70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung

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70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
Zeitschrift der       Hessen
  für Erziehung, Bildung, Forschung

70. Jahr       Heft 6       Juni 2017
                        zum Inhaltsverzeichnis

       TITELTHEMA
Geflüchtet nach Hessen
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
I n d ieser H L Z                                                                                                                                HLZ 6/2017          2

                                                               wohnt, sollen mit den Worten der Aus-                        Zeitschrift der GEW Hessen
                                                                                                                            für Erziehung, Bildung, Forschung
                                                               stellungskuratorinnen Aileen Treusch
                                                                                                                            ISSN 0935-0489
                                                               und Juliane von Herz „eine Annähe-
                                                               rung an die Porträtierten“ ermöglichen      I    M       P      R     E      S     S     U       M
                                                               „und damit auch einen Resonanzraum
                                                               für brandaktuelle Fragen, die unsere        Herausgeber:
                                                                                                           Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                               westliche Gesellschaft beschäftigen und     Landesverband Hessen
                                                               herausfordern“, schaffen (www.newci-        Zimmerweg 12
                                                                                                           60325 Frankfurt/Main
                                                               tizens.de). Vitus Saloshanka beobach-       Telefon (0 69) 971 2930
                                                               tete als Nachbar das Ankommen der           Fax (0 69) 97 12 93 93
                                                               Menschen. Erst nach einigen Mona-           E-Mail: info@gew-hessen.de
                                                               ten sprach er einen von ihnen an und        Homepage: www.gew-hessen.de

                                                               fragte, ob er ihn porträtieren dürfe. Da-   Verantwortlicher Redakteur:
                                                                                                           Harald Freiling
                                                               bei lernte er die Biographien kennen,       Klingenberger Str. 13
                                                               die Fluchtgeschichten: „Doch die Ge-        60599 Frankfurt am Main
                                                               schichten selbst sollen den Betrachtern     Telefon (0 69) 636269
                                                                                                           Fax (069) 6313775
                                                               bei der Ausstellung vorenthalten wer-       E-Mail: freiling.hlz@t-online.de
                                                               den und hinter die Gesichter treten.“
                                                                                                           Mitarbeit:
                      New Citizens in Frankfurt                Kuratorin von Herz beschrieb das Pro-       Christoph Baumann (Bildung), Tobias Cepok (Hoch-
                                                               jekt gegenüber der Frankfurter Rund-        schule), Dr. Franziska Conrad (Aus- und Fortbildung),
                      Haymed auf dem Foto auf dieser Seite     schau als „ein Kunstprojekt“, das „keine    Holger Giebel, Angela Scheffels (Mitbestimmung),
                                                                                                           Michael Köditz (Sozialpädagogik), Annette Loycke
                      und Mohammad Karim auf der Titelsei-     Pro-Flüchtlings-Aufklärungskampag-          (Recht), Heike Lühmann (Aus- und Fortbildung), Ka-
                      te der HLZ gehören zu den geflüchte-     ne“ sein wolle.                             rola Stötzel (Weiterbildung), Gerd Turk (Tarifpolitik
                      ten Menschen, die nach ihrer Ankunft         Bei der Eröffnung der Ausstellung       und Gewerkschaften)
                      in Deutschland in einem Wohnwagen-       spielten der syrische Pianist Aeham         Gestaltung: Harald Knöfel, Michael Heckert †
                      camp auf dem Frankfurter Rebstockge-     Ahmad und das Ensemble Staccato             Titelthema: Harald Freiling
                      lände untergebracht waren. Die groß-     Burnout, die auch im Bridges-Orches-        Illustrationen: Thomas Plaßmann (S. 27), Dieter Tonn
                      formatigen Fotos sind zwei von 14        ter mitwirken. Die Initiative „Bridges –    (S. 33), Ruth Ullenboom (S. 4)
                      Fotos, die vier Wochen lang im April     Musik verbindet“ hat seit ihrer Grün-       Fotos, soweit nicht angegeben:
