AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Rap - Bundeszentrale für politische Bildung

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Rap - Bundeszentrale für politische Bildung
68. Jahrgang, 9/2018, 26. Februar 2018

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
        Rap
        Marc Dietrich                                 Heidi Süß
        RAP ALS                          SEX(ISMUS) OHNE GRUND?
 FORSCHUNGSGEGENSTAND                   ZUM ZUSAMMENHANG VON
                                           RAP UND GESCHLECHT
      Jeffrey O. G. Ogbar
  RAPKULTUR UND POLITIK.                          Fabian Wolbring
  EINE US-AMERIKANISCHE                     ZUM VERHÄLTNIS VON
        GESCHICHTE                           GANGSTA-RAP UND
                                               KRIMINALITÄT
        Martin Seeliger
     RAP UND GEGEN­                                Marcus Staiger
    IDENTITÄTEN IN DER                         ANTISEMITISMUS
 MIGRATIONSGESELLSCHAFT                       IM DEUTSCHEN RAP

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Rap - Bundeszentrale für politische Bildung
Rap
                                       APuZ 9/2018
MARC DIETRICH                                      HEIDI SÜ ẞ
RAP ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND                       SEX(ISMUS) OHNE GRUND?
HipHop ist seit Jahren die größte Jugendkultur.    ZUM ZUSAMMENHANG VON RAP
Nach anfänglicher Verzögerung hat sich in          UND GESCHLECHT
den Sozial- und Kulturwissenschaften eine          Zu den häufigsten Vorwürfen gegenüber Rap zäh­
thematisch und perspektivisch breit aufgestellte   len Sexismus, Misogynie und Homophobie. Den
HipHop-Forschung etabliert, deren wesentliche      Zusammenhang von Rap und Geschlecht auf diese
Linien in dem Beitrag dargestellt werden.          teils zutreffenden Schilderungen zu reduzieren,
Seite 04–10                                        wird der Komplexität und Diversität der Szene
                                                   mit Blick auf Geschlecht jedoch nicht gerecht.
                                                   Seite 27–33
JEFFREY O. G. OGBAR
RAPKULTUR UND POLITIK.
EINE US-AMERIKANISCHE GESCHICHTE                   FABIAN WOLBRING
Seit seiner Entstehung in der New Yorker           ZUM VERHÄLTNIS VON GANGSTA-RAP
South Bronx in den 1970er Jahren war Rap als       UND KRIMINALITÄT
„schwarze Kunstform“ von Natur aus stark           Der Artikel verhandelt an den Beispielen
politisch aufgeladen. Die Willensbekundung und     Bushido und Kollegah das ambivalente Verhält-
Mobilisierung mithilfe von Rap hat im Laufe der    nis von Authentizität und Fiktion im deutschen
Zeit verschiedene Formen angenommen.               Gangsta-Rap, indem er den genrespezifischen
Seite 12–20                                        Authentizitätsanspruch skizziert und aktuelle
                                                   Tendenzen im digitalen Medienzeitalter aufzeigt.
                                                   Seite 34–39
MARTIN SEELIGER
RAP UND GEGENIDENTITÄTEN
IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT                      MARCUS STAIGER
Fremdheit und Migration sind zentrale Bezugs-      ANTISEMITISMUS IM DEUTSCHEN RAP
punkte deutscher Rapmusik. Woher kommt das?        Die Diskussion über Rap und Antisemitismus ist
Aufschlussreich sind neben den historischen        verworren. Denn stets wird der Nahost-Konflikt
Zusammenhängen die Wechselwirkungen                mitverhandelt, an dem sich harte ideologische
zwischen dem Integrationskrisendiskurs und         Grenzen auftun, die meist nichts mehr mit dem
den Inszenierungspraktiken im Gangsta-Rap.         Nahost-Konflikt, sondern nur noch etwas mit
Seite 21–26                                        dem eigenen Standpunkt zu tun haben.
                                                   Seite 40–45
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Rap - Bundeszentrale für politische Bildung
EDITORIAL
Rap ist allgegenwärtig: sei es als Filmmusik, Werbemelodie, beim Einkaufen
oder als Unterhaltungseinlage bei Sport- und anderen Großveranstaltungen;
Rapalben werden in Feuilletons diskutiert, Rapper treten in Talkshows auf und
sind Identifikationsfiguren für Kinder und Jugendliche, Bekleidungsketten
machen mit Fanartikeln reißenden Absatz. Als Teildisziplin des HipHop, zu
dem unter anderem auch Breakdancing und Graffiti-Writing zählen, gehört
Rapmusik zur dominanten Kultur der Gegenwart. Von ihren Anfängen in den
New Yorker Armutsvierteln der 1970er Jahre bis in den globalen Mainstream
war es jedoch ein weiter Weg.
   Seit jeher hat die Kunstform polarisiert. Im Sinne des geflügelten Wortes von
Rap als „black CNN“ sehen manche darin eine niedrigschwellige künstlerische
Ausdrucksmöglichkeit für marginalisierte Gesellschaftsgruppen und begrüßen
das Genre als politisches Sprachrohr der Unterdrückten mit erheblicher sub-
versiver Kraft. Für andere sind die oft explizite Sprache, mit der Themen wie
Sexualität, Kriminalität und sozialer Status in Raptexten verhandelt werden,
sowie der unter Rappern verbreitete prahlerische Habitus Alarmsignale für
einen kulturellen Verfall. Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Antisemitismus
und Gewaltverherrlichung sind insbesondere mit Blick auf das Subgenre des
Gangsta-Rap häufige Vorwürfe.
   Ungeachtet dieser Kontroversen hat sich Rap zu einem äußerst vielfältigen
Genre mit einer großen Bandbreite an lyrischem, musikalischem und techni-
schem Anspruch entwickelt, das weltweit Anknüpfungspunkte für sehr unter-
schiedliche Hörerschaften bietet – mittlerweile auch zunehmend jenseits der
traditionell heteronormativen und industriezentrierten Ausrichtung der Szene.
So spiegeln sich in der Musikrichtung, ihren Erfolgsmustern und dem dazuge-
hörigen Lifestyle stets auch gesellschaftliche Entwicklungen und Konfliktlinien
wider. Es ist das darin liegende zeitdiagnostische Potenzial, das eine wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit Rap so vielversprechend für die politische
Bildung macht.

                                                   Anne-Sophie Friedel

                                                                               03
APuZ 9/2018

     RAP ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND
                                         Marc Dietrich

Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass        tivisch breit aufgestellten HipHop-Forschung,
HipHop in den vergangenen Jahrzehnten fast          deren wesentliche Linien im Folgenden darge-
jeden Teil von Popkultur „irgendwie“ berührt        stellt werden sollen.
hat:01 Rap ist der Soundtrack zu populären Se-
rien ebenso wie zu Blockbustern und Videospie-                     VERZÖGERTE
len, läuft während der Superbowl-Pause, in Bou-               FORSCHUNGSAUFNAHME
tiquen und Supermarktketten, und manchmal
wird ein Track sogar zur politischen Hymne in       Die rein journalistische Beschäftigung mit und
Konflikten. Die Relevanz von HipHop im ma-          Dokumentation von HipHop ist fast so alt wie
krosoziologischen Maßstab ist jedenfalls kaum       ihr Gegenstand selbst und setzte in den späten
bezweifelbar – nicht nur, weil sogar der Such-      1970er Jahren ein. Die wissenschaftliche Erfor-
maschinenanbieter Google glaubte, den 11. Au-       schung florierte in den Vereinigten Staaten bis
gust 2017 zum „44. HipHop Anniversary“ er-          auf wenige Ausnahmen jedoch erst ab den 1990er
klären zu müssen, sondern auch, weil er längst      Jahren.05 Gründe für diese Verzögerung mögen
in der Forschung angekommen ist. HipHop sei         zum Teil öffentliche Wahrnehmungsweisen und
„weltweit die mit Abstand größte Jugendkul-         Mediendebatten gewesen sein, die die steigen-
tur“, schrieb der Jugendforscher Klaus Farin be-    de Relevanz und den zunehmendem Einfluss der
reits vor Jahren.02                                 black culture auf ein weißes Publikum mit Sorge
    Angesichts der Tatsache, dass in Deutsch-       betrachteten und in einigen Fällen eindeutig ras-
land mittlerweile nicht nur Wu-Tang-T-Shirts        sistische Untertöne aufwiesen.06
bei H&M verkauft werden, sondern auch eine              Es dauerte, bis sich Rap, der lange Zeit über-
HipHop-Partei gegründet wurde und Rapalben          haupt nicht im Radio stattfand, medial durch-
im Feuilleton neben Filmen von Jim Jarmusch         setzen konnte. Den kulturellen Nährboden für
und Dramen von Elfriede Jelinek besprochen          die Akzeptanz afroamerikanisch dominierter
werden, können Journalisten und Akademike-          Popkultur bei einem breiteren weißen Publi-
rinnen sogar zusätzlich darüber nachdenken, ob      kum sehen die Journalisten Dan Charnas und
HipHop nicht ein ganz wesentlicher Teil einer       Bakari Kitwana durch eine Reihe von Akteuren
alters- und generationsübergreifenden Main­         und Formaten bereitet,07 die zum Teil auch in
stream­kultur geworden ist. Denn „35 Jahre Rap      Deutschland einflussreich waren: Eddie Mur-
in Deutschland“03 haben ihre Spuren hinterlas-      phy mit dem Film „Beverly Hills Cop“, Oprah
sen – in der HipHop-Szene verkehren mittler-        Winfrey mit ihrer gleichnamigen Fernsehshow
weile Akteure aus den Anfangstagen mit Teen-        oder Spike Lee, der als Autorenfilmer das so-
agern, die erst neu dazustoßen. Diese starke        genannte New Black Cinema mitkreierte, aber
generationale Heterogenität zeigt, dass Hip-        selbstverständlich auch die frühen HipHop-
Hop jenseits des biologischen Jugendalters ge-      Filme „Wild Style!“ und „Beat Street“. In den
lebt wird, es also neben dem generellen kulturel-   1980er und frühen 1990er Jahren wurden also
len „Impact“ auch um einen altersunabhängigen       vornehmlich kulturelle Kämpfe um eine Eta-
Lebensstil der „Juvenilität“ geht.04                blierung und wenigstens partielle öffentliche
    Die Etablierung von HipHop in Medien- und       Anerkennung ausgetragen, bevor HipHop als
Bildungsinstitutionen hat insofern auch mit den     akademischer Gegenstand in den USA Fuß fas-
älteren HipHop-Fans zu tun, die ihre Kultur in      sen konnte.
die Redaktionen und Universitäten getragen ha-          Noch etwas mehr Verzögerung gab es dies-
ben. Letzteres führte in den Sozial- und Kultur-    bezüglich in Deutschland, wo sich die ameri-
wissenschaften zu einer thematisch und perspek-     kanischstämmige Kultur zunächst verfestigen

04
Rap APuZ

musste, um dann sukzessive zu einer eigenen kul-                     dienwissenschaftler Rainer Winter, Lothar Mi-
turellen Identität zu gelangen. Die zeitversetz-                     kos und Udo Göttlich in den deutschsprachigen
te Auseinandersetzung mit dem Forschungsge-                          Raum vermittelt, und Popkulturforschung wur-
genstand HipHop hängt hier allerdings auch mit                       de „­salonfähiger“.10
zwei weiteren Faktoren zusammen.                                         Zum anderen musste HipHop zunächst ei-
    Zum einen musste in den Wissenschaften erst                      ner gehaltvollen theoretischen Gegenstandser-
eine normative Perspektive überwunden wer-                           schließung zugeführt werden. Wenn sozial- und
den, der ein elitäres Kultur- und Kunstverständ-                     kulturwissenschaftliche Disziplinen den For-
nis zugrunde lag. Schließlich galt Popkultur lan-                    scherinnen und Forschern ohnehin zur Unter-
ge als nicht untersuchenswert oder -würdig:                          suchung eines Gegenstands „Legitimationsstra-
Der Blick auf Popkultur war über weite Stre-                         tegien“ abverlangen, dann musste auch im Falle
cken durch kulturpessimistische Einschätzun-                         von HipHop eine kultur- und gesellschaftsthe-
gen geprägt, die sich ideologisch nicht zuletzt                      oretische Einbettungsleistung erfolgen. Die-
bei Theodor W. Adornos und Max Horkhei-                              se wurde im Wesentlichen erst 2003 durch eine
mers einflussreicher Arbeit zur Kulturindust-                        soziologische Publikation zur Authentizität
rie und weiteren Beiträgen zu pop(ulär)kultu-                        beziehungsweise realness im HipHop auf den
rellen Themen wie Jazz und Film bedienten.08                         Weg gebracht. Gabriele Kleins und Malte Fried-
Eine Perspektive, die Popkultur und damit auch                       richs Ausführungen in „Is this real? Die Kul-
HipHop aufwertete und den vermeintlich ober-                         tur des HipHop“ wurden in der Folge vielfach
flächlichen, „gleichschalterisch“ wirkenden                          Ausgangspunkt weiterführender Überlegun-
Produkten auch subversiven Gehalt zuerkann-                          gen,11 weil sie halfen, zwei basale kulturelle Eta-
te, boten die britischen Cultural Studies.09 Die-                    blierungs- und Transformationsdynamiken zu
se machtkritische und auf Pop(ulär)kultur fo-                       ­modellieren.
kussierte Disziplin wurde in den vergangenen                             Erstens zeigten sie in Anlehnung an die Ar-
20 Jahren besonders über die Arbeiten der Me-                        beiten zu Habitus, Feld und Kapitalsorten des

01 Im üblichen Sprachgebrauch wird selten unterschieden             „gesellschaftlichen Geschmacksinstanzen“. Vgl. Benjamin Burkhart,
zwischen „Rap“ beziehungsweise „HipHop“ im Sinne einer              Deutscher Gangsta-Rap im Feuilleton, in: Martin Seeliger/Marc
musikalischen Teildisziplin und „HipHop“ im Sinne einer mehrere     Dietrich (Hrsg.), Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um
Teildisziplinen umfassenden Kulturform. Der synonyme Gebrauch       Anerkennung und Integration, Bielefeld 2017, S. 173–191; Marc
ist vor allem durch die mediale Dauerpräsenz von Rap beziehungs-    Dietrich, The Rap Up: Haftbefehls Einbruch in den Feuilleton-
weise HipHop-Musik begründet, die andere HipHop-Disziplinen         Olymp, 15. 12. 2014, http://allgood.de/meinung/kommentare/
wie Graffiti oder Breakdance marginalisiert, die eher als autonom   haftbefehls-einbruch-in-den-feuilleton-olymp; Johann Voigt, Wer
empfunden werden. „Rap“ ist daher in der öffentlichen Wahr-         HipHop mag, der sollte Feuilletons lesen, 14. 11. 2017, http://
nehmung mittlerweile gleichbedeutend mit „HipHop“. In diesem        allgood.de/meinung/kommentare/wer-hiphop-mag-der-sollte-
Beitrag werden die Begriffe synonym als Bezeichnung für die Musik   feuilletons-lesen.
verwendet, wobei mit ihr ein gewisser „Lifestyle“ (Mode, Sprache    09 Vgl. Jürgen Straub, Gangsta-Rap als Popmusik, in: Marc Diet-
etc.) untrennbar verbunden ist, wie er etwa durch Musikvideos       rich/Martin Seeliger (Hrsg.), Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und
vermittelt wird.                                                    kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, Bielefeld
02 Klaus Farin, Jugendkulturen heute – Ein Essay, in: Psychologie   2012, S. 7–21.
und Gesellschaftskritik 2/2011, S. 9–26, hier S. 16.                10 Vgl. Rainer Winter/Lothar Mikos/Udo Göttlich (Hrsg.), Die
03 Vgl. Hannes Loh/Sascha Verlan, 35 Jahre HipHop in Deutsch-       Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und
land, Höfen 2015.                                                   Interventionen, Bielefeld 2001; Rainer Winter/Eve Schiefer, Die
04 Vgl. Ronald Hitzler/Arne Niederbacher, Leben in Szenen.          Politik der HipHop-Bewegung in Mali, in: Marc Dietrich (Hrsg.),
Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 2010.          Rap im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2016, S. 135–152; Lothar
05 Vgl. David Toop, Rap Attack. African Jive to New York HipHop,    Mikos, Kulturelles Gedächtnis und Intertextualität im HipHop, in:
London 1984.                                                        Janis Androutsopoulos (Hrsg.), Globale Kultur – lokale Praktiken,
06 Vgl. Dan Charnas, The Big Payback. The History of the Busi-      Bielefeld 2003, S. 64–85; Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten
ness of HipHop, New York 2010; Bakari Kitwana, Why White Kids       Winter (Hrsg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung,
Love HipHop. Wankstas, Wiggers, Wannabes and the New Reality        Lüneburg 1999.
of Race in America, New York 2005.                                  11 Vgl. Sebastian Schröer, Implikationen und Paradoxien
07 Vgl. ebd.                                                        szeneorientierter (Selbst-)Inszenierung, in: Dietrich/Seeliger
08 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der             (Anm. 9), S. 65–84; Marc Dietrich, Rapresent What? Zur
Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988.            Inszenierung von Authentizität, Ethnizität und sozialer Differenz
Die über weite Strecken popkulturskeptische Perspektive der         im amerikanischen Rapvideo, Bochum–Berlin 2015; Jannis
Kritischen Theorie hat sich lange auch im Feuilleton gehalten.      Androutsopoulos, Lyrics und Lesarten, in: Dietrich (Anm. 10),
Erst seit einigen Jahren ist HipHop regelmäßig Thema in den         S. 171–200.

