Dis.kurs Das Magazin der - Volkshochschulen - Interview: Lernen mit digitalen Medien - Deutscher Volkshochschul-Verband
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
dis.kurs Ausgabe 1/2020 Das Magazin der Volkshochschulen Interview: Lernen mit digitalen Medien Dossier: Demokratie stärken! Digital Lehren und Lernen im Alphakurs
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Dialogfähigkeit will gelernt sein. Das gilt für private Beziehungen. Und das gilt für den gesellschaftlichen Diskurs – insbesondere, da demokratiefeindliche Kräfte einen Jahrzehnte geltenden Grundkonsens zunehmend in Frage stellen. Gegenseitiger Respekt, eine Verständigung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, Sensibilität für die Lehren aus der Geschichte – diese Werte sind inzwischen nicht mehr selbstverständliche Grundlage deutscher Debattenkultur. An Volkshochschulen aber doch! Volkshochschulen verstehen sich noch immer und jetzt erst recht als Orte, an denen gesellschaftliche Verständigung geübt und gelebt wird. „Zusammenleben. Zusammenhalten“ war unser Motto für die Lange Nacht und für das Herbst-/Wintersemester 2019. Die Kolleginnen und Kollegen in den Gremien des Dachverbandes waren einhellig der Meinung: An diesem Motto müssen wir weiter festhalten. Demokratiebildung ist ein zentra- les Gebot der Stunde! Demokratie schließt einen (Weiter-)Bildungsauftrag ein. Diese Verbindung ist Teil der DNA von Volkshochschulen. Und insbesondere unseren kommunalen Trägern, den Städten, Gemeinden und Landkreisen, möchten wir uns als Forum für Begegnung und Dialog empfehlen. Vor Ort, wo politische Entscheidungen das Lebensumfeld unmittelbar betreffen, lassen sich Menschen am ehesten mobilisieren. Und vor Ort, wo Menschen Auge in Auge um Kompromisse rin- gen, können Volkshochschulen entscheidend dazu beitragen, die verheerende Logik von Hate Speech zu durchbrechen. Dies ist das letzte Mal, dass ich mich an dieser Stelle an Sie wende, bevor ich zum ersten April in den Ruhestand trete. Es ist mir eine besondere Freude, dass ich Ihnen zum Abschied eine dis.kurs-Ausgabe mit dem Schwerpunktthema „Demokratie stärken“ zur Lektüre anempfehlen kann. Mit Stolz war ich all die Jahre Verbandsdirektor einer vhs-Community, die die politische Bildung als Kerndisziplin eines demokratischen Gemeinwesens pflegt. Ich wünsche Ihnen allen von Herzen: Bleiben Sie so stark und einfallsreich in Ihrem Engagement für Teilhabe und Chancengerechtigkeit! Alles Gute wünscht Ihnen Ihr Ulrich Aengenvoort Verbandsdirektor des DVV dis.kurs 01 | 2020
2 SCHLAGLICHT Trends und Exemplarisches erkennen, Zufälliges und Flüchtiges verdrängen Dr. Elisabeth Reichart und Rainer Krems [4] KOLUMNE DEMOKRATIE STÄRKEN Gestalten Sie den bundes- weiten Digitaltag mit! Susanne Deß [7] Wie können Volkshochschulen die Radikalisierungsprävention als Demokratie stärken? Querschnittsaufgabe Prof. Dr. Ulrich Klemm [16] kommunaler Bildungsarbeit ZWISCHENRUF Simone Albrecht [30] Digital überfliegen – „Strategien entlarven, statt ihnen analog aneignen auf den Leim zu gehen“ Warum Radikalisierungspräventi- Anna Ringbeck [8] Ralf Finke [19] on am besten in starken kommu- nalen Netzwerken funktioniert Warum Erich Fromm in jedes Im Gespräch mit Janusz Biene [32] HINTERGRUND vhs-Programm gehört „Wie ein Urlaub auf einer Henning Kurz [22] Hasskommentare, Fake News und ostfriesischen Insel“ politische Stimmungsmache Rabea Gruber [10] Von gesellschaftspolitischem Lars Gräßer und Johanna Zander [34] Desinteresse keine Spur „Nur wenige können allein Martin Schneider und Christine Loibl [24] Mit Globalem Lernen handlungs- mit digitalen Tools eine fähig werden gegen Rechts Fremdsprache lernen.“ Gemeinsam das Politische Lina Niebling [36] Dr. Marion Grein [12] erlebbar machen Maria Fülberth [26] Sachliche Diskussionen statt lautem Wahlkampf-Spektakel Die Sehnsucht nach Dr. Henrike Viehrig [38] friedlichem Miteinander Dr. Reimund Evers [28] dis.kurs 01 | 2020
Inhalte 3 GUTE PRAXIS KURZ NOTIERT dis.kurs für Volkshochschulen Neues Unterrichtsmaterial für die als Abo per E-Mail bestellen Finanzielle Grundbildung [50] Volkshochschulen können dis.kurs in beliebiger Stückzahl bestellen – für das DIE-Innovationspreis 2020: komplette Team und auf Wunsch auch Jetzt bewerben! [50] für Freunde und Förderer in Politik und Neue Materialien zur Radikalisierungs Gesellschaft. Damit Sie die nächste prävention an Volkshochschulen [51] dis.kurs-Ausgabe zuverlässig erhalten, bestellen Sie Abos per E-Mail an Handreichung: Bildung für nachhaltige info@ynot-gmbh.de oder per Fax an Entwicklung an Volkshochschulen [51] 06071 738 7119. Interner Bereich des DVV umgezogen [52] 15. Deutscher Volkshochschultag 2021 in Leipzig im Zeichen der Nachhaltigkeit [52] Lehren im Alphakurs: längst nicht mehr nur mit Buch und Tafel Im Gespräch mit Rosa Scherff [40] SERVICE Hass und Hetze im Netz begegnen „Wer möchte schon im Tobias Bönemann [54] Impressum Trubel der Prüfungen das Rad andauernd neu erfinden? dis.kurs 1/2020 Jasmin Guesmi und Katrin Stähle [42] GELESEN Das Magazin der Volkshochschulen Eine historische Reise durch ISSN 1611-6712, Postvertriebsstück die Volkshochschulwelt 27. Jahrgang Christian Sattler [56] Erscheint jeweils zum Ende des Quartals Preise für externe Leser/-innen: „Machen wir doch 'nen Flyer“ Einzelheft: € 6,50 Dr. Gerrit Lungershausen [58] Jahresabonnement: € 21,00 Herausgeber: Deutscher Volkshochschul-Verband e. V., Obere Wilhelmstraße 32, 53225 Bonn Tel.: 0228 975 69-0, Fax: 0228 975 69-30 Leseförderung mit Tablets E-Mail: info@dvv-vhs.de und Lese-Apps: Digitaler Treff- Internet: www.volkshochschule.de punkt der Generationen Verantwortlich: Agnes Gorny [44] Ulrich Aengenvoort, Verbandsdirektor Prägnante Geschichten erzählen, Redaktion: statt Zahlen–Daten–Fakten Sabrina Basler, Referentin (-26) Dr. Björn Otte [46] GESICHTER DER VHS Simone Kaucher, Pressereferentin (-11) Sascha Rex, Grundsatzreferent (-60) „Eine gesunde Mischung an Perspektiven auf Migration und Themen und Meinungen“ Abo-Verwaltung: Sabrina Basler (-26) Re-Integration in Marokko Sabrina Basler [60] Anzeigen: Sabrina Basler (-26) Susanne Hassen [48] Layout: LayoutManufaktur, Berlin Druck: SZ-Druck, Troisdorf Titel: Henning Wegener Umschlag-Gestaltung: Gastdesign, Wolfgang Gast dis.kurs 01 | 2020