                      und Mai 2017 an Haus-, Kirchen- und      dung 2016 über 80 professionelle            Harald Freiling (Titel, S. 2, S. 15-17), GEW (S. 23-24)
                      Baustellenfassaden in der Frankfurter    Musikerinnen und Musiker aus Frank-         Verlag:
                      Innenstadt gezeigt wurden. Die Werke     furt und der ganzen Welt mit oder ohne      Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                                                                                                           Niederstedter Weg 5
                      des weißrussischen Fotografen Vitus      Flucht- und Migrationshintergrund zu-       61348 Bad Homburg
                      Saloshanka, der seit 2010 in Deutsch-    sammengebracht (http://bridges-mu-
                                                                                                           Anzeigenverwaltung:
                      land lebt und in der Nähe des Camps      sikverbindet.de).                           Mensch und Leben Verlagsgesellschaft mbH
                                                                                                           Peter Vollrath-Kühne
                                                                                                           Postfach 19 44
                           Wandkalender der GEW Hessen für das Schuljahr 2017/2018                         61289 Bad Homburg
                                                                                                           Telefon (06172) 95 83-0, Fax: (06172) 9583-21
                                                                                                           E-Mail: mlverlag@wsth.de
                      Dieser Ausgabe der HLZ ist der Wandkalender der GEW Hessen für das Schul-
                      jahr 2017/2018 beigelegt. Wir bitten um Beachtung!                                   Erfüllungsort und Gerichtsstand:
                                                                                                           Bad Homburg
                      Die nächste Ausgabe der HLZ erscheint Anfang Juli nach Beginn der hessischen         Bezugspreis:
                      Sommerferien. Deshalb wünschen wir schon jetzt allen Leserinnen und Lesern           Jahresabonnement 12,90 Euro (9 Ausgaben, ein-
                      eine erholsame Sommerzeit.                                                           schließlich Porto); Einzelheft 1,50 Euro. Die Kosten
                                                                                                           sind für die Mitglieder der GEW Hessen im Beitrag
                                                                                                           enthalten.
                                                                                                           Zuschriften:
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                       Rubriken                                 Titelthema: Geflüchtet nach Hessen
                                                                                                           Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder
                       4   Spot(t)light                          7 Philipp-Holzmann-Schule:                wird keine Haftung übernommen. Im Falle einer Ver-
                       5   Briefe                                  Sadaf Amiri darf bleiben                öffentlichung behält sich die Redaktion Kürzungen
                                                                                                           vor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen
                       6   Meldungen                             8 Asyl- und Aufenthaltsrecht:             nicht mit der Meinung der GEW oder der Redaktion
                      32   Recht: Tarifentgelt und Besoldung       Im Gewirr der Paragraphen               übereinstimmen.
                      37   Jubilarinnen und Jubilare            10 Die Arbeit des Petitionsausschusses:
                      38   Magazin                                 Im Gespräch mit Andrea Ypsilanti
                                                                12 Bag Mohajer: Ein Selbsthilfeprojekt
                                                                                                           Redaktionsschluss:
                       Einzelbeiträge                                                                      Jeweils am 5. des Vormonats
                                                                   geflüchteter Menschen in Athen
                      23 Sanierungsstau an Schulen              14 Im Ruhestand: Ehrenamtliche
                      24 Ein Porträt: Jürgen Jäger,                Flüchtlingshelfer im Gespräch
                         Schadstoffbeauftragter der GEW                                                    Nachdruck:
                                                                16 Ein rassismuskritischer Stadtrund-      Fotomechanische Wiedergabe, sonstige Vervielfälti-
                      26 Landtag beschließt Schulgesetz            gang über die Zeil in Frankfurt         gungen sowie Übersetzungen des Text- und Anzei-
                      28 Sexuelle Gewalt an Kindern             18 Refugee Law Clinic in Gießen:           genteils, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher
                                                                                                           Genehmigung der Redaktion und des Verlages.
