Gerechtes Aufwachsen ermöglichen Bildung - Integration - Teilhabe
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1/2008 Deutsches Jugendinstitut e.V. Gerechtes Aufwachsen ermöglichen Bildung – Integration – Teilhabe Beiträge des DJI zum 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag DJI Bulletin PLUS Bildung, Integration, Teilhabe – Wie steht es mit der Gerechtigkeit? DJI Bulletin 81 1/2008 1
Seite 3 Editorial Das Deutsche Jugendinstitut e. V. ist ein außer- universitäres sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut. Berichte zur Bildung Seine Aufgaben sind anwendungsbezogene Grundla- genforschung über die Lebensverhältnisse von Kindern, Seite 4 Thomas Rauschenbach Jugendlichen und Familien, Initiierung und wissenschaft- Gerechtigkeit durch Bildung? liche Begleitung von Modellprojekten der Jugend- und Seite 8 Christian Alt, Andreas Lange Familienhilfe sowie sozialwissenschaftliche Dienstleistun- gen. Das Spektrum der Aufgaben liegt im Spannungs- Neue Ansätze der Kindheitsforschung feld von Politik, Praxis, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Seite 11 Tanja Betz, Pia Rother Das DJI hat dabei eine doppelte Funktion: Wissenstrans- Frühe Kindheit im Fokus der Politik fer in die soziale Praxis und Politikberatung einerseits, Rückkopplung von Praxiserfahrungen in den For- Seite 13 Nora Gaupp, Tilly Lex, Birgit Reißig schungsprozess andererseits. Träger des 1963 gegrün- Hauptschüler chancenlos? deten Instituts ist ein gemeinnütziger Verein mit Mitglie- Seite 15 Heinz-Jürgen Stolz dern aus Institutionen und Verbänden der Jugendhilfe, Bildung lokal verantworten – Lebenslanges Lernen gestalten der Politik und der Wissenschaft. Dem Kuratorium des DJI gehören Vertreter des Bundes, der Länder, des Seite 16 Michaela Glaser, Susanne Klingelhöfer Trägervereins und der wissenschaftlichen Mitarbeiter- »Feuerwehrpolitik« oder nachhaltige Zusammenarbeit? schaft des DJI an. Seite 18 Kathrin Thrum, Alexandra Sann Das DJI hat z. Zt. folgende Forschungsabteilungen: Kinder und Kinderbetreuung, Jugend und Jugendhilfe, Stärkung der Erziehung in der Familie – Familie und Familienpolitik, Zentrum für Dauerbeobach- Chancen und Grenzen der Arbeit mit Laien tung und Methoden sowie die Forschungsschwerpunkte Seite 20 Elisabeth Helming, Barbara Thiessen »Übergänge in Arbeit«, »Migration, Integration und Gerechtigkeit für alle – oder: Die einen fördern, interethnisches Zusammeleben«, »Gender und Lebens- planung«, ferner eine Außenstelle in Halle. die Anderen überwachen? Berichte zur Teilhabe Impressum Seite 22 Heinz Kindler Herausgeber und Erscheinungsort: Pflegekinder nicht ins Hintertreffen geraten lassen Deutsches Jugendinstitut e. V. Nockherstraße 2, 81541 München, Deutschland Seite 23 Elisabeth Helming, Kathrin Thrum Das Dilemma sozialer Ungleichheit Presserechtlich verantwortlich: zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie Prof. Dr. Thomas Rauschenbach Redaktion: Dr. Jürgen Barthelmes Seite 25 Alexandra Sann, Reinhild Schäfer Telefon: 089 6 23 06-180, Fax: -265, Frühe Hilfen zwischen Helfen und Kontrollieren E-Mail: barthelmes@dji.de Seite 28 Sandra Ebner, Franziska Wächter, Diana Zierold Stephanie Vontz Telefon: 089 6 23 06-311, Fax: -265, »Ich finde, Politik ist gar nicht so schlimm, E-Mail: vontz@dji.de wie alle Jugendlichen denken« Vertrieb: Stephanie Vontz Seite 30 Nicola Gragert, Christian Peucker, Liane Pluto, Mike Seckinger Telefon: 089 6 23 06-311, E-Mail: vontz@dji.de Angebote der Kinder- und Jugendhilfe als Beitrag zur Teilhabe Satz, Gestaltung: Anja Rohde, Hamburg Berichte zur Integration Druck und Versand: grafik + druck GmbH, München Seite 32 Jan Skrobanek Bildnachweis: Migration, Anerkennung und kulturelle Differenzierung alle Fotos: Lennart Preiss, München Seite 33 Hanna Permien ISSN 0930-7842 Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug Das DJI-Bulletin erscheint viermal im Jahr. Seite 34 Susanne Nothhafft: Alle Hefte sind kostenlos. Der Vorrang des Kindeswohls nach Art. 3 der Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Mei- UN-Kinderrechtskonvention – fehlende Umsetzung in die nung der Autorinnen und Autoren wieder. bundesdeutsche Rechtspraxis Der kostenlose Bezug erfolgt auf schriftliche Anforde- rung an die Redaktion. Geben Sie bei einer Adressen- Seite 36 Bundesjugendkuratorium änderung bitte auch Ihre alte Anschrift an. Die Adressen Kein falscher Aktionismus beim Kinderschutz (Stellungnahme) der Abonnenten sind in einer Adressdatei gespeichert Seite 38 Bundesjugendkuratorium und werden zu Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit des DJI Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche verwendet. Kostenloser Nachdruck nur nach Rücksprache mit der (Stellungnahme) Redaktion sowie unter Quellenangabe und gegen Belegexemplar gestattet. DJI Bulletin PLUS Frank Braun, Kirsten Bruhns, Wibken Düx, Hans Rudolf Leu, Download (pdf) und HTML-Version unter Gerald Prein, Erich Sass www.dji.de/bulletins Bildung, Integration, Teilhabe – Wie steht es mit der Gerechtigkeit? Bulletinbestellung: www.dji.de/bulletinbestellung.htm Seite 40 Publikationen Vorschau: DJI Bulletin 82 Themenheft Kinderwelten – Familienwelten Qualitative Sozialforschung am DJI 2 DJI Bulletin 81 1/2008
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, »Gerechtes Aufwachsen ermöglichen!« – ration und interethnisches Zusammenle- In eigener Sache: Das DJI Bulletin 81 ist dem Thema des ben« vorgestellt und in Bezug zur Frage Im Bulletin 81 »Gerechtes Aufwachsen 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfe- nach »sozialer Gerechtigkeit« gesetzt. ermöglichen!« werden wir keinen tages gewidmet (18.–20. Juni 2008 in Informationsteil aufnehmen, sondern Essen). Was ist soziale »Gerechtigkeit«, was ist dieses Heft allein auf die Beiträge zum – Was ist soziale »Gerechtigkeit«, was eine »gerechte« Gesellschaft? Thema des 13. Deutschen Kinder- und ist eine »gerechte« Gesellschaft? Das chinesisch-japanische Jugendhilfetages beschränken, gleichsam – Welche Voraussetzungen müssen Schriftzeichen für »Was« ist als ein »Programmheft« des DJI zu die- gegeben sein, damit alle Kinder und eine Abstraktion des ursprüng- sem Kongress. Jugendlichen sich optimal entwickeln lichen Bildes, bei dem zwei Zeitnah wird das Bulletin 82 zum können? Menschen eine Stange tragen, Thema »Qualitative Sozialforschung am – Welche notwendigen Befähigungen an der etwas hängt. Die anderen DJI« erscheinen, in dem dann der Info- und Kompetenzen sind für eine gelin- Leute, die das sehen, fragen teil wieder aufgenommen ist. gende Lebensführung erforderlich? sich, WAS da wohl drin ist? – Inwieweit können sich die jungen Im DJI Bulletin 80 »Kindertages- Menschen auf das Wissen und die Der Fotojournalist Lennart Preiss hat die betreuung in Deutschland« hat uns der Erfahrungen der Erwachsenen bzw. Frage nach sozialer Gerechtigkeit aufge- Druckfehlerteufel ein Schnippchen ge- Eltern verlassen? griffen, indem er Tüten, Taschen, Map- schlagen: – Was macht Familien zu benachteilig- pen und Koffer ins Visier nahm als Sym- Auf Seite 13 muss die Überschrift ten Familien? bole