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71. Jahrgang, 7–8/2021, 15. Februar 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE China(kompetenz) Lin Hierse Andrea Frenzel · Nadine Godehardt HIER KÖNNTE EIN SATZ ÜBER MEHR CHINAKOMPETENZ EINEN DRACHEN STEHEN FÜR EINE STRATEGISCHE CHINAPOLITIK Christoph Müller-Hofstede CHINA(KOMPETENZ) IN Ying Huang DER POLITISCHEN BILDUNG WERTE ODER INTERESSEN? MAXIMEN DER DEUTSCHEN Marina Rudyak UND EUROPÄISCHEN ÜBER CHINAKOMPETENZ CHINAPOLITIK UND SINOLOGIE Jens Damm Andreas Fulda DAS „ANDERE CHINA“? CHINA UND WAS WIR ÜBER TAIWAN DIE WISSENSCHAFT WISSEN SOLLTEN IN GROẞ BRITANNIEN ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
China(kompetenz) APuZ 7–8/2021 LIN HIERSE ANDREA FRENZEL · NADINE GODEHARDT HIER KÖNNTE EIN SATZ MEHR CHINAKOMPETENZ FÜR ÜBER EINEN DRACHEN STEHEN EINE STRATEGISCHE CHINAPOLITIK „Chinakompetenz“ ist wegen Chinas Rolle in Das Verständnis von „China“, seinen Akteuren, der Welt notwendig. Diese erfordert auch die ihrem Handeln und ihren Ideen, braucht eine Fähigkeit, nicht rassistisch zu sein, überholte breite gesellschaftliche Basis in Deutschland und und klischeebehaftete Chinabilder zu hinter- in Europa. Die Bildung von Chinakompetenz fragen und die Vielfalt der Bilder und Stimmen – und Chinakompetenz durch Bildung – sollte über und aus China wahrzunehmen. daher Teil der europäischen Chinastrategie sein. Seite 04–07 Seite 26–32 CHRISTOPH MÜLLER-HOFSTEDE YING HUANG CHINA(KOMPETENZ) IN DER WERTE ODER INTERESSEN? POLITISCHEN BILDUNG MAXIMEN DEUTSCHER UND EUROPÄISCHER Der Aufstieg Chinas und seine geopolitischen CHINAPOLITIK Ambitionen berühren essenzielle Fragen Der Balanceakt zwischen Werte- und Interessen- politischer Bildung in der Demokratie, nicht politik ist die wichtigste Leitlinie der deutschen zuletzt, weil auch das Selbstverständnis des und europäischen Chinapolitik. Doch wie Westens herausgefordert wird. Was kann soll die Balance mit Blick auf die zunehmende politische Bildung zu China leisten? wirtschaftliche und strategische Bedeutung Seite 08–13 Chinas auf der Weltbühne erreicht werden? Seite 33–39 MARINA RUDYAK ÜBER CHINAKOMPETENZ UND SINOLOGIE JENS DAMM Ein mangelndes Verständnis von chinesischen DAS „ANDERE CHINA“? WAS WIR ÜBER politischen Strategien schafft Risiken, insbeson- TAIWAN WISSEN SOLLTEN dere dann, wenn die chinesische Seite uns besser Für eine umfassende „Chinakompetenz“ ist auch kennt als umgekehrt. Um die Wissensasymmet- Wissen über Taiwans Geschichte und Gegenwart rie abzubauen, braucht es die Sinologinnen und notwendig. Die Insel steht sowohl geopolitisch Sinologen als Wissensbroker. wegen der „Ein-China-Politik“ im Fokus als Seite 14–19 auch wegen ihrer erfolgreichen Demokratisie- rung und Liberalisierung. Seite 40–45 ANDREAS FULDA CHINA UND DIE WISSENSCHAFT IN GROẞ BRITANNIEN Chinakompetenz ist kein Allheilmittel, wenn es um den Umgang mit Chinas Einflussnahme im Ausland geht. Der Einparteienstaat gefährdet mit seinem Agieren die Wissenschaftsfreiheit. Wie Universitäten reagieren können, wird am Beispiel Großbritannien beschrieben. Seite 20–25
EDITORIAL Im Januar 2021 fügte „Der Spiegel“ mit seinem Titel „Der Siegeszug des Dra- chen“ der Sammlung von klischeebeladenen China-Symbolbildern ein weiteres Drachenmotiv hinzu. Rot ist die dominierende Farbe auf Magazin- und Buch covern zu China, was bei den meisten westlich Sozialisierten vor allem die Asso- ziation „Kommunismus!“ hervorruft, tatsächlich aber eine traditionell beliebte Farbe im Land ist. Ob in Asien Beiträge über europäische Länder mit Messer und Gabel illustriert werden, wie es umgekehrt mit Essstäbchen der Fall ist? „China kennt uns. Aber wir kennen China nicht“, fasst die Sinologin Marina Rudyak zusammen – eine Diagnose, der sich viele anschließen können. Doch welche Fähigkeiten und Fertigkeiten, kurz: welche Kompetenz braucht es, um zu einem realistischen Bild des gegenwärtigen Chinas und Beijings Interessen zu kommen? In der Debatte, auf welchen Grundlagen eine strategische deutsche und europäische Chinapolitik aufbauen sollte, ist „Chinakompetenz“ ein ver- breitetes Schlagwort geworden. China macht es einem aber auch nicht leicht. Die Erwartung des Westens, die Marktöffnung der Volksrepublik würde Liberalisierung und Demokratisierung in Politik und Gesellschaft nach sich ziehen, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen ist der Staat seit dem Machtantritt Xi Jinpings 2012 innenpolitisch rigider und außenpolitisch ausgreifender geworden, verortet sich selbst in einer Systemkon- kurrenz zum Westen und sieht sich auf der seidenen Gewinnerstraße. Auch das gehört zu einem differenzierten Bild von China dazu. Anne Seibring 03
APuZ 7–8/2021 ESSAY HIER KÖNNTE EIN SATZ ÜBER EINEN DRACHEN STEHEN Lin Hierse Ich bin jetzt 30 Jahre alt, und ich kenne keine alter. Aber sind wir auch gut vorbereitet? Ex Welt, in der man sich nicht die Geschichte eines pert:innen sagen: Nein. Im Februar 2020 hat eine nahenden chinesischen Zeitalters erzählt. Dabei Kommission zu Forschung und Innovation Bun- werden verschiedene, häufig bedrohliche Szena- deskanzlerin Angela Merkel ein Jahresgutachten rien entworfen und entsprechend bebildert. Mal vorgelegt, das Deutschland mangelnde China- bäumen sich ein chinesischer Drache und ein US- kompetenz im Bereich der Wissenschaft attestiert. amerikanischer Adler voreinander auf, oder man Ein produktiver wissenschaftlicher Austausch mit sieht die jeweils amtierenden Präsidenten der China brauche Menschen, die sich mit der chine- zwei Großmächte, die sich im Profil vor wehen- sischen Sprache und Kultur auskennen, aber auch den Nationalflaggen anstarren. die Märkte, die institutionellen Rahmenbedingun- Als ich noch jünger war, widmete sich die Be- gen und die politischen Strukturen verstünden, richterstattung über China oft dem Image der heißt es darin. Das ist weniger eine Kritik an ein- „Werkbank der Welt“, und das Label „Made in zelnen Forschenden und sinologischen Instituten China“ hält sich bei vielen bis heute als abwertende in Deutschland als vielmehr die Forderung nach Metapher für billig produzierte Ware mit schlech- einer breiteren Strategie. Es brauche eine zentrale ter Qualität, obwohl diese Realität längst über- Kompetenzstelle, die Wissenschaftler:innen aller holt ist. Außerdem ging es häufig um Spionage Fachbereiche zu Kooperationen mit chinesischen und China als aufstrebende Großmacht im fernen Partner:innen berät und informiert. Außerdem Osten – mit Megastädten aus neuen, blitzenden solle Forschung und Lehre gestärkt werden, „wel- Hochhäusern und einer Masse an Menschen, die che zum Verständnis von aktuellen politischen, im Transformationsprozess irgendwo „zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwick- Tradition und Moderne“ festklemmt. Und auch die lungen in China beiträgt“.01 Frage nach Werten und der Kampf um die globa- Bereits zwei Jahre zuvor stellten Wissenschaft le Vormacht in Bezug auf Freiheit und Unfreiheit ler:innen des Mercator Institute for China Studies wurde in diesen Erzählungen stets mit verhandelt. in einem Bericht fest, dass es Deutschen an China- Es ist nicht so, als seien diese Themen nicht kompetenz fehlt. Auch dieser Bericht kommt zu relevant. Sie waren sehr relevant, und sind es noch dem Schluss, dass „mehr“ gebraucht wird: mehr immer. Aber sie sind auch sehr beschränkt. Hätte ich Angebote an Schulen und Hochschulen, mehr Ex- damals ein Bild malen sollen von China in der Welt, pertise in Diplomatie und Rechtswissenschaften dann hätte es Linksaußen mit den USA begonnen und in der Konsequenz insbesondere mehr Lehr- und Rechtsaußen mit China aufgehört. Dazwischen kräfte mit „fundierten China-Kenntnissen“.02 wäre Europa ein kleiner, kaum bedeutender Punkt Was bedeutet nun fundiert? Bei alledem fängt gewesen. Afrika, Australien und Südamerika wären man, wie immer, am besten vorne an: mit der Fra- auf dieser Achse nicht einmal aufgetaucht. Jetzt denke ge danach, was „Chinakompetenz“ eigentlich ich manchmal, dass dieser Umstand ein passendes ausmacht. Können nur Einzelpersonen sie er- Sinnbild dafür ist, wie Europa und auch Deutschland werben, indem sie zum Beispiel die Sprache ler- in ihren Beziehungen zu China dastehen: etwas nen und sich mit der chinesischen Geschichte und verloren, ohne ausreichenden Blick auf und für das Gegenwart auseinandersetzen, oder ist China größere Ganze und trotzdem mittendrin. kompetenz etwas, das wir uns auch kollektiv als Heute, im Jahr 2021, sind wir tatsächlich mit- Gesellschaft aneignen können? Und wenn ja – tendrin im lange beschworenen chinesischen Zeit- wie machen wir das? 04
China(kompetenz) APuZ BUSINESS – AS USUAL beispielsweise an der Berichterstattung über das sogenannte Sozialkreditsystem beobachten ließ.03 Das Bundesministerium für Bildung und For- Anders als viele andere nicht europäische Ge- schung schließt in seine Definition von Chi- sellschaften ist China wegen seiner wirtschaft- nakompetenz Sprachkenntnisse, ein „Grund- lichen Bedeutung und dem Machtanspruch der verständnis von Chinas Wirtschaft, Politik, Kommunistischen Partei zwar dauerpräsent – in moderner Geschichte und Gesellschaft“ sowie der deutschen Kunst- und Kulturlandschaft und „interkulturelle Fähigkeiten“ ein. Dass Wirt- im Alltag der meisten Deutschen spielt das Land schaft noch vor Politik, moderner Geschichte aber nur am Rande eine Rolle. Dass es zunehmend und Gesellschaft genannt wird, steht sinnbildlich schwer wird, auch abseits der üblichen Themen In- für den ökonomischen Fokus, der hierzulande teresse an China zu wecken, liegt auch daran, dass auf die Beziehungen zu China gelegt wird. Das unsere Berichterstattung und Repräsentation seit Interesse an China ist oft am rein geschäftlichen Jahren ein Chinabild vom bösen Gegenspieler des Nutzen orientiert. Dass es aufgrund enger wirt- Westens stärkt und so Ängste schürt. Zugleich ver- schaftlicher Beziehungen einen Bedarf an Exper- längert dieses Bild in seiner Wirkung viele hartnä- tise in diesem Bereich gibt, ist nachvollziehbar. ckige, teils rassistische Stereotype. Doch die Wirtschaft mit ihrer jahrzehntelangen Doch angenommen, es gäbe bessere und viel- Erzählung des „Rising Dragon“ und der gefährli- fältigere Angebote, China auch ab von Wirtschaft chen, spionierenden Supermacht hat durchaus ih- und Politik kennenzulernen – wäre es dann besser ren Teil dazu beigetragen, das Interesse an China bestellt um die deutsche Chinakompetenz? Eine auf Geschäftliches und eine opportune „So viel, Sprache lässt sich erlernen, ein erstes Grundver- wie es uns eben nützt“-Haltung zu beschränken. ständnis verschiedener Lebensbereiche ebenfalls – Der Fokus auf den wirtschaftlichen Aspekt im auch aus der Entfernung. Der viel schwieriger zu Verständnis von China hat so eher dazu geführt, greifende Schlüssel zur Chinakompetenz liegt in chinaspezifische Wirtschaftskompetenz zu för- der Phrase „interkulturelle Fähigkeiten“. Wie soll dern statt tatsächlicher Chinakompetenz. man interkulturelle Fähigkeiten messen, wo fangen Ein weiterer absurder Nebeneffekt dieses busi- sie überhaupt an? Es gibt zahlreiche Ratgeber und ness-zentrierten Interesses ist, dass es relativ we- Fachliteratur zu diesem Thema. Im Alltag bleibt nig braucht, um in Deutschland als Chinaexpert:in der Begriff jedoch häufig schwammig. Wer mal ein zu gelten. Absurd, weil Expertise ja eigentlich ein Semester in China studiert hat oder vielleicht auf „viel“ oder zumindest ein „mehr“ voraussetzt. Da einer zweiwöchigen Dienstreise irgendwo im Aus- kann jemand ganz in kolonialer Tradition „China land war, macht möglicherweise schon ein gut ge- expert:in“ heißen, obwohl er oder sie vielen De- meintes Kreuz hinter dieser Anforderung, die im- batten gar nicht aus erster Hand folgen kann und mer häufiger in Jobausschreibungen steht. sich ausschließlich auf übersetzte und damit vor- Was hinter dem hochgehandelten Schlagwort sortierte Informationen berufen muss. Während „Interkulturalität“ steckt, ist jedoch viel mehr als ein fast jede:r die sprachlichen Fähigkeiten mitbringt, karrierefördernder Spiegelstrich. Zu interkulturellen Nachrichten aus der englischsprachigen Welt ein- Fähigkeiten gehört zu allererst die Bereitschaft, sich zuordnen und die meisten wesentlichen Entwick- nicht nur mit der anderen Seite wie mit einem Studi- lungen in den USA auch auf Deutsch von ver- enobjekt auseinanderzusetzen, sondern auch die eige- schiedenen Expert:innen diskutiert werden, muss nen Perspektiven auf das vermeintlich Andere zu hin- man bei China auf deutlich begrenztere Quellen terfragen und manche von ihnen aktiv zu verlernen. zurückgreifen. So entstehen im öffentlichen Raum kaum Debatten, dafür aber umso mehr moderne NICHT RASSISTISCH SEIN Mythen, Verkürzungen und Gerüchte, wie sich Chinakompetenz – beziehungsweise jegliche Kompetenz in Hinblick auf einen bestimmten 01 Deutschland braucht mehr Chinakompetenz, 19. 2. 2020, Kulturraum – bedeutet auch die kritische Be- www.forschung-und-lehre.de/politik/deutschland-braucht-mehr- china-kompetenz-2534. 02 Matthias Stepan et al., China kennen, China können. 03 Vgl. Louise Matsakis, How the West Got China’s Social Ausgangspunkte für den Ausbau von China-Kompetenz in Credit System Wrong, 29. 7. 2019, www.wired.com/story/china- Deutschland, Merics China Monitor 45/2018, S. 8. social-credit-score-system. 05