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APuZ 9/2018

Soziologen Pierre Bourdieu, wie realness im                           sprachigen Jugendkultur- oder Szeneforschung,
HipHop hervorgebracht und reproduziert wird:                          die unter anderem zu HipHop arbeitet, und
Wenn realness für HipHop-Akteure bedeutet,                            einem interdisziplinären, stärker auf die In-
glaubwürdig an gängige, häufig implizite Kon-                         tegration US-amerikanischer Publikationen
zepte des Authentisch- und HipHop-Seins an-                           bedachten Diskursfeld, den sogenannten Hip-
zuschließen, was vor allem über die Integration                       Hop-Studies.13 Dabei sind die kategoriel-
des modischen Stils, die Verwendung spezifi-                          len Zuordnungen vor allem von den theoreti-
scher Codes und Körpersprache erfolgt, der                            schen Bezugspunkten der Beiträge abhängig.14
Körper also eine wichtige Rolle spielt, kann die-                     Tendenziell lässt sich sagen, dass HipHop in
ser Zusammenhang soziologisch gefasst werden.                         der Jugendkultur- und Szeneforschung in ein-
Real­ness ist dann das Ergebnis einer körperlichen                    schlägigen Sammelbänden, Monografien oder
Leistung der Verinnerlichung von HipHop-Ori-                          Schwerpunktausgaben von Fachzeitschriften na-
entierungen und -Werten, wie sie durch eine                           türlich eine wichtige Rolle spielt,15 dabei aber
HipHop-Sozialisation erfolgt. HipHopper ha-                           eher eine breitere HipHop-Betrachtung mit
ben eine Habitualisierung durchlaufen, bei der                        Blick auf Kulturgeschichte, Mode, Geschlecht,
kursierende Werte und Codes dermaßen inkor-                           wirtschaftliche Relevanz, politische Ausrichtung
poriert wurden, dass sie in HipHop-Kontex-                            sowie Event- und Tanzpraxis erkennbar ist als in
ten ohne größere Reflexionsleistungen „authen-                        den auf Einzelphänomene konzentrierten Hip-
tisch“ agieren können und dieser „praktische                          Hop-Studies mit stärker kulturwissenschaftli-
Sinn“ dafür sorgt, dass auch die Bewertung an-                        chem Einschlag.
derer als authentisch erfolgen kann.                                      Ungeachtet der skizzierten Unterschiede und
    Zweitens identifizierten die Autoren eine                         der Tatsache, dass HipHop in den Vereinigten
weltweite Verbreitungs- und Etablierungslogik                         Staaten bereits seit den 1990er Jahren vermehrt
der HipHop-Kultur in kritischer Abgrenzung                            untersucht wird und dies in Deutschland erst seit
zum Konzept der McDonaldisierung des Sozio-                           etwa der Jahrtausendwende der Fall ist,16 soll im
logen George Ritzer zugunsten des Glokalisie-                         Folgenden die HipHop-Forschung übergreifend
rungskonzepts seines Kollegen Roland Robert-                          im deutsch-amerikanischen Vergleich dargestellt
son.12 Demnach funktioniert Rap in den USA                            werden.
als zunächst lokale Kultur, die sich über media-                          Die Herausgeber des bislang einzigen „Hip-
le Produkte wie Tracks und Musikvideos insze-                         Hop-Studies Reader“ lehnen für die US-For-
niert und dabei beispielsweise durch das Mu-
sikfernsehen global Menschen erreicht. Jenseits                       13 Vgl. Martin Seeliger/Marc Dietrich, Gangsta-Rap-Analyse als
des Ursprungslandes werden die HipHop-Me-                             Gesellschaftsanalyse, in: dies. (Anm. 8), S. 7–36.
                                                                      14 Die sozialwissenschaftliche Jugendkultur- und Szeneforschung
diendarstellungen rezipiert und adaptiert. In ei-
                                                                      wird in den vergangenen Jahren vor allem durch die „modernisie-
nem weiteren Prozess formt sich eine landesspe-                       rungstheoretische Jugendkulturanalyse“ bestimmt. Vgl. Heinz-
zifische musikalische Identität aus, insofern die                     Hermann Krüger, Ein Überblick über die Entwicklung und aktuelle
US-stämmigen Muster des Rappens und Perfor-                           Kartographie jugendkultureller Stile, in: ders./Birgit Richard (Hrsg.),
mens vor dem Hintergrund lokaler Gegeben-                             Inter-Cool 3.0. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturfor-
                                                                      schung, München 2010, S. 14. Neben einem Fokus auf ethnogra-
heiten neu kontextualisiert werden – so kombi-
                                                                      fische Zugänge liegen hier typischerweise hermeneutische und
nierten Mitte der 1990er Jahre die Stieber Twins                      wissenssoziologische Bezüge vor. Vgl. etwa Paul Eisewicht/Micha-
aus Heidelberg die New Yorker Beatästhetik mit                        ela Pfadenhauer, Subkulturen, Teilkulturen und Szenen, in: Renate
kurpfälzischen Raps.                                                  Freericks/Dieter Brinkmann (Hrsg.), Drittes Handbuch Freizeitsozio-
                                                                      logie, Wiesbaden 2015, S. 489–512.
                                                                      15 Siehe etwa Krüger/Richard (Anm. 14); Diana Weis (Hrsg.),
                 HIPHOP-FORSCHUNG
                                                                      Cool aussehen: Mode und Jugendkulturen, Berlin 2012; Wilfried
                                                                      Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, Wies-
Innerhalb der Forschung zu HipHop wird bis-                           baden 2011; Hitzler/Niederbacher (Anm. 4); Günter Mey (Hrsg.),
weilen unterschieden zwischen einer deutsch-                          Jugend/kulturen, Psychologie und Gesellschaftskritik 2/2011;
                                                                      ders./Nicolle Pfaff (Hrsg.), Perspektiven der Jugendkulturfor-
                                                                      schung, Diskurs. Zeitschrift für Kindheits- und Jugendforschung
12 Vgl. George Ritzer, The McDonaldization of Society, Newbury        3/2015.
Park 1993; Roland Robertson, Glokalisierung. Homogenität und          16 Vgl. Bell Hooks, Outlaw Culture: Resisting Representations,
Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Perspekti-   Middletown 1994; Tricia Rose, Black Noise. Rap Music and Black
ven der Weltgesellschaft, Frank­furt/M. 1998, S. 198–220.             Culture in Contemporary America, Middletown 1994.