4 Trends und Exemplarisches erkennen, Zufälliges und Flüchtiges verdrängen Über Ziele und erste Ergebnisse der revidierten vhs-Statistik Damit die bundesweit erhobene vhs-Statistik ihrer Angebote über mehr als 50 Jahre nachvollzo- auch zukünftig einen zeitgemäßen Blick auf An- gen werden, zumindest anhand grober Kennzahlen gebote, Leistungen und Struktur der Volkshoch- zu Finanzierung, Personal und Kursveranstaltungen. schulen ermöglicht, überarbeiteten das Deut- Eine weitere Besonderheit, die die vhs-Statistik ins- sche Institut für Erwachsenenbildung (DIE), der besondere für die Forschung so interessant macht, Deutsche Volkshochschul-Verband (DVV) und die ist ihre Regionalisierbarkeit. vhs-Landesverbände in den vergangenen Jahren in einer „großen Revision“ umfassend die statis- Krems: Die freiwillige Beteiligung fast aller Volks- tischen Erhebungsbögen. Mit der 57. Folge der hochschulen an der vhs-Statistik hat den großen Vor- vhs-Statistik liegen für das Berichtsjahr 2018 nun teil, dass die Volkshochschulen und ihre Verbände frei erstmalig Daten auf Grundlage der revidierten Er- darüber entscheiden können, welche Daten erhoben hebung vor. Im schriftlichen Interview mit dis.kurs werden sollen: Ob zur Dokumentation der eigenen ordnen Dr. Elisabeth Reichart und Rainer Krems Arbeit, als Grundlage der weiteren Entwicklung oder die Ergebnisse ein. zur Vertretung der vhs-Interessen gegenüber Politik und Öffentlichkeit. Andererseits folgt daraus die Not- wendigkeit, abzuwägen – erfragt man zu viel, könnte das die hohe Beteiligung und die Vollständigkeit der Datenzulieferung gefährden. | Welche Ziele verfolgen Sie mit der Revision der vhs-Statistik? Reichart: Die bisherige Statistik, deren Systematik seit 1998 existiert, hat nicht mehr alle Tätigkeitsbe- reiche und strukturellen Bedingungen abgedeckt, in bzw. unter denen die Volkshochschulen tätig sind. In Bezug auf die Organisation sind hier zu nennen: die Einwerbung von Drittmitteln (auch von öffentlichen Dr. Elisabeth Reichart ist wissen- Rainer Krems war Mitarbeiter schaftliche Mitarbeiterin in der Ab- der Berliner Senatsverwaltung Geldgebern), die Durchführung von Qualitätsma- teilung „System und Politik“ des DIE. und Mitglied des OFA/DVV. Er nagement und die Fortbildung der Lehrenden. Neue Sie koordinierte das Revisionsprojekt unterstützt die vhs durch seine pädagogische Anforderungen entstehen etwa durch 2014–2018 im DIE für den Bereich der Mitarbeit in der DVV-Arbeits- Volkshochschul-Statistik. gruppe Statistik-Revision die Ausweitung der Zielgruppen und Bildungsberei- che, durch die Förderung des Erwerbs von Abschlüs- sen und Zertifikaten, die Unterstützung digitalen | Was ist das besondere an der vhs-Statistik? Lernens und die Beratung und Kompetenzerfassung. Die Revision hatte zum Ziel, diese Bereiche adäquat Reichart: Die vhs-Statistik ist eine Vollerhebung. abzubilden und gleichzeitig die bisherigen Katego- Schon seit langer Zeit beteiligen sich daran fast alle rien zu überarbeiten und zu modernisieren. Mitglieder der vhs-Landesverbände – im letzten Be- richtsjahr vor der Revision waren es 99 Prozent. Da Krems: Die Statistikrevision war ein schwieriges Un- die Statistik bereits seit 1962 besteht, können die terfangen, weil neu hinzugekommene vhs-Aufgaben Entwicklungen der Volkshochschullandschaft und abgebildet werden sollten, ohne dass andere wegge- dis.kurs 01 | 2020
Schlaglicht 5 fallen wären, und weil sich dieses erweiterte Aufga- benprofil auf Strukturen, Personal und Finanzen aus- wirkt, was ebenfalls belegt werden sollte. Zugleich musste berücksichtigt werden, wie eine weitgehend automatisierte Datenerfassung bei den Volkshoch- schulen und eine Verarbeitung der Daten beim DIE © iStock / Getty Images Plus / MicroStockHub realisierbar sind. | Was hat sich im Wesentlichen verändert? Reichart: Für die bisher nicht erfassten Leistungen wurden neue statistische Kategorien geschaffen; die meisten davon erscheinen nun unter der Über- schrift „Weitere Leistungen“ in der Statistik. Auch die thematischen Kategorien – die Programmbereiche und Fachgebiete – wurden „entrümpelt“, das heißt teilweise zusammengefasst und mit moderneren Bezeichnungen versehen. Zusätzlich wurden für die Kurse und teilweise auch für die Einzelveranstaltun- gen neue Zusatzmerkmale eingeführt, die unab- hängig von der thematischen Zuordnung vergeben werden können: berufsbezogene Veranstaltungen, abschlussbezogene Veranstaltungen und Veranstal- tungen mit digitalen Lernangeboten. insgesamt bei 98 Prozent lag. Die Größenordnungen Krems: Diese Änderungen sind nicht „aufwandsneu- der Kernmerkmale (Gesamtfinanzierung, Personal, tral“: die Volkshochschulen werden nach zusätzlichen Kurse) liegen in dem Rahmen, den wir aufgrund der Daten über Einrichtung, Personal und Finanzen ge- Ergebnisse der Vorjahre und der vorgenommenen fragt; sie sollen weitere Leistungen (Beratung, Betreu- Veränderungen erwarten konnten. Gut ist auch, dass ung etc.) nach Umfang und Teilnehmerzahl abbilden; sich Veränderungen, die bisher nur grob wahrnehm- sie sind aufgefordert, das gesamte Bildungsangebot bar waren, wie zum Beispiel bei der Personal- und der (soweit zutreffend) mit den neuen Zusatzmerkmalen Finanzierungsstruktur, nun durch die Ausdifferenzie- zu kennzeichnen, wodurch andere Gruppierungen rung der Erhebungskategorien in Daten belegen las- als nach Programmbereichen möglich sind. sen. Der zuletzt genannte Punkt macht den Kern der Revi- Krems: Ein Beispiel für ein im Umfang jetzt besser er- sion aus, während die anderen Punkte eher als Erwei- kennbares Aufgabenfeld ist die Alphabetisierungs- terungen anzusehen sind. Das vhs-Angebot anhand arbeit der Volkshochschulen. Bisher waren Teile die- der Zusatzmerkmale gruppieren und quantifizieren ses Lernangebots in der Statistik zwar enthalten, aber zu können, verbessert die bildungspolitische Argu- nicht als solche zahlenmäßig erfasst. Das betraf zum mentationsbasis: künftig lässt sich genauer und für einen Auftrags- und Vertragsmaßnahmen, die gene- mehr Aufgabenfelder belegen, in welchem Maße die rell nicht nach Fachgebieten differenziert wurden, Bildungsarbeit der Volkshochschulen dazu beiträgt, zum anderen Alphabetisierungskurse im Rahmen die gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen. des Spracherwerbs Deutsch, die dort ebenfalls nicht getrennt erfasst wurden. Für 2018 lässt sich jetzt be- legen, dass das Unterrichtsvolumen der Alphabeti- | Wie sind die Ergebnisse des ersten Berichtsjahres sierungsarbeit um das Zweifache höher liegt als für der revidierten Statistik einzuschätzen? 2017 ausgewiesen. Reichart: Positiv ist zu bewerten, dass trotz der gro- Reichart: Trotz dieser ersten positiven Ergebnisse ßen Umstellung fast alle Volkshochschulen die Sta- muss auch festgehalten werden, dass bei den neuen tistik ausgefüllt haben, sodass die Erfassungsquote Zusatzmerkmalen der Kurse und bei den Weiteren dis.kurs 01 | 2020