APuZ 7–8/2021 trachtung und Dekonstruktion einer herrschen- einen „Brandbeschleuniger für Rassismus“.06 Da- den, weißen Sicht auf die Welt. Es bedeutet, über von sind viele ostasiatisch gelesene Menschen be- Macht nachzudenken: die Macht von Sprache, von troffen, aber auch Hilfsarbeiter:innen aus Rumä- Wissen und von Zugang.04 Interkulturell fähig zu nien oder Menschen, denen eine türkische oder sein, heißt auch, nicht rassistisch zu sein. Das wie- arabische Herkunft zugeschrieben wird. Wegen derum setzt voraus, Rassismus dort zu benennen einzelner Hochzeitsfeiern, die zu Infektions- und offenzulegen, wo er stattfindet. Er muss das sprüngen geführt haben, wurden viele von ihnen Attribut verlieren, „normal“ oder „einfach nur unter Generalverdacht gestellt. Aus Weihnachts- ein Witz“ zu sein. Das ist nicht nur im absolut be- besuchen und Skiurlauben leitet hingegen (noch) rechtigten Interesse derer, die von Rassismus be- kaum jemand ab, dass weiße Deutsche als Gruppe troffen sind, sondern sollte von jeder Person und verdächtige Infektionstreiber:innen sind. Gesellschaft als notwendig und selbstverständlich Die vergangenen Monate haben außerdem erachtet werden, die die Welt verstehen und verän- gezeigt, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht dern will. „Collective responsibility“, nannte die nicht bereit oder fähig ist, von Gesellschaften Schwarze Feministin bell hooks das bereits 1989.05 zu lernen, die größere Erfolge bei der Eindäm- Im Fall von Chinakompetenz ließe sich mit mung der Pandemie zu verzeichnen hatten. Der der Herkunft und Genese der vielen überhol- Westen hat sich zu lange auf der orientalistischen ten und klischeebehafteten Chinabilder im All- Selbstgewissheit ausgeruht, zivilisatorisch überle- tag anfangen. Wie tragen Drachen, Glückskekse gen zu sein, während zugleich die Erzählung der und Menschenmassen, aber auch Fotos von asi- bedrohlichen Supermacht aus Fernost aufrecht- atisch gelesenen Menschen im Zusammenhang erhalten wurde. Und so stehen wir da, schein- mit Nachrichten über Covid-19 zu Vorstellungen bar ohne Strategie oder Haltung, unterzeichnen bei, die Deutsche sich von China machen? Wel- Handelsabkommen und spulen Floskeln der Kri- che Bilder entstehen aus dem Kinderlied von den tik ab, wenn es um Menschenrechte geht. drei Chinesen mit dem Kontrabass und der Pra- Westliche Gesellschaften haben – geprägt xis des Yellowfacing in Film und Theater? Ergibt durch ihre imperiale und koloniale Vergangen- eine Gewürzmischung namens „China“ im Regal heit und Gegenwart – dem Rest der Welt Viel- zwischen Chili und Curry eigentlich Sinn? schichtigkeit und Menschlichkeit abgesprochen, Diese Dinge mögen klein klingen in Relation individuell und kollektiv. In Bezug auf China zu Chinas Gewicht auf der globalen Bühne und manifestiert sich diese Haltung in der Idee, die auf den einen oder die andere nichtig wirken im chinesische Bevölkerung sei eine ferngesteuer- Vergleich zu Praxis-Tipps zu chinesischen Busi- te Masse unter autoritärer Hand, ohne die Fä- ness-Regeln oder Urlaubsreisen. Aber die Ausei- higkeit zum freien, individuellen Denken. Doch nandersetzung mit der eigenen Sicht auf die Welt selbstverständlich gibt es auch in einem autoritä- ist eine wichtige Voraussetzung dafür, diese Welt ren Staat Dissens und eine Vielfalt an Stimmen.07 und ihre Akteur:innen besser zu verstehen und Chinesische Intellektuelle denken seit jeher über sich selbst in der Welt zu verhalten. Vielleicht so- ihr Land und die ganze Welt nach. Sie werden al- gar die wichtigste. lerdings seltener übersetzt und finden auch des- Sowohl Teile der Medien als auch politische halb kaum in Debatten außerhalb Chinas statt. Amts in haber:innen verschiedener Parteien und Dass ihre Gedanken folglich international wenig große Teile der deutschen Zivilgesellschaft ha- Gehör finden, obwohl sie Impulse und Analysen ben in den vergangenen Monaten erneut bewie- zu einem der wichtigsten Akteur:innen unserer sen, dass Rassismus in unserer Gesellschaft noch Welt beisteuern können, ist besorgniserregend. immer verbreitet ist. Die Antidiskriminierungs- stelle des Bundes nannte die Corona-Pandemie 06 Vgl. Antidiskriminierungsstelle beklagt zunehmenden Ras- sismus in der Corona-Pandemie, 29. 12. 2020, www.spiegel.de/ 04 Vgl. Yangyang Cheng, „China-Watching“ Is a Lucrative Busi- politik/deutschland/corona-pandemie-starke-zunahme-von- ness. But Whose Language Do the Experts Speak?, 13. 1. 2021, rassismus-und-diskriminierung-a-f8eea2dd-a4df-45ab-ac6e- www.theguardian.com/commentisfree/2021/jan/13/under- d6a4b0c06c4a. Siehe auch Kimiko Suda/Sabrina J. Mayer/ stand-china-speak-chinese-english-language. Christoph Nguyen, Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in: 05 bell hooks, Overcoming White Supremacy: A Comment APuZ 42–44/2020, S. 39–44 (Anm. d. Red.). in: dies., Talking Back: Thinking Feminist, Thinking Black, Boston 07 Vgl. Ian Johnson, What Is China Thinking?, 2. 12. 2020, 1989, S. 112–119. https://supchina.com/2020/12/02/what-is-china-thinking. 06
China(kompetenz) APuZ Die Welt ist einfacher zu verstehen, wenn wir it has everything to teach others and nothing to sie in einfache Kategorien einteilen. So funktio- learn from them is not just.“08 nieren Märchenerzählungen, in denen Gut gegen Wegen dieser Altlasten wird es nicht ausrei- Böse kämpfen muss. So verkaufen sich Zeitun- chen, Chinakompetenz nur an Sprachkenntnis- gen angeblich besser, so finden wir etwas, woran sen, Studienwissen und Auslandserfahrung fest- wir uns im komplexen Getöse der Globalisierung zumachen. Es wird nicht genug sein, neben den festhalten können. Das Dilemma dabei bleibt großen Themen Wirtschaft und Politik lediglich aber: Eine vereinfachte Version der Welt ist leich- kleine kulturelle oder philosophische Häppchen ter zu verstehen, aber eine vereinfachte Version zu reichen und ein paar Souvenirs zu importieren, der Welt ist nie wirklich die Welt. Was also tun? wie Massageroller aus Jade oder Kalenderzitate von Konfuzius. Wir müssen nachdrücklicher die ZUHÖREN, HINSEHEN, Frage stellen, wie wir Chinakompetenz nicht als WAHRNEHMEN Expertise ein paar weniger Fachleute oder als Vor- zeigeskill im Lebenslauf junger Karrieremenschen Die Antwort ist naheliegend: Wir müssen uns um vermitteln, sondern als Notwendigkeit, um die Differenziertheit bemühen. Ihre Abwesenheit ist Welt, wie sie ist und sein wird, zu begreifen. Auch, oft ein Problem, auch in Bezug auf China und auf um China auf der globalen Bühne langfristig be- sogenannte Chinakompetenz. Es ist zugegebe- gegnen und etwas entgegensetzen zu können. nermaßen nicht leicht, über China zu berichten Das mag nach einer Mammutaufgabe klin- und sich verlässlich zu informieren. Und es wird gen. Aber wir machen