06
Rap APuZ

schung eine disziplinspezifische Verortung ab.                          gen trotz unterschiedlicher Akzente thematische
Als Gemeinsamkeit gegenwärtiger Positionen er-                          Überschneidungen ausmachen, die aufzeigen, un-
kennen sie jedoch einen intersektionalen Ansatz,                        ter welchen inhaltlichen Vorzeichen Forschung
also eine Perspektive, die Sozialphänomene nicht                        zu Rap vornehmlich erfolgt: race beziehungswei-
länger eindimensional, sondern an der Schnitt-                          se Ethnizität,23 Klasse sowie Authentizität und
stelle mehrerer Kategorien wie Geschlecht und                           Gender.
Klasse fokussiert.17 Davon inspiriert zeichnen
sich in den vergangenen Jahren auch viele deut-                                                Race/Ethnizität
sche Beiträge durch diese Zugangsweise aus.18                           In den Vereinigten Staaten werden Rap-Perfor-
Typisch für beide Länder ist, dass die HipHop-                          mances traditionell mit Blick auf Ermächtigungs-
Forschung nicht allein von Wissenschaftlerinnen                         potenziale für die afroamerikanische Community
und Wissenschaftlern betrieben wird, sondern                            untersucht. Unter diesem Vorzeichen wird Rap
auch journalistische Beiträge sowie Kulturakteu-                        in der US-Forschung nicht nur als Ergebnis und
re sehr präsent sind.                                                   Ausdruck sozialer Missstände verhandelt, son-
    Ein Vergleich der US-amerikanischen und                             dern auch mit Blick auf seine Kommerzialisie-
deutschen Forschungslandschaft zeigt aber auch                          rung kritisch reflektiert.24 Teilweise wird auch die
perspektiv- und zugangsbezogene Differenzen:                            Dominanz einer „weißen Kulturindustrie“ sowie
In den Vereinigten Staaten ist die Rapdiskussi-                         die kulturelle Erschließung für weiße Akteure
on stärker politisiert, sie wird an die US-Sozial-                      kritisiert.25 Überwiegend jedoch betrachten US-
geschichte und vor allem die Bürgerrechtsbewe-                          Beiträge Rap als Produkt eines gesellschaftlichen
gung rückgebunden.19 Es dominieren demnach                              Zusammenhangs von unterer Klassenzugehörig-
Beiträge an der Schnittstelle von Journalismus                          keit, sozialer Benachteiligung und eben race, der
und Wissenschaft mit zum Teil normativer Aus-                           sich trotz der Musikvermarktung artikuliere.
richtung, die mitunter auch in Handlungsauffor-                             Deutscher HipHop wird in historisch orien-
derungen münden.20 Die Gründe dafür liegen in                           tierten Arbeiten als ethnisch diverses bis multi-
der Publikumsorientierung der Autorinnen und                            kulturelles Projekt dargestellt, das sich vor allem
Autoren, die ihre Beiträge oft vor dem Hinter-                          durch Medienaufmerksamkeit und selektive Be-
grund eigener Marginalisierungserfahrungen in-                          richterstattung nationalisiert. Während frühere
terventionistisch auslegen.21 In Deutschland do-                        Forschungen die politischen Vereinnahmungs-
minieren hingegen theoretische Abhandlungen                             versuche der deutschen Szene und die Polari-
und empirische Studien, die Bezüge zur hiesigen                         sierungen der 1990er Jahre reflektierten,26 wird
Migrationsgeschichte herstellen.22                                      die deutsche HipHop-Geschichte heute als Aus-
    Insgesamt lassen sich in US-amerikani-                              handlungsprozess kultureller Identität beschrie-
schen wie deutschen HipHop-Forschungsbeiträ-                            ben, der maßgeblich mit der westdeutschen
                                                                        Migrationsgeschichte und Abarbeitungen an ras-
17 Vgl. Murray Forman/Mark Anthony Neal, General Introduc-              sistischen Gesellschaftsdiskursen verbunden ist.27
tion, in: dies. (Hrsg.), That’s the Joint! The HipHop Studies Reader,
New York 20122, S. 1–8.
18 Vgl. Malte Gossmann, Männlichkeit in Raptexten von Bushido           23 Die migrationshistorischen Unterschiede zwischen Deutschland
und K. I. Z., in: Dietrich/Seeliger (Anm. 9), S. 85–108; ders., Der     und den USA haben verschiedene Sprachkonventionen in den
Israel-Palästina-Konflikt im deutschsprachigen Gangsta-Rap aus          Wissenschaften hervorgebracht: Race als analytischer Begriff be-
intersektionaler Perspektive, in: Dietrich (Anm. 10), S. 111–135.       zieht sich auf eine andere historische Konstellation und ist anders
19 Siehe auch den Beitrag von Jeffrey O. G. Ogbar in dieser             besetzt als „Rasse“ in Deutschland, weswegen die deutschsprachige
Ausgabe (Anm. d. Red.).                                                 Intersektionalitätsforschung den Begriff durch „Ethnizität“ ersetzt.
20 Vgl. M. K. Asante Jr., It’s Bigger than HipHop. The Rise of          Siehe dazu Matthias Bös, Rasse und Ethnizität. Zur Problemge-
the Post-HipHop Generation, New York 2008; Todd Boyd/Yusuf              schichte zweier Begriffe in der amerikanischen Soziologie, Wiesba-
Nuruddin, Civil Rights vs. HipHop, in: Forman/Neal (Anm. 17),           den 2005.
S. 438–450.                                                             24 Vgl. Kitwana (Anm. 6, 21); Rose (Anm. 16, 21), S. Craig Wat-
21 Vgl. Bakari Kitwana, The HipHop Generation. Young Blacks             kins, Black Youth and the Ironies of Capitalism, in: Forman/Neal
and the Crisis in African-American Culture, New York 2002; Tricia       (Anm. 17), S. 690–714.
Rose, The Wars of HipHop. What We Talk About When We Talk               25 Vgl. Kitwana (Anm. 6); Gilbert Rodman, Race … and Other
about HipHop – and Why It Matters, New York 2008.                       Four-Letter Words: Eminem and the Cultural Politics of Authenticity,
22 Vgl. Hannes Loh/Murat Güngör, Fear of a Kanak Planet –               in: ebd., S. 95–121.
HipHop zwischen Weltkultur und Nazirap, Höfen 2002; Loh/                26 Vgl. etwa Loh/Güngör (Anm. 22).
Verlan (Anm. 3).                                                        27 Vgl. Loh/Verlan (Anm. 3).

                                                                                                                                         07
APuZ 9/2018

Innerhalb dieser Perspektive wird Ethnizität bei                      oder Erfahrungen „auf der Straße“, „am Block“
der Analyse von Rapinszenierungen als Ressour-                        oder „in der Hood“, also in ethnisch segregier-
ce interpretiert, die türkisch- und arabischstäm-                     ten und marginalisierten urbanen Quartieren
mige Akteure zur Selbstermächtigung einsetzen,                        inszenieren, sondern auch weil bereits der Dis-
ähnlich wie race im US-Diskurs. Besonders das                         kurs um die Inhalte und Performances ein klas-
Subgenre des Gangsta-Rap wird als „Chancen-                           senbezogenes Deutungsmuster dokumentiert,
raum“ für marginalisierte Gruppen gesehen.28                          das sozialwissenschaftlich reflexionsbedürftig
    Weitere Arbeiten, die nicht auf Gangsta-Rap                       erscheint.
fokussiert sind und in denen es um Konstrukti-                            So wurde erst in den Vereinigten Staaten Ende
onen von Ethnizität oder assoziierten Aspek-                          der 1980er Jahre und kurz nach der Jahrtausend-
ten geht, untersuchen lokale Szenen, die im Sin-                      wende auch in Deutschland die Etablierung von
ne von Klein und Friedrich als Resultat eines                         Gangsta- und Straßen-Rap von einem öffentli-
selektiven Aneignens globaler HipHop-Kultur-                          chen Skandalisierungsdiskurs begleitet, dem sich
muster verstanden werden.29 Daraus ergebe sich                        in den USA auch sozialwissenschaftliche Arbei-
eine Heterogenität der Selbstinszenierungen der                       ten und journalistische Beiträge widmeten.33 Ins-
HipHop-Akteure, die sich auch in der sprachli-                        besondere von 2007 bis 2009 kritisierten deutsche
chen Selbstdarstellung äußere, die eben auf unter-                    Medien, dass das zumeist von Migrantinnen und
schiedliche ethnische Bezüge verweise.30 Zudem                        Migranten praktizierte Genre Gewalt- und kri-
wird herausgearbeitet, wie Sprecherpositionen                         minelle Milieupraktiken glorifiziere.34
oder Identitäten im Rap durch (pop)kulturelle,                            Dieser (Stigmatisierungs-)Diskurs, der Gangs-
soziale und politische Bezugnahmen konstituiert                       ta-Rap als bedenkliches Produkt migrantisch-
sind.31                                                               männlicher Parallelgesellschaften in Deutschland
                                                                      und deren devianter Praktiken betrachtete, wur-
                             Klasse                                   de forschungsseitig ebenfalls kritisch untersucht.
In der deutschen Forschung wird speziell mi­                          Vor diesem Hintergrund wurden spätere Medi-
gran­ti­
       scher Rap als Ausdrucksform sozialer                           enberichte zum angeblichen Nexus von HipHop
Ungleichheit betrachtet – teilweise im Sinne ei-                      und Islamismus als Stellvertreterdiskurs einge-
nes Klassenkampfs.32 Diesbezüglich aufschluss-                        ordnet und in den Zusammenhang eines in der
reich ist wiederum das Genre des Gangsta-Rap,                         Bundesrepublik seit Langem etablierten Krisen-
nicht nur weil die Lyrics häufig Beobachtungen                        diskurses um junge Männer mit Migrationshin-
                                                                      tergrund ­gerückt.35
28 Vgl. Marc Dietrich, Herkunft als subkulturelles Kapital im
Gangsta-Rap, in: Aladin El-Mafaalani/Sebastian Kurtbach (Hrsg.),                               Authentizität
Auf die Adresse kommt es an … Segregierte Stadtteile als Pro-
                                                                      Gewissermaßen als Kulminationspunkt der dar-
blem- und Möglichkeitsräume, Weinheim 2015, S. 227–253. Siehe
auch Tim Böder/Aylin Karabulut, Gangsta-Rap als Intervention
                                                                      gestellten Themen race/Ethnizität und Klas-
in Repräsentationsverhältnisse, in: Seeliger/Dietrich (Anm. 8),       se lassen sich praktisch alle amerikanischen und
S. 267–286; Ayla Güler Saied, Rap in Deutschland. Musik als           deutschen Arbeiten betrachten, die sich dezi-
Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerken-          diert Authentizitätskonzepten im Rap widmen:36
nungskämpfen, Bielefeld 2012.
29 Vgl. Murat Güngör/Hannes Loh, Ein Blick auf die Frankfurter
Szene, in: Androutsopoulos (Anm. 10), S. 43–62; ders., HipHop         Repräsentation sozialer Ungleichheit, in: Dietrich/Seeliger (Anm. 9),
und Sprache, in: ebd., S. 111–136; Karin Bock/Stefan Meier/           S. 165–186; ders., Deutscher Gangsta-Rap. Zwischen Affirmation
Gunter Süß (Hrsg.), HipHop Meets Academia. Lokale Spuren eines        und Empowerment, Berlin 2012.
globalen Kulturphänomens, Bielefeld 2007; Gabriele Klein/Malte        33 Vgl. Charnas (Anm. 6). Siehe auch den Beitrag von Martin
Friedrich, Is This Real? Die Kultur des HipHop, Frank­furt/M. 2003;   Seeliger in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
Saied (Anm. 28).                                                      34 Zum Verhältnis von Gangsta-Rap und Kriminalität siehe auch
30 Vgl. Stefanie Menrath, Die Politik der Repräsentation im           den Beitrag von Fabian Wolbring in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
HipHop, in: Androutsopoulos (Anm. 10), S. 218–243.                    35 Vgl. Dietrich/Seeliger, Einleitung, in: dies. (Anm. 9), S. 21–41;
31 Vgl. Dietrich (Anm. 11); Murat Güngör/Hannes Loh, HipHop,          dies., Sozial- und kulturwissenschaftliche Beobachtungen zum Dis-
Migration und Empowerment, in: Seeliger/Dietrich (Anm. 8),            kurs um Integrationsverweigerung und Fundamentalismus, in: Klaus
S. 193–220.                                                           Spenlen (Hrsg.), Gehört der Islam zu Deutschland? Fakten und
32 Vgl. Albert Scharenberg, HipHop als Protest gegen materielle       Analysen zu einem Meinungsstreit, Düsseldorf 2013, S. 253–275.
und symbolische Gewalt, in: Anja Weiß et al. (Hrsg.), Klasse und      36 Das Forschungsthema „Authentizität“ lässt sich fast schon als
Klassifikation. Die symbolische Dimension sozialer Ungleichheit,      Topos beschreiben. Vgl. zur Diskussion ausführlich Forman/Neal
Wiesbaden 2001, S. 243–269; Martin Seeliger, Kulturelle               (Anm. 17), S. 69–223.

