die Aussteiger                      wurde u. a. eine Typologie urbaner Landwirtschaft erstellt, die
und Aktivisten, die Selbstversorgung als Gegen­                   auch nach den Hauptzielen der Gärtner fragt. Drei Ausrichtungen
strategie zur kapitalistischen „konsumverseuch­                   ließen sich erkennen: 1. die Subsistenzorientierten (Ziel: Zugang
                                                                  zu (Bio-)Lebensmitteln), 2. die soziokulturell Ausgerichteten (Ziel:
                                                                  Gemeinschaftsleben, Bildung, Kultur), 2. die kommerziell Ausge-
14 Vgl. Philipp Krohn, Schrumpfen von unten, 26. 12. 2013,        richteten (Ziel: Einkommen, Arbeitsplätze schaffen). Vgl. Regine
www.faz.net/aktuell/wirtschaft/transition-towns-schrumpfen-von-   Berges et al., Urbane Landwirtschaft – Innovationsfelder für die
unten-12727247.html.                                              nachhaltige Stadt?, Müncheberg 2014, S. 14.

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APuZ 46–47/2016

schon mal mit den Anforderungen der Land­                          nity) heißt das Zauberwort. Mit dem Rückzug
wirtschaft vor Ort in Konflikt gerät.16 Ganz ähn­                  des Wohlfahrtsstaates aus einzelnen Bereichen
lich verhält es sich auf der politischen Ebene: Die                der Daseinsvorsorge, besonders aber aus der Flä­
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist auf­                   che, geht eine verstärkte Suche nach Kooperati­
gegeben – entgegen anderslautender politischer                     onspartnern und Allianzen mit Unternehmen
Beschwörungen. Die Solidarität zwischen pros­                      und Bürgern einher. Gerade in ländlichen Räu­
perierenden Metropolen und darniederliegenden                      men wird gerne an die „ureigenen Kräfte“ wie
Regionen sinkt. Entlegene ländliche Räume wer­                     Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches En­
den ihrem Schicksal überlassen. Und die Kanzle­                    gagement appelliert, um die Bürger auf ihre neu­
rin lässt das „gute Leben“ suchen.17                               en „Aufgaben“, wie etwa die Unterstützung von
    Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr,                     pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die
dass der allmähliche Abbau von Infrastrukturen,                    heimeligen Begriffe „Nachbarschaftshilfe“, „So­
die schleichende Akzeptanz von Versorgungs­                        lidarität“ und „Gemeinschaft“ verschleiern aber
engpässen oder die Abwertung des öffentlichen                      letztlich nur, dass die Kosten für die wegbrechen­
Raums zu regionalen und kulturellen Eigenhei­                      den sozialen und kulturellen Daseinsvorsorge­
ten umgedeutet werden. Verödete Räume wer­                         leistungen mehr und mehr privatisiert werden,
den in Kreativzonen umbenannt, Raumpioniere                        während die Anforderungen an die individuel­
sollen sterbenden Dörfern neues Leben einhau­                      len Bewältigungskompetenzen steigen. War es
chen, Dorfläden und Bürgerbusse müssen loka­                       ein wohlfahrtstaatlicher Gewinn, dass im Notfall
le Defizite ausgleichen. Die soziale Frage nach                    Hilfe- und Unterstützungsleistungen zuverlässig
Gleichheit und Zusammenhalt wird auf der Su­                       zu erwarten waren, so schwindet diese Sicherheit
che nach dem „guten Leben“ emotional individu­                     mehr und mehr. Mit dem Hinweis auf das genu­
alisiert. Diese Fragmentierung der sozialen Frage                  in Dörfliche wird Solidarität re-familialisiert und
in Teilaspekte des „guten Lebens“, in private oder                 mithin wieder Angelegenheit lieber Verwandter
regionale Wohlfühlfaktoren, ist insofern besorg­                   und wohlmeinender Nachbarn.