Ähnliches längst mit dem schwieriger. Politische Spannungen wirken sich englischsprachigen Kulturraum oder den Nach direkt auf Möglichkeiten des Austauschs und des bar:innen in Frankreich. Wir lernen Sprachen, wir Lernens aus. Journalist:innen, die aus China be- lesen Literatur und Gedichte im Original oder richten, haben es zunehmend schwer. Zuletzt wur- gut übersetzt. Wir studieren die Gedanken ihrer den im März 2020 13 Korrespondent:innen US- Intellektuellen, hören ihre Musik und produzie- amerikanischer Medien ausgewiesen. Das wirkt ren gemeinsam Filme. Dieser Austausch macht sich auch auf die Informationslage in Deutschland immer wieder neugierig aufeinander. Das ist mehr aus, wo Interessierte oft auf Veröffentlichungen als Unterhaltung. Es ist die Grundlage für Fort- aus den USA zurückgreifen, weil dort eine grö- schritt und Wachstum, im zivilisatorischen Sinn. ßere chinesische Diaspora in Alltag und media- Mit China tun wir all das noch relativ selten, ler Öffentlichkeit vertreten ist. Dort finden sich dabei wäre es besonders unter den angespannten zum Beispiel Analysen dazu, warum viele chine- weltpolitischen Verhältnissen wichtig. Wirklich lo- sische Dissidenten Donald Trump unterstützen, gisch ist dieses Versäumnis nicht zu begründen – aber auch Essays über verschiedene chinesische schon gar nicht in einer Welt, in der räumliche Ent- Küchen – wichtige Nuancen und Themen, die in fernung nicht mehr als Maßstab für Distanz genügt. Deutschland keine wesentliche Beachtung finden. Es mag Interesse geben an China, großes, wenn es In vielen Wissenschaftsfeldern wird mit de- ums Geld geht, und wichtiges im Bereich der inter- kolonialen Ansätzen längst daran gearbeitet, die nationalen Zusammenarbeit. Es gibt kompetente Position der Forschenden, oft weißen Subjekte, Wissenschaftler:innen und Expert:innen in anderen in der Erzählung der Welt kritisch einzubeziehen, Bereichen, die China nicht nur aus Lehrbüchern auch rückwirkend. Als Gesellschaft verstehen kennen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr, wir wir allerdings zu langsam, dass Geschichtsschrei- brauchen eine Vielfalt der Bilder und der Stimmen. bung von kolonialen, weißen Blicken beherrscht Davon gibt es auch in China reichlich. Wir müssen und deshalb wichtige Perspektiven auf Wahrheit deutlich kompetenter darin werden, sie als gleich- und Wirklichkeit ignoriert wurden. Schon 1967, wertig und wertvoll wahrzunehmen. einen Tag vor seiner Ermordung, brachte Martin Luther King diese Haltung in einer Rede auf den LIN HIERSE Punkt: „The Western arrogance of feeling that hat Asien- und Afrikawissenschaften sowie Human- geografie studiert und ist Redakteurin bei der „Taz. 08 Martin Luther King Jr., A Time to Break Silence, 4. 4. 1967, Die Tageszeitung“. Dort schreibt sie unter anderem www.blackpast.org/african-american-history/1967-martin-lu- die Kolumne „Poetical Correctness“. ther-king-jr-beyond-vietnam-time-break-silence. Twitter: @linhierse 07
APuZ 7–8/2021 ZWISCHEN SYSTEMKONKURRENZ UND DIALOGBEREITSCHAFT China(kompetenz) in der politischen Bildung Christoph Müller-Hofstede Anfang 2021 lässt sich festhalten, dass die Co- Nach dem Tode Maos 1976 zerfiel die mao- rona-Pandemie zu einer weiteren Verschärfung istische Linke und verfolgte Karrieren in Publi- der Kontroversen und Konflikte zwischen Chi- zistik, Wissenschaft und Politik, vielfach bei den na und dem Westen01 beigetragen hat. Während Grünen, aber auch bei konservativen Parteien, sowohl Europa als auch die USA im Umgang wie das Beispiel José Manuel Barroso zeigt. Die mit der Krise keine gute Figur machten, konn- später einsetzende Euphorie westlicher Politiker te China (wie auch andere asiatische Staaten) das und Wirtschaftslenker über die Marktöffnung Virus nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolg- Chinas in den 1980er und 1990er Jahren in Pu- reich eindämmen und die Pandemie nutzen, um blizistik und Wissenschaft knüpfte dann auf eine seine Macht nach innen und nach außen wei- merkwürdige Weise an die Phase der kulturrevo- ter auszubauen. In den Worten eines führenden lutionären Projektionen im Westen an – ebenfalls Funktionärs der Kommunistischen Partei Chinas einhergehend mit einer „chronischen Gering- (KPCh): „Der Westen steigt ab, der Osten steigt schätzung der Menschenrechte“.05 auf.“02 Der Machtzuwachs Chinas zeigt sich auf Unübersehbar wächst zurzeit in der öffentlichen vielen Feldern und weist auf eine tektonische Debatte sowohl international als auch in Deutsch- Verschiebung im Verhältnis des Westens zu Chi- land das Misstrauen und die Kritik an Chinas innen- na hin. Während über die Tatsache des Aufstiegs politischem und außenpolitischem Verhalten – ganz Chinas weitgehend Einigkeit besteht, ist fraglich, gleich, ob es um die repressiven Maßnahmen in welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Xinjiang, um die Unterdrückung der Opposition in Der Streit darüber hat gerade erst begonnen.03 Hongkong und in China selbst oder um die bis nach Angesichts der aktuellen Versuche, die Vor- Europa reichenden Pläne einer „Neuen Seidenstra- gänge in China neu zu verstehen, ist es wichtig, ße“06 geht. Diese Entwicklungen berühren essenzi- sich die zentrale Rolle Chinas als Projektionsflä- elle Fragen politischer Bildung in der Demokratie, che für europäische Wünsche, Angst und Faszi- nicht zuletzt, weil sie auch das Selbstverständnis des nation zu vergegenwärtigen. Diese reicht zurück Westens als „normatives Projekt“ (Heinrich August bis in die Zeit der Renaissance und Aufklärung: Winkler) – untrennbar verbunden mit den Werten „Seitdem der Westen begonnen hat, sich auf Chi- der europäischen Aufklärung, Demokratie, Ge- na einzulassen – mit dem Beginn der missionari- waltenteilung, Menschenrechte – infrage zu stellen schen Ouvertüren im 16. Jahrhundert – wurde das scheint. Auch das westlich geprägte Bild des Men- himmlische Reich von Kirchenmännern, Kauf- schen als selbstbestimmtes Individuum steht auf leuten und philosophischen Intellektuellen als ein dem Prüfstand.07 Wie diese neuen Fragen und Kon- potentes Traumland mit fast paradiesischen Mög- texte in der politischen Bildung sinnvoll behandelt lichkeiten betrachtet: für die christliche Bekeh- werden können, steht im Zentrum dieses Beitrages. rung, für wirtschaftlichen Profit, für Lektionen in Regierungsführung. Die Umarmung des Maois- DIE VERLORENE WETTE mus durch westliche Radikale ist daher die jüngste DES WESTENS Wiederholung einer jahrhundertealten Neigung, das erfreulich abgelegene, exotische China als eine Noch im Jahr 2001 wurden mit dem Beitritt Chi- Fundgrube für politische, soziale, kulturelle und nas zur Welthandelsorganisation (WTO) große wirtschaftliche Tugenden zu identifizieren“.04 Hoffnungen auf eine langfristige Einbindung des 08