                      30 Arbeitszeit gesetzlich begrenzen!         Studierende beraten Flüchtlinge
                      34 Free Deniz Yücel!                                                                 Druck:
                                                                                                           Druckerei und Verlag Gutenberg Riemann GmbH
                      36 NSU-Verbrechen: Kassel fragt nach      19-22 lea-Fortbildungsprogramm             Werner-Heisenberg-Str. 7, 34123 Kassel
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
3     HLZ 6/2017   zum Inhaltsverzeichnis                                                                 KOMMENTAR

Wahltaktik statt Humanität
    Mit Erschrecken haben wir vernommen, dass die               Für minderjährige und junge afghanische Flücht­
    Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan in jüngs­       linge fordern wir als Kirche einen sofortigen Abschie­
    ter Zeit weiter zugenommen hat. Parallel dazu sinken    bestopp nach Afghanistan und Aufenthaltssicherheit
    die Hoffnungen der Betroffenen auf Anerkennung der      zum Erlernen der Sprache. Sie sollen Gelegenheit be­
    Asylanträge: Nach Angaben von tagesschau.de wur­        kommen, einen Schulabschluss zu erlangen und eine
    den 2015 noch mehr als 77 Prozent der Anträge von       Ausbildung zu absolvieren. Junge Menschen brau­
    Afghaninnen und Afghanen anerkannt, in den ers­         chen unabhängig von den Asylverfahren gesicherte
    ten beiden Monaten diesen Jahres lag die Quote bei      Duldungen für mindestens fünf Jahre.
    nicht einmal 50 Prozent.                                    Die derzeit stattfindenden Abschiebungen folgen
       Die Flieger mit Abgeschobenen landen wahrlich        vor allem politisch-wahltaktischen Gründen. Die ak­
    nicht in einem Land, in dem das Leben sicher ist.       tuelle Praxis ist für die Betroffenen und das Land ka­
    Kaum eine Woche vergeht, in der nicht von Bom­          tastrophal. Die gegenwärtige Abschiebepraxis scha­
    benanschlägen am Hindukusch die Rede ist. Und           det Deutschland und beschädigt die Bildungs- und
    wir wissen aus der Arbeit unserer kirchlichen Ein­      Integrationsbemühungen der Beteiligten – der Flücht­
    richtungen, dass viele der von Ausweisung Bedroh­       linge, der Schulen, der Sozialpädagoginnen und Sozi­
    ten in Afghanistan nicht nur Repressalien befürch­      alpädagogen und der vielen Ehrenamtlichen. Sie un­
    ten, sondern um ihr Leben fürchten müssen. Immer        terminiert die psychische Stabilität der jungen Leute,
    wieder sind unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter     sie untergräbt Lernmotivation und Konzentrations­
    als Seelsorger gefragt, wenn die Geflüchteten erfah­    kraft, führt zu Stress, Aggression und Hass, auch bei
    ren, dass Angehörige Gewalt zum Opfer gefallen sind.    denen, die anerkannt und dauerhaft in Deutschland
       Mehr als 6.500 Flüchtlinge wurden Ende März          bleiben werden. Die derzeitige Abschiebepraxis führt
    2017 bei der Zentralen Vermittlung von Unterkünf­       junge Menschen in falsche Bildungskarrieren, in die
    ten in Frankfurt, die beim Evangelischen Verein für     Illegalität, in Depressionen und Krankheit, aber auch
    Wohnraumhilfe angesiedelt ist, gezählt. Die größte      in religiöse und politische Radikalisierungen.
    Gruppe bilden Menschen aus Afghanistan, gut 1.500           Wir sind ein reiches Land und sollten als christ­
    der dort Betreuten werden als Afghaninnen und Af­       lich und humanitär geprägte Gesellschaft alles tun,
    ghanen geführt. Und noch ein wenig mehr Statistik:      den zu uns geflüchteten Jugendlichen und jungen Er­
    Alleine die Zahlen in der Großunterkunft der Diako­     wachsenen einen gesicherten Ort für ihre Entwick­
    nie Frankfurt für Familien in Bonames zeigen, dass      lung zu bieten und sie an unserem Bildungs- und
    die Lage der Flüchtlinge aus Afghanistan von großer     Sozialsystem teilhaben zu lassen. Unser Ziel sollte
    Unsicherheit geprägt ist. Mehr als 50 Prozent der Fa­   sein, dass sie mit uns an einer friedlichen Welt bau­
    milien haben keinen Aufenthaltsstatus, 30 Prozent       en, egal ob sie später selbst Deutsche werden, in an­
    gar eine Ablehnung. Es ist davon auszugehen, dass       dere Länder weiterziehen oder sich am Aufbau ihres
    die Zahlen für Alleinreisende aus Afghanistan noch      Herkunftslandes beteiligen. Menschen im Jahr 2017
    ungünstiger sind.                                       nach Afghanistan abzuschieben, passt nicht zu ei­
       Die drohende Abschiebung lähmt, belastet die Fa­     nem solchen Ziel.