für Sein und Haben: lauten: »14 Milliarden Euro für Kinder« – Was heißt Bildungsgerechtigkeit, Was ist da drin, was trägt dieser (und nicht »… für Kinder unter drei Jah- Integrationsgerechtigkeit, Teilhabe- Mensch mit sich, hat er alles, was er ren«). gerechtigkeit? braucht? Seite 32: Der Parlamentarische – Inwieweit können Kinder und Jugend- Was verraten uns Tüten, Taschen, Abend des DJI fand am 19. September liche befähigt werden, sich für oder Mappen und Koffer über die anderen, 2007 statt, und nicht am 19.02.2007. gegen eine bestimmte Weise der Le- oder unterliegen wir da eher Täuschun- Wir bitten um Entschuldigung. bensführung zu entscheiden, sowie gen? ein eigenes Konzept für ein gelingen- Kann man den Menschen ihre Mit herzlichen Grüßen des Leben zu entwickeln? Lebenslage ansehen? Jürgen Barthelmes – Welche Voraussetzungen, Gelegenhei- Welche Vorstellungen machen wir uns Stephanie Vontz ten und Fähigkeiten sind unabding- von den anderen? bar, um ein gerechtes Aufwachsen für Was brauchen wir (bzw. auch nicht), die jungen Menschen zu ermöglichen damit es bei uns und den anderen »ge- bzw. zu verwirklichen? recht zugeht«? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DJI stellen in diesem Heft (sowie auf dem Jugendhilfetag in Essen) zu den Be- reichen »Bildung – Integration – Teil- habe« empirische Ergebnisse vor, formu- lieren Thesen zur »Gerechtigkeit« und geben Anregungen für Politik und Praxis. Das Themenspektrum im DJI Bulle- tin 81 reicht von der frühen Kindheit über Hauptschüler, Bildungschancen, Pflegekinder, Jugendliche in freiheits- entziehenden Maßnahmen bis zur Familienbildung, Jugendbildung, Jugendhilfe und Migration – und geht der Frage nach, wie es mit der Gerechtig- keit bei Bildung, Integration und Teil- habe steht. Im Bulletin 81 PLUS werden Ergeb- nisse des Nationalen Bildungsberichtes 2008, der Studie »Informelle Lernpro- zesse im Jugendalter in Settings des frei- willigen Engagements« sowie des For- schungsschwerpunktes »Migration, Integ- DJI Bulletin 81 1/2008 3
Berichte zur Bildung Über die Paradoxie, Problem und Lösung zugleich zu sein 1) Bildung – Verstärker von Ungleich- heit oder wirksames Gegenmittel? Im Anschluss an die Präsentation der Gerechtigkeit durch Bildung? ersten PISA-Ergebnisse (Baumert u. a. 2001) wurde deutlich, dass im Kern, so das damalige Fazit, die getesteten Kom- petenzen bei den Schülerinnen und Schülern in Deutschland weniger von Bildung wird in Deutschland seit einigen Jahren als die zentrale Zukunfts- der Schule als vielmehr von nicht-schu- ressource, als der wichtigste Rohstoff des Landes gehandelt. Politik, Medien und lischen Einflüssen abhängen, sprich: von Öffentlichkeit sind sich in diesem Befund erstaunlich einig. Etwas zurückhalten- ihrer sozialen Herkunft. Mit anderen der sind da schon Teile der Fachwelt, nicht zuletzt auch in der Kinder- und Jugend- Worten: Das Bildungssystem schafft es hilfe. Dies hat unterschiedliche Ursachen und Gründe. Der 13. Kinder- und offenbar nicht, die herkunftsbedingten Jugendhilfetag mit seinem Motto »Gerechtes Aufwachsen ermöglichen! Bildung, Unterschiede so abzufedern und auszu- Integration, Teilhabe« bietet eine gute Gelegenheit, in dieser Hinsicht Zwischen- gleichen, dass am Ende tatsächlich die bilanz zu ziehen. individuelle Leistung ausschlaggebend ist. Bildung – ein Zauberwort mit Widersprüchlichkeiten, latentes Unbe- Im Gegenteil: Die Schere zwischen Ecken und Kanten hagen sowie empirisch offene Baustellen sozial belasteten und zu Hause gut ge- Mit den so genannten »Leipziger The- des gegenwärtigen Zukunftsprojekts Bil- förderten Kindern und Jugendlichen öff- sen« zur aktuellen bildungspolitischen dung identifizieren, von denen nachfol- net sich beim Durchlaufen des formalen Debatte hat sich die Kinder- und Jugend- gend einige ins Blickfeld gerückt werden Bildungssystems weiter, so dass unter hilfe schon im Juli 2002 in Sachen Bil- sollen. dem Strich das formale Bildungssystem dung zu Wort gemeldet. Gemeinsam Ungleichheit nicht abbaut, sondern zu haben damals das Bundesjugendkurato- Widersprüchlichkeiten des deren Stabilisierung beiträgt. Insofern rium (BJK), die Sachverständigenkom- Zukunftsprojektes Bildung steht Bildung in der eigentümlichen mission des 11. Kinder- und Jugend- Vermutlich gibt es zu dem viel beschwo- Spannung, auf der einen Seite Hoff- berichts sowie die Arbeitsgemeinschaft renen Hoffnungsträger Bildung keine nungsträger und Lösung des Problems zu für Jugendhilfe (AGJ) unter dem Motto wirkliche Alternative, zielt doch Bildung sein, auf der anderen Seite aber eben zu- »Bildung ist mehr als Schule« in poin- am konsequentesten auf die je individu- gleich auch Verursacher und Produzent tierter Form die Sicht der Kinder- und elle Ausstattung der nachwachsenden von Ungleichheit. Jugendhilfe auf das Thema Bildung in Generation, also auf jene Fähigkeiten, Wenn die Hoffnungen, die auf Bil- elf Thesen dargelegt (Bundesjugend- die für eine eigenständige und verant- dung ruhen, Realität werden sollen, kuratorium u. a. 2002). wortungsvolle Lebensführung unerläss- muss sich an dieser Spirale etwas Ent- In der ersten These heißt es: lich sind. scheidendes ändern. Und die völlig un- »Bildung ist der umfassende Prozess Wesentliche Merkmale einer sozialen terbelichtete Alltagsbildung ist in die- der Entwicklung und Entfaltung derjeni- Bildungsgerechtigkeit sind niedrig- sem Zusammenhang ein entscheidender gen Fähigkeiten, die Menschen in die schwellige, herkunftsunabhängige Zu- Parameter (Rauschenbach 2007). Lage versetzen, zu lernen, Leistungs- gänge zu den Bildungsangeboten, aus- potenziale zu entwickeln, zu handeln, gleichende Wirkungen der Bildungs- 2) »Bildung von Anfang an« – Probleme zu lösen und Beziehungen zu systeme in Anbetracht unterschiedlicher Anspruch ohne Realität? gestalten. Junge Menschen in diesem individueller und sozialer Ausgangs- Inzwischen gehört der Anspruch schon Sinne zu bilden, ist nicht allein Aufgabe lagen sowie möglichst wenig selektions- zu den Standardformeln des modernen der Schule. Gelingende Lebensführung verstärkende Übergänge zwischen den Einmaleins der Bildung: »Bildung von und soziale Integration bauen ebenso Bildungsinstanzen. Anfang an«. Diese Einsicht wird als neue auf Bildungsprozesse in Familien, Kin- Auch wenn Bildung vor diesem Hin- paradigmatische Ausrichtung in der Bil- dertageseinrichtungen, Jugendarbeit und tergrund in der politisch-öffentlichen dungsdiskussion verstärkt propagiert. der beruflichen Bildung auf. Auch wenn Debatte gerne als des Rätsels Lösung Insofern mutet es geradezu paradox an, der Institution Schule ein zentraler Stel- angepriesen wird, kommt man nicht um- dass die Investitionen in Bildung nach lenwert zukommt, reicht Bildung jedoch hin, dem aktuellen Bildungssystem fak- wie vor tendenziell geringer ausfallen, je weit über Schule hinaus«. tisch zumindest auch das Gegenteil zu jünger die Kinder sind. Auch wenn dieses erweiterte Ver- bescheinigen. Bildung verspricht die Eindrücklich zeigt sich dies beim ständnis von Bildung inzwischen ver- Lösung – und erzeugt zugleich doch das Personal: mutlich mehr denn je auf breite Zustim- Problem. – Während bei Kindern unter drei Jah- mung stößt (BMFSFJ 2006), gibt es Zumindest drei Widersprüchlichkei- ren Kinderpflegerinnen und unausge- rund um das Thema Bildung doch meh- ten kennzeichnen gegenwärtig das bildete Tagesmütter eine nennenswer- rere Facetten, die zu Rückfragen, Ein- Zukunftsprojekt Bildung. te Rolle spielen, überwiegen im Kin- wänden und Nachdenklichkeiten Anlass dergarten die an Fachschulen ausge- geben. Dabei lassen sich konzeptionelle bildeten Erzieher/innen. 4 DJI Bulletin 81 1/2008