08
Rap APuZ

Real­ness gilt im US-Rap als Ergebnis einer Wech-                  oder schlicht bestehende Geschlechterordnun-
selwirkung von race/Ethnizität und Klasse. Ent-                    gen reproduziert werden.42
sprechend wird realness als Konstrukt gefasst, das
vor allem durch Raptexte und zugehörige Perfor-                                 FORSCHUNGSDESIDERATE
mances hervorgebracht sowie durch die Anzeige                                     UND -PERSPEKTIVEN
eines being black und unterer Klassenzugehörig-
keit inszeniert wird. Dabei bildet auch die Be-                    Entlang der skizzierten Kategorien unter-
herrschung milieu- und szenespezifischer Sprach-                   sucht die HipHop-Forschung in den USA und
spiele sowie von (Dress-)Codes einen wichtigen                     Deutschland HipHop-spezifische, soziokul-
Rahmen der Authentifizierung.                                      turell bedeutsame Konstruktionen und Aus-
    Im deutschen Rap entspricht dieser Konsti-                     handlungen und konzentriert sich dabei im-
tutionslogik eine Selbstinszenierung, die häufig                   mer auch auf die kritische Kommentierung und
einen arabischen oder türkischen Hinter­    grund                  Einordnung der Art und Weise, wie diese The-
markiert und Straßenmilieus und (Brennpunkt-)                      men in gesellschaftlichen (Medien-)Debatten
Räume referenziert, die als segregiert und/oder                    verhandelt werden. Damit ist die Analyse von
gefährlich gelten.37                                               HipHop, wo dieser nicht allein auf ästhetische
                                                                   Qualitäten befragt und innerhalb literarischer
                           Gender                                  Traditionen verortet wird, immer auch Gesell-
Durchaus häufig mit den beschriebenen Real-                        schafts- und Kulturanalyse. Trotz mittlerweile
ness-Analysen verbunden sind Studien zu Männ-                      jahrzehntelanger Forschung sind aber noch im-
lichkeitskonstruktionen im HipHop und den                          mer Themen identifizierbar, die ungenügend er-
damit verbundenen Weiblichkeitskonstruktio-                        forscht sind.
nen,38 insofern sie traditionell als Reaktivierun-                     Als ziemlich unterforscht kann beispiels-
gen hegemonialer, oft reaktionärer Männlich-                       weise nach wie vor die HipHop-Musik­indus­
keitskonzepte herausgearbeitet werden.39 Erst                      trie gelten. Eine HipHop-Kulturgeschichte un-
seit einigen Jahren werden stärkere Distanzie-                     ter ökonomischen Vorzeichen zu schreiben, wie
rungen von machistischen Männlichkeitsent-                         dies der Journalist Dan Charnas für den ameri-
würfen diagnostiziert.40                                           kanischen Raum geleistet hat,45 böte die Chan-
    Aufbauend auf der These von Rap als                            ce, das wirtschaftliche Setting, in dem die Kul-
männlich dominierter Praxis, die männliche                         tur sich entwickelt (hat), besser zu verstehen.
Macht mithilfe von Sprachspielen stabilisiert,                     Ein umfassendes Verständnis der HipHop-
werden insbesondere auch Performances von                          kulturellen Etablierung in Deutschland kann
Rapperinnen, ihre Sprache und visuelle Selbst-                     nicht erfolgen, wenn ausschließlich soziale und
präsentation diskutiert. Die grundsätzliche                        kulturelle Faktoren behandelt werden. So ist
Frage lautet, ob dabei die Aneignung männli-                       der im HipHop stark verankerte Gedanke des
cher Praktiken und Sprachspiele subversives                        Do-it-yourself auch wirtschaftlich konnotiert.
oder gar emanzipatorisches Potenzial birgt41                       Denn die Idee, aus den eigenen Ressourcen he-
                                                                   raus Kunst, aber auch Geld zu machen, ist kein
                                                                   Spezifikum des US-amerikanischen HipHop,
37 Vgl. insbes. Dietrich (Anm. 28); Loh/Güngör (Anm. 22).
38 Vgl. Rose (Anm. 16); Judy R. A. T., On the Question of Nigga
                                                                   bei dem die Selbstinszenierung von Anfang an
Authenticity, in: Forman/Neal (Anm. 17), S. 102–116.               stark mit Entrepreneurship assoziiert war: Die
39 Vgl. Rose (Anm. 21); Anne Lenz/Laura Paetau, Von Gangsta-       gesamte HipHop-Geschichte ist geprägt von
Rappern, Orthopäden und anderen Provokateuren, in: Dietrich/
Seeliger (Anm. 9), S. 109–164.
40 Vgl. Gossmann 2012 (Anm. 18), in: ebd., S. 85–108; Ste-         42 Vgl. dazu Klein/Friedrich (Anm. 29), S. 186 ff.; Angelika
phan Szillus, Weirdo-Rap, seine Wurzeln im analogen Untergrund     Baier, Positionen von Frauen im deutschsprachigen Rap, in: Trans.
und seine digitale Diffusion in den Mainstream, in: Dietrich       Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16/2016, www.inst.at/
(Anm. 10), S. 81–91; Anthony Obst, Drake als Vorbote einer         trans/16Nr/05_8/baier16.htm. Zu dieser Frage siehe auch den
inklusiven Männlichkeit im Rap des Internetzeitalters, in: ebd.,   Beitrag von Heidi Süß indieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
S. 55–80.                                                          43 Vgl. Marc Dietrich, Rap im 21. Jahrhundert: Bestandsaufnah-
41 Vgl. Julia Reuter/Tina Bifulco, Schwesta Ewa. Eine Straßen-     me und Entwicklungslinien, in: ders. (Anm. 10), S. 7–26.
Rapperin und ehemalige Sexarbeiterin als Kämpferin für weibliche   44 Vgl. Kai Uwe Hugger (Hrsg.), Digitale Jugendkulturen, Wies-
Unabhängigkeit und gegen soziale Diskriminierung?, in: Seeliger/   baden 2010.
Dietrich (Anm. 8), S. 61–88.                                       45 Vgl. Charnas (Anm. 6).