6 Schlaglicht Leistungen die gemeldeten Summen noch nicht den | Zurück zu den Zahlen: gibt es Ergebnisse, die Sie Größenordnungen entsprechen, die aufgrund der überrascht haben? Feldbeobachtung zu erwarten sind. Reichart: Überrascht direkt nicht. Bei den neuen Krems: Die Erwartung, bei den zusätzlichen Kurs- Erhebungsmerkmalen ist die Datengrundlage nicht merkmalen aussagekräftige Daten zu gewinnen, mit aussagekräftig genug, um gesicherte Aussagen zu denen im politischen Raum argumentiert werden treffen. Aber allein durch die neuen Möglichkeiten könnte, hat sich im ersten Jahr der revidierten Erhe- der Zusammenfassung von Daten, können Grö- bung leider noch nicht erfüllt. Die Zahlen auf Bun- ßenordnungen anders als bisher sichtbar gemacht desebene lassen eindeutig erkennen, dass von vie- werden, und das kann auch schon einen Überra- len Volkshochschulen entweder nur für wenige Kurse schungseffekt erzeugen. Beispielsweise ist jetzt viel oder überhaupt keine Zusatzmerkmale vergeben deutlicher zu sehen, wie groß inzwischen der Anteil vhs-Statistik 2018 worden sind. Ein Beispiel hierfür ist der Programm- öffentlicher Mittel ist, die nicht als Zuschüsse gezahlt Nähere Information über bereich Sprachen. Im gesamten Programmbereich werden, sondern eingeworben werden müssen – Hintergründe, Änderungen wurden weniger Kurse mit „auf einen Abschluss be- und zwar nicht nur vom Bund und der EU, wo das der Revision und natür- zogen“ gekennzeichnet, als Integrationskurse durch- die Regel ist, sondern auch von den Ländern. Rainer lich die Ergebnisse finden Sie in der 57. Folge der geführt wurden, obwohl diese ja stets auf Abschlüsse Krems hat bereits auf die bessere Sichtbarkeit der Volkshochschul-Statistik, ausgerichtet sind. Aufgrund solcher Beobachtungen Alphabetisierungsarbeit der Volkshochschulen hin- Berichtsjahr 2018 muss angenommen werden, dass die auf Länder- gewiesen. https://www.die-bonn.de/ und Bundesebene aggregierten Zahlen zu den Zu- id/37213 satzmerkmalen nicht valide sind. Die Zahlen für ein- zelne Volkshochschulen können natürlich durchaus | Was ist aus Ihrer Sicht bezüglich der Daten aus zutreffen. den Volkshochschulen noch verbesserungsfähig? Bei den Weiteren Leistungen sind die Meldungen Reichart: Der wichtigste Punkt: Damit die Daten für ebenfalls noch unvollständig. So hat weniger als die die Zwecke aller Nutzergruppen (Verbandsebene, Hälfte aller Volkshochschulen Zahlen zu Beratungen Bildungspolitik und Forschung) aussagekräftig sind, angegeben; schon wegen der Beratung zur Kursein- müssen sie vollständig sein. Das bedeutet zunächst, stufung (einer Standardleistung der Volkshochschu- dass die Statistik 2019 möglichst von allen vhs ausge- len) kann das aber nicht stimmen. füllt werden sollte (2018 waren es 883 von 895 vhs). Zudem müssen die neuen Differenzierungen in den Daten beachtet werden. | Worauf würden Sie diese fehlenden Meldungen zurückführen? Krems: Für die anstehenden 2019er Statistikmel- dungen könnte in manchen Volkshochschulen die Krems: Warum in erheblichem Umfang Meldungen Lage der des Vorjahrs gleichen: wenn in der Verwal- fehlen, ist nicht ganz klar. Eine Ursache ist sicherlich, tungssoftware Lehrveranstaltungen angelegt wur- dass zumindest Teile des 2018er Angebots in den den, ohne sie mit den Zusatzmerkmalen zu kenn- Verwaltungsprogrammen der Volkshochschulen zeichnen, ist für die korrekte Statistikmeldung eine schon angelegt werden mussten, bevor die an die Nachbearbeitung erforderlich – am besten durch die neuen Anforderungen angepassten Software-Versio- Programmverantwortlichen, die mit dem Inhalt der nen verfügbar waren. Zudem hat die Unterstützung Kurse vertraut sind. in der Umstiegsphase nicht so lückenlos funktioniert wie geplant: das zum Verständnis der neuen Anfor- Die Statistik-AG bittet die Volkshochschulen drin- derungen wichtigste Hilfsmittel, die vollständig über- gend, diese Zusatzarbeit auf sich zu nehmen. An- arbeiteten Erläuterungen zur Statistik, war zwar ab dernfalls würde es möglicherweise noch bis 2022 Februar 2019 beim DIE abrufbar. Darauf hätte jedoch dauern, ehe valide Daten zu den Zusatzmerkmalen – wie sich jetzt zeigt – über die Verbände noch ein- und den weiteren Leistungen vorliegen. Es kann aber mal ausdrücklich hingewiesen werden müssen. Of- jederzeit eine Situation eintreten – wie 2019 mit der fenbar mussten sich vielerorts vhs-Mitarbeiterinnen Umsatzsteuerkampagne –, in der dringend belast- Die Fragen stellte Sascha Rex, und -Mitarbeiter mit den neuen Anforderungen ab- bare Zahlen benötigt werden, um die Interessen der Grundsatzreferent für Gesell- mühen, ohne die Unterstützungsmöglichkeiten nut- Volkshochschulen zu wahren. | schaftspolitik und Projektlei- zen zu können. Die Statistik-AG bedauert dies sehr. ter beim DVV. dis.kurs 01 | 2020
Kolumne 7 Gestalten Sie den bundesweiten Digitaltag mit! Volkshochschulen können sich als digitale Bildungseinrichtung positionieren „Digitale Teilhabe für alle“ – dieses Ziel verfolgen Mit dem „Manifest zur digitalen Transformation“ hat Volkshochschulen spätestens seit dem Volkshoch- sich die vhs-Community ein Leitbild gegeben. Darin schultag 2016. Landauf, landab setzen wir uns dafür heißt es, dass sich Volkshochschulen als kommunale ein, dass die Chancen der Digitalisierung allen Men- Lern-Communities aufstellen wollen, als offene Bil- schen zuteilwerden. dungsplattform für die Bürgerinnen und Bürger, die sich vor Ort mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Volkshochschulen möchten in Fragen der digitalen kommunalen Institutionen vernetzt. Weiterbildung die zentrale Anlaufstelle in der Kom- mune sein. Doch diese Rolle fällt uns nicht in den Eine hervorragende Gelegenheit dafür bietet der Schoß. Als Programmverantwortliche müssen wir bundesweit erste Digitaltag am 19. Juni 2020. Mehr zum Beispiel lernen, wie wir digitale Formate und als 20 Organisationen rufen dazu auf, darunter die Medien bestmöglich einsetzen. Um eine bessere di- kommunalen Spitzenverbände, die AWO, die Ver- gitale Ausstattung müssen viele Einrichtungen eben- braucherzentralen und der Verband kommunaler falls ringen. Sie tun dies im Dialog mit ihren Trägern Unternehmen. vor Ort. Die Verbände vertreten die Anliegen gegen- über der Politik. Ich möchte Sie herzlich dazu ermuntern, sich am Di- gitaltag 2020 zu beteiligen. Suchen Sie die Koopera- In diesen Verhandlungen erinnern wir stets daran, tion mit Ihrer Kommune, mit Bibliotheken oder mit dass Volkshochschulen überall in Deutschland prä- lokalen Betrieben und zeigen Sie: Wenn es um Digi- sent sind und deshalb beste Voraussetzungen bieten, tale Teilhabe für alle geht, dann sind die Volkshoch- um die breite Bevölkerung zu erreichen. Wir begrei- schulen ganz vorne mit dabei! Anregungen finden fen digitale Bildung ganzheitlich: An der vhs können Sie unter digitaltag.eu. Menschen lernen, digitale Technologien anzuwen- den, sie können Medienkompetenz erwerben oder Herzlichst, sich mit digital gestützten Prozessen vertraut ma- Ihre Susanne Deß, Leiterin der Abendakademie Mann- chen. Und sie können erfahren, wie digitale Medien heim, stellvertretende DVV-Vorsitzende und Mitglied das Lernen sinnvoll unterstützen. der AG Digitalisierungsoffensive im DVV. dis.kurs 01 | 2020