China(kompetenz) APuZ Landes in die regelbasierte Weltordnung des Wes- 1980er Jahre. Fast drei Jahrzehnte begleitete die tens und eine innenpolitische Demokratisierung Grundidee einer Liberalisierung Chinas – paral- verbunden. Auch unter vielen chinesischen Intel- lel zum Wohlzustandszuwachs und gesellschaftli- lektuellen und sogar in Teilen der Parteielite gab cher Pluralisierung und Individualisierung – trotz es Anhänger dieses Weges, der sich auf Trends in aller Rückschläge und widersprüchlicher Signale der chinesischen Gesellschaft wie den wachsen- den Aufstieg des Landes. den Wohlstand einer gebildeten Mittelschicht so- Erst die „leninistische Gegenreformation“10 wie Pluralisierungs- und Individualisierungspro- nach dem Amtsantritt Xi Jinpings als Generalse- zesse stützte.08 Die aus dem Kalten Krieg mit dem kretär der KPCh 2012 beendete den soeben noch „Ostblock“ stammende Formel „Wandel durch für unumkehrbar gehaltenen Trend hin zu mehr Handel“ sollte auch für China gelten. Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaat. Die Die Idee, China „in die Welt zu integrieren“, politisch-ideologische Kontrolle der Gesellschaft ging schon lange vor der Öffnung Chinas in die wurde massiv verstärkt, dissidente Stimmen un- geostrategischen Überlegungen der USA ein. 1967 terdrückt und das Land mit der Formel vom äußerte Richard Nixon, mitten im eskalierendem „Wiederaufblühen der Nation“ auf eine deutlich Vietnamkrieg, in einem prophetischen Beitrag: aggressivere Außenpolitik eingestimmt.11 Spä- „Wir können es uns einfach nicht leisten, China testens mit der Abschaffung der noch in der Re für immer außerhalb der Völkergemeinschaft zu formära eingeführten Begrenzung der Amtszeit lassen, damit es dort (draußen) seine Phantasien des Präsidenten auf dem Nationalen Volkskon- nährt, seine Hassgefühle pflegt und seine Nachbarn gress 2018 war die „25-jährige Wette des Westens bedroht. Auf diesem kleinen Planeten ist es nicht auf China“12 gescheitert. möglich, eine Milliarde seiner potentiell fähigsten Diese Entwicklungen läuteten eine neue Pha- Menschen in zorniger Isolation leben zu lassen“.09 se in den chinesisch-westlichen Beziehungen ein, Nur wenige Jahre später trug Nixon mit sei- in der China deutlicher als je zuvor als „systemi- nem Besuch in China 1972 entscheidend dazu sche Bedrohung“ westlicher Werte und geopoliti- bei, China aus dieser Isolation zu holen. Nach scher Positionen angesehen wurde. Der damalige dem Tode Mao Zedongs wurden die wirtschaft- US-Außenminister Mike Pompeo fasste den neu- liche Liberalisierung und die weitere Öffnung en Blick auf China in einer viel beachteten Rede zum Westen eine wesentliche Voraussetzung für im Oktober 2019 so zusammen: „Wir haben den die dynamische Entwicklung Chinas ab Mitte der Aufstieg Chinas jahrzehntelang geduldet und ge- fördert, auch wenn dieser Aufstieg auf Kosten der 01 Der Begriff „Westen“ wird abkürzend für die Vielfalt der europäischen, amerikanischen und ab dem 20.Jahrhundert auch 05 Vgl. Mark Siemons, Der Traum ist tot, der Schrecken bleibt. japanischen und russischen/sowjetischen Einflüsse in China ver- Über die chinesische Kulturrevolution und die Angst des Westens wendet. Ebenso steht der Begriff „China“ für eine hochkomplexe, vor Erstarrung, in: FAZ, 4. 4. 1992 , Bilder und Zeiten S. 1 f. Siehe plurale und widersprüchliche „Entität“ im Wandel, die weder beispielhaft die Äußerungen von Helmut Schmidt, „Mao hat die kulturell noch historisch dem gängigen Fremd- und Selbstbild ei- Toten nicht gewollt“. Der Altkanzler verteidigt chinesisches Mas- nes „ewigen China“ entspricht. Siehe ausführlich Kai Vogelsang, saker von 1989, 14. 9. 2012, www.morgenpost.de/109207265. Geschichte Chinas, Stuttgart 2012. 06 Ausführlich zu diesem Projekt: Sebastian Heilmann, Die 02 Zit. nach Friederike Böge, Chinas Hybris, in: Frankfurter All- Seidenstrassen-Illusion. Mythen und Realitäten eines eurasischen gemeine Zeitung (FAZ), 15. 12. 2020, S. 1. Siehe auch Mercator Superkontinents unter chinesischer Vorherrschaft, Zürich 2020. Institute for China Studies (Merics), China in 2021, 10. 12. 2021, 07 Vgl. ders., Herde statt Werte, in: Internationale Politik, Ja- https://merics.org/en/briefing/china-2021-agenda-setting-an- nuar/Februar 2020, S. 103–107; Mark Siemons, Die Zweiteilung niversaries-and-potential-conflict; ausführlich Zhang Junhua, der Welt, 24. 5. 2020, www.faz.net/-16782728. Chinas „Wolfskrieger“- Diplomatie ist ein Irrweg, 25. 8. 2020, 08 Vgl. ders., Die chinesische Verunsicherung, München 2017, www.nzz.ch/meinung/eine-sackgasse-chinas-aggressive-wolfs- S. 13. krieger-diplomatie-ld.1571872. 09 Richard M. Nixon, Asia After Viet Nam, in: Foreign Affairs 03 Siehe beispielhaft das Streitgespräch zwischen Matthias 1/1967, S. 111–125. Döpfner und Kishore Mahbubani, „Wie gefährlich ist China?“, in: 10 Vgl. Siemons (Anm. 8), S. 14. Die Zeit, 18. 6. 2020, S. 10 f. 11 Ausführlich Nadine Godehardt, Wie China Weltpolitik 04 Julia Lovell, Maoism – A Global History, London 2019, formt. Die Logik von Pekings Außenpolitik unter Xi Jinping, Stif- S. 190. Alle Übersetzungen in diesem Beitrag durch den Autor. tung Wissenschaft und Politik, SWP Studie 19/2020. Zum alten Vgl. auch Christoph Müller-Hofstede, Reich und rastlos: Chinas und neuen chinesischen Nationalismus Müller-Hofstede (Anm. 4). Aufstieg in der internationalen Ordnung, in: Doris Fischer/ders. 12 How the West Got China Wrong, 1. 3. 2018, www.econo- (Hrsg.), Länderbericht China, Bonn 2014, S. 807–838. mist.com/leaders/2018/03/01/how-the-west-got-china-wrong. 09
APuZ 7–8/2021 amerikanischen Werte, der westlichen Demokra- na zu verstehen, ist es notwendig, die China- tie, der Sicherheit und des gesunden Menschen- Expertise hierzulande in Behörden, Parteien, verstands ging.“13 Schulen und Universitäten sowie in anderen Or- Auch die Chinastrategie der EU wurde im ganisationen stärker a uszubauen.“17 März 2019 revidiert und präsentierte einen neuen Der Auf- und Ausbau von Chinaexpertise Blick auf China als gegnerische Macht: „China ist oder -kompetenz steht hier im Mittelpunkt einer gleichzeitig in verschiedenen Politikbereichen ein neuen politischen Agenda. Diese kann als direkte Kooperationspartner, mit dem die EU eng abge- Folge der geplatzten „Wette des Westens“ gese- stimmte Ziele verfolgt, ein Verhandlungspartner, hen werden. Wenn es stimmt, dass die westliche mit dem die EU einen Interessenausgleich finden Chinakompetenz noch unterentwickelt ist, dann muss, ein wirtschaftlicher Konkurrent im Streben erscheint es in der Tat wichtiger denn je, sowohl nach technologischer Führerschaft und ein syste- die Zugänge zu China weiter offen zu halten als mischer Rivale, der alternative Modelle der Re- auch mittelfristig das „Debattenklima der alterna- gierungsführung fördert.