                                                                                                                                    09
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 der Figur des selbstständigen Unternehmers,         wurzelt sind. Haus-, Bachelor- oder Masterar-
 die sich auch symbolisch in den Texten mittels      beiten analysieren bereits HipHop-Diskurse im
 Figuren wie dem Hustler, dem Geschäftsmann          Internet, haben bislang jedoch zu wenig Eingang
 oder auch dem Ticker beziehungsweise Dealer         in wissenschaftliche Publikationen und damit
­artikuliert.                                        breitere Diskussionszusammenhänge gefunden.
     Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständ­      Dass sich dies bald ändert, ist zu hoffen. Denn
 nisses der Rapperinnen und Rapper als autonom       andernfalls droht die Forschung zusehends hin-
 und erfolgsorientiert hat in den vergangenen        ter die HipHop-Entwicklung zurückzufallen
 Jahren auch die Etablierung von Social Me-          und allein der journalistischen Kommentierung
 dia als Instrument der Online-Selbstvermark-        das Feld zu überlassen.
 tung großen Einfluss entfaltet.43 So wird in vie-
 len Fällen die „Promophase“, aber gerade auch
 die Zeit zwischen den Veröffentlichungen, zur
 Selbstinszenierung oder Verbreitung von Con-
 tent genutzt. Rapper verwenden dabei cross-
 mediale Strategien, indem sie zum Beispiel ein
 Musikvideo zur ersten Single nicht nur in ei-
 nem einschlägigen Portal hochladen, sondern
 es häufig auch mit einer Kommentierung ver-
 sehen, bei der unter anderem auf weitere Ka-
 näle verwiesen wird, auf denen der Musiker
 repräsentiert ist und die ihrerseits aufeinander
 verweisen.
     Eng verknüpft mit der sehr früh erfolgten
 Adaption von Social Media im HipHop ist das
 ebenfalls bislang unterforschte Themenfeld der
 digitalen Kultur. Bereits 2010 verwies der Band
 „Digitale Jugendkulturen“ auf die Notwendig-
 keit, das Internet als Ort der Vergemeinschaf-
 tung und Aushandlung von Jugendkulturen zu
 untersuchen,44 HipHop-Forschung findet hier
 aber kaum statt. Bis heute dominieren in der
 Forschung vor allem ethnografische und/oder
 interviewbasierte Studien sowie Textinterpreta-
 tionen. Damit werden besonders Daten zu Be-
 reichen relevant gemacht, die auch schon vor
 der Etablierung von Internet und Social Media
 bestanden. Sowohl für die deutsche als auch
 für die US-amerikanische Forschung gilt, dass
 zwar Bereiche erforscht werden, die noch im-
 mer und zweifellos wichtig für die Formierung
 und den Wandel von HipHop-Phänomenen
 sind. Dies impliziert aber auch, dass wichtige
 Forschungen zu Szene(-Meta-)Diskursen im
 Internet, die insbesondere über Social Media        MARC DIETRICH
 erfolgen und zu denen etwa auch szeneseitige        ist promovierter Soziologe und wissenschaftlicher
 Kommentierungen von Musikvideos gehören,            Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kommu-
 gänzlich fehlen.                                    nikationswissenschaft der Alpen-Adria-Universität
     Diese Themen werden seit einigen Jahren im-     Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
 mer häufiger in Arbeiten von Nachwuchswissen-       den Bereichen Popkultur, Szene- und Rassismusfo-
 schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern        schung, Medienanalyse und qualitative Methoden.
 verhandelt, die häufig selbst in der Szene ver-     marc.dietrich@aau.at

10
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                     RAPKULTUR UND POLITIK
                       Eine US-amerikanische Geschichte
                                        Jeffrey O. G. Ogbar

HipHop setzt sich laut traditioneller Definition aus   nun Schwarze gab, die die Straße entlang gingen
vier Elementen zusammen, die von vier Rollen ver-      und behaupteten ‚Ich bin der Größte‘“.01
körpert werden: dem DJ (oder Turntablist), dem             Dem HipHop-Forscher Imani Perry zufolge
Rapper (oder Master of Ceremony, im Folgenden          verkörperte Ali „eine der Grundvoraussetzungen
MC), dem B-Boy/​B-Girl (oder Breakdancer) und          für das explosionsartige Vordringen des HipHop,
dem Graffiti-Writer. Historisch gehen diese vier       einer künstlerischen Variante traditioneller schwar-
Elemente auf die sozialen, wirtschaftlichen und po-    zer Kulturformen, in die amerikanische Popkul-
litischen Wirren der frühen 1970er Jahre und die       tur“.02 Der Zeitgeist, der unter jungen Schwarzen
South Bronx in New York City zurück. Offizi-           in den Vereinigten Staaten der frühen 1970er Jahre
ell erfasst wurden sie im November 1973 von der        herrschte, war derart, dass sie nicht nur explizit das
ersten HipHop-Organisation, der Universal Zulu         Schwarzsein feierten, sondern auch von Ali inspi-
Nation. Der Name dieser Organisation – in erster       riertes Selbstvertrauen, großspuriges Auftreten so-
Linie eine Art Kulturverein junger Leute – spie-       wie Respektlosigkeit gegenüber kulturellen Kon-
gelt den fundamentalen politischen Einfluss und        ventionen an den Tag legten. Im Verbund mit der
die kulturelle Wirkung der Black-Power-Bewe-           breiter gefassten Ästhetik der Black Arts, einer Be-
gung wider, die ihren Höhepunkt erlebte, als sich      wegung, zu der verschiedene Musikgenres zählten,
HipHop noch im Anfangsstadium befand.                  war Ali das Erfolgsrezept für die kulturelle Grund-
                                                       lage des HipHop, auch wenn die neue Kunstform
                 BLACK POWER                           nicht explizit politisch engagiert war.
                  UND HIPHOP                               Tatsächlich wurde HipHop auch von afroame-
                                                       rikanischen Musikgenres mit langer Tradition be-
Wie alle kulturellen Phänomene geht HipHop auf         einflusst, von Jazz über Rock und Disco bis hin
eine Reihe komplexer und vielschichtiger Entwick-      zu Funk. Doch was hier von einer Generation zur
lungen zurück, zu denen über die Musik hinaus          nächsten weitergegeben wurde, war mehr als Mu-
der kühne, respektlose Stil, das Selbstbewusstsein     sik. Wie der Kulturwissenschaftler Reiland Raba-
und die Prahlerei gehörten, die den zu jener Zeit      ka schreibt, „haben HipHopper, wenngleich un-
berühmtesten Schwarzen der Welt auszeichneten:         bewusst, sowohl die kulturelle Ästhetik als auch
den Schwergewichts­champion Muhammad Ali.              die konservative, liberale und radikale Politik frü-
    Ali, sichtbarstes Mitglied der größten schwar-     herer afroamerikanischer Kulturästhetik sowie
zen nationalistischen Organisation in den Verei-       anderer gesellschaftspolitischer Bewegungen ge-
nigten Staaten, der Nation of Islam, trat als Schü-    erbt“. Tatsächlich ging es bei dieser neuesten Er-
ler von deren Sprecher Malcolm X in Erscheinung.       scheinungsform schwarzer Kulturproduktion um
Hellsichtig merkte dieser an, dass Ali dadurch,        mehr als Gesang und Tanz. Unter Anspielung auf
dass er Champion geworden war, die weit verbrei-       Amiri Barakas klassische Studie über afroamerika-
teten Darstellungen von Schwarzen als Menschen         nische Musik, „Blues People“ von 1963, merkt Ra-
ohne Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und            baka an, dass „schwarze Musik schon immer mehr
Kampfgeist ad absurdum führe. Denn der Box-            als nur Musik gewesen ist. Sie ist die Musik der
kämpfer sei „das genaue Gegenteil von allem, was       Ausgegrenzten und Verstoßenen, die (…) dunklen
charakteristisch für das Neger-Image war. Er be-       Rhythmen des Hervortretens aus den Schattensei-
hauptete, er sei der Größte.“ Ali bereitete den Ur-    ten von und den Verbannungen in Amerika.“03
hebern von popkulturellen Karikaturen des un-              Diese Vorstellung, dass schwarze Musik die
terwürfigen Schwarzen Kopfzerbrechen, weil „es         Erfahrungen Schwarzer anspricht – sich durch