niserregend, da der Wert der gleichen Lebens­                          Angesichts der aktuellen Debatten um die
verhältnisse ein zentrales, normatives und struk­                  Aufnahme von Flüchtlingen, die mit Aufmär­
turelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der                    schen „besorgter Bürger“, brennenden Flücht­
demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des                      lingsunterkünften sowie einem deutlichen
sozialen Zusammenhalts repräsentiert.18 Es reicht                  Rechtsruck in der Parteienlandschaft einherge­
nicht, dass urbane Mittelschichten sich mithilfe                   hen, entsteht der Eindruck, dass Teile der Öf­
von Bastelbögen, Strickanleitung und Tomaten­                      fentlichkeit, aber auch der Politik glauben, wirt­
samen das Dorf in die Stadt holen, während an­                     schaftliche, soziale oder kulturelle Homogenität
dernorts Dörfer veröden.                                           sei nach wie vor möglich. Dass dies ein fataler Irr­
    Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach                          glaube ist, zeigt sich gerade an den Entwicklun­
Nahraumerfahrungen, nach lokalen Produkten                         gen in entlegenen ländlichen Räumen. Das Dorf,
und zwischenmenschlichen Kontakten scheint                         fantasierter Ort sozialer Gleichheit, entwickelt
groß in Zeiten der Digitalisierung. Die dörfliche                  sich unter Schrumpfungsbedingungen eben nicht
Gemeinschaft, oft als Idealform menschlichen                       zurück zu einem imaginierten sozialen Ganzen,
Zusammenlebens imaginiert, in der enge sozia­                      das im Transformationsprozess zur postmoder­
le Kontakte Geborgenheit und Sicherheit spen­                      nen Gesellschaft irgendwie verloren gegangen
den, scheint nun auch für Politiker attraktiv, die                 war, doch potenziell wieder herstellbar ist. Die
nicht mehr wissen, wie sie die Konsequenzen des                    funktionalen Differenzierungen der ökonomi­
demografischen Wandel in den Griff bekommen                        schen, sozialen und politischen Wirklichkeit, die
sollen. Sorgende Gemeinschaft (caring commu-                       unter Wachstumsbedingungen entstanden sind,
                                                                   kehren sich unter den Bedingungen der demogra­
16 Vgl. Julia Rössel, Unterwegs zum guten Leben, Bielefeld 2014,   fischen De-Infrastrukturalisierung keineswegs
S. 193.                                                            einfach um. Im Gegenteil: Diese „Entdichtung“
17 Vgl. Bundeskanzleramt, Gut leben – Lebensqualität in
                                                                   wird von einer stärkeren sozialen Ausdifferenzie­
Deutschland, www.gut-leben-in-deutschland.de/DE/Ueber/der-
dialog-im-ueberblick/_node.html.
                                                                   rung und Polarisierung der Arbeits- und Lebens­
18 Vgl. Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Der Wert          weisen begleitet werden. Infrastrukturelle und
gleicher Lebensverhältnisse, Bonn 2015, S. 3.                      sozialstrukturelle Perforationen und Lichtungen,

08
Land und Ländlichkeit APuZ

Polarisierungen und Ungleichheiten breiten sich            dial gehypt – das Grundrauschen zu einer neu­
bereits inmitten prosperierender Regionen aus.             en gesellschaftlichen Stimmung liefern können,
Der demografische Wandel führt zu keiner „Ret­             die im besten Fall den Weg zu mehr Nachhaltig­
ro-Homogenität“ räumlicher und sozialer Wirk­              keit, Ressourcenschonung und Solidarität weist.
lichkeiten, in der eine Region, ein Ort, ein Quar­         Gleichzeitig gilt es, einen Blick darauf zu haben,
tier zu ihren „Ursprüngen“ zurückkehrt.19                  dass diese positive Belegung durch die „reale“
                                                           Ländlichkeit nicht überholt wird, die im schlech­
              GESELLSCHAFTLICHES                           testen Fall „Bullerbü in braun“,20 Homogenitäts­
               GRUNDRAUSCHEN                               fantasien und einfache Antworten auf komplexe
                                                           Fragen favorisiert.
So bleibt die Neue Ländlichkeit, was sie seit dem
Idyll Arkadiens immer schon war, nämlich ein ir­
disches Paradies, eine Welt imaginierten Glücks,
die Orientierung in Zeiten fundamentaler Um­
brüche gibt. Empirisch betrachtet, sind die Ak­
tivisten der Neuen Ländlichkeit (Raumpioniere,             CLAUDIA NEU
städtische Gemeinschaftsgärtner, Selbstversor­             ist Professorin für die Soziologie Ländlicher Räume
ger) wohl eher eine kleine Gruppe, die aber – me­          an den Universitäten Göttingen und Kassel.
                                                           claudia.neu@uni-goettingen.de
19 Vgl. dies., Demographie und Demokratie, Hamburg 2012,
S. 105 f.                                                  20 Christian Thiele, Bullerbü in braun, in: Die Zeit, 17. 11. 2011.