“14 tivlosen politischen Bekenntnisse gegenüber Chi- In Deutschland forderte der Bundesverband na zu verändern und ein eigenständiges starkes der Deutschen Industrie (BDI) in einem Posi- europäisches Narrativ zu entwickeln“.18 Welche tionspapier die deutsche und europäische Po- Rolle kann die politische Bildung hier spielen? litik auf, Maßnahmen gegenüber unangemes- Welche Kompetenzen sind vorhanden, welche senen wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas zu offenen Fragen stellen sich angesichts einer geo- ergreifen, da alle Erwartungen, China werde sich politischen Transition, die einige Beobachter mit allmählich zu einer liberalen Volkswirtschaft dem Beginn eines „neuen Kalten Krieges“ verbin- entwickeln, enttäuscht worden seien. Die Kon- den,19 einer Aufteilung der Welt in zwei antago- vergenz-These sei nicht mehr haltbar.15 Ein An- nistische Blöcke? trag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag vom Oktober 2020 verlangt eine „Neujustie- CHINA IN DER POLITISCHEN rung“ der deutschen und europäischen Chinapo- BILDUNG: KOMPETENZEN litik. „Chinas rasante Entwicklung basiert dabei UND OFFENE FRAGEN nicht auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freier Marktwirtschaft. Vielmehr entwirft China „Menschen und Demokratien müssen im mit seinem staatskapitalistischen und autoritären 21. Jahrhundert immer enger zusammenarbei- Einparteiensystem ein Gegenmodell zur westli- ten, um grenzüberschreitende Herausforderun- chen Demokratie. Daraus ergeben sich immen- gen zu bewältigen, voneinander zu lernen, sich se Herausforderungen“,16 lautet die Diagnose. gegenseitig zu unterstützen und um sich um ei- Insbesondere wird daher der Ausbau der „Chi- nen gemeinsamen Planeten zu kümmern. In viel- naexpertise“ gefordert: „Um die Geschichte und fältigen Gesellschaften sind die Fähigkeiten, die Gegenwart der Beziehungen Chinas zur übrigen für die Teilnahme an der Demokratie innerhalb Welt, insbesondere zu Europa, und die verschie- eines jeden Landes erforderlich sind, auch dieje- denen Denkströmungen in Partei, Gesellschaft, nigen, die für das Verständnis und die Teilnahme Wirtschaft und in intellektuellen Kreisen in Chi- an regionalen und globalen Gesellschaften erfor- derlich sind.“20 Die globale Herausforderung des 13 Siehe das Transkript dieser Rede unter www.state.gov/the- chinesischen Aufstiegs zwingt uns somit, über die china-challenge. Rolle der Bildung im Allgemeinen und der po- 14 Europäische Kommission, EU-China – A Strategic Outlook, litischen Bildung im Besonderen nachzudenken. 12. 3. 2019, https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communica- tion-eu-china-a-strategic-outlook.pdf. Herv. d. Autors. 15 Vgl. BDI, China – Partner und systemischer Wettbewerber. 17 Ebd. Wie gehen wir mit Chinas staatlich gelenkter Volkswirtschaft 18 Godehardt (Anm. 11), S. 6. um?, Grundsatzpapier, Januar 2019, https://bdi.eu/media/publi- 19 Gideon Rachman, A New Cold War: Trump, Xi and the Es- kationen/#/publikation/news/china-partner-und-systemischer- calating US-China Confrontation, 5. 10. 2020, https://on.ft.com/ wettbewerber. 2SHy1Hj. 16 Herausforderungen begegnen, Chancen nutzen – Die 20 Zit. nach Networking European Citizenship Education Chinapolitik Deutschlands und der EU neu justieren, Bundestags- (NECE), Declaration 2020, www.nece.eu/wp-content/uploads/ Drucksache 19/23123, 6. 10. 2020, https://dip21.bundestag.de/ 2020/11/leitwerk_6151_nece_konferenz_declaration_K1_ dip21/btd/19/231/1923123.pdf. 201102.pdf. 10
China(kompetenz) APuZ In der 2018 veröffentlichten Studie „China tegischer Wettbewerber vor allem der USA, aber kennen, China können“ des Mercator Institute auch der Europäischen Union sieht.24 for China Studies werden der Bundeszentrale Der Politikwissenschaftler und Sinologe Se- und den Landeszentralen für politische Bildung bastian Heilmann warnt beispielsweise eindring- eine „wichtige Funktion“ zuerkannt: „Sie kön- lich vor einem Wettbewerbsvorteil Chinas in der nen schneller als Schulverlage auf neue Entwick- Durchsetzung eines Menschenbilds, das dem Ide- lungen reagieren und Lehrern wie Schülern aktu- al des autonomen, eigenverantwortlichen Individu- elle Informationen zugänglich machen.“21 Nach ums der europäischen Aufklärung radikal entgegen- dem Boom des Themas in den 1990er Jahren und gesetzt sei.25 Der „digitale Leninismus“ Chinas mit um die Olympischen Spiele von 2008 herum sind, seinen neuen Kontroll- und Steuerungsmöglichkei- nach eigenen Angaben der Bundeszentrale für ten könne mittelfristig auch eine neue Anziehungs- politische Bildung (bpb), „China-Themen ange- kraft in Entwicklungs- und Schwellenländern mit sichts der weiterhin wachsenden Bedeutung und instabilen und konfliktgeprägten Gesellschaften der rasanten Entwicklungen innerhalb des Lan- entwickeln. „Chinas Modell für die digitale Zivili- des deutlich unterrepräsentiert“.22 Gleichwohl sation ist eine agile hierarchische Ordnung, die ge- messe „die bpb der Auseinandersetzung hohe Be- zielt und lückenlos digitale Steuerungstechnologien deutung bei. Sie will China nicht allein als Einzel- entwickelt, um eine konfliktanfällige Massengesell- fall begreifbar machen, sondern veranschaulicht schaft in politisch definierte Bahnen zu lenken.“26 zugleich die sich ändernden globalen Zusammen- Das Menschenbild der chinesischen Regierung hänge und regt Schüler und Studierende an, sich werde mit dem Vordringen des Herdenverhaltens darüber Gedanken zu machen.“ 23 Eine gute po- in vielen Gesellschaften an Boden gewinnen. Mit litische Bildung muss die öffentlichen und poli- dem absehbaren weiteren wirtschaftlich-technolo- tischen Debatten über China begleiten und sich gischen Aufstieg könne China weltweit in die Lage mit der Breite der wissenschaftlichen Expertise versetzt werden, eine auf digitale Konditionierung und zivilgesellschaftlicher Initiativen verbinden. und Kontrolle gerichtete Ordnungsalternative zu Doch welche Schwerpunkte sollte sie setzen? etablieren. Diese Ordnung – so Heilmann – stehe im radikalen Gegensatz zum Menschenbild libera- China als systemischer Rivale ler Demokratien und Marktwirtschaften. Traditionell hat sich politische Bildung (in Man mag dieses düstere Szenario für realistisch Deutschland) im Rahmen des Konzepts einer halten oder nicht, doch muss sich politische Bildung „streitbaren Demokratie“ als „geistiger Verfas- den hierin aufgeworfenen geopolitischen Machtfra- sungsschutz“ verstanden. Daher ist es zunächst gen auch auf der Ebene der Politik und Ideologi- verführerisch, hier