8 Digital überfliegen – analog aneignen Warum wir die Leselust im Zeitalter der Digitalisierung aktivieren müssen Von Anna Ringbeck D ie Inhalte eines gedruckten Buches kann ich © GaudiLab / depositphotoos mir leichter merken als Inhalte digital gelese- ner Texte, und wichtige Dinge drucke ich des- wegen aus oder kaufe mir sofort das Buch. Für mich war lange klar, ursächlich hierfür ist, dass ich nicht zur Generation der „Digital Natives“ gehöre. Inzwischen weiß ich, es geht nicht nur mir so. Lesen will gelernt sein Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen for- schen seit einigen Jahren über den Einfluss der Di- gitalisierung auf die Lesepraxis. Sie stellten fest, dass wir uns Informationen auf gedrucktem Papier besser merken können als die, die wir auf dem Bildschirm gelesen haben. Diese Forschungserkenntnisse ver- anlassten über 130 Leseforscher*innen, im vergan- genen Jahr die Erklärung von Stavanger zur „Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung“ zu unter- zeichnen. Online lesen wir nicht so konzentriert, sondern „tabu- lar“, also ad hoc, ändern spontan Richtung und Ziel Lesen ist keine angeborene Fähigkeit, sondern eine und überfliegen den Text auf der Suche nach Infor- komplexe Handlung, die gelernt werden muss. Spre- mationen. Wir lesen nicht wirklich, sondern „brow- chen ist genetisch festgelegt und jedes Kind lernt es sen“ durch Text und Bilder und springen von Punkt über die Kommunikation in seinem sozialen Umfeld. zu Punkt. Die Beherrschung der Kulturtechniken „Lesen und „Der Übergang in Schreiben“ erfordert jedoch jahrelanges Training. Im eine digitale Kultur, Der Unterschied beim digitalen Lesen ist, wie Eye- menschlichen Gehirn entwickeln sich für diese kog- von dem nahezu alle Tracking- Studien belegen, dass wir online Informa- nitive Funktion neue Schaltkreise. Dabei handelt es Lebensbereiche be- tionen zentral in einem F-Muster lernen. Das heißt, sich um einen Strukturierungsprozess des Gehirns. wir beginnen wie beim analogen Lesen in der lin- troffen sind, wirkt ken oberen Ecke, folgen dem Lesemuster zunächst, sich auf die Aufmerk- schweifen dann ab, screenen die Seite zweimal ho- Analog lesen wir linear, samkeit, Wahrneh- rizontal, stoppen dann und nehmen die Abkürzung, digital im F-Schema mung, Verarbeitung indem wir auf der linken Seite abwärts schweifen, so Wenn wir ein Buch lesen, folgen wir dem Text Wort und Speicherung dass wir mit unserem Blick ein „F“ beschreiben. für Wort von links nach rechts. Beim Lesen lernen von Informationen wird trainiert, konzentriert alle Buchstaben in einen aus. Online und off- Die Leseforscherin Maryanne Wolf untersuchte, ob es Zusammenhang zu bringen und die Bedeutung zu line Gelesenes wird einen Unterschied gibt, wenn eine Kurzgeschichte reflektieren. Lesen ist eine konzertierte Tätigkeit, bei auf Papier oder einem Kindle gelesen wird. Heraus anders verarbeitet der wir uns nicht ablenken lassen, weil wir uns aus- kam, dass diejenigen, die auf Papier lasen, den Text führlich informieren wollen. Konzentriertes Lesen för- als die Form, wie besser verstanden, sich an mehr Details erinnerten dert das Denkvermögen und die Reflexion sowie die wir ‚klassisch‘ lesen und den Handlungsstrang zusammenhängend bes- kritische Analyse und argumentatives Denken. gelernt haben.“ ser nacherzählen konnten als diejenigen, die den dis.kurs 01 | 2020
Zwischenruf 9 Text auf einem Kindle lasen. Ihre Hypothese, die „Di- und zu reflektieren und verfügen nur über die Lese- Weiterführende gital Natives“ würden besser abschneiden, belegen kompetenz eines Viertklässlers. Das heißt, jeder fünfte Literatur: die bisherigen Studienergebnisse nicht. Auch in die- 15-Jährige in Deutschland gilt als „gering literalisiert“. Stavanger Erklärung 2019: https://www.faz.net/ak- ser Generation ist Papier klar im Vorteil. tuell/feuilleton/buecher/ Die Bundesregierung rief im Jahr 2015 die Dekade themen/stavanger-erklae- der Alphabetisierung aus, investierte viel Geld, um rung-von-e-read-zur-zu- Die Folgen des kunft-des-lesens-16000793. Einigen der damals 7,5 Millionen erwachsenen An- digitalen Überfliegens alphabeten das Lesen beizubringen. Das ist zu be- html Wolf, Maryanne: Schnelles Angesichts dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse grüßen und war laut Leo-Studie 2018 erfolgreich. Die Lesen, langsames Lesen. besteht offenbar die Gefahr, dass die zunehmende Ergebnisse der Pisa-Studie lassen jedoch den Schluss Warum wir das Bücherle- sen nicht verlernen dürfen. Digitalisierung dazu führt, dass das sogenannte „ver- zu, dass in Deutschland derzeit eine neue Generation München: Penguin Verlag, tiefte Lesen“ verlernt wird. Dies hat Folgen: die Kom- „gering literalisierter“ heranwächst und präventive 2019 plexität der Gedanken geht verloren und damit auch Maßnahmen erforderlich sind, um dieser Entwick- die Empathie und das kritische Denken. Beim Über- lung entgegenzuwirken. fliegen bekommen wir nicht mit, was der Autor uns sagen will und verpassen die Abstufungen. Leselust im Zeitalter der Digitalisierung Maryanne Wolf sieht weiteren Forschungsbedarf, um zu erfahren, was im Gehirn passiert, wenn wir digital Jede komplexe Tätigkeit erfordert Übung, dies gilt für lesen. Im digitalen Zeitalter geht es darum, die Tech- Schwimmen, Radfahren, Klavierspielen genauso wie nik zu verbessern und die Schwächen anzugehen. Es fürs Lesen. Die Lust dafür sollte möglichst früh ge- gehe nicht um einen Gegensatz zwischen Papier und fördert werden. Offenbar geht die Kulturtechnik des Bildschirm, sondern darum, beide Kompetenzen zu vertieften Lesens im Zuge der Digitalisierung verlo- entwickeln, vor allem für die junge Generation. ren. Einerseits wird viel Geld in die Digitalisierung der Bildung investiert, anderseits vor zu frühem und in- Die Ergebnisse der Pisa-Studie 2018 mit dem Schwer- tensivem Gebrauch digitaler Technologien gewarnt. punkt „Lesekompetenz“ wurden am 3. Dezember Weil Kinder und Jugendliche den Umgang mit den 2019 veröffentlicht und deuten darauf hin, dass die digitalen Medien problemlos lernen, spricht viel da- Einschätzung der Leserforscher*innen richtig ist für, ihnen zuerst konzentriertes Lesen beizubringen. und Anlass zur Sorge gibt. Deutsche Schüler*innen Das fördert kritisches Denken und schützt vor mani- schnitten schlechter ab als 2015, und die 15-Jährigen pulativen und oberflächlichen Informationen in den erreichten ähnliche Ergebnisse wie 2009, als Lesen digitalen Medien. Hier sind Elternhäuser ebenso ge- zuletzt im Mittelpunkt der PISA-Studie stand. Der fragt wie Bildungseinrichtungen. Die Volkshochschu- Anteil der besonders Leseschwachen ist seit 2009 len könnten zum Beispiel Vorleser qualifizieren, Lese- gestiegen. Zwanzig Prozent der 15-Jährigen sind kreise initiieren und gemeinsam mit Bibliotheken Dr. Anna Ringbeck ist kaum in der Lage, den Sinn von Texten zu erfassen Vorlesestunden anbieten. | Direktorin der vhs Münster Anzeige Nehmen Sie uns beim Wort Maßgeschneiderte Studienreisen und fordern Sie noch heute exklusiv für Ihre Gruppe Ihr persönliches Angebot an 9innovative Reiseideen und Themen Ihre STUDY TOURS Ma ß! 9persönliche Beratung Ansprechpartnerin: Studienreisen nac h Konstanze Bues 9perfekte Planung und sorgfältige Organisation Tel.: 09445 - 9914201 9faires Preis-Leistungsverhältnis bues@studytours.de Seit über 50 Jahren ist StudyTours der erfolgreiche Spezialveranstalter für individuelle Kulturreisen rund um den Globus. Vertrauen Sie auf unsere Erfahrung und unser Ihre Reiseideen finden Sie direkt hier Know-How. www.studytours.de dis.kurs 01 | 2020