         Politisch, aktuell
         und digital
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                       GESCHICHTE UND
                    GEGENWART DES DORFES
                                          Gerhard Henkel

 Wenn jemand von einem Dorf erzählt, das er ge­       wohnern ausgewiesen wird, ist im Einzelfall oft
 rade besucht hat, wird ihm mit Sicherheit bald       schwer zu begründen.
 die Frage gestellt: Wie groß ist das Dorf denn ei­       Wir haben das Wort „Dorf“ bisher vor al­
 gentlich? Die Größe einer Siedlung ist für uns       lem als einen Begriff der Siedlungsgröße ken­
 offenbar ein wichtiges Ordnungsraster. Die un­       nengelernt. Doch in der Regel hat „das Dorf“
 terschiedlichen Größen signalisieren auch etwas      eine umfassendere Bedeutung. Im Duden heißt
 über die inneren Eigenschaften. Von einem gro­       es schlicht „ländliche Ortschaft“ und „Gesamt­
 ßen Dorf erwarten wir zum Beispiel, dass es dort     heit der Dorfbewohner“.02 In dieser Bedeutung
 eine Kirche, eine Schule, einen Gasthof und ei­      ist das Wort seit dem Mittelalter geläufig. „Dorf“
 nen Sportplatz gibt. In einem kleinen Dorf ver­      ist also ein Sammelbegriff für den ländlichen Le­
 muten wir eine kleine Kapelle, einen Kinder­         bensraum, das Gegenstück zur Stadt – ein Sam­
 garten und auf jeden Fall eine Feuerwehr, aber       melbegriff für die rund 35 000 Ortschaften des
 nicht unbedingt einen Tennisplatz oder eine          ländlichen Raumes in Deutschland, die sich heute
­Apotheke.                                            als Dorf bezeichnen, ob sie nun am Rande einer
     Für Deutschland gilt die folgende Klassifi­      Großstadt oder im Erzgebirge liegen. Jedes dieser
 zierung der ländlichen Siedlungsgrößen, die im       Dörfer hat ein anderes Aussehen und eine andere
 Wesentlichen von der Anzahl der Hausstätten          wirtschaftliche Basis.
 und der Einwohnerzahl abhängt: Einzelsiedlung,           Können wir heute das Dorf im Unterschied
 kleine Gruppensiedlung, große Gruppensiedlung        zur Stadt noch einheitlich und inhaltlich genau­
 (Dorf), Kleinstadt. Gemeinhin unterscheidet man      er definieren? Das „alte“ Dorf hatte es da leich­
 vier Größenstufen des deutschen beziehungswei­       ter. Es wurde durch seine agrarwirtschaftlichen
 se mitteleuropäischen Dorfes:01                      Tätigkeiten bestimmt. Diese klassische Defini­
                                                      tion, die bis vor wenigen Jahrzehnten galt, ist
     –– das kleine bis mäßig große Dorf mit 20 bis    nicht mehr allzu hilfreich. Heute werden daher
        100 Hausstätten beziehungsweise 100 bis       häufiger soziale und kulturelle Kriterien heran­
        500 Einwohnern,                               gezogen. Das Dorf wird mit Dorfgemeinschaft,
     –– das mittelgroße Dorf mit 100 bis 400 Haus­    Nachbarschaftshilfe, Traditionsbewusstsein, Kir­
        stätten beziehungsweise 500 bis 2000 Ein­     chentreue, mit engen sozialen Netzwerken und
        wohnern,                                      hohem ehrenamtlichen Engagement, seiner Ver­
     –– das große Dorf mit 400 bis 1000 Hausstät­     einsdichte und Aktivkultur, mit Naturnähe oder
        ten beziehungsweise 2000 bis 5000 Einwoh­     insgesamt mit seinen ländlichen Lebensstilen be­
        nern und                                      schrieben. Eher nüchtern und pragmatisch ist je­
     –– das sehr große Dorf mit mehr als 1000 Haus­   doch die Definition, die sich am äußeren Dorfbild
        stätten und 5000 Einwohnern.                  orientiert: Wir sprechen von einem Dorf, wenn
                                                      die Gestalt der Siedlung von der Agrarwirtschaft
Für die beiden letztgenannten Größenstufen            geprägt wird, das heißt durch Bauern-, Land­
werden vielfach auch die Bezeichnungen „Groß­         arbeiter- und Handwerkerhäuser, Gehöfte und
dorf“ und „Stadtdorf“ gebraucht, womit die sta­       Gutshöfe, auch wenn die Landwirtschaft selbst
tistische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich      heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.03
wird. Der Übergang vom Großdorf zur ländli­           Wir orientieren uns damit also an den überliefer­
chen Kleinstadt, die heute im Allgemeinen mit         ten Bauformen der Vergangenheit, die tief in die
5000 bis 25 000, bisweilen sogar bis 50 000 Ein­      Dorfgeschichte zurückreichen.