    milien und den Alltag in der Flüchtlingsunterkunft,
    blockiert Integration und dämpft die Motivation der
    Menschen. Auch wenn es zu begrüßen ist, dass die
    Stadt Frankfurt am Main über Maßnahmen nach­
    denkt, wie den Menschen bei einer Rückkehr der                                         Dr. Achim Knecht
    Start in eine neue Existenz in ihrem Heimatland er­
    möglicht werden kann, gilt nach wie vor: Für diese                                     Pfarrer Achim Knecht,
    Menschen ist eine rechtliche Bleibeperspektive oder                                    Jahrgang 1957,
                                                                                           ist seit September 2014
    Duldung notwendig, da Afghanistan nicht als ein si­                                    Evangelischer Stadtdekan
    cheres Herkunftsland gesehen werden kann.                                              in Frankfurt am Main.
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
SPOT(T)LIGHT                                                                                 zum Inhaltsverzeichnis        HLZ 6/2017       4

  Das wahre Leben
                                                                                               „Tanz im Karton ohne Beleuchtung“
                                                                                               statt Grundrechenarten. Eine schwä-
                                                                                               bische Berufsschule behauptet auf ih-
                                                                                               rer Website auch, dass sie das wah-
                                                                                               re Leben vermittelt. Die Jugendlichen
      Der Jugendfreund ist in den letzten         fort. Man feierte ihn für seine kreati-      dürfen für Veranstaltungen catern. Das
      vierzig Jahren (auch) nicht schöner ge-     ven Ideen und Innovationen! Zum Bei-         „wahre Leben“: kochen und Geld zäh-
      worden. Vermutlich hätten wir uns im        spiel für die neuen Sitzbezüge in den        len? Freilerner und Home-Schooler in
      Vorbeigehen auf der Straße nicht er-        Bussen und für die Oldtimer-Straßen-         den Schweizer Bergen bewahren ihre
      kannt. Er schiebt die letzten drei Scam-    bahnen, die man für Geburtstagsfeiern        Kinder vorm Zwang des regelmäßigen
      pi auf seinem Teller hin und her und        mieten kann.                                 Schulbesuchs und bloggen stolz darü-
      gibt sich Mühe, mir zuzuhören. Aber             Ich schweige neidisch. Nein, das         ber. Die lieben Kleinen lernen direkt im
      das fällt ihm schwer. Er redet gerne sel-   „wahre Leben“ habe ich nie kennen-           „wahren Leben“: im Kuhstall nebenan,
      ber. Am liebsten von sich und seinen        gelernt. Gleich nach dem Abitur an           am Bienenstock, mit Mutti in der Kü-
      Krankheiten. Als ich einen Moment in-       die Uni. Von der Uni direkt zurück in        che, mit Vati im Urlaub. Bestechend
      nehalte, bricht es aus ihm he­raus: „Ach    die dumpfe Gemütlichkeit der Schule.         an ihrem Alltag finde ich, dass sie je-
      ja, Lehrer wollte ich auch mal werden.      Schule, ein muffig-warmer Schonraum.         den Morgen ausschlafen können. So
      Habe die Kurve nach dem ersten Staats-      Ein sanftes embryonales Dämmern im           ein „wahres Leben“ hätte ich als Lehre-
      examen aber noch rechtzeitig gekriegt.      pädagogischen Fruchtwasser. Nie mit          rin auch gern gehabt. Stattdessen habe
      Gottseidank. In der Schule bekommt          Erwachsenen klargekommen, keinen             ich Schüler telefonisch aus dem Schlaf
      man vom wahren Leben ja überhaupt           Wettbewerb und keinen Leistungsdruck         gerissen, damit sie sich rechtzeitig auf
      nichts mit!“                                ausgehalten, nie einen kühnen Gedan-         den Weg in die Lernkaserne machen.