– Ab der Grundschule beginnen die Hochschulausbildungen, allerdings auch hier mit dem Alter der Kinder ansteigend in Umfang, Anforderun- gen und – anschließender – Vergü- tung. – Für den Hochschulbereich muss zu- dem das wissenschaftliche Personal in der Regel promoviert sein. Diese Hierarchie in punkto Ausbildung, Bezahlung und letztlich auch die dahin- ter zum Ausdruck kommende öffentliche Anerkennung verhält sich diametral ent- gegengesetzt zu der immer stärker ins Blickfeld gerückten Wichtigkeit der frü- hen Bildungsjahre. Wer Bildung von An- fang an propagiert, muss auch konse- gen wird, wenn also gerade jene Inhalte, len sollte. In beiden Richtungen macht quent in diese investieren. Orte und Modalitäten gestärkt werden, sich nicht zuletzt ein latentes Unbe- die ansonsten unterzugehen drohen, die hagen bemerkbar, das ein Teil der Stim- 3) Halbierte Bildung – über »die andere aber für viele Kinder und Jugendliche mungslage in der Kinder- und Jugend- Seite der Bildung« ein wichtiges Feld sozialer Anerkennung hilfe widerspiegelt. Hierzu folgende Ein wesentlicher, für Deutschland be- und sozialer Integration sind Anmerkungen: drückender Befund aller PISA-Studien (Holtappels u. a. 2007). offenbart, dass die getesteten Schülerin- Für die Kinder- und Jugendhilfe als 1) Aufwachsen und Kindheit ist mehr nen und Schüler im internationalen Ver- viel gefragtem Partner in diesem Projekt als Bildung gleich weniger Probleme in der Spitze stellt sich daher die Herausforderung, In manchen Diskussionen wird das The- als vielmehr im Durchschnitt haben. vor allem diese Seite der Bildung, die sich ma Aufwachsen fast völlig mit Bildung Oder anders formuliert: Fast nirgends durch Informalität, Alltagsnähe und Of- gleichgesetzt, fast so, als ob alles im Le- war die Kluft zwischen den gut und den fenheit kennzeichnen lässt, verstärkt in ben eines jungen Menschen auf Bildung, schlecht abschneidenden Jugendlichen die Prozesse der Ganztagsbildung einzu- auf Zukunft, auf Verwertbarkeit, auf das so groß wie in Deutschland. Und hierauf bringen. Erwachsenendasein ausgerichtet wäre. muss Bildungspolitik mit Strategien rea- Insgesamt zeigt sich, dass nicht nur So wird zwar inzwischen innerhalb der gieren, die gezielt zu einem Abbau die- hoffnungsvolle Konzepte von Bildung Bildungsdebatte richtigerweise die ser Kluft führen. Dies kann man nur er- entwickelt werden dürfen, sondern dass schul- und berufsqualifizierende Eng- reichen – will man die Leistungsstarken auch an der Beseitigung von kontrapro- führung eines Bildungskonzeptes zu- nicht künstlich an ihrer Entwicklung hin- duktiven Nebenwirkungen einer weitaus gunsten eines erweiterten Bildungsver- dern –, indem man zusätzlich gezielt die zwiespältigeren Bildungswirklichkeit ständnisses im Horizont einer »Ganz- Leistungsschwächeren fördert. gearbeitet werden muss. tagsbildung« (Coelen/Otto 2008) aufge- Allerdings: Mit einer Verdichtung von brochen, die konsequenterweise die ge- Schule durch G8-Gymnasien, mit einer Das Unbehagen in der Kinder- und samte Lebensperspektive ins Blickfeld stärkeren Vereinheitlichung und Standar- Jugendhilfe mit der Bildung rückt. Aber reicht das? Lässt sich Kind- disierung zwischen den Ländern und Zweifelsohne ist das Thema Bildung in heit und Aufwachsen wirklich auf Bil- Zentralabitur oder mit einer Stärkung den letzten Jahren auch in der Kinder- dung reduzieren? Entsteht dadurch nicht der Hauptfächer mag man vielleicht Ver- und Jugendhilfe angekommen; proto- eine schwierige Gleichsetzung des Auf- besserungen an der Leistungsspitze er- typisch steht hierfür der Zwölfte Kinder- wachsens mit einer allumfassenden zielen, aber ganz sicher nicht mit Blick und Jugendbericht (BMFSFJ 2006). Eine entgrenzten Dauerqualifizierung, eine auf die Schwächen und Unzulänglich- Vielzahl an Veröffentlichungen, Stel- Hegemonie sowie eine Instrumentali- keiten der so genannten »PISA-Risiko- lungnahmen und Tagungen sind Indiz sierung durch Bildung, die das Anrecht gruppen«. Hierzu bedarf es anderer Stra- für diese neue Selbstvergewisserung. der Heranwachsenden auch auf zweck- tegien, die z. B. gezielt auch auf die Dass der 13. Deutsche Kinder- und freie Zeiten und Räume, auf Verwirk- unterrichtsabgewandten Facetten von Jugendhilfetag sich auch diesem Thema lichung statt Verwertbarkeit zu kurz kom- Bildung zielen. zuwendet, ist nur folgerichtig und konse- men lässt? Nicht umsonst insistiert die Das bundesweite Programm zur Ein- quent. Intensiv und kontrovers wird al- Kinder- und Jugendhilfe auf Freiräume führung und zum Ausbau von Ganztags- lerdings diskutiert, welche Rolle zum der Selbstgestaltung, auf eine nicht- schulen könnte in diesem Zusammen- einen die Bildung innerhalb der Kinder- instrumentalisierbare Seite des Alltags hang ein Schritt in die richtige Richtung und Jugendhilfe und welche Rolle zum von Kindern und Jugendlichen, auf eine sein, da das Projekt Ganztagsbildung nur anderen die Kinder- und Jugendhilfe in- alters- und kindgerechte Kindheit gelingen kann, wenn auch die »andere nerhalb der Bildungsdebatte augenblick- (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Seite der Bildung« gezielt mit einbezo- lich spielt bzw. im günstigsten Fall spie- Jugendhilfe 2006). DJI Bulletin 81 1/2008 5
Berichte zur Bildung 2) Jugendhilfe als »fünftes Rad« am gegenüber kategoriale Dimensionen wie bot für die unter Dreijährigen ausgebaut Wagen der Bildung Hilfe, Sorge oder Unterstützung, wie werden soll. Ungeklärt ist unterdessen Die Aufforderung an die Kinder- und Beratung, sozialer Bedarfsausgleich oder unter anderem, wie der Aspekt der Bil- Jugendhilfe, sich verstärkt am Projekt die Gestaltung einer gemeinsamen All- dung neben der Betreuung und der Er- Bildung zu beteiligen, wurde von An- täglichkeit an Bedeutung? Wird Partei- ziehung nachhaltig verstärkt werden fang an auf Seiten der Kinder- und lichkeit und Solidarität, wird eine advo- kann, wie und auf welchem Niveau das Jugendhilfe mit einer gehörigen Portion katorische Ethik gegenüber Benachteilig- künftige Personal ausgebildet werden institutioneller Skepsis begleitet. »Ko- ten damit zu einer Petitesse der eigenen soll, wie nahe und mit welchem Grad der operation auf Augenhöhe« wurde infol- Handlungsmaximen? Eigenständigkeit die Kindertageseinrich- gedessen auch zu der vielleicht am meis- Und nicht zuletzt besteht innerhalb tungen an die Schule und an das Bil- ten gebrauchten Redensart in den Debat- der Kinder- und Jugendhilfe auch die dungswesen herangerückt werden, wie ten um den richtigen Weg und das richti- Befürchtung, dass mit