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Land und Ländlichkeit APuZ

                    DAS ALTE DORF                                 nem eigenen Haushalt lebten, sowie die unmit­
                                                                  telbar auf den größeren Höfen und Gütern ar­
Geht es um das Thema „Dorf“, haben wir alle meist                 beitenden und wohnenden Knechte und Mägde.
auch Bilder des „alten“ Dorfes im Kopf. Diese sind                Aufstiege aus der Unterschicht waren kaum mög­
oft mit der Einschätzung einer „guten alten Zeit“                 lich. Durch das festgefügte Dienst-Lehen-Verhält­
verknüpft – es sind Vorstellungen einer romanti­                  nis zwischen Bauern und Grundherren gab es aber
schen Grundstimmung: Die Dörfer liegen idyllisch                  auch für die Mittelschicht nur geringe Möglichkei­
inmitten der Natur mit Bach, Feldern und Wäldern.                 ten des sozialen und wirtschaftlichen ­Aufstiegs.
Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt                       Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft
im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und große                 stand eindeutig die Land- und Forstwirtschaft.
Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schüt­                   Alle mittleren und größeren Höfe betrieben in
zenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die                  der Regel den ganzen Umfang an Ackerbau und
Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozia­                Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung. Natür­
len und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbe­               lich gab es regionale Unterschiede. Die heute üb­
wohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negati­                liche Spezialisierung der landwirtschaftlichen
vere Bilder und Bewertungen zum alten Dorf. Wir                   Produktion war um 1800 noch weitgehend unbe­
haben die Armut der großen Mehrheit der Dorfbe­                   kannt. Das wichtigste Ziel der Hofhaltung stell­
wohner vor Augen, die Missernten und Hungers­                     te die Selbstversorgung der meist großen Fami­
nöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die be­                lie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung
sonders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen.                dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundher­
Das Dorfleben erscheint uns dann als ein fast täg­                ren und Kirche (letztere bekam den sogenannten
licher Kampf ums Überleben, ohne Chancen eines                    Zehnten) sowie durch die ebenfalls zu leistenden
wirtschaftlichen oder sozialen Aufstiegs.                         Hand- und Spanndienste für den Hof des Grund­
    Die Dorfforschung zeichnet ein facettenrei­                   herren waren die wirtschaftlichen Spielräume der
ches und regional unterschiedliches Bild des Dor­                 Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtspro­
fes vor 200 Jahren. Es war eine Umbruchzeit – die                 tokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer
Ideen der Französischen Revolution gingen durch                   wieder um Aufschub und Erlass ihrer Abgaben
Europa und drangen auch in das politisch klein­                   baten und als Begründung Hunger und Krank­
gekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung                      heit in ihren großen Familien angaben.
der Landbevölkerung aus den diversen Zwän­                            Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist
gen der Feudalzeit durch Agrar- und Bildungs­                     in Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft
reformen deutete sich in manchen Regionen be­                     betrieben, um die eigene Nahrungsversorgung zu
reits an. Aus sozialer Sicht war das Dorf um 1800                 sichern. Die typisch dörflichen Handwerkszweige
noch eine recht festgefügte Klassengesellschaft                   wie Schmiede, Stellmacher, Maurer und Zimme­
in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze                   rer versorgten vor allem die landwirtschaftlichen
standen unangefochten Klerus und Adel, die beide                  Betriebe und dienten im Wesentlichen der Versor­
auch als Grundherren – als Verpächter des Landes                  gung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren
und häufig auch mit eigenen Gütern – in Erschei­                  war somit wirtschaftlich weitgehend selbststän­
nung traten. Darunter kam die Schicht der großen,                 dig. Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in
landbesitzenden Bauern. Danach die der kleineren                  der Regel ganz auf das eigene Dorf bezogen. Prak­
Bauern und der Handwerker, die meist zur Exis­                    tisch alle arbeitenden Dorfbewohner hatten ihren
tenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft                     Arbeitsplatz im eigenen Dorf. Das Verbleiben im
betrieben. Man würde hier heute von oberer und                    Dorf ermöglichte eine hohe lokale Arbeitsmobili­
unterer Mittelschicht sprechen. Zur zahlenmäßig                   tät: So konnten viele Dorfbewohner mehrere Tä­
umfangreichen Unterschicht gehörten damals die                    tigkeiten nebeneinander ausüben, zum Beispiel als
landlosen Landarbeiter und Tagelöhner, die in ei­                 Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im
                                                                  Winter). Auch die älteren Kinder mussten bereits
                                                                  bei den vielfältigen Arbeiten in Haus, Hof, Garten
01 Vgl. u. a. Cay Lienau, Die Siedlungen des ländlichen Raumes,
                                                                  und Flur mitanpacken und wurden damit früh in
Braunschweig 19952, S. 64.