einen neuen Schwerpunkt en stellen. Diese sind jedoch auch immer, wie Heil- in der Auseinandersetzung mit China zu sehen. mann betont, Fragen an uns selbst, insbesondere an Nicht erst seit dem Amtsantritt Xi Jinpings ist of- die Gesellschaften und politischen Institutionen Eu- fenbar, dass sich China als systemischer und stra- ropas, die die Kraft aufbringen müssen, eigene kon- kurrenzfähige digitale Angebote und Plattformen zu entwickeln. Kurz: Ein nüchterner Blick auf eigene 21 Matthias Stepan et al., China kennen, China können. und fremde Machtressourcen und geostrategische Ausgangspunkte für den Ausbau von China-Kompetenz in Deutschland, Merics China Monitor 45/2018, S. 34. Auch der Realitäten sollte in die politische Bildung mit und Autor dieses Beitrags wurde für die Studie interviewt, zitierte über China eingehen. Die europäische Dimension Passagen lassen sich aber nicht mehr eindeutig zuordnen. politischer Bildung wird gestärkt werden müssen, 22 Ebd. denn der Kampf um „digitale Souveränität“ kann 23 Ebd. Neben diversen Printpublikationen, etwa der 2018 nur auf europäischer Ebene gewonnen werden. erschienenen Ausgabe der „Informationen zur politischen Bildung“ zum Thema China (www.bpb.de/275522), wird zurzeit das Online-Dossier sukzessive aktualisiert. Hier stehen unter 24 Zur Neujustierung des deutsch-chinesischen Verhältnisses anderem neue Beiträge über das Staatsverständnis Chinas und siehe Thorsten Bennett, Die romantischen Jahre sind vorbei, den außenpolitischen Umgang mit China zum Abruf bereit (www. 18. 12. 2018, https://libmod.de/thorsten-benner-ueber-das- bpb.de/china). Tagungsdokumentationen zum Thema „Datenge- deutsch-chinesische-verhaeltnis, sowie die Analyse von Mark triebene Sozialtechnologien in China und westlichen Demokra- Siemons, Die neue Aufteilung der Welt, 4. 10. 2008, www.faz.net/ tien als neue Bildungsherausforderung“ (www.bpb.de/303742) aktuell/-1715713. und über den 30. Jahrestag des Massakers in Beijing am 4. Juni 25 Heilmann (Anm. 7), S. 102–107. 1989 (www.bpb.de/292472) ergänzen das aktuelle Angebot. 26 Ebd., S. 103. 11
APuZ 7–8/2021 Zugleich wäre es in dieser Phase fahrlässig, fiziösen Begriffs der chinesischen Kultur zu be- dem Phänomen des chinesischen Aufstiegs allein gegnen, sei es erforderlich, die ursprünglichen mit einem defensiven Narrativ zu begegnen, das Begriffe und Vorstellungen zu kennen, die die chi- die europäische Selbstbehauptung eindimensional nesische Regierung instrumentalisiert. Erst dies als Teil eines Systemwettbewerbs sieht und eine ermögliche es, mit der chinesischen und globalen eurozentristische Perspektive nicht v erlässt.27 Öffentlichkeit in ein neues Gespräch zu kommen, um die Vielfalt und Bedeutung chinesischer Tradi- China und die Chinesen tionen im Verhältnis zu den eigenen Traditionen (neu) kennenlernen und den universellen Prinzipien der europäischen Jede Diskussion über „mehr Chinakompetenz“ Aufklärung einschätzen zu können. muss sich zunächst über das fundamentale Un- Die weitgehend unbekannte Vielfalt des intel- gleichgewicht zwischen den Chinakenntnissen in lektuellen Diskurses in China sichtbar zu machen, Deutschland und dem Wissen über Deutschland wäre eine Aufgabe politischer Bildung. Auch Stim- und andere westliche Länder in China klar wer- men und Positionen, die sich nicht in ein westliches den. „China kennt uns. Aber wir kennen China Koordinatensystem einfügen lassen, sind wich- nicht“, fasst die Sinologin Marina Rudyak zu- tig. Das in Kanada betriebene Portal „Reading the sammen.28 Nur noch 500 Studenten fangen je- China Dream“ beispielsweise bietet eine exzellente des Jahr ein Sinologiestudium an, Japanologie ist Auswahl an Übersetzungen von Artikeln konser- fast dreimal so beliebt. Gleichwohl scheint dies vativer, liberaler und progressiver Intellektueller in ein internationaler Trend zu sein, der auch mit China. Diese Stimmen sollten auch in deutscher dem schlechten Image Chinas und den sich ver- Übersetzung zugänglich gemacht werden.31 schlechternden Forschungsmöglichkeiten und Notwendig ist zudem ein Ausbau des Dialogs Repressionen im Land zu tun hat.29 mit China, auch wenn dieser angesichts der Res- Der Journalist Mark Siemons plädiert da- triktionen, Repressionen und Zensurmaßnahmen für, die Auseinandersetzung mit China nicht aus- in China immens erschwert wird. Aufklärung schließlich in abstrakten Gegensätzen (Autorita- und Wissen über diese dunklen Seiten des gegen- rismus versus Demokratie) zu rahmen, sondern wärtigen Chinas bleiben ein unentbehrlicher Be- sich vor Augen zu führen, dass hier Gesellschaften standteil aufklärerischer politischer Bildung: Von aufeinanderstoßen, deren „kollektives Bewusst- Zensur und Repression bedrohte Intellektuelle sein“ noch aus vielen anderen Elementen zusam- wie Xu Zhangrun, He Weifang und Zhang Qian- mengesetzt sei.30 Zu empfehlen sei eine Orientie- fan und andere sollten regelmäßig zu Gastvorträ- rung an der „neuen Sinologie“ des australischen gen und Aufenthalten nach Deutschland eingela- Sinologen Geremie Barmé, der sich – in höchst den werden – in Kooperationen mit Institutionen kritischer Distanz zum Regime in Beijing – seit der politischen Bildung. Jahrzehnten mit den intellektuellen Debatten in Ebenso bedeutsam (und unentdeckt in der po- China beschäftigt. China und die chinesische Kul- litischen Bildung) sind die Ergebnisse jahrelanger tur umfassten räumlich wie historisch weit mehr, Feldforschungen – etwa über das erstaunliche (und als es die Deutung der gegenwärtigen Regierung bedrohte) Wiederaufblühen religiösen Lebens im vorgibt. Um der Instrumentalisierung eines of- postmaoistischen China und über die vielen hier- zulande unbekannten Menschen, die die Geschich- 27 Wichtige Impulse und Ideen für die Behandlung Chinas in der te Chinas aus einer Samisdat-Perspektive neu zu politischen Bildung lieferte zuletzt ein Online-Panel im Rahmen schreiben versuchen.32 Auch der Austausch mit der der NECE-Konferenz im November 2020 zum Thema: „China’s chinesischen „Peripherie“, insbesondere Hongkong Moment? Or: A New Cold War in the Making? Why Geopolitics und Taiwan33 als funktionierender (und bedrohter) Matter for Citizenship Education“. Die folgenden Empfehlungen und Eckpunkte gehen unter anderem auf dieses Panel zurück. Siehe www.facebook.com/watch/?v=3372886532765953. 31 David Ownby, Betreiber des Blogs, hat ein Mapping der 28 Zit. nach Xifan Yang, Ob in China …, in: Die Zeit, 11. 4. 2019, intellektuellen Szene in China erstellt, siehe www.readingthe- S. 3. chinadream.com/maps.html. 29 Vgl. As China’s Power Waxes, the West’s Study of it is 32 Vgl. Ian Johnson, The Souls of China, New York 2017; die Waning, 28. 11. 2020, www.economist.com/china/2020/11/26/ „unofficial history“ ist Teil eines aktuellen Buchprojekts des Jour- as-chinas-power-waxes-the-wests-study-of-it-is-waning. nalisten Ian Johnson. 30 Hier und im Folgenden Mark Siemons, Langsam, aber 33 Siehe hierzu auch den Beitrag von Jens Damm in dieser gewaltig, in: FAZ, 30. 6. 2018, S. 9. Ausgabe. 12