dem Projekt Bil- mit dem massiv bedrängenden Thema ge Ausmaß der Beteiligung an diesem dung – mal wieder – eine flächendecken- der Kinder mit Migrationshintergrund politischen Großprojekt. Zu stark waren de Umdeutung sozialer und politischer umzugehen ist und in welchem Umfang und sind offenbar die Befürchtungen, Herausforderungen in pädagogische Fra- weitere Mittel für eine Qualitätsoffen- dass der Juniorpartner Kinder- und gen einhergeht, also, wenn man so will, sive bereitgestellt werden müssen. Das Jugendhilfe bei diesem Jointventure- eine Entpolitisierung der dahinter lie- Themenfeld der Kindertageseinrichtun- Projekt mit dem etablierten Bildungs- genden Themen von Ungleichheit und gen wird jedenfalls in absehbarer Zeit system, d. h. mit der Schule seine Eigen- Ungerechtigkeit. Verteilungsfragen sowie eine Großbaustelle in Sachen Bildung ständigkeit und Identität verliert, in sei- Armutsfragen, so eine weit verbreitete bleiben. Entscheidend wird es sein, ob nem Eigensinn gewissermaßen margi- Meinung in der Kinder- und Jugendhilfe, es gelingt, ein Mehr an Bildung und nalisiert wird. Dieses nicht ganz unbe- dürfen nicht zu Teilhabefragen und ge- Qualität in die bundesdeutsche Kinder- rechtigte Unbehagen, zum fünften Rad, sellschaftliche Strukturprobleme nicht in tagesbetreuung zu bringen, ohne dass also zum Ersatzrad am Wagen der Bil- individuelle Handlungsprobleme umge- ihre Identität und ihre Besonderheit ge- dung zu werden, durchzieht nach wie vor deutet werden, so sehr auch Teilhabe genüber der Schule verloren geht. viele Auseinandersetzungen an den und individuelle Entfaltung als eigen- Schnittstellen zum Bildungssystem, an ständige Dimensionen beachtet werden 2) Die uneingelösten Potenziale der denen die Kinder- und Jugendhilfe be- müssen. Ganztagsschule teiligt ist. Dieses Unbehagen an einer ganzen Ganztagsschulen sind ein Schlüssel- Hinzu kommt, dass es offenkundig Reihe von ungeklärten Fragen erklärt die thema der künftigen Gestaltung der auch innerhalb der Kinder- und Jugend- zuweilen für Außenstehende fast aufrei- Schule in Deutschland. Dabei ist der hilfe Profiteure und Verlierer im Zuge zend wirkende Zurückhaltung in Sachen Prozess des Auf- und Umbaus der Schul- der Kooperation gibt. So verläuft die In- Bildung auf Seiten der Kinder- und landschaft in Ganztagsschulen nicht tegration der verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe, die von dritter Seite immer mehr ernsthaft aufzuhalten. Ungeklärt Kinder- und Jugendhilfe in die jeweili- wieder verblüfft wahrgenommen wird. ist dabei aber weiterhin die Rolle der gen Bildungssettings ausgesprochen un- Kinder- und Jugendhilfe. Empirisch terschiedlich. Die Jugendarbeit im Sport Offene Baustellen des Zukunfts- zeigt sich, dass sie mengenmäßig weit- lässt sich beispielsweise ganz selbstver- projektes Bildung aus weniger beteiligt ist, als sich dies ständlich auf das »Projekt Ganztagsschu- Mit einem Blick auf die empirischen vermutlich viele Strategen wünschen le« ein, während die weltanschaulichen Entwicklungen zeigen sich schließlich (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Gruppierungen Sorge haben, durch diese weitere ungeklärte Sachverhalte, gewis- Jugendhilfe 2008), sprich: dass sie weit- Zusammenarbeit noch weiter an den sermaßen offene Baustellen, die es zu aus stärker die nicht-unterrichtliche Seite Rand gedrängt, noch unsichtbarer in ih- bearbeiten gilt. Auch hier soll stellvertre- der ganztägigen Angebote gestalten so- rer Andersartigkeit zu werden. So wird tend auf folgende Punkte hingewiesen wie andere Formen und Themen der die Ganztagsschule eher zu einem Feind- werden. Ganztagsbildung einspeisen müsste. bild, zu einem Aggressor, der den Jugend- Vor allem die kommunalen Jugendämter lichen die Zeit und die Möglichkeiten 1) Die Großbaustelle Kindertages- sind dabei als lokale Schlüsselakteure nimmt, sich an den Aktivitäten der Kin- einrichtung auf breiter Ebene vorerst wenig, auf der- und Jugendarbeit zu beteiligen. Noch befinden sich die Kindertagesein- jeden Fall zu wenig erkennbar. richtungen in einem zukunftsoffenen Die Kooperationen zwischen Schule 3) Grenzen der Allmacht von Bildung Umgestaltungsprozess. Geklärt zu sein und Jugendhilfe begrenzen sich eher auf für die Kinder- und Jugendhilfe scheint, dass sie, ganz generell, an Be- bilaterale Kontakte mit einzelnen Ak- Schließlich stehen auch ungeklärte Fra- deutung gewinnen, dass dabei dem The- teuren und Einrichtungen, weniger auf gen nach der konzeptionellen Gesamt- ma Sprache besondere Beachtung ge- eine flächendeckende, konzeptionell ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe schenkt werden muss, dass allerorten ausgerichtete Gesamtstrategie einer im Raum. Ist Bildung der einzige, der erstellte Bildungspläne zu einer geziel- Zusammenarbeit von Jugendhilfe und künftig allumfassende Referenzpunkt, ten Stärkung der Bildungs- und Erzie- Schule aus dem Blickwinkel der Kinder das ultimative Koordinatensystem der hungsarbeit in Kindertageseinrichtungen und Jugendlichen. Lokale Bildungsland- Kinder- und Jugendhilfe? Verlieren dem- beitragen und dass vor allem das Ange- schaften könnten diesbezüglich eine 6 DJI Bulletin 81 1/2008
strategische Variante der verbesserten arbeit zu sein: Je diffuser ihre Stellung in Literatur Organisation einer ganztägigen Bildung den durchschnittlichen Lebensentwürfen sein, einer Bildung, die bewusst auch auf junger Menschen wird, umso wichtiger Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hrsg.) (2006): die »andere Seite der Bildung« setzt scheint gleichzeitig ihr ergänzender Er- Zukunftsprojekt: Gemeinsame Gestaltung (Otto/Rauschenbach 2008). möglichungs- und Erfahrungsraum für von Lern- und Lebenswelten. Zusammen- die Kinder und Jugendlichen neben Fa- spiel von Kinder- und Jugendhilfe & Schule 3) Kinder- und Jugendarbeit auf der milie und Schule zu werden. im Sozialraum. Berlin Suche nach Zukunft Zudem hat die Kinder- und Jugend- Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hrsg.) (2008): Koope- Die Kinder- und Jugendarbeit tut sich arbeit aber auch mit der ungelösten so- ration von Jugendhilfe und Ganztagsschule innerhalb der Jugendhilfe immer noch zialen Herausforderung zu kämpfen, – eine empirische Bestandsaufnahme im besonders schwer im Umgang mit dem dass sie – unter dem Strich – ebenfalls, Prozess des Ausbaus der Ganztagschulen in Thema Bildung. Diesseits und jenseits wie die Schule, jene stärkt, die ohnehin Deutschland. Expertise im Auftrag der Ar- der Ganztagsschule ringt sie um die schon oft zur Gruppe der Stärkeren und beitsgemeinschaft für Kinder- und Jugend- hilfe. Berlin richtige Haltung zu diesem Thema – Erfolgreichen gehören. Oder anders for- Baumert, Jürgen u. a. (Hrsg.) (2001): PISA und dies in Anbetracht ihrer eigenen, muliert: Auch der Kinder- und Jugendar- 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen dezidiert anti-schulischen Tradition, im beit gelingt es bislang offenkundig nicht, und Schülern im internationalen Vergleich. Horizont ihres konsequent partizipativ vor allem jene zu erreichen und zu för- Opladen ausgerichteten