02 Duden „Deutsches Universalwörterbuch“, Wien–Zürich 1983.
                                                                  das Erwerbsleben einbezogen.
03 In Anlehnung an Martin Born, Geographie der ländlichen             Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800
Siedlungen, Bd. 1, Stuttgart 1977.                                aus heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größ­

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te Sorgfalt diente einer regelmäßigen Wasserver­      keiten zwischen dem alten und dem modernen
sorgung, an Flüssen oder Bächen liegende Dörfer       Dorf. Aber dennoch ist das frühere Dorf nicht
hatten hier ihre Vorteile. Andernorts waren Brun­     völlig verschwunden. Es wirkt weiter: durch sei­
nenbauten oder kleine Wasserleitungen von den lo­     ne alten Gebäude, durch den Boden, den Bach,
kalen Quellen zu den sogenannten Kümpen inner­        den Wald, das Lokalklima, das man seit Genera­
halb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste     tionen kennt, durch Geschichten, Erinnerungen
man sich das Wasser mühsam in die Häuser holen.       und Wertvorstellungen, die man weitergibt.
Hygiene und medizinische Versorgung hatten im             Wie sieht nun ein typisches Dorf von heute aus?
Vergleich zu heute einen niedrigen Stand. Entspre­    Zunächst ist eine grundsätzliche Einschränkung zu
chend hoch war die Sterblichkeitsquote vor allem      machen: Natürlich gibt es nicht das typische deut­
bei den Kleinkindern und entsprechend niedrig die     sche Dorf! Die enormen Unterschiede zwischen
generelle Lebenserwartung der Menschen, die we­       den rund 35 000 deutschen Dörfern verbieten es
niger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Ener­   eigentlich, ein typisches Dorf auszuwählen. Wie
gieversorgung dienten Wasser- und Windmühlen,         groß sollte dieses Dorf sein, soll es 300 oder 3000
zum Kochen und Heizen wurden das Holz bezie­          Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Groß­
hungsweise die Holzkohle der lokalen Wälder oder      stadt liegen oder „weit ab“ in Mecklenburg oder
der getrocknete Torf aus den Moorgebieten ge­         der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region
nutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Ener­     soll es sein: aus den Küstengebieten und dem Tief­
gieversorgung war das alte Dorf weitestgehend auf     land, dem Mittelgebirge oder dem Alpenvorland?
seine lokalen Ressourcen angewiesen, die allerdings   Soll es ein Börden- oder ein Winzerdorf sein? Wel­
auch intensivst genutzt wurden.                       che ökonomischen Schwerpunkte soll das Dorf ha­
    Die politische Selbstverwaltung ländlicher        ben? Ist das Dorfbild eher durch historische oder
Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen         moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert ha­
Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Regi­         ben kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein
on, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich aus­     wachsen­  des oder schrumpfendes, ein lebendiges
geprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lo­       oder ein lethar­gisches Dorf ausgesucht werden?
kalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen             Wir wählen ein mittelgroßes Dorf mit etwa
Ordnungs- und Schutzaufgaben. Feuerwehr und           1000 Einwohnern und nennen es „Kirchhusen“.