10 „Wie ein Urlaub auf einer ostfriesischen Insel“ Ausstellung zeigt die Geschichte der „insel“-Volkshochschule in Marl Von Rabea Gruber I m Jahr 1955 wurde das erste Volkshochschul-Ge- Bürgermeister gewählt, wollte für die verstreuten bäude der Bundesrepublik eingeweiht. Und zwar Ortsteile ein neues Stadtzentrum erschaffen. Dr. Bert in Marl. Der zweistöckige Backsteinbau war rund Donnepp, Pädagoge und Publizist, träumte von einer 20 Jahre lang Heimat der Volkshochschule. Später modernen Erwachsenenbildung. Beide erkannten, zog das Grimme-Institut dort ein. Eine Ausstellung dass sie von den Zielen des jeweils anderen profi- im Marler Skulpturenmuseum zeichnet jetzt die Ge- tieren können, und so entstand die Volkshochschule schichte des Hauses und der Erwachsenenbildung in der Stadt Marl. Marl nach. Schon Ende der 40er Jahre begann die Planung für ein eigenes Haus, das ganz der Bildung gewidmet Ein Lesesaal als Installation sein sollte. Der Architekt Dr. Günther Marschall, der Das Museumsfoyer ist gemütlich hergerichtet wor- für die Stadtplanung in Marl verantwortlich war, ent- den. Mitten im Raum laden dunkelbraune Holz- warf einen Atriumbau mit Glas-Fassaden und licht- tische und Ledersessel dazu ein, es sich bequem durchfluteten Räumen. In ein paar Jahren entfaltete zu machen. Dazwischen Zimmerpflanzen. Für die sich in seiner Nähe das neue Marler Stadtzentrum, Dauer der Ausstellung dürfen Besucherinnen und doch zunächst stand das Gebäude ziemlich allein in Besucher in dieser Rauminstallation verweilen und in der Heidelandschaft. Zwischen seinen Mauern ver- der Geschichte der Marler „insel“ blättern, die in vie- einte das Haus Volkshochschule, Lesesaal und Bib- len Zeitungsartikeln dokumentiert wurde. Nach dem liothek. Auf Vorschläge der Marler Bürgerschaft hin Zweiten Weltkrieg trafen in Marl zwei ehrgeizige Per- taufte Donnepp es „die insel“. sonen aufeinander. Rudolf-Ernst Heiland, 1946 zum Ziel: Ein „kulturelles Stadtbewusstsein“ Herzstück der Ausstellung im Skulpturenmuseum ist ein großer Fernseher. Von schwarzen Ledersesseln aus können die Besucher einen Film anschauen, der die Geschichte der „insel“ anhand von Archivmate- rial und aktuellen Sequenzen erzählt. Ein Aufenthalt in dem Gebäude solle sich „wie ein Urlaub auf einer Fotos: Grimme-Institut / Rabea Gruber ostfriesischen Insel“ anfühlen, sagt Bert Donnepp in einer Interviewsequenz. Dabei solle die „insel“ keine Flucht aus dem Alltag sein, sondern eine Auszeit. In dem zurückgezogenen Haus könnten neue Ge- danken entstehen, die man dann wieder mit in den Alltag nehmen könne, erklärt der erste Direktor des Hauses. Mit seinem Anliegen stieß Donnepp in den 50er Jah- ren auf eine heterogene Gesellschaft. Viele Geflüch- tete und Arbeitssuchende sind nach dem Krieg in Marl gelandet und suchten vor allem eins – Arbeit. Die fanden sie in den Zechen und in dem 1938 ge- Ein Film von Fari Shams und Arne Schmitt zeichnet die Entwicklung der Marler „insel“ nach. gründeten Chemiewerk. Der Wert der Arbeit sollte in dis.kurs 01 | 2020
Hintergrund 11 Ausbau der Bildungsarbeit und Umzug in den Marler Stern Die „insel“ hatte bald ihren festen Platz im öffentli- chen Leben der Einwohner von Marl. Nach einigen Jahren wurde klar: Für den immerzu wachsenden Be- trieb war das Gebäude zu klein. Da kam es gerade recht, dass ganz in der Nähe ein modernes Einkaufs- zentrum entstehen sollte. Als der „Marler Stern“ im Heute ist „die insel“ eine mo- derne Volkshochschule. Oktober 1974 der Bevölkerung übergeben wurde, hatte die „insel“ dort einen festen Platz in der oberen Etage. „Bildung gilt damit nicht mehr als kostbares Gut, sondern als für jeden erreichbare Ware“, beschreiben die Künstlerinnen und Künstler. In dem Film von Fari Grafik: Fari Shams und Arne Schmitt Shams und Arne Schmitt erinnern sich auch ehema- lige Lehrkräfte und Angestellte der „insel“ zurück. „Ich kann mich noch an Frauen erinnern, die ihre Männer samstags im Lesesaal abgegeben haben und dann in Ruhe einkaufen gegangen sind“, erzählt Erika Ben- ner aus ihrer Zeit in der „insel“. „Und wenn sie fertig waren, haben sie die Männer wieder abgeholt.“ Die Ausstellungsplakat Verbindung von Bildung und Kommerz sagte nicht allen zu. Klar war aber: Durch die neue Lage im Marler Stern sank die Schwelle zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Bildungswerk weiter. Inhalt- dieser Stadt weiter gewürdigt werden. Gleichzeitig lich passte die Volkshochschule ihre Angebote an die galt es aber auch ein „Mehr“ für die Bevölkerung zu sich wandelnden Bedürfnisse an. Sprachkurse, EDV- schaffen: Kunst, Kultur und Bildung für eine neue „Bil- Kurse, Themen rund um Gesundheit und Fitness – dungsschicht von nie gekannter Breite“. Bürgerinnen der „insel“ gelang die Entwicklung zu einer moder- und Bürger sollten ermuntert und befähigt werden, nen Bildungseinrichtung. Bert Donnepp blieb bis zu sich selbst an der Gestaltung ihrer Stadt zu beteili- seiner Pensionierung 1979 Direktor. Eine Büste von gen. Belehrung von oben herab war und ist in der ihm hängt auch heute noch im ehemaligen „insel“- „insel“ unerwünscht. Gebäude. Neue Mieter für die alte „insel“: Das Grimme-Institut Der Adolf-Grimme-Preis für Qualität im Fernsehen wurde 1964 zum ersten Mal verliehen. 1973 initiierte Bert Donnepp die Gründung des Adolf-Grimme-Ins- tituts, das sich von da an mit der Preisvergabe befasst. Das Institut fand seine Heimat in der alten „insel“. Es fusionierte im Jahr 2010 mit dem Marler Europäi- schen Zentrum für Medienkompetenz (ecmc) und trägt seitdem den Namen Grimme-Institut. 2014 wurde das ehemalige „insel“-Gebäude in „Bert-Don- nepp-Haus“ umbenannt. | Rabea Gruber studiert An- Kurz und knapp gewandte Literatur- und „die insel“ ist eine Ausstellung von Fari Shams und Arne Kulturwissenschaften und Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl wird durch eine Schmitt. Weitere Infos unter: www.skulpturenmuseum- absolviert ein Praktikum Installation zum Lesesaal. glaskasten-marl.de/de/ausstellungen/ beim Grimme-Institut. dis.kurs 01 | 2020