Selbstverständnisses im dern, die besonders davon profitieren Bundesjugendkuratorium / Sachverstän- digenkommission des 11. Kinder- und Umgang mit den Kindern und Jugend- könnten: die benachteiligten Kinder und Jugendberichts/Arbeitsgemeinschaft für lichen, den Schule bislang nun gerade Jugendlichen mit erhöhtem Förderungs- Jugendhilfe (2002): Bildung ist mehr als nicht zu ihrem Credo gemacht hat, so- bedarf (BMFSFJ 2006). Diesem Punkt Schule. Leipziger Thesen zur aktuellen bil- wie im Lichte einer drohenden Margina- muss in Zukunft ebenfalls erhöhte Auf- dungspolitischen Debatte. Aus: http:// lisierung aufgrund ihrer schlechten Aus- merksamkeit zuteil werden. www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/ RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/ stattung und ihrer rechtlich schwachen leipziger-thesen,property=pdf,bereich= Absicherung als Infrastrukturaufgabe Quo vadis Bildung? ,sprache=de,rwb=true.pdf; Download am einerseits sowie einer fast erdrückenden Das Thema Bildung und Gerechtigkeit 30.11.2007 Konkurrenz kommerzieller Freizeitange- konturiert sich nicht so einfach und so Bundesministerium für Familie, Senioren, bote andererseits. eindeutig, wie es auf den ersten Blick Frauen und Jugend (BMFSFJ; Hrsg.) (2006): Zwölfter Kinder und Jugendbericht. Geradezu paradox scheint die gesell- scheint. Die Schulstrukturdebatte greift Bericht über die Lebenssituation junger schaftliche Lage der Kinder- und Jugend- dabei zu kurz, weil sie nur schulimma- Menschen und die Leistungen der Kinder- nente Lösungen im Blick hat. Bildung und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin kann die erhofften Erfolge bestenfalls Coelen, Thomas / Otto, Hans-Uwe (Hrsg.) dann verbuchen, wenn sie dazu beiträgt, (2008): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Ein Handbuch. Wiesbaden vorhandene, herkunftsbedingte Nachtei- Holtappels, Heinz-Günter u. a. (Hrsg.) (2007): le auszugleichen, wenn sie also auch für Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse jene Kinder eine zweite Chance eröffnet, der Ausgangserhebung der »Studie zur die von zu Hause aus nicht mit einem Entwicklung von Ganztagschulen« (StEG). üppigen sozialen und kulturellen Erbe Weinheim, München Otto, Hans-Uwe / Rauschenbach, Thomas ausgestattet werden, sprich: wenn Kinder (Hrsg.) (2008): Die andere Seite der Bildung. im Laufe des Aufwachsens ihre individu- Zum Verhältnis von formellen und informel- ellen Fähigkeiten unabhängig von ihrer len Bildungsprozessen. Wiesbaden sozialen Herkunft entwickeln können. Rauschenbach, Thomas (2007): Im Schatten Dazu bedarf es neben der Schule auch der formalen Bildung – Alltagsbildung als Schlüsselfrage der Zukunft. In: Diskurs anderer Akteure des Aufwachsens von Kindheits- und Jugendforschung, H. 4, Kindern sowie eine gute Mischung aus S. 439–453 Bildung, Betreuung und Erziehung ei- nerseits sowie Teilhabe, Freiräumen und Potenzialen zur Ermöglichung anderer- seits. Empirisch scheint das Projekt Bildung diese Aufgabe allerdings noch nicht wirklich erfüllt zu haben. So lange aber müssen Nachfragen, Nachdenklichkeiten und Vorbehalte erlaubt sein. Sie dienen letztlich der Schärfung des Konzeptes – und damit der Sache selbst. Thomas Rauschenbach Kontakt: Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, rauschenbach@dji.de DJI Bulletin 81 1/2008 7
Berichte zur Bildung Den Kindern eine Stimme geben Neue Ansätze der Kindheitsforschung Die neue Kinder- und Kindheitsforschung erwuchs aus einer grundsätzlichen Kri- die sich ununterbrochen in der Familie tik an der erwachsenenzentrierten Sichtweise auf Kindheit. Die Annahme, dass abspielen. Dabei wird ein starker Zu- das Kind »unfertig« sei und daher von den Erwachsenen unterwiesen werden sammenhang zwischen Klassenzugehö- müsse, damit es den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wird, ging explizit rigkeit sowie Bildungs- und Erziehungs- von einer gesellschaftlich gesetzten und von den Erziehungspersonen durchzu- praktiken sichtbar. setzenden Norm für das korrekte Aufwachsen von Kindern aus. Diese Vorstel- Diese Studie kann den größeren schu- lung wurde in den letzten Jahren ersetzt durch die These, dass der Alltag des lischen Erfolg der Mittelschichtskinder Aufwachsens gemeinsam durch das Zusammenwirken von Eltern und Kindern durch frühe und exzessive Förderung hergestellt werden muss. Dabei erkannte man den Eigenwert von Kindern an – vonseiten der Eltern aufzeigen. jenseits der damit verbundenen Funktionalität für die Gesellschaft. Daraus ergab Die Kinder erwerben sich ein Forschungsinteresse, welches das Kind im »Hier und Jetzt« mit seinen – konkrete benennbare Fähigkeiten Lebensäußerungen, seinen Handlungsregeln und Bedeutungszuschreibungen zu (beispielsweise für Sport, Musik, verstehen versuchte (Breidenstein/Kelle 1998). Vor diesem Hintergrund will die Fremdsprachen), moderne Soziologie der Kindheit den Kindern eine Stimme geben. Sie sollen – abstrakte Kompetenzen sowie spezifi- nicht mehr vorwiegend gemessen, klassifiziert, naturwissenschaftlich objektiv sche Persönlichkeitsmerkmale (bei- beobachtet werden – vielmehr will man ihnen dazu verhelfen, ihre Sicht auf die spielsweise ein stärker ausgeprägtes Welt zu artikulieren. Mit dem veränderten Blickwinkel auf Kinder treten deren Selbstwertgefühl, das Gefühl des schon vorhandene Kompetenzen und Handlungsfähigkeit (agency) in den Vorder- »Empowerment«), grund wissenschaftlicher Fragestellungen – insbesondere in solchen Feldern, die – soziale und kommunikative Fähigkei- einem rasanten sozialen Wandel unterworfen sind. ten im Umgang mit Autoritäten und Institutionen. Forschung aus der Perspektive der nachteiligungen im Alltag sowie im Lareau warnt jedoch davor, diese Erzie- Kinder Lebensverlauf von Kindern, die durch hungspraxis automatisch als die »besse- Methodologisch und methodisch steht ihre Zugehörigkeit zu einem Sozial- re« zu verstehen und arbeitet bei beiden die neue Kindheitsforschung vor der milieu entstehen, erweisen sich immer Varianten Vorteile sowie Nachteile Herausforderung, dass sie nicht als For- noch als ein wesentlicher Türöffner für heraus. Den größeren »Erfolg« der Strate- schung über Kinder, sondern als eine persönlichen Erfolg sowie für eine Viel- gie der Kultivierung erklärt sie nicht mit Forschung »aus der Perspektive« von zahl von positiven Begleiteffekten wie der »besseren« Erziehung, sondern mit Kindern zu verstehen ist (Honig/Lange/ Gesundheit und politische Partizipation dem Passungsverhältnis zwischen Fami- Leu 1999). Dementsprechend ist mittler- (Fend 2007). Insbesondere die Frage lie und Umwelt (z. B. Schule). weile eine Vielzahl von methodischen nach Ungleichheiten in der Bildungs- Verfahren der allgemeinen empirischen karriere von Kindern ist ein praxis- sowie Bildungsbenachteiligung: Anhäufen- Sozial- und Kulturforschung auf die politikrelevantes Kernstück der sozial- de Verkettung von Bedingungen Population der Kinder übertragen wor- wissenschaftlichen Kindheitsforschung. Hintergrund der größeren Resonanz- den. So hat man wichtige Einblicke in fähigkeit der im Mittelschichtskontext das alltägliche