          Und er erzählt mir vom „wahren          ken gefasst. „Lehrer sind doch meist         Habe sie per SMS an ihre Referatster-
      Leben“. Seins begann in der Bundes-         infantile Persönlichkeiten, die sich nur     mine erinnert. Habe Eltern von Schul-
      anstalt für Materialprüfung, einem Ort      kleinen Kindern gewachsen fühlen“, er-       abstinenten unter Druck gesetzt, um
      der Abenteuer und existenziellen Erleb-     klärt jetzt der Jugendfreund. „Ein Leben     ihre Kinder vom „wahren Leben“ in
      nisse. Danach landete er in einem Son-      lang auf Stuhlkreisniveau. Die wenigs-       Einkaufszentren und Spielhallen ab-
      derforschungsbereich, wo er, allein mit     ten haben jemals über den Tellerrand         zuhalten. Habe auf dem Schulhof kon-
      sich selber, zwischen Akten, Zeitschrif-    geblickt. – Ich meine jetzt nicht dich       sequent das „wahre Leben“ (Spucken,
      ten und Karteikarten gesellschaftlich       persönlich, aber du hättest doch auch        Kratzen, Dealen, Mobben, Faustkampf
      höchst relevanten Themen nachging.          bessere Möglichkeiten gehabt.“               und Messerstechen) unterbunden. Habe
      Die Ergebnisse seiner Arbeit interes-           Traurig gehe ich nach Hause. Was         versucht, mich in das „wahre Leben“
      sierten niemanden besonders, weil eine      ist das wahre Leben? Wo finde ich es?        der Elternhäuser einzumischen, weil die
      kleine Uni im Süddeutschen schneller        Google sagt es mir. Das „wahre Le-           Kinder in meinen Augen schlecht er-
      gewesen war. Irgendwann setzte der          ben“ hält z.B. Einzug, wenn an einer         nährt, vernachlässigt oder misshandelt
      Jugendfreund seine Karriere in einem        Brennpunktschule ein paar Bildhau-           wurden. Auch im Fachunterricht habe
      städtischen Nahverkehrsunternehmen          er und Choreographen auftauchen:             ich unbeirrt versucht, meine Schüler
                                                                                               vom „wahren Leben“ abzuhalten. An-
                                                                                               statt sie über Mietverträge, Investitions-
                                                                                               darlehen, Hausrat- oder Haftpflichtver-
                                                                                               sicherungen aufzuklären, habe ich sie
                                                                                               Werke toter Schriftsteller analysieren
                                                                                               lassen – in dem Irrglauben, dass „Bil-
                                                                                               dung“ und Urteilsvermögen wichtiger
                                                                                               sind als „Marktgängigkeit“.
                                                                                                   Das Versagergefühl am Ende meines
                                                                                               Berufslebens ist bedrückend. Glückli-
                                                                                               cherweise bin ich jetzt Mitglied in ei-
                                                                                               nem Kompetenzteam der Schulverwal-
                                                                                               tung geworden. Wir erarbeiten, was für
                                                                                               Kinder und Jugendliche im „wahren
                                                                                               Leben“ wirklich wichtig ist: z.B. Wahl
                                                                                               des richtigen Smartphones mit kom-
                                                                                               patiblem Selfie-Stick, posten, bloggen
                                                                                               und twittern, Bedienung eines Naviga-
                                                                                               tionsgeräts, Basiskenntnisse über Le-
                                                                                               bens- und Putzmittel, ein wenig All-
                                                                                               tagspsychologie und Grundwissen über
                                                                                               Kinderkrankheiten, Aktienfonds und
                                                                                               Kreditzinsen. Vermutlich verkürzen un-
                                                                                               sere Ergebnisse die Pflichtschulzeit um
                                                                                               mindestens vier Jahre!