12 „Nur wenige können allein mit digitalen Tools eine Fremdsprache lernen.“ Dr. habil. Marion Grein über das Lernen mit digitalen Medien PD Dr. habil. Marion Grein leitet den Masterstu- Tatsächlich wissen wir heute, dass alles Wissen (also diengang „Deutsch als Fremdsprache / Deutsch auch Vokabeln) multimodal gespeichert ist. Das als Zweitsprache“ an der Johannes Gutenberg- heißt, das Wissen, dass ein Hund vier Beine hat, ist Universität Mainz. Die Schwerpunkte ihrer For- in einem anderen Bereich gespeichert als das Wis- schungsarbeit sind Neurodidaktik, Sprachtypo- sen, dass man diesen streicheln kann, welche Ge- logie, interkulturelles Lernen und digitales Lernen. räusche er macht und wie er riecht. Das „Konzept Besonders das digitale Lernen beschäftigt die Hund“ ist also in verschiedenen Arealen des Gehirns Volkshochschulen derzeit bundesweit. In ihrem „gespeichert“. Auf den Unterricht angewendet, heißt Workshop „Was bewirkt Digitalisierung im Gehirn“, das: je mehr Modalitäten man Lernenden anbietet, während der Bundesfachkonferenz Sprachen desto „fester“ ist die Speicherung. Es ist ein Fakt, dass 2020 in Aachen, veranschaulichte sie einige Er- Musik einen positiven Einfluss auf das Erlernen der kenntnisse aus ihrer Forschung zu diesem Thema. Aussprache hat. Aber es ist schwierig, daraus kon- krete Tipps abzuleiten, da die Neurowissenschaften ebenfalls sehr deutlich machen, dass Menschen sehr Fotos: Florian Winters Fotografie unterschiedlich sind. Während der eine also gerne aktiv durch den Raum geht und dazu singt, lehnt ein anderer dies komplett ab. Gehirngerechtes Leh- ren (nicht lernen) klappt eigentlich nur dann, wenn die Lehrkraft sich der Unterschiedlichkeit ihrer Ler- nenden bewusst ist, zuweilen über ihren Schatten springt und auch solche Übungen integriert, denen sie selbst kritisch gegenübersteht. | Studien zeigen, dass die digitale Welt das Lernen positiv beeinflussen kann. Welches sind die neuesten Erkenntnisse? Im Zeitalter der sogenannten „Digitale Natives“ brau- | Frau Grein, Sie erforschen das Sprachenlernen chen besonders junge Menschen auch Übungsfor- aus neurobiologischer Perspektive und fragen unter men, die digitale Medien einsetzen. Grundsätzlich anderem nach den Faktoren effektiven Lernens. Was zeigt die Forschung, dass beim Einsatz digitaler Me- meint „gehirngerechtes Lernen“ und wie gelingt es? dien sowohl die Aufmerksamkeit als auch die Moti- vation der meisten Lernenden steigt. Konzentriert Dr. Marion Grein: Tja, das wird oftmals falsch interpre- man sich auf eine Aufgabe am Smartphone, wird die tiert; also man hoffte – und hofft wohl immer noch –, selektive Aufmerksamkeit verbessert, also die Fähig- dass die Neurodidaktik Tipps für das Sprachenlernen keit, sich auf Relevantes zu fokussieren und störende (oder das Lernen an sich) geben könnte. Während Reize auszublenden. Nichtsdestotrotz sollte die Zeit man der Neurodidaktik früher sehr skeptisch gegen- am PC natürlich begrenzt sein. Eine fMRT1-Studie aus überstand, gibt es inzwischen mehrere Verbünde dem Jahr 2016 zeigte so, dass bereits eine Stunde zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissen- Computerspiel pro Woche ausreichen, um einen schaften. Manche versprechen sich weiterhin, daraus konkrete Tipps ableiten zu können. 1 funktionelle Magnetresonanztomographie dis.kurs 01 | 2020
Schlaglicht 13 positiven Effekt auf die visuell-motorischen Fähigkei- ten von Schulkindern auszuüben. Wichtig ist jedoch, dass Lehrende über ausreichend mediendidaktische Kompetenzen verfügen. | Welche Rolle spielen digitale Medien bei der Moti- vation der Lernenden? Die meisten Menschen, also auch die in der mitt- leren Generation, erledigen heute sehr vieles mit ihrem Smartphone. Erhalten sie Aufgaben, die mit dem Smartphone zu erledigen sind, steigert dies oftmals die Motivation. Aufgaben dieser Art sind rea- listisch und authentisch. Selbst Aufgabentypen, die eher behavioristisch sind, also Multiple Choice oder Zuordnungsübungen, geben sofort ein (hoffentlich Auch im höheren Alter hat das Erlenen einer Fremdsprache noch positive Auswirkungen auf positives) Feedback. Auch das ist für Lernende meist unser Gehirn: diese und weitere aktuelle Forschungserkenntnisse über das Sprachenlernen motivierend. Trotzdem sind digitale Medien nicht der präsentierte PD Dr. Marion Grein in ihrem Abschlussplenum auf der BFK Sprachen in Aachen. größte Motivator. Die meisten Menschen sind soziale Wesen und leben vom Austausch – vom realen Aus- tausch – mit anderen Lernenden. Wichtiger ist aber „speicherintensiver“. Das könnten Aufgaben sein wie noch die Lehrkraft an sich: je sympathischer und au- zum Beispiel „Drehen Sie ein kleines Video mit Ihrem thentischer diese wirkt, desto besser lernt man. Je Handy“, „Erstellen Sie eine Wortschatzübung mit dem mehr sie ihr Interesse zeigt, ob die Lernenden Fort- Programm xy“ oder „Berichten Sie in der WhatsApp- schritte machen, desto mehr steigert dies deren Mo- Gruppe über Ihren Freitagabend“. In der höchsten tivation. Nur wenige Menschen können komplett Form sind digitale Aufgaben konstruktiv-kollabora- ohne diese Ansprache und ausschließlich mit digita- tiv, das heißt Gruppen erarbeiten gemeinsam etwas len „Tools“ eine Fremdsprache lernen. für andere Gruppen im Unterrichtsraum (zum Bei- spiel ein kahoot oder ein Quizlet). Das Selbsterarbei- ten ist dabei speicherintensiver und fördert darüber | Welche digitalen Aufgabentypen sind folglich be- hinaus das selbstständige Lernen. Grundsätzlich Bundesfachkonferenz sonders effektiv und wie sollten diese im Unterricht bieten alle Stufen eine Hilfestellung – aber konstruk- Sprachen eingesetzt werden? tive Aufgabentypen entsprechen sehr viel mehr den Am 23. und 24.01. fand die Bundesfachkonferenz Forderungen der aktuellen Fremdsprachenlehrfor- Sprachen 2020 statt. Mehr Als der Hype um die „digitale Medien“ aufkam, schung. als 250 Teilnehmende ver- boomte auch der Markt der Sprachlernapps. Grund- folgten in der vhs Aachen ein buntes Programm zum sätzlich nicht schlecht, aber man muss verschiedene Thema „Grenzenlos Mehr- Stufen des Einsatzes differenzieren: Man kann digi- | Sie kommen selbst aus dem Fachbereich DaF/DaZ sprachig. Sprachenvielfalt tale Medien einfach nur „konsumieren“, also zum Bei- und haben an Lehrwerken mitgewirkt. Wie beurtei- an der Volkshochschule“. Karl Damke vom Landes- spiel Erklärvideos oder Grammatik-Clips anschauen len Sie das vhs-Lernportal mit seinem Angebot im verband der Volkshoch- – das