Handeln, sowie Einsich- Die Bedeutung des Erwerbs von gewonnenen Fertigkeiten, Kompetenzen ten über die Wünsche und Perspektiven Bildung in der Familie und Kapitalien ist, dass dieses Wissen von Kindern gewonnen. Man fand bei- In einer aufschlussreichen Feldstudie hat höchst anschlussfähig ist für die schuli- spielsweise heraus, wie Kinder und ihre das Forscherteam um Annette Lareau sche Leistungskultur. Ausgegrenzt und Bezugspersonen definieren, was für sie von 1990 bis 1995 Erziehungs- und abgewehrt werden hingegen Fertigkeiten jeweils eine gute Kindheit bedeutet. Bildungsprozesse von amerikanischen und Kapitalien, die aus anderen Milieus Kombiniert mit Interviewmethoden zei- Familien untersucht (Lareau 2003). In stammen, ferner popularkulturelle Fä- gen diese Informationen weiter auf, wie diesem Zusammenhang wird der Bil- higkeiten sowie ein anderer Bildungs- Kinder sich selbst unter Rückgriff auf dungserwerb von Kindern in der Familie kanon, wie er beispielsweise in Migran- solche Diskurse in der Generations- als ein nicht-separierbares, permanent tenfamilien zu finden ist. ordnung positionieren (Hagen 2007). sich vollziehendes Geschehen verstan- Bachmair (2007) zeigt am Beispiel den, das nicht auf einzelne Aspekte wie der von Lehrerinnen und Lehrern oft- Kindheit = »ungleiche Kindheiten« etwa Hausaufgabenbetreuung oder Vor- mals ignorierten vielfältigen Spielarten Einen weiteren Schwerpunkt bildet die lesen reduziert werden kann. Es handelt von Literalität, dass diese keine Akzep- Auseinandersetzung mit »ungleichen sich vielmehr um einen komplexen Zu- tanz für solche Formen aufbringen kön- Kindheiten« (Betz 2006). Soziale Be- sammenhang von Alltagshandlungen, nen. Daraus resultiert eine kumulative 8 DJI Bulletin 81 1/2008
Verkettung von Bildungsbenachteili- lichen Lebensbedingungen und deren – Welche Persönlichkeitsressourcen ver- gungen für Kinder aus den nicht-bürger- Rahmenbedingungen im Kontext von helfen Kindern zu einer produktiven lichen Milieus: weder finden sie genü- Schule, Kindertageseinrichtungen, Hort, Nutzung der für sie relevanten Um- gend Anschluss an die formal hoch be- Familie oder Gleichaltrigen-Gruppen welt? (Neyer/Lenhart 2008) wertete Schulkultur, noch finden sie Ak- differenziert beschreiben zu können – Welche Konstellationen bergen die zeptanz und Resonanz für ihre milieu- (Joos 2001; Leu 2002). Diese Lebensla- Gefahr, dass die Kinder in ihrer per- spezifischen Handlungsbefähigungen. gen schließen auch größere Gebietsein- sönlichen und sozialen Entwicklung Ergänzt und vervollständigt wird das heiten wie die Differenzierung in Ost- (z. B. im Schulerfolg, in ihrer persön- Bild der Bildungsbenachteiligung im und Westdeutschland, Unterschiede auf lichen Interessenentfaltung) einge- Kindesalter durch Studien, die vor der Bundesländerebene, Stadt-Land-Unter- schränkt werden oder aber Problem- Schulphase bei der Erforschung der kind- schiede oder auch Differenzierungen in- verhalten entwickeln (z. B. Aggressivi- lichen Bildungskarriere ansetzen. So ha- nerhalb von Städten und Gemeinden tät, Krankheiten, abweichendes Ver- ben Vincent und Ball (2007) nachgewie- (z. B. nach Vierteln) ein, so dass sich auf halten)? sen, mit welchen umfassenden Strategi- dieser Ebene sozialstrukturell-geogra- – Lassen sich spezifische Resilienzfak- en und Aktivitäten englische Mittel- fisch unterschiedliche Bedingungen des toren für bestimmte Kinder(gruppen) schichtseltern ihre Vorschulkinder mit Kindseins herausarbeiten lassen (Alt feststellen? (Wustmann 2005) Blick auf die Schul- und Berufskarriere 2001). Wie oben schon angedeutet, geht es ver- fördern. Zwar nennen die Eltern eine Daneben – und dies ist ein Novum – stärkt um die soziale Verortung von Kindern Vielfalt von Motiven; deutlich wird aber, richtet sich der Blick auch auf die Persön- (soziologisch-(sozial)pädagogische Per- dass eine zentrale Antriebsquelle die lichkeitsentwicklung der Kinder. Leitfra- spektive). Die Leitfragen dieser Analyse- Versorgung der Kinder mit zusätzlichen gen dieser vorwiegend (entwicklungs-) richtung lesen sich exemplarisch wie kulturellen Kapitalien sowie der Aufbau psychologischen, aber auch sozialisa- folgt: von bestimmten Persönlichkeitshaltun- tionstheoretischen Perspektive (Born- – Gibt es herkunftstypische Verschrän- gen sind, um ihnen den angemessenen stein/Bradley 2003) sind: kungen formaler und informeller Platz und genügend Abstand zu den – Unter welchen Rahmenbedingungen Bildungsprozesse? nachrückenden Sozialschichten sichern entwickeln Kinder Fähigkeiten, um – Sind herkunftsspezifische Differenzen zu können. soziale Beziehungen aufbauen und im Schulerfolg, im Übertrittsverhal- aufrecht erhalten zu können, sich in ten der Kinder auszumachen? Sozialberichterstattung heißt: Gruppen zu positionieren, gemein- – Gibt es Hinweise darauf, dass unglei- Lebenslagen und Persönlichkeit der sam mit anderen Probleme zu lösen che Sozialisationsbedingungen, aktu- Kinder erforschen und Konflikte zu bewältigen, soziale elle wie zukünftige, Erfahrungen der Moderne Sozialberichterstattung über Unterstützung zu geben oder zu Inklusion oder Exklusion (in den Kinder richtet den Fokus auf die Lebens- nutzen? Gleichaltrigen-Gruppen, im Bil- lagen von Kindern, um die unterschied- DJI Bulletin 81 1/2008 9
Berichte zur Bildung dungssystem etc.) wahrscheinlicher machen? (Helsper/Hummrich 2005) Weitere Analysen beziehen sich auf die ungleichen Machtstrukturen zwischen Erwachsenen und Kindern, beispielswei- se die »generationale Ungleichheit« (En- gelbert/Herlth 2002), die in verschiede- nen Lesarten des Agency-Konzeptes der neueren Kindheitsforschung Eingang gefunden hat. Kinder sind auch Akteure Übergreifend bearbeitet eine so verstan- dene Sozialberichterstattung im weite- ren Sinne die Frage, »wie die Lebensla- gen die Persönlichkeitsentwicklung be- einflussen« (Alt 2004–2008). Dies ist keinesfalls gleichbedeutend damit, dass die beschriebenen »Einflüsse« nur in eine Richtung wirksam wären. Das Bild vom Kind, das der Sozialberichterstat- tung zugrunde liegt, geht vielmehr von Literatur komplexen wechselseitigen Verschrän- kungen zwischen Individuum und Um- Alt, Christian (2001): Kindheit in Ost und Helsper, Werner / Hummrich, Merle (Hrsg.) welt aus. Individuen sind nicht nur pas- West. Wiesbaden (2005): Erfolg und Scheitern in der Schul- Alt, Christian (2004–2008): Kinderleben. karriere: Ausmaß, Erklärungen, biografische sive Opfer der Verhältnisse, sondern im- Auswirkungen und Reformvorschläge. In: Bände 1–6. Wiesbaden mer auch Akteure dieser Umwelten Bachmair, Ben (2007): Migrantenkinder, ihr Sachverständigenkommission Zwölfter Kin- (Lerner 2005). Es gilt, an unterschied- Leserisiko und ihre Medienumgebung. In: der- und Jugendbericht (Hrsg.): Kompetenz- lichen Stellen aufzuzeigen, inwiefern die Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur erwerb von Kindern und Jugendlichen im Kinder und ihre Umwelt aufeinander Wochenzeitung Das Parlament, H. 28, Schulalter. München, S. 97–173 S. 32–38 Joos, Magdalena (2001): Die soziale Lage der relational bezogen sind und wie die Kinder. Sozialberichterstattung über die Betz, Tanja (2006): Ungleiche Kindheit. Ein Kinder selbst ihre »Umwelt« mit hervor- (erziehungswissenschaftlicher) Blick auf die Lebensverhältnisse von Kindern in Deutsch- bringen. Verschränkung von Herkunft und Bildung. land. Weinheim In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung Lareau, Annette (2003): Unequal childhoods. Christian Alt, Andreas Lange und Sozialisation. 