                                                                                                                     Gabriele Frydrych
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
5      HLZ 6/2017     zum Inhaltsverzeichnis                                                                                               B riefe

    Betr.: HLZ 4/2017                            Betr.: HLZ 4/2017                              die Integration von neuen Schülerinnen
    Tarifabschluss                               Lehrermangel                                   und Schülern in die Klassen während
                                                                                                des laufenden Schuljahrs. (...) Es gibt
    Ein „deutliches“ Lohnplus?                   Doch ein Offenbarungseid                       keine Entlastungsstunden für Klassen-
    Auf Seite 6 steht die Überschrift „Tarif-    Wenn ich recht erinnere, war die Misere        lehrerinnen und Klassenlehrer und zu
    abschluss: Deutliches Lohnplus“. Dabei       schon absehbar, als klar war, dass die in      wenig Stunden von Sozialpädagogin-
    kann es sich nur um einen Druckfehler        den 70er Jahren eingestellten LehrerIn-        nen und Sozialpädagogen. (...)
    handeln. Mittlere Jahresinflation 2017       nen auf den wohlverdienten Ruhestand           Damit InteA „einen echten Beitrag zu ei­
    bisher: 1,9%. Wie kann man da von ei-        zustrebten. War es nicht unsere GEW,           ner gelingenden und erfolgreichen Inte­
    nem „deutlichen“ Lohnplus sprechen?          die immer wieder für kleine Klassen            gration der Jugendlichen leisten kann“,
    Das muss ein Druckfehler sein!               und gegen die Nichteinstellungs­politik        fordert der GPRLL unter anderem:
                  Wolfgang Schmidt, Leun         der jeweiligen Landesregierungen ge-           • Klassengrößen verkleinern
                                                 kämpft hat und nicht gehört wurde,             • Praktika möglichst in Ausbildungsbe-
                                                 obwohl von der Politik immer wieder            trieben und in der Schulzeit, um eine
    Betr.: HLZ 4/2017                                                                           professionelle Betreuung zu garantie-
    Reise nach Palästina                         das Hohelied von der Bedeutung der
                                                 Bildungspolitik gesungen wurde. Wer            ren und das duale System kennzulernen
    Palästinensischer Opfermythos                musste denn die Einspar- und Brems-            • Stundentafel auf mehr als 20 Stun-
    Vergeblich habe ich in dem Bericht           politik von Koch und Konsorten ausba-          den erhöhen und vier Stunden zusätz-
    nach Aussagen gesucht, die eine israe-       den? Auf wessen Rücken wurden denn             liche Deutschförderung wie in PuscH
    lische Sicht der Dinge erkennen lassen       die sogenannten Bildungsreformen (…)           und BzB
    könnten. Stattdessen wurde in der HLZ        und der ganze Kompetenzirrsinn um-             • angemessene zielgruppenorientierte
    wieder einmal der palästinensische Op-       gesetzt? Auf dem Rücken überalterter           und sprachsensible Unterstützung bei
    fermythos bedient und dieses Faktum          und absehbar ausgebluteter Kollegien.          Übergängen in Regelklassen
    mit Aussagen von vermeintlich neutra-        Einstellungskonsequenzen: NULL! (…)            • Durchführung der Abschlussprüfun-
    ler Seite kaschiert. Dass die israelischen   Jetzt will man die PensionärInnen ak-          gen in InteA nach der VO der BzB
    Siedlungen nicht das eigentliche Frie-       tivieren, ausgerechnet die KollegInnen,        • Anerkennung vorhandener Ab-
    denshindernis darstellen, haben die Er-      die in den letzten 40 Jahren den Karren        schlüsse und Zertifikate
    fahrungen nach der Räumung der jüdi-         am Laufen hielten. Ich nenne dies alles        • Entlastung für InteA-Klassenlehre-
    schen Siedlungen im Gazastreifen mehr        einen veritablen Offenbarungseid! Und          rinnen und Klassenlehrer
    als deutlich gezeigt. Hatte der Rückzug      all dies ist übrigens nur ein kleiner Aus-     Vorrangiges Ziel ist es, alle Schülerin-
    der israelischen Armee zunächst einen        schnitt des Politikversagens.                  nen und Schüler so schnell wie mög-
    Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah             Und dann noch der nicht unerheb-           lich in den Regelunterricht zu integrie-
    mit weit mehr als 100 Toten zur Folge,       liche finanzielle Pappenstiel, wenn die        ren. Deshalb muss eine angemessene
    führte der Sieg der Hamas schließlich        GrundschullehrerInnen A13 bekämen?             zielgruppenorientierte und sprachsen-
    dazu, dass südisraelische Orte jahrelang     Wer soll das bloß finanzieren? Schon           sible Unterstützung sowohl in den In-
    mit Raketen aus dem Gazastreifen be-         mal was von völlig kontraproduktiver           tensivklassen als auch in der Regelbe-
    schossen wurden.                             Schuldenbremse gehört? (…) Es kann             schulung erfolgen.