hilft, aber entspricht nicht dem „konstrukti- Bereich Deutsch als Zweitsprache? schulen in Schleswig-Hol- vistischen“ Credo der Zeit. Apps oder digitale Tools stein hielt Ergebnisse in können auch reaktiv sein, also Wissen, zum Beispiel Wichtig bei der Konzeption von Lehrwerken ist – einer tollen Sketchnote fest. Diese finden Sie bei- Vokabeln abfragen (Phase62; fertige kahoots3). Das neben vielen weiteren Faktoren –, dass es zur Ziel- liegend als Poster. eignet sich zum Überprüfen und sicherlich auch zum gruppe passt, in diesem Fall Deutsch für Zweitspra- Wiederholen, ist aber ebenfalls behavioristisch. Erst chenlernende. Diese sind oftmals lernungewohnt dann, wenn die Lernenden mit digitalen Tools oder und haben ihre spezifische Lernbiografie. Das An- vorhandenen Apps selbst etwas „erarbeiten“ sollen, gebot des Lernportals ist vielfältig und umfasst den wird das Lernen konstruktiv und damit tatsächlich Alphabetisierungskurs ebenso wie Kurse auf den Niveaustufen A1–B2. Die Navigation ist einfach und 2 digitaler Vokabeltrainer übersichtlich. Weiterhin – und das ist besonders posi- 3 Multiple choice Aufgaben über das Handy tiv – gibt es Tutorinnen und Tutoren, die Lernende dis.kurs 01 | 2020
14 von Anfang an begleiten und Feedback geben. An- Im Forum „Was bewirkt Digitalisierung im Gehirn“ sprechpartner zu haben, bietet Sicherheit. Persönli- von Marion Grein lernten die ches Feedback ist das A und O des Lernens – dazu Teilnehmenden digitale An- später mehr. Neben dem eigentlichen Sprachkurs wendungen kennen, die den gibt es im Lernportal Phrasen und Vokabeltrainer zu Anforderungen des „gehirn- gerechten Lernens“ entspre- den einzelnen Lektionen – und dies mit einer gro- chen und konnten diese am ßen Anzahl von Ausgangssprachen. Zahlreiche Ma- PC selbst ausprobieren. terialien stehen zum Download zur Verfügung, und das Portal kann auch im Unterricht selbst genutzt werden. Sehr gelungen ist der Einstiegsfilm, der die Nutzung erklärt. Nasrin und auch die anderen Prota- gonisten sprechen perfektes Deutsch – das ist zwar nicht authentisch, aber genau richtig für Anfänger. Perfekt auch die dazugehörige App, die auch offline funktioniert. Die Lektionen beginnen mit einem Vi- deo und langsam gesprochenen Dialogen, es folgen dann zahlreiche passive Übungen. Am Ende erfolgt ein Test zur Überprüfung. Die Übungen sind zwar abwechslungsreich und viel- fältig, jedoch mitunter sehr anspruchsvoll und vor al- lem für geübte Lernende geeignet – besonders die Schreibaufgaben. Am Ende der Lektionen folgt dann eine freiere Aufgabe, die tutoriell korrigiert wird. Posi- tiv sind die Belohnungen in Form von Badges hervor- zuheben. Die Themen entsprechen den üblichen der | Welche Möglichkeiten der Weiterentwicklung se- meisten Lernwerke. Kritisch anzumerken, jedoch von hen Sie für den Einsatz des vhs-Lernportals? Lernenden geschätzt, ist die starke Grammatikorien- tierung. Wie bei einem Lernportal zu erwarten, fehlen Das ist eine schwierige Frage, da dies sehr davon ab- Sozialformen wie Partnerarbeit, Gruppenarbeit oder hängt, ob das Lernportal im Unterricht oder selbst- Projektarbeit. ständig zum Einsatz kommt. Im Präsenzkurs kann die Lehrkraft Zusatzmaterialien einsetzen. Beim Blended Learning kann sie über die vhs.cloud zusätzlich das | Rückmeldungen zeigen uns, dass das Lernen auf Arbeiten in Gruppen zum Beispiel als Projektarbeit dem vhs-Lernportal durch die tutorielle Betreuung initiieren, und so das Lernen mit dem Lernportal verbindlicher wird. Können Sie das aus wissenschaft- sinnvoll um offene Aufgaben mit digitalen Medien licher Sicht bestätigen? ergänzen: Etwa mit Aufgabenstellungen wie „Drehen Sie ein Video über sich und Ihre Familie“ oder spieleri- Wie bereits angedeutet, ist eine „menschliche“ Be- sche Übungen mit einer größeren Breite an Sozialfor- gleitung notwendig, nicht nur, um Feedback ge- men. Wichtige Faktoren wie Bewegung (zum Beispiel ben zu können, sondern auch, um bei Fragen und Gallery Walk, Kugellager, szenisches Spiel) lassen sich Problemen zur Seite zu stehen. Das ist vor allem für digital nur schwer umsetzen, sie bleiben deshalb den Lernende wichtig, die das Lernportal außerhalb des Präsenzterminen vorbehalten. Kurses nutzen. Schwierig dabei ist, dass das Feed- backverständnis stark kulturell (aber auch individuell, Insgesamt würde ich den Einsatz des Lernportals zum Beispiel durch Vorerfahrungen) geprägt ist, wes- mehr als Begleitung zu einem herkömmlichen Kurs halb die Tutor*innen sehr unterschiedliche Rückmel- empfehlen. Layout, Navigation und Vielfalt bei den dungen geben müssen. Besonders wichtig ist hier Übungsformen sind überzeugend. Auch die Themen – und das kann ich im Einzelnen für das Lernportal und narrativen Charakter sind positiv hervorzuheben, nicht beurteilen –, dass die Tutoren immer auch posi- ebenso wie aus neurowissenschaftlicher Perspektive Die Fragen stellt Rafaela tive Wertungen abgeben. Es darf nicht allein um Kor- das Feedback. Förderlicher und motivierender für das Branzei, Grundsatzreferentin rekturen gehen, sondern auch um das Herausstellen Lernen bleiben das soziale Miteinander und gemein- für Integration und Sprache der Fortschritte, die die Lernenden erreicht haben. same Aktivitäten. | beim DVV. dis.kurs 01 | 2020
Anzeige 15 dis.kurs 01 | 2020
16 Fotos: Helmut Thewalt Wie können Volkshochschulen die Demokratie stärken? Wege zu einer bürgerschaftlichen Lernkultur Von Prof. Dr. Ulrich Klemm V olkshochschulen stehen – anders als die all- hochschulen nahezu täglich. Die Ökonomisierung gemeinbildenden Schulen – in einem unmit- und das wirtschaftliche Verwertungsparadigma von telbaren Kontakt zu den gesellschaftlichen Bildung einerseits sowie die Komplexität der poli- Verhältnissen. Das heißt, sie sind „ganz nah dran“ am tisch-gesellschaftlichen und demografischen Ver- Alltag der Menschen. hältnisse andererseits, prägen seit vielen Jahren die vhs-Arbeit Als die ersten Volkshochschulen vor über 100 Jahren . gegründet wurden, geschah dies vor allem auch aus Volkshochschulen einem politischen Bewusstsein der Aufklärung und Emanzipation heraus. Sowohl die bürgerliche Auf- im Spannungsverhältnis klärung des 18. als auch die Arbeiterbewegung des Dieser Spagat, in dem sich die Volkshochschulen be- Theodor W. Adorno 19. Jahrhunderts standen dafür Pate. Dieser politisch- wegen, macht ein Spannungsverhältnis deutlich, das gesellschaftliche Charakter der Volkshochschulen sagte 1951 über die bereits von Anfang an zu beobachten war. Aktuell wurde bis heute bewahrt. Deshalb verbinden diese Bürgergesellschaft, gibt es unter anderem folgende Herausforderungen: Einrichtungen mit ihrer Arbeit immer auch einen dass Demokratie · Demografische Entwicklungen und Fachkräfteman- demokratischen Auftrag und verstehen diesen als ein Zustand sei, „in gel erfordern neue regionalspezifische Lösungen, Daseinsvorsorge für eine freiheitlich-demokratische dem man ohne Angst sowohl in ländlichen als auch in urbanen Räumen. Grundordnung. verschieden sein · Politische und religiöse Radikalisierungen rufen Dass dieser Bildungsauftrag auch in heutiger Zeit kann“. Das ist ein eine Spaltung der Gesellschaft hervor, schüren nicht einfach und problemlos ist, erleben die Volks- Kern der Marke vhs. Hass und erschweren sozialen Zusammenhalt. dis.kurs 01 | 2020