26. Jg., H. 1, S. 52–68 Class, race, and family life. University of Breidenstein, Georg / Kelle, Helga (1998): California Press: Berkeley, Los Angeles, Geschlechteralltag in der Schulklasse. London Ethnographische Studien zur Gleichaltrigen- Lerner, R. M. (2005). Promoting positive youth kultur. Weinheim development: Theoretical and empirical Bornstein, M. H. / Bradley, R. H. / Von Eye, A. bases. White paper: Workshop on the (eds.) (2003): Socioeconomic status, Science of Adolescent Health & Develop- parenting, and child development. ment, NRC/Institute of Medicine. Washing- Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, ton, DC: National Academies of Science Associates Leu, Hans Rudolf (2002): Sozialberichterstat- Engelbert, Angelika / Herlth, Alois (2002): tung über die Lage von Kindern – ein wei- Sozialökologische Ansätze. In: Krüger, tes Feld. In: Leu, Hans Rudolf (Hrsg.): Sozial- Heinz-Herrmann / Grunert, Cathleen (Hrsg.): berichterstattung zu Lebenslagen von Kin- Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. dern. Opladen, S. 9–33 Opladen, S. 99–116 Neyer, Franz J. / Lehnhart, Judith (2008): Per- Fend, Helmut (2007): Bildung als Ressource sönlichkeit und Sozialisation. In: Hurrelmann, der Lebensbewältigung. In: Lemmermöhle, Klaus / Grundmann, Matthias / Walper, Doris / Hasselhorn, Marcus (Hrsg.): Bildung – Sabine (Hrsg.): Handbuch Sozialisations- Lernen. Humanistische Ideale, gesellschaft- forschung. Weinheim, S. 82–91 liche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Vincent, Carol / Stephen J. Ball (2007): Erkenntnisse. Göttingen, S. 183–212 »Making up« the middle-class child: Hagen, Ingunn (2007): »We can’t just sit the Families, activities and class dispositions. In: whole day watching TV«. Negotiations Sociology, 41, 4, pp. 1061–1077 concerning media use among youngsters Wustmann, Corina (2005): Die Blickrichtung and their parents. In: Young 15, 4, pp. der neuen Resilienzforschung. In: Zeitschrift 369–393 für Pädagogik, 51. Jg., H. 2, S. 192–206 Kontakt: Dr. Christian Alt, alt@dji.de; (apl) Prof. Dr. Andreas Lange, lange@dji.de 10 DJI Bulletin 81 1/2008
Bildungs- und Integrationserwartungen an Kindertageseinrichtungen Frühe Kindheit im Fokus der Politik Schulischer Erfolg gilt zunehmend als relevante Größe in der Verteilung gesell- Wenngleich diese Unterschiede bei schaftlicher Chancen und Risiken. Fragen der Bildung und Integration haben vor Kindern im Kindergartenalter weniger allem durch die internationalen Schulleistungsstudien eine öffentliche Resonanz deutlich ausfallen, gibt es doch eindeuti- erfahren. Der Blick von Öffentlichkeit und Forschung richtet sich verstärkt auf ge soziale Unterschiede hinsichtlich des immer frühere Altersgruppen – und mittlerweile werden auch der Elementar- Besuchs oder Nichtbesuchs von Einrich- bereich des Bildungswesens und damit die Kinder im Vorschulalter ins Visier ge- tungen der öffentlichen Kindertages- nommen. In der Lebensphase der (frühen) Kindheit, so der Tenor, werden die betreuung. Weichen für zukünftige gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit gestellt. Die frühe Kindheit steht auf der kinderpolitischen Agenda: Der Nationale Akti- Wie lange sind Kinder pro Tag in den onsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010 (NAP), der Kinder- und Einrichtungen? Jugendreport zum NAP sowie der Nationale Integrationsplan (NIP) haben sich die Was die täglichen Zeiten in den Einrich- Bildung und Integration in früher Kindheit zum Anliegen und Ziel gemacht. tungen betrifft, wird ein Drittel (33 %) In den politischen Debatten werden dementsprechend Erwartungen an Bildung der Kinder unter drei Jahren in den west- und Integration gegenüber der Frühpädagogik formuliert: Der Besuch von Ein- lichen Bundesländern lediglich bis zu 5 richtungen soll zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Kindern beitragen, und Stunden wochentags außerhalb der Fami- durch frühe Förderung sollen sich die Zukunftschancen für alle Kinder erhöhen. lie betreut – in den östlichen Bundeslän- dern sind dies weniger als die Hälfte Zunahme des Besuchs von tenjahren besuchen bundesweit rund 7 % (16 %). Hier werden dagegen 63 % der Einrichtungen keine Kindertageseinrichtung (ebd.). Kinder ganztags (mehr als 7 Stunden) Die Besuchsquoten von Kindertagesein- betreut (Statistisches Bundesamt 2008). richtungen haben in den vergangenen Kinder mit Migrationshintergrund Bei den Drei- bis Sechsjährigen nutzen Jahrzehnten beständig zugenommen gehen seltener in eine Kindertages- in Westdeutschland nur 20 % der Kinder und der (vor allem in westlichen Bun- einrichtung das Angebot einer ganztägigen Bildung, desländern) geringe Besuch öffentlicher Im Alter zwischen drei und sechs Jahren Erziehung und Betreuung; in Ost- Einrichtungen der unter Dreijährigen ist sind 88 % der Kinder ohne Migrations- deutschland sind es 63 %. angestiegen: hintergrund in einer Kindertageseinrich- Von großem Interesse wäre es, die Die Versorgungsquote der Kinder un- tung, bei den Kindern mit Migrations- Betreuungszeiten nach Migrationshin- ter drei Jahren lag in den westlichen hintergrund hingegen sind es nur 77 % tergrund und sozialer Zugehörigkeit der Flächenländern 2002 bei nur 2 %, in den (Rauschenbach/Züchner 2008). Kinder aufzuschlüsseln. Hierfür liegen östlichen Flächenländern bei 37 % und Kinder mit Migrationshintergrund bislang kaum Veröffentlichungen vor. in den Stadtstaaten bei 26 % (Konsorti- besuchen zudem erst später eine Kinder- Die Daten der DJI-Kinderbetreuungs- um Bildungsberichterstattung 2006). tageseinrichtung, d. h. seltener vor dem studie weisen aus, dass es für Kinder im Die aktuellen Besuchsquoten (15.03. dritten Lebensjahr. Kindergartenalter soziale und ethnische 2007) der unter Dreijährigen in Kinder- Unterschiede gibt: tageseinrichtungen weisen für die östli- Das schulische Bildungsniveau der Die Wahrscheinlichkeit, einen Ganz- chen Flächenländer 37 % aus und in den Mutter spielt eine Rolle tagsplatz in Anspruch zu nehmen, steigt westlichen Flächenländern ist der Pro- Bei keinem bzw. niedrigem schulischen bei vier- bis sechsjährigen Kindern, wenn zentsatz zwar immer noch vergleichswei- Abschluss liegt die Quote der Inan- die Familie einen Migrationshinter- se niedrig, aber bereits auf 8 % gestiegen. spruchnahme bei den unter Dreijährigen grund hat; sie steigt auch, wenn die Mut- In den Stadtstaaten ist die Besuchsquote bei 10 % und steigt bei einem Fachhoch- ter über einen Fachhochschul- bzw. Uni- mit 27 % nahezu konstant geblieben schul- bzw. Hochschulabschluss der versitätsabschluss verfügt und wenn bei- (Statistisches Bundesamt 2008). Durch Mutter auf 33 % an (Fuchs-Rechlin de Elternteile erwerbstätig sind (Fend- den Ausbau der Betreuungsplätze und 2008). rich/Pothmann 2006). Zugleich gibt es den geplanten Rechtsanspruch für unter Auch Kinder unter drei Jahren aus Fa- auf der Basis des DJI-Kinderpanels Bele- Dreijährige wird der Besuch zunehmen. milien mit Sozialhilfebezug nutzen die ge dafür, dass sich die für Westdeutsch- Die Zahlen belegen aber auch, dass nicht Angebote der institutionalisierten Bil- land traditionelle Vormittagsbetreuung alle Familien und damit nicht alle Kin- dung, Erziehung und Betreuung seltener vermehrt in privilegierten Regionen fin- der das freiwillige Angebot früher Bil- als Kinder, deren Eltern nicht von Sozi- det, d. h. bei besserer wirtschaftlicher Si- dung, Erziehung und Betreuung anneh- alhilfe abhängig sind (Jurczyk/Lange tuation und höherer schulischer Bildung men. In den letzten beiden Kindergar- 2006). bzw. Beschäftigung in einer Region (Alt u. a. 2005). Die Vormittagsbetreuung DJI Bulletin 81 1/2008 11