12
Rap APuZ

unwirtlichen Raum zu bewegen, gegen Ignoranz                               auf Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe
und Hass anzukämpfen und sich zugleich Frei-                               mögen keine Kernanliegen der Black Communi-
räume für Freude und Schönheit zu erkämpfen –,                             ty sein. Sie lehnt sie aber auch nicht in einer In-
macht HipHop gewissermaßen von Natur aus                                   tensität ab, die ihre Unterstützung progressiver
politisch. Das Zelebrieren von schwarzer Freude,                           Politik allgemein gefährden könnte.05
Kreativität, Erneuerung und schwarzem Mensch-                                   Vor diesem Hintergrund kann es kaum über-
sein in einer darauf fokussierten Kunstform ist                            raschen, dass sich politische Äußerungen in einer
ein subversiver, gegenhegemonialer politischer                             populären schwarzen Kunstform grundsätzlich
Akt. Aus diesem Grund ist HipHop seit seinen                               an einer Politik links der Mitte ausrichten und
Anfängen mit der Black Community ­verbunden.                               zuweilen sogar über den typischen Liberalismus
    Afroamerikaner teilen mehr als jede andere                             hinausgehen, wie er vom Gros der schwarzen po-
Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten                              litischen Klasse befürwortet wird. Dennoch war
eine politische Prägung. Während Weiße politi-                             Rap anfangs zum großen Teil apolitische Party-
sche Verhaltensmuster zeigen, die sich traditio-                           musik mit prahlerischem Duktus und eher spär-
nell je nach Wohnort, Bildungsniveau, Alter und                            lich geäußerter Gesellschaftskritik, obwohl er
Geschlecht deutlich voneinander unterschei-                                in kommerziellen Bereichen ausschließlich von
den, wählen Afroamerikaner in ihrer überwäl-                               schwarzen Rappern und DJs verkörpert wurde.
tigenden Mehrheit links von der Mitte.04 Poli-
tikwissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen                                            „WAR ON DRUGS“
als „verknüpftes Schicksal“: Demzufolge ist für                                      UND POLITISIERUNG DES RAP
Afroamerikaner die ökonomische, kulturelle
und soziale Landschaft der Nation so stark von                             Als sich hingegen ab Mitte der 1980er Jahre die
Rassenzugehörigkeit beeinflusst, dass die Black                            Geißel Crack in den Städten ausbreitete, waren
Community nicht entlang unterschiedlicher Inte-                            die schwarzen Communities Ausgangspunkt für
ressen in Klassen-, regionale oder geschlechtsspe-                         traumatisierende Gewalttaten, den Ausbau des
zifische Gruppierungen zerfällt.                                           Polizeistaats und Massenverhaftungen. Rap war
    Mögen schwarze Milliardäre wie die TV-Mo-                              das erste Genre, das diese Entwicklungen direkt
deratorin Oprah Winfrey und der Unterneh-                                  und umfangreich thematisierte, sodass sich die
mer Robert Johnson von Steuerentlastungen für                              Kunstform in der Folge politisierte.
Reiche profitieren, so sind sie doch davon über-                               Seitdem hat der illegale Drogenhandel mit all
zeugt, dass Sozialleistungen für die Schwächsten                           seinen Verwicklungen unauslöschliche Spuren in
der Gesellschaft dem Allgemeinwohl dienen, wie                             der Kernästhetik, dem Stil, der Ikonografie und
bessere Bildungschancen, ein umfangreicherer                               den Botschaften des HipHop hinterlassen. Tat-
Zugang zur Gesundheitsversorgung, ein höhe-                                sächlich war für die lyrische Landschaft des Rap
rer Mindestlohn und ein Ende der Masseninhaf-                              keine Kraft von so herausragender Bedeutung wie
tierung. Andere links von der Mitte angesiedel-                            der Drogenhandel. Ob Rapper sich nun als MC,
te politische Ziele wie Umweltschutz, das Recht                            Revolutionär, Gangster oder Underground be-
                                                                           zeichneten, bei ihren Auftritten bezogen sie sich
                                                                           auf das Thema und verwendeten dabei Tropen, die
01 Malcolm X Talks About Muhammad Ali, 12. 2. 2012,
www.youtube.com/watch?v=46IT7oihgtY.
                                                                           in der Folge untrennbarer Bestandteil ihrer künst-
02 Imani Perry, Prophets of the Hood: Politics and Poetics in              lerischen Identität wurden. Der Drogenhandel im
HipHop, Durham 2004, S. 58.                                                Allgemeinen und der Handel mit Crack im Be-
03 Reiland Rabaka, Hip Hop’s Inheritance: From the Harlem Re-              sonderen wurde ein zentraler, symbolträchtiger
naissance to the HipHop Feminist Movement, New York 2011, S. 4 f.
                                                                           Bezugspunkt der HipHop-­Authentizität.
04 Vgl. David A. Bositis, Blacks and the 2004 Democratic Nati-
onal Convention, Joint Center for Political and Economic Studies,
Washington, D. C. 2004, S. 9; ders., The Black Vote in 2004, Joint
Center for Political and Economic Studies, Washington, D. C. 2005;         05 Vgl. Michael C. Dawson, African American Political Opinion:
R. W. Apple Jr., G. O. P. Tries Hard to Win Black Votes, But Recent His-   Volatility in the Reagan-Bush Era, in: Hanes Walton, Jr. (Hrsg.),
tory Works Against It, 19. 9. 1996, www.nytimes.com/1996/09/19/            African American Power and Politics, New York 1997, S. 135–153;
us/gop-tries-hard-to-win-black-votes-but-recent-history-works-             Claudine Gay/Katherine Tate, Doubly Bound: The Impact of Gender
against-it.html; Frank Newport, Race, Ethnicity Split Democratic Vote      and Race on the Politics of Black Women, in: Political Psychology
Patterns, 31. 1. 2008, http://news.gallup.com/poll/104062/Gallup-          1/1998, S. 169–184; Paula S. Rothenberg, Race, Class, and Gen-
Analysis-Race-Ethnicity-Split-Democratic-Vote-Patterns.aspx.               der in the United States: An Integrated Study, New York 1995.

                                                                                                                                         13
APuZ 9/2018

Abbildung 1: Public Enemy 1988
Quelle: Getty Images, Kevin Cummins

    Songs wie „8 Million Stories“ (1983) von Kur-                 FREIHEITSKAMPF
tis Blow und Run-DMC, oder „The Message“                         VERSUS NIHILISMUS
(1982) von Grandmaster Flash and the Furious
Five thematisierten Drogenhandel, Verbrechen        Unauslöschlich geprägt wurde das Genre von ei-
und Verwahrlosung und lieferten abschrecken-        ner politischen Wende, die 1988 ihren Anfang
de Beispiele dafür, welch zerstörerische Folgen     nahm, als zwei bahnbrechende LPs veröffentlicht
Sucht, Kriminalität und Armut haben können.         wurden: „It Takes a Nation of Millions to Hold Us
Der HipHop trat in eine neue Ausdrucksphase,        Back“ von der New Yorker Gruppe Public Enemy
die einen besonderen Blick auf die soziale und      und „Straight Outta Compton“ von N.W.A (Nig-
politische Landschaft jener Communities bot, die    gaz Wit Attitudes) aus Los Angeles. Zwar wa-
Rap kultivierten. Dieses Maß an politischer Wil-    ren beide gegenhegemoniale, subversive Stimmen
lensbekundung war in der Popmusik der 1980er        und thematisierten soziale Missstände, ideologisch
Jahre einzigartig. Denn obwohl afroamerika-         standen sie jedoch einander gegenüber.
nische Communities durch hohe Arbeitslosen-             Public Enemy verankerten ihren Stil und ihre
quoten, Armut, Kriminalität und eine neuerliche     Ästhetik explizit in der radikalen schwarzen Tra-
Drogenplage belastet wurden, schwiegen schwar-      dition. Sie bezogen sich auf schwarze Freiheits-
ze Musiker außerhalb der Rapszene zu diesen         kämpfer wie Nelson Mandela, Assata Shakur
Themen.                                             oder den berühmtesten Anführer von Sklaven-
    Gegen Ende des Jahrzehnts war die Politi-       aufständen in den Vereinigten Staaten, Nat Tur-
sierung des Genres so weit fortgeschritten, dass    ner, und ihr Sicherheitsteam trug Kleidung, die
Rapkünstler sich über das Thema des Drogen-         von den Anhängern der Black Panther Party ins-
handels hinaus in ihren Songs zunehmend auch        piriert war (Abbildung 1).
mit Bildungspolitik, dem Gesundheitssystem,             Demgegenüber zelebrierten N.W.A Prügeleien,
Polizeigewalt, Apartheid sowie Masseninhaftie-      Frauenfeindlichkeit sowie nihilistisches Gangster-
rung kritisch auseinandersetzten.                   Draufgängertum, während sie sich wie Mitglieder