Dossier 17 · Die Digitalisierung ist nicht nur technisch und öko- nomisch eine Herausforderung, sondern auch poli- tisch und sozial. Welche Ressourcen, Kompetenzen und Expertisen benötigt der homo digitalis? Wie verändert ein digitaler Staat Alltag und Demokra- tie? · Traditionelle Politikstile und Parteien geben vielen Bürgerinnen und Bürgern zunehmend kaum über- zeugende Antworten, wecken das Bedürfnis nach Alternativen und stellen letztendlich im Extremfall das demokratische System in frage. · „Bildungsarmut“ und ungleiche Chancen – zum Beispiel sichtbar durch funktionale Analphabeten, Jugendliche ohne Schulabschluss sowie Migranten ohne Berufsausbildung – sind ein seit Jahrzehnten gewachsenes und ungelöstes Strukturproblem der Bildungspolitik. · Die Kooperation „auf Augenhöhe“ von Bürgerin- nen und Bürgern mit Expertinnen und Experten · Weltweite Migrationsbewegungen und die Glo- aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft benötigt balisierung verstärken interkulturelle Kommunika- einen Anlass und die Möglichkeit dazu. tion, fördern Pluralität und erleichtern die Begeg- nung mit dem „Fremden“. · Das Proprium der vhs-Bildungsarbeit ist die demo- kratische Teilhabe aller in einer demokratischen Ge- · Lebens(um)brüche im privaten wie im beruflichen sellschaft. Alltag bestimmen zunehmend und gleichsam in jedem Alter die Biografie jedes Einzelnen und er- · Demokratiebildung wird zu einer Querschnittsauf- fordern ein lebenslanges Um- und Dazulernen. gabe und kann nicht einem Fachbereich alleine zu- geordnet werden. Diese Ansprüche an demokratische Bildung sind für Bürgergesellschaft die Volkshochschulen bundesweit eine Herausfor- als Orientierung derung und flächendeckende Aufgabe – für urbane An dieser Stelle setzt die vhs heute mit ihrer Bildungs- Räume wie für ländliche. In ländlichen Regionen je- arbeit an. Vor allem politische Bildung erweitert ihre doch, die in der Erwachsenenbildung bzw. vhs-Ar- Funktion, wird zu einer Plattform für Demokratiebil- beit immer schon anderen Rahmenbedingungen als dung in einem weiten Sinne und verbindet Bildung in den Städten ausgesetzt waren und sind, hat politi- mit Begegnung und Beratung. sche Bildung einen besonderen Charakter. Die Bürgergesellschaft, Ausdruck einer freiheitlich Politische Bildung in demokratischen Grundordnung, wird dabei zum Ori- entierungspunkt für Bildungsarbeit und bestimmt ländlichen Räumen Inhalte und Didaktik. Ermöglichung, Teilhabe und Angesichts des signifikanten Wandels gesellschaft- Zusammenhalt werden zum Leitbild und die Men- licher Verhältnisse in peripheren Regionen stehen schen zu etws zu befähigen (Empowerment), wird Volkshochschulen derzeit besonders unter Druck, zum Lernziel. Konkret heißt dies für die vhs: sich zu ändern und zu handeln. Als Beispiel dafür sei der „Kohleausstieg“ in der Lausitz (Brandenburg und · Ausgangspunkt ihrer Bildungsarbeit sind konkrete Sachsen) bis 2038 genannt. Hier ist ein elementarer Belange, Ereignisse und Bedarfe im Leben. Strukturwandel zu erwarten, der eine kulturell, wirt- · Gemeinsames Handeln und Zusammenleben ist der schaftlich und historisch gewachsene Region voll- Humus für demokratische Lebensverhältnisse. kommen verändert und ihr eine neue Identität gibt. · Selbstorganisation und die Übernahme von Verant- wortung für sich und das Gemeinwesen sind das Für die Erwachsenenbildung an der vhs sind in die- grundlegende Werkzeug für demokratische Ent- sem Kontext neue Formate der Bildungs- und Kultur- wicklungen. arbeit bedeutsam, die sich als Beitrag für regionale dis.kurs 01 | 2020
18 Entwicklungsprozesse verstehen. Diese orientieren Die Volkshochschulen und sich an Methoden der aktivierenden Gemeinwesen- die Daseinsvorsorge arbeit und ergänzen klassische Angebote: Mit ihrer flächendeckenden sowie kommuna- · methodisch durch aufsuchende Bildungsarbeit, die len Verankerung und öffentlichen Verantwortung neue Bildungsorte erkundet; im Rahmen einer Daseinsvorsorge kann die vhs · inhaltlich durch einen stärkeren Bezug zu lokalen eine intermediäre Rolle zwischen Menschen, Ins- und regionalen Anlässen; titutionen und Verhältnissen als gesellschaftlicher · pädagogisch durch eine Lernkultur, die Lernen als Entwicklungs- und Standortfaktor übernehmen – einen selbstgesteuerten und aktivierenden Prozess unabhängig von sozialräumlichen Rahmenbedin- der Integration und Inklusion versteht, der ent- gungen in Städten und ländlichen Regionen. Dazu schult und entbürokratisiert sein muss. ist es jedoch notwendig, an der vhs noch stärker eine Komm-Struktur mit einer Geh-Struktur zu ver- Was die vhs-Arbeit im ländlichen Raum anbelangt, binden sowie formale, non-formale und informelle ergeben sich daraus drei strategische Entwicklungs- Lernprozesse und vhs systemischer zu denken. ziele für die Programmplanung: Das bedeutet, die sechs Fachbereiche der vhs, die 1. Mehr Vernetzung, das heißt sich vollziehende, in- inhaltlich und organisatorisch oftmals weitgehend dividuelle und gesellschaftliche Veränderungen getrennt voneinander arbeiten, benötigen eine werden durch eine stärkere zivilgesellschaftliche Querschnittsarchitektur, die Vernetzung ermöglicht. Vernetzung vorhandener Ressourcen, Potenziale Voraussetzungen dafür sind – neben neuen orga- und Kapazitäten bewältigt, nisationalen und pädagogischen Aspekten – bil- dungsrechtliche und ordnungspolitische Rahmen- 2. Mehr Beteiligung, das heißt die Umsetzung einer bedingungen für die Erwachsenenbildung, wie in Strategie, die die vor Ort lebenden Menschen in den Weiterbildungsgesetzen der Länder festgelegt. öffentliche Angelegenheiten einbinden kann, Hier müssen die Weichen für neue Förder- und Steu- erungsinstrumente gestellt werden, um eine bürger- 3. Mehr Bildung: das heißt die Verwirklichung einer schaftliche Lernkultur umsetzen zu können. | Wissensgesellschaft als Lernende Region, die Ta- lente fördert und hervorbringt und sich die Frage Prof. Dr. Ulrich Klemm ist stellt, welche Potentiale und Kompetenzen benö- Geschäftsführer des Sächs- tigt werden, damit Menschen eine (neue) Identität ischen Volkshochschulver- entwickeln können. bandes. Probier Dich aus 6XFKHQ¿QGHQEXFKHQ 0LWGHPYKV.XUV¿QGHUDXI www.volkshochschule.de dis.kurs 01 | 2020
Sie können auch lesen