Schützenvereine hatten als älteste und wichtigs­      Es liegt irgendwo in der Mitte Deutschlands, etwa
te Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen       35 Kilometer von einer kleineren Großstadt ent­
öffentlichen Aufgaben waren in speziellen inner­      fernt. Das Dorf hat klar erkennbar noch einen his­
dörflichen „Ordnungen“ festgehalten. So gab es        torischen Kern mit Kirche, Schulgebäude und älte­
zum Beispiel für das jährliche Schützenfest Ver­      ren Bauernhäusern. Hier präsentiert sich das Dorf
haltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen.          mit seinen „schönen“ Seiten. Aber es gibt auch
Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde al­        „normale“ Dorfbilder, wo sich Altes und Neues
lerdings nur die Grundbesitzer, was sich erst zum     kunterbunt mischt, und auch ein paar „hässliche“
Ende des 19. Jahrhunderts änderte.                    Ecken. Am Dorfrand befinden sich zwei Neubau­
    Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit         gebiete, das eine relativ geschlossen aus den 1950er
stand um 1800 noch bevor. Die Antriebskräfte          Jahren, ein zweites mit Häusern der 1960er Jahre
der bald beginnenden revolutionären Verände­          bis heute. Nur noch in zwei Bauernhäusern des
rungen auf dem Land, allen voran die Industri­        Dorfkerns wird heute Landwirtschaft (im Neben­
alisierung und die Agrarreformen, deuteten sich       erwerb) betrieben, die übrigen werden als Wohn­
erst vereinzelt an.                                   häuser genutzt. In ein ehemaliges Bauernhaus ist
                                                      ein Antiquitätengeschäft eingezogen, in ein wei­
             DAS MODERNE DORF                         teres ein Handwerksbetrieb, zwei alte Hofstel­
                                                      len stehen weitgehend leer. Die lokale Landwirt­
In den vergangenen 200 Jahren hat das Dorf wirt­      schaft wird heute hauptsächlich von mehreren
schaftlich, sozial und vom Dorfbild her eine neue     Aussiedlerhöfen aus betrieben, die von 1955 bis
Identität gewonnen (wie natürlich auch die Stadt).    1975 in der Feldflur errichtet worden sind. Ne­
Die alte Agrargesellschaft, die um 1800 noch den      ben den Landwirten gibt es in Kirchhusen heute
ganzen Staat prägte, gilt nun auch auf dem Land       noch einige Handwerksbetriebe: eine Tischlerei,
nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Gemeinsam­        einen Elektro- und Sanitärbetrieb, eine Bäckerei,

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Land und Ländlichkeit APuZ

einen Kfz-Betrieb mit Tankstelle, dazu kommen                Und wie steht es mit der kommunalen Selbst­
eine Versicherungsagentur, ein Steuerberater und         verwaltung? Jahrhundertelang war Kirchhusen
ein Architekturbüro. Zur Infrastrukturversorgung         eine eigene, selbstständige Gemeinde. Seit der kom­
gehören ein Kindergarten, ein Feuerwehrhaus, ein         munalen Gebietsreform von 1975 ist es jedoch nur
Lebensmittelladen (der in Kürze schließen wird),         noch „Ortsteil“ einer neu geschaffenen Einheitsge­
ein Gasthof mit Saal und Kegelbahn, eine Bankfi­         meinde. Statt eines eigenen Gemeinderats mit (frü­
liale und eine Postagentur. Die lokale Volksschule       her) zwölf Mitgliedern wird der Ort heute durch
musste im Rahmen einer großen Schulreform vor            zwei Dorfbürger im Großgemeinderat vertreten.
etwa 40 Jahren, die Grundschule schließlich vor          Es gibt keinen eigenen Bürgermeister mehr. Mit
20 Jahren aufgegeben werden, was bis heute be­           der kommunalen Gebietsreform der 1960er/1970er
dauert wird. Seit einigen Jahren ist die örtliche Kir­   Jahre ist die in Jahrhunderten gewachsene politi­
chengemeinde Teil eines Pastoralverbundes und            sche Selbstverantwortung des Dorfes in Kirchhus­
muss sich inzwischen mit zwei Nachbargemeinden           en, wie vielerorts auch, gebrochen worden.
einen Pfarrer teilen. Zur Erfolgsbilanz des Dor­             In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deut­
fes zählt sein hoher Standard an technischer In­         schen Dörfer besteht die Identität von Dorf und
frastruktur: die Wasserver- und -entsorgung, das         Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert
Strom- und Gasnetz, die Versorgung mit den mo­           ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein.
dernen Kommunikationsmedien Telefon, Fernse­             Trotzdem hat sich der Ort auf Dauer nicht unter­
hen und Internet.                                        kriegen lassen: So besteht seit zwei Jahren ein neu­
     Generell hat unser Dorf in den zurückliegen­        er, integrativer „Förderverein Unser Dorf“, der
den Jahrzehnten einen Großteil seiner Arbeits­           sich mit Grundsatzfragen der aktuellen und zu­
plätze und Infrastruktureinrichtungen verloren,          künftigen Dorfentwicklung befasst und in gewis­
vor allem in der Landwirtschaft und im lokalen           ser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats
Handwerk. Außerdem haben in den vergange­                und Bürgermeisters fortsetzt. Ein wichtiger Vor­
nen Jahrzehnten mehrere Dorfläden und Gast­              zug des Dorfes ist das Engagement in der Dorfge­
höfe geschlossen. Die Dorfbewohner haben ihren           meinschaft, manchmal auch als „soziales Kapital“
Arbeitsplatz heute überwiegend außerhalb des             bezeichnet. Diese Werte sind nicht leicht zu fassen.