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Rap APuZ

Abbildung 2: N.W.A 1989
Quelle: Getty Images, Raymond Boyd

von Straßengangs in Los Angeles kleideten (Abbil-    rer Sucht wird. Diese Songs beschreiben Crack-
dung 2). Zwar scheuten sich N.W.A vor schwar-        süchtige unmissverständlich als im schlimmsten
zenfreundlichen Narrativen, mit denen White Su-      Fall ekelhaft und erbärmlich sowie als im besten
premacy, also die Ideologie weißer Überlegenheit,    Fall tragische, schwache und verlorene Seelen.
explizit angeprangert wurde. Doch mindestens         Nirgends wird die Einnahme von Crack romanti-
zwei Songs der Band – „Fuck tha Police“ und „Ex-     siert oder als cool betrachtet, die Droge gilt als zer-
press Yourself“ – strahlten den zunehmend poli-      störerische Kraft und Plage für die ­Community.
tisch aufgeladenen Geist im Rap aus, der sich nun        Anfang der 1990er Jahre entbrannte ein regel-
von prahlerisch daherkommenden Party-Erzäh-          rechter ideologischer Wettstreit darüber, wessen
lungen löste.                                        subversive Stimme am überzeugendsten war. Da-
    Es waren vor allem die politisch aufgelade-      bei setzten sich die musikalischen Nachfahren von
nen Songs von Public Enemy, die in der Rap­          N.W.A gegenüber denen von Public Enemy durch.
szene auf enormen Widerhall stießen. Die Grup-       Das Genre, das unter der Bezeichnung „Gangsta-
pe veröffentlichte ein ganzes Stück, in dem sie      Rap“ Bekanntheit erlangte, gewann in den Reihen
die Schrecken von Crack thematisierten: In dem       der weißen Basis von Rapkonsumenten an At-
Song „Night of the Living Baseheads“ (1988)          traktivität, während letzteres als „Conscious Rap“
spricht Lead-Rapper Chuck D von „shame on            bezeichnet wurde, „sozial verantwortungsbe-
a brother“, weil er Crack verkauft, und prangert     wusster Rap, der sich gezielt an historischen Vor-
den Blutzoll an, den dieser Handel fordert.          bildern politischen Protests und an fortschrittli-
    Im Verlauf der beiden folgenden Jahre taten es   chen, gesellschaftskritischen Kräften orientiert“.06
ihnen Dutzende anderer Rapper gleich. Die Grup-      Da er sich enger an der Politik des verknüpften
pe Brand Nubian blickt in ihrem Track „Slow          Schicksals in der Black Community orientierte,
Down“ (1990) ähnlich kritisch auf eine Crack-
süchtige und veranschaulicht in ihren Versen, wie    06 Michael Eric Dyson, Know What I Mean: Reflections on
fratzenhaft und unattraktiv eine Frau im Laufe ih-   HipHop, New York 2010, S. 64.

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APuZ 9/2018

übte Conscious Rap auf weiße Fans weniger An-           ckelt, während das Genre selbst immer beliebter
ziehungskraft aus als Gangsta-Rap.                      wurde und ein größer werdendes Segment wei-
     Die Drogennarrative verbanden sich zuneh-          ßer Konsumenten für sich gewinnen konnte. The
mend mit einer allgemeinen Verurteilung korrup-         Notorious B. I. G., Lil’ Kim, Jay-Z, Too Short,
ter Institutionen, zu denen die Polizei, das So-        Three 6 Mafia, Snoop Dogg, Dr. Dre sowie zahl-
zialsystem sowie die Regierung im Allgemeinen           reiche andere veröffentlichten vielerlei Songs,
zählten. In seinem Song „When Will They Shoot“          in denen es darum ging, wie der Drogenhandel
(1994) konstruiert Ice Cube den Drogenhan-              Menschen zu Reichtum verhalf, vermischt mit
del als Erweiterung eines breit angelegten Plans        frauenfeindlich geprägten Tropen, Erzählun-
zum Völkermord an Schwarzen und bezichtigt              gen von der Ermordung von „Niggas“ und ei-
die US-Regierung: „Uncle Sam is Hitler without          nem allgemeinen Schweigen in Bezug auf White
an oven/Burning our black skin, bomb the neigh-        ­Supremacy.
borhood, then push the crack in.“                           In den Texten von The Notorious B. I. G. ka-
     Gleichzeitig fand eine bemerkenswerte Ver-         men radikale nationalistische Positionen, wie sie
änderung in der kommerziellen Rapmusik statt:           etwa bei Ice Cube, Brand Nubian oder X-Clan zu
Apolitische, ohne Flüche auskommende, nicht             hören waren, ebenso wenig vor wie revolutionä-
gesellschaftsfeindliche, nicht sexistische, lebens-     re Standpunkte à la The Coup, Paris oder Public
frohe Partymusik war wirtschaftlich nicht mehr          Enemy. Stattdessen verkündeten sie, verpackt in
lebensfähig. Zwei 1990 veröffentlichte LPs, näm-        effektvoller lyrischer Gewandtheit, zutiefst frau-
lich „To the Extreme“ von Vanilla Ice und „Please       enfeindlichen Versen und hervorragender musi-
Hammer Don’t Hurt ’Em“ von MC Hammer                    kalischer Produktion, schlichtweg die Kapitulati-
läuteten diese Entwicklung ein. Ihr beispiello-         on vor den Verhältnissen in den Ghettos.
ser kommerzieller Erfolg – beide LPs verkauften             Und während sich „Biggies“ Tendenz, das
sich besser als sämtliche Rapalben zuvor – kam          Dealen mit Crack zu verherrlichen, von den Rän-
dank einer überwiegend weißen Fanbasis zustan-          dern in das Zentrum der HipHop-Drogenthemen
de. Dies sowie der apolitische Stil, bei dem auf die    schob, rückten Motive an den Rand, die den Dro-
Krisen im schwarzen Amerika weder mit radika-           genhandel als zerstörerische Kraft für Schwarze
len Bekenntnissen wie von Public Enemy noch             behandelten.07 Diese Marginalisierung politisch
mit nihilistischer Souveränität, wie sie N.W.A          subversiver Texte war in gewissem Maße Folge
zu eigen war, eingegangen wurde, veranlasste die        eines beispiellosen Drucks seitens verschiedener
vor allem aus jungen Schwarzen bestehende ein-          Fangemeinden, die sich gegen Rap wandten, in
gefleischte HipHop-Community zu ätzender                dem explizit die Polizei als rassistisch oder Politi-
­Kritik. Verhöhnt und verspottet, wurden Vanil-         ker als korrupt attackiert wurden.
la Ice und MC Hammer zu Symbolen des „Bub-                  Dem HipHop-Forscher Murray Forman zu-
blegum-Rap“, wie er hämisch bezeichnet wurde.           folge „sträubten sich große Plattenfirmen häufig
     In der Folge wurde es zunehmend schwierig,         dagegen, Musiker mit explizit politisierter Hal-
als Rapper glaubwürdig zu bleiben, wenn man             tung unter Vertrag zu nehmen, und gaben ent-
der Situation von Afroamerikanern keine oder            weder zu verstehen, die Thematik sei zu eng auf
zu wenig Aufmerksamkeit widmete. Dabei war              kulturelle Belange von Schwarzen ausgelegt und
wiederum der Drogenhandel vorrangiger Tro-              drohe den weit größeren weißen Verbraucher-
pus. Dennoch begann in dieser kritischen Pha-           markt abzuschrecken, oder sie äußerten dahin-
se der Geschichte des kommerziellen HipHop              gehend Bedenken, dass die aufrührerischen Texte
eine Diskrepanz zwischen den zentralen politi-          des politischen Conscious Rap den Zorn konser-
schen Anliegen der Black Community und dem,             vativer Kulturhüter oder Politiker auf sich ziehen
was kommerzielle Rapkünstler artikulierten,             könnten und dadurch die Reputation des Labels
 ­hervorzutreten.                                       aufs Spiel gesetzt würde“. Rapper wie Paris, die
                                                        revolutionäre Politik befürworteten, sowie Pu-
              MARGINALISIERUNG
               DES POLITISCHEN
                                                       07 Künstler wie X-Clan, The Coup, Paris oder Talib Kweli, die Ko-
                                                       kainhandel unmissverständlich als von Natur aus gegen Schwarze
Mitte der 1990er Jahre hatte sich die Art der poli-    wirkend verurteilten, veröffentlichten zwar weiter, erreichten aber
tischen Willensbekundung im Rap weiterentwi-           nie eine Platin-Schallplatte.

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