Berichte zur Bildung ohne Mittagessen wird verstärkt nach- gefragt, wenn nur ein Elternteil einer Er- werbstätigkeit nachgeht und stellt damit ein klassisches Mittelschichtsphänomen dar. Politischer Wunsch und Wirklichkeit Literatur Das politisch hochgesteckte Ziel »Chan- cengerechtigkeit für benachteiligte Kin- Alt, Christian / Blanke, Karen / Joos, Magda- lena (2005): Wege aus der Betreuungs- der« erscheint vor den oben genannten krise? Institutionelle und familiale Betreu- Zahlen nun in einem anderen Licht. – Eltern ausländischer Herkunft möch- ungsarrangements von 5- bis 6-jährigen Bildungsgerechtigkeit im Sinne einer ten, häufiger als die deutschen Eltern, Kindern. In: Christian Alt (Hrsg.): Kinder- frühen Wahrnehmung der Angebote an bereits im Kindergarten eine gezielte leben: Aufwachsen zwischen Familie, Freun- Bildung, Betreuung und Erziehung so- Schulvorbereitung (Neumann 2005). den und Institutionen (Bd. 2) Wiesbaden, S.123–155 wie die gleichberechtigte Teilhabe an Die Erzieher/innen betrachten – wie Fendrich, Sandra / Pothmann, Jens (2006): diesen vorschulischen Angeboten ist mit dies auch politisch gefordert wird – die Zu wenig und zu unflexibel. Zum Stand Blick auf Nachfrage und Bedarf unter- Förderung der deutschen Sprache als wich- öffentlicher Kinderbetreuung bei In-Kraft- schiedlich ausgeprägt: tigstes Element interkultureller Erzie- Treten des TAG. In: Bien, Walter / Rauschen- Kinder mit Migrationshintergrund – hung. Dies wird jedoch überwiegend in bach, Thomas / Riedel, Birgit: Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreu- und diese Großgruppe müsste zukünftig Einrichtungen realisiert, die von eth- ungsstudie. Weinheim, S. 25–42 viel differenzierter betrachtet werden – nisch gemischten Kindergruppen be- Fuchs-Rechlin, Kirsten (2008): Kindertages- besuchen frühkindliche Bildungs- und sucht werden. Die Erzieher/innen wei- betreuung im Spiegel des Sozioökonomi- Betreuungseinrichtungen seltener und zeit- sen darauf hin, dass in diesen Gruppen schen Panels. In: Deutsches Jugendinstitut lich später. weniger die Schulvorbereitung der Kin- und Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (2008): Zahlenspiegel »Krippe oder Kinderzimmer« (SPIE- der eingelöst wird als in ethnisch homo- 2007. Kindertagesbetreuung im Spiegel der GEL), »Krippe oder Mama« (FOCUS), genen Kindergartengruppen (Joos/Betz Statistik. München, S. 203–217 das ist nicht die Frage – denn die Daten 2004) – doch genau diese Elterngruppen Honig, Michael-Sebastian / Joos, Magdale- verdeutlichen, dass beides gilt und die wünschen sich diese Art von Bildung in na / Schreiber, Norbert (Hrsg.) (2004): Was Betreuungszeiten sich nicht nur nach Ost den Einrichtungen. ist ein guter Kindergarten? Theoretische und empirische Analysen zum Qualitätsbe- und West, sondern vermutlich auch nach griff in der Pädagogik. Weinheim sozialen und ethnischen Gesichtspunk- Bildungsgerechtigkeit? – Es besteht Joos, Magdalena / Betz, Tanja (2004): Gleiche ten unterscheiden. Forschungsbedarf zur Frühen Kindheit Qualität für alle? Ethnische Diversität als Die Chancen, bildungs- und integra- Determinante der Perspektivität von Eltern und Erzieher/innen als tionspolitische Vorhaben umzusetzen, Qualitätsurteilen und -praktiken. In: Honig u. a. S. 69–99 entscheidende Akteure hängen auch davon ab, inwieweit die Jurczyk, Karin / Lange, Andreas (2006): Nimmt man nicht nur die politischen Vorstellungen und Erwartungen der El- »Mother’s little helper«. Betriebe als Akteu- Akteure, sondern auch weitere relevante tern sowie die Vorstellungen und Mög- re der Kinderbetreuung. In: Bien, Walter / Gruppen im frühpädagogischen Feld, lichkeiten der Erzieher/innen (bei politi- Rauschenbach, Thomas / Riedel, Birgit: Wer wie die Eltern und die Erzieher/innen, scher Planung und Gestaltung) berück- betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinder- betreuungsstudie. Weinheim, S. 202–213 in den Blick, dann ist zu fragen, welche sichtigt werden. Dabei gilt es, genauer Konsortium Bildungsberichterstattung Wünsche und Ziele die Eltern an den danach zu fragen, (2006): Bildung in Deutschland. Ein indika- Besuch von Einrichtungen zur Betreuung – wie Eltern und Erzieher/innen den torengestützter Bericht mit einer Analyse zu ihrer Kinder stellen. Haben sich Eltern Bildungsauftrag der Kindertagesein- Bildung und Migration. Bielefeld entschieden, dass ihr Kind früher oder richtungen verstanden wissen wollen, Neumann, Ursula (2005): Kindertagesan- gebote für unter sechsjährige Kinder mit später, länger oder kürzer in eine Kinder- – wie ihre eigenen Vorstellungen und Migrationshintergrund. In: Sachverständi- tageseinrichtung gehen soll, unterschei- zugleich die politischen Erwartungen genkommission Zwölfter Kinder- und den sie sich in ihren Vorstellungen, was in der täglichen Arbeit umgesetzt Jugendbericht (Hrsg.): Band 1: Bildung, Be- dort konkret umgesetzt und gefördert werden. treuung und Erziehung von Kindern unter werden soll (Honig u. a. 2004): Ferner ist bislang noch nicht ausreichend sechs Jahren. München, S. 175–226 Rauschenbach, Thomas / Züchner, Ivo – Eltern, die eine Schulvorbereitung für geklärt, welche Erwartungen die Erzie- (2008): Ungleichheit in der frühen Kindheit. ihre Kinder wünschen und in diesem her/innen und die Eltern an die Bildung, In: Bielefelder Arbeitsgruppe 8 (Hrsg.): Sinne auch den Bildungsauftrag des Betreuung und Erziehung für die Kinder Soziale Arbeit in Gesellschaft. Wiesbaden, Kindergartens verstanden wissen wol- unter drei Jahren haben und inwiefern S. 328–338 len, besitzen in der Regel selbst einen hierbei regionale, soziale und ethnische Statistisches Bundesamt (2008): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und geringeren schulischen Abschluss. Differenzen eine entscheidende Rolle tätige Personen in Tageseinrichtungen am – Eltern aus Akademiker/innen-Haus- spielen. 15.03.2007. Wiesbaden halten gewichten diese Aspekte weni- ger stark. Tanja Betz, Pia Rother Kontakt: Dr. Tanja Betz, betz@dji.de; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik Pia Rother, rother@dji.de 12 DJI Bulletin 81 1/2008
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