Dorfes – sie sind zu Pendlern geworden. Viele            Die Statistiken belegen zum Beispiel eine deutlich
Dorfbewohner üben heute ehemals „städtische“             höhere Vereinsdichte beziehungsweise Vereinszu­
Berufe aus: Sie sind Arbeiter und Angestellte in         gehörigkeit auf dem Land als in Mittel- und Groß­
Industrie- und Gewerbebetrieben oder Beamte              städten. Auch in Kirchhusen sind praktisch alle
in Kreis-, Finanz- oder Justizverwaltungen. Ihre         Kinder und Jugendlichen sowie die große Mehrheit
täglichen Ziele sind benachbarte Kleinstädte oder        der Erwachsenen in mindestens einem der Sport –
auch die 35 Kilometer entfernte Großstadt.               und Musikvereine, der Feuerwehr oder dem Schüt­
     Zu den Errungenschaften des heutigen Dorfes         zenverein aktiv. Neben den Vereinen bestehen im
gehören seine Sport-, Freizeit- und Kultureinrich­       Dorf enge Verwandtschafts-, Nachbarschafts-
tungen. Diese werden überwiegend von Vereinen            oder Cliquenverbindungen, die durch ein ständi­
getragen, so auch in Kirchhusen. Der Sportver­           ges Austauschen von Gütern, Geräten und Dienst­
ein betreibt zwei Rasensportplätze und eine klei­        leistungen geprägt sind. Man trifft sich zu privaten
ne Sporthalle, der Tennisverein zwei Tennisplätze,       Feiern und hilft sich beim Bauen oder im Garten,
jeweils mit einem zugehörigen Sportheim. Dazu            bei der Betreuung von Kindern, Kranken und äl­
kommen drei Spielplätze, die von einem Förder­           teren Menschen. Dieses ständige Geben und Neh­
verein gepflegt werden. Den kulturtreibenden             men trägt – neben einer sehr hohen Eigenheimquo­
Dorfvereinen steht eine Begegnungsstätte – im his­       te – zu einem relativ hohen Wohlstand des Dorfes
torischen Schulgebäude – zur Verfügung. Ein recht        bei. Ein weiterer Vorzug des Dorfes ist seine Na­
aktiver Heimatverein hat eine kleine Heimatstu­          turnähe. Sie bietet in Feld, Wald und Garten eine
be mit lokalgeschichtlichen und naturkundlichen          unmittelbare Chance der Erholung, Entspannung,
Schriften und Exponaten aufgebaut und außerdem           Freizeitnutzung und körperlichen Betätigung. Vor
einen Lehrpfad am Dorfbach und am stillgelegten          allem der dörfliche Garten gilt inzwischen als ein
Steinbruch angelegt. Zwei Musikvereine sind wie          Kernbestand ländlicher Lebensqualität.
die beiden Sportvereine das ganze Jahr über aktiv            Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele
und betreiben eine breite Jugendarbeit.                  Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbei­

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nen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind            nicht durch Autobahn- und ICE-Strecken oder
durch ihr Studium oder für ihre Firmen mona­            Flughäfen erschlossen sind und wirtschaftlich da­
telang auf anderen Kontinenten tätig. Das Dorf          runter leiden, arbeitet die Raumordnung auf eine
selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahl­       Behebung dieser Defizite hin. Für den Gesamt­
reiche Zuwanderer aus dem europäischen und au­          staat erfüllt der ländliche Raum nach Weisung der
ßereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit         Raumordnung die typischen flächenbezogenen
Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehe­             „Leistungen“ wie Agrarproduktion, Ökologie
malige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Ver­            und Umwelt sowie Freizeit und Erholung.
gleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf welt­             Für den ländlichen Raum haben die Geset­
offen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter            ze und Programme der Raumordnung eine große
geworden, er bleibt aber „seinem Kirchhusen“ als        Bedeutung. So heißt es im Bundesraumordnungs­
Basisstation verbunden.                                 programm von 1975 wörtlich: „Gleichwertige Le­
                                                        bensbedingungen im Sinne dieses Programms sind
         ZWISCHEN RAUMORDNUNG                           gegeben, wenn für alle Bürger in allen Teilräumen
          UND KOMMUNALPOLITIK                           des Bundesgebietes ein quantitativ und qualitativ
                                                        angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbs­
Die Entwicklung der Dörfer und des ländlichen           möglichkeiten und öffentlichen Infrastrukturein­
Raumes wurde und wird in starkem Maße durch             richtungen in zumutbarer Entfernung zur Verfü­
die Politik geprägt. Die Politik für das Land ist für   gung steht und eine menschenwürdige Umwelt
viele ein Labyrinth – sie geschieht auf verschiede­     vorhanden ist: in keinem dieser Bereiche soll ein
nen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Fach­          bestimmtes Niveau unterschritten werden. In den
behörden. Für alle Angelegenheiten der örtlichen        ländlichen Gebieten sind wirtschaftlich und infra­
Gemeinschaft ist in erster Linie die Kommunalpo­        strukturell den übrigen Teilräumen entsprechend
litik zuständig, also Bürgermeister, Ortsvorsteher,     gleichwertige Lebensbedingungen anzustreben.“04
Gemeinderat und Verwaltung. Aber der ländliche          Aus diesen Leitforderungen ergibt sich das Prinzip
Raum ist nicht autonom. Er erfährt in vielfacher        der „Aktivsanierung“, das die Raumordnung gera­
Weise eine politische „Behandlung“ durch die Par­       de für den ländlichen Raum bislang nie infrage ge­
lamente und Ministerien des Bundes und der Län­         stellt hat. Aktivsanierung bedeutet, dass die staatli­
der. Diese führen die ländlichen Bürger und Kom­        che Förderung in benachteiligten Gebieten so lange
munen durch ein enges Geflecht von Gesetzen,            stattzufinden hat, bis eine Gleichwertigkeit der Le­
Vorschriften, Richtlinien, Steuern und Förder­          bensbedingungen mit den übrigen Teilregionen
programmen am „goldenen Zügel“. Nicht wenige            erreicht ist. Die in Deutschland bislang nur theo­
sprechen auch von Bevormundung und Fremdbe­             retisch diskutierte „Passivsanierung“ würde be­
stimmung. Ein Beispiel: Ob eine dörfliche Schu­         deuten, dass der Staat den wirtschaftlichen, in­fra­
le heute weiter bestehen bleiben kann, entscheidet      struk­turellen und demografischen Niedergang von
längst nicht mehr nur der lokale Gemeinderat.           Teilregionen ohne Gegensteuerung hinnähme.
     Es ist für das Verständnis des ländlichen Rau­          Die Raumordnung hat im Verlauf der vergan­
mes wichtig, auch dessen komplexe Fernsteue­            genen Jahrzehnte mehrere räumliche beziehungs­
rungen durch Bund und Länder kennenzuler­               weise formale Instrumente entwickelt, die auf den
nen. Diese zeigen sich sowohl in der staatlichen        ersten Blick harmlos erscheinen, aber doch kräf­
Raumordnung als auch in diversen Fachpolitiken.         tig in die Entwicklung ländlicher (und städtischer)
     Aber was genau macht die staatliche Raum­          Regionen eingreifen. Wir unterscheiden vier ver­
ordnung? Vereinfacht ausgedrückt, entwickelt            schiedene Instrumente, die prinzipiell jeweils zu
sie überörtliche und fachübergreifende Leitvor­         einer formalen Gliederung des Raumes führen: das
stellungen von der Ordnung und Entwicklung              Zentrale-Orte-Konzept, die Siedlungs- und Ent­
des gesamten Staatsgebietes. Diese sollen nicht         wicklungsachsen, die Vorrang- und Sanierungs­
nur menschen- und umweltgerecht sein, sondern           gebiete sowie die Raumgliederungen beziehungs­
auch der Wirtschaft dienen. Konkret bemüht sich         weise Gebietstypen. Das Zentrale-Orte-Konzept
die Raumordnungspolitik um eine Beseitigung             ist das wichtigste Instrument der Raumordnung
der räumlichen Disparitäten, das heißt der Un­
gleichgewichte im regionalen Gefüge des Staa­           04 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
tes. Wenn zum Beispiel größere Landstriche noch         (Hrsg.), Bundesraumordnungsprogramm, Bonn 1975, S. 1, S. 5.

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