China(kompetenz) APuZ Demokratie auf chinesischem Boden, kann für die SCHLUSS politische Bildung fruchtbar gemacht werden. Gleichzeitig sollte eine Zusammenarbeit mit China gehört zu den „Zumutungen der Moder- den kontrovers diskutierten Konfuzius-Institu- ne“, sein Aufstieg in den vergangenen 30 Jahren ten an den Universitäten nicht von vornherein hat die Welt noch unübersichtlicher und komple- ausgeschlossen werden, auch dort gibt es uner- xer gemacht. Die Auseinandersetzung mit Chi- schlossene „Spielräume des Machbaren“.34 na in der politischen Bildung und in anderen Be- Insgesamt sind Offenheit und Neugier als reichen unserer dezentrierten und pluralistischen „Haltung“ wichtig, ebenso die Bereitschaft, Di- Gesellschaft lässt sich nicht auf eine Formel brin- aloge mit klaren Standards und pluralen Positi- gen, schon gar nicht in ein starres Freund-Feind- onen (darunter auch die der eigenen Werte) zu Schema einordnen. Wie und ob sich die tief inei- entwickeln. „Die Bereitschaft zu erforschen, zu nander verzahnte westliche und chinesische Welt hinterfragen und ihr Denken mit dem eigenen gemeinsam auf die globalen Herausforderungen Denken zu kontrastieren, ist vielleicht die heraus- einlassen werden, ist eine offene Frage. Sicher ist forderndste, aber auch wichtigste Art, mit Chine- aber, dass es neuer Dialoge und Denkrichtun- sen in Kontakt zu treten.“35 gen bedarf – auf chinesischer wie auf westlicher Seite. Auf die politische Bildung warten neue 34 Vgl. Yang (Anm. 28) sowie die Dokumentationen zweier Aufgaben. Filmfestivals des Konfuzius-Instituts Erlangen–Nürnberg, die 2014 und 2016 zusammen mit der bpb veranstaltet wurden: „Chinas CHRISTOPH MÜLLER-HOFSTEDE Ränder“, www.konfuzius-institut.de/fileadmin/user_upload/pdf/ filmfestival/Programmheft_low.pdf; „Hälfte des Himmels? Frauen ist freier Autor und war bis 2020 Referent im in China“, www.konfuziusinstitut.de/fileadmin/user_upload/pdf/ Fachbereich Veranstaltungen der Bundeszentrale filmfestival/kfi_programmheft.pdf. für politische Bildung. Er ist Mitherausgeber des 35 Vgl. Kristin Shi Kupfer, How to Fight Chinas Sharp Power. A „Länderberichts China“ (2014). ChinaFile Conversation, www.chinafile.com/conversation/how- cmueho@gmail.com fight-chinas-sharp-power. Zum Weiterlesen. bpb.de/ shop 2014 Bestell-Nr. 1501 13
APuZ 7–8/2021 KEINE ORCHIDEE Über Chinakompetenz und Sinologie Marina Rudyak Die Sinologie steht für das bewusste Bemühen, das na nicht länger als ein Entwicklungsland, sondern Studium Chinas stets auf den Gebrauch des ge- als einen globalen Akteur und führende Technolo- schriebenen und gesprochenen Chinesisch zu be- giemacht betrachtet. China sei nunmehr gleicher- ziehen und es ernst zu nehmen als eine Sprache, in maßen ein Kooperationspartner bei gemeinsamen der Menschen die Welt ständig neu begreifen.01 In (globalen) Zielen, ein Wettbewerber im Kampf um nicht sinologischen Chinadiskursen wurde die Re- technologische Führerschaft und mit seinem politi- levanz der chinesischen Sprache für die Auseinan- schen System ein systemischer Rivale.09 dersetzung mit China lange infrage gestellt. Wäh- rend sich chinesische Wissenschaftlerinnen und BEDARF AN CHINAKOMPETENZ Wissenschaftler regelmäßig auf europäische oder amerikanische Literatur beziehen, finden sie sich Die früher lang gehegte Chinaignoranz kann sich selbst eher selten in euro-amerikanischen Publika- Europa nicht mehr leisten. Darüber, wie man mit tionen wieder. Im sinologischen Diskurs werden einem global agierenden China umgehen soll, das die möglichen Gründe für die Asymmetrie im In- einerseits mit seinem techno-autoritären Regie- formationsfluss zum einen mit Edward Saids The- rungsmodell freiheitlich-demokratische Normen orie des Orientalismus02 und mit dem Diskurs des infrage stellt, andererseits Deutschlands größ- „Andersseins“ erklärt,03 andererseits mit der lan- ter Handelspartner und (notwendiger) Koopera- ge gehegten neo-orientalistischen Erwartung, dass tionspartner bei der Lösung drängender globaler China seine „Andersartigkeit“ (des despotischen Herausforderungen wie die Bekämpfung der ab- und rückständigen Anderen) überwindet und dem soluten Armut oder die Anpassung an den Kli- Westen – der für sich positionelle Überlegenheit in mawandel ist, herrscht jedoch an vielen Stellen Anspruch nimmt – „gleich“ wird.04 Unsicherheit.10 In den meisten Organisationen Nur wurde China zur Desillusionierung vie- mangelt es an Chinakompetenz, und selbst den- ler im Westen eben nicht „gleich“.05 Man könnte es jenigen, die in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar auch wie die „New York Times“ 2018 beschreiben: mit China befasst sind, fehlt es oft an Chinesisch- China ist „mit dem Scheitern gescheitert“ ( failed Sprachkenntnissen.11 Demgegenüber steht, dass to fail).06 Im Gegenteil, nach seinem Machtantritt Chinakompetenz inzwischen auch an Stellen ge- Ende 2012 beendete Chinas Staatsoberhaupt Xi fordert ist, die traditionell nie mit China zu tun Jinping die seit Deng Xiaoping geltende Strategie hatten. Da China nun vermehrt in Deutschland des taoguang yanghui ( ) – „verbirg dei- investiert, müssen sich Kommunen mit der neu- ne Macht und spiele auf Zeit“ und leitete mit der en chinesischen Präsenz, Unternehmen mit neuen Maxime fenfa youwei ( ) – „nach Erfolgen Unternehmenskulturen auseinandersetzen. Mitar- streben“ – eine neue Ära der aktiven und selbstbe- beiterinnen und Mitarbeiter in Bundes- und EU- wussten „Großmachtdiplomatie“ ein.07 Auch wirt- Behörden, die deutsche und europäische Entwick- schaftlich will China zu den stärksten Mächten der lungspolitik koordinieren, müssen chinesisches Welt zählen. Das 2015 ins Leben gerufene milliar- Engagement in Afrika bewerten und Reaktions- denstarke Investitionsprogramm „Made in China strategien entwickeln. Zivilgesellschaftliche Or- 2025“ soll den Wandel von der verlängerten Werk- ganisationen müssen sich mit den Umwelt- und bank internationaler Konzerne zu einer Techno- Sozialimplikationen der globalen Entwicklungs- logieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen finanzierung im Rahmen der „Neuen Seidenstra- sichern.08 Im März 2019 erklärte die EU-Kommis- ße“ befassen und nach Wegen suchen, chinesische sion in ihrem „Strategic Outlook“, dass es Chi- NGOs, die die Folgen des chinesischen Wirt- 14
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