        Es ist naiv oder zynisch, der isra-      nicht darum gehen, die derzeitigen Re-
    elischen Bevölkerung angesichts die-         alitäten zu verkennen, aber auch nicht         Betr.: HLZ 4/2017
    ser Erfahrungen und des Zustands der         darum, dem derzeitigen Konsensge-              Schwimmunterricht
    sie umgebenden arabischen Staaten            brabbel auf den Leim zu gehen.
    zu empfehlen, ihren halbwegs funk-                           Jürgen Scherer, Alsbach        Aquadynamische Voraussetzung
    tionierenden Rechtsstaat gegen ei-                                                          Ein mit „Schwimmunterricht“ beauf-
    nen binationalen Staat mit einem fast                                                       tragter Sportlehrer, der auf dem Be-
                                                 Betr.: HLZ 5/2017
    fünfzigprozentigen palästinensischen                                                        ckenrand rumhampelnd vollmundig
                                                 InteA-Kurse an Berufsschulen
    Bevölkerungsanteil einzutauschen, mit                                                       mit wortreichen (und überflüssigen)
    Menschen, die seit mehr als 70 Jah-          Abschlussperspektiven fehlen                   Erklärungen im Wasser befindlichen
    ren von ihren Funktionären und Medi-         In einem Brief nimmt der Gesamtperso­          Schülern, die bereits des Schwim-
    en antisemitisch indoktriniert werden.       nalrat der Lehrerinnen und Lehrer im Be­       mens kundig sind, darlegt, wie sie nun
        Solidarität mit den Nachkommen           reich Darmstadt und Darmstadt-Dieburg          „schön“ und somit „richtig“ schwim-
    der in Europa ermordeten jüdischen           (GPRLL) zum InteA-Erlass vom 9.11.2016         men müssen, um eine gute Note zu
    Menschen erwarte ich von meiner Ge-          unter anderem wie folgt Stellung.              bekommen, liefert keinen Beweis da-
    werkschaft schon lange nicht mehr. Ich       (...) Tatsächlich verspricht der InteA-        hingehend, dass er ein ausgebildeter
    möchte aber in der HLZ nicht von Au-         Erlass auf dem Papier mehr, als er in          Schwimmlehrer wäre. Vielmehr ist auf
    toren missioniert werden, deren Sen-         der Praxis leistet. (...) Es ist nicht nach-   ihn die Spruchweisheit „Who can, does;
    dungsbewusstsein mit einem eklatanten        vollziehbar, dass den Schülerinnen und         who cannot, teaches“ zu applizieren.
    Mangel an Neutralität und Objektivi-         Schülern in InteA die Möglichkeit ei-          Im Übrigen ist fraglich, ob die Kunst
    tät einhergeht. Genügt es nicht, wenn        nes allgemeinbildenden Hauptschul-             des Schwimmens durch ein Unterrichts-
    2009 von 500 befragten deutschen Bür-        abschluss nicht gegeben wird. (...) Die        fach, das die aquadynamischen Voraus-
    gern 65 % angaben, dass vom Staat Is-        Rahmenbedingungen haben sich stän-             setzungen für das Getragenwerden im
    rael die größte Gefahr für den Weltfrie-     dig verschlechtert, z.B. durch die Anhe-       Wasser außer Acht lässt, überhaupt er-
    den ausgeht?                                 bung der maximalen Klassengröße von            lernt werden kann.
                   Jan Engbers, Darmstadt        16 auf 20. Erschwerend hinzu kommt                               Horst May, Korbach
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
M el d un g en                                                                               zum Inhaltsverzeichnis      HLZ 6/2017      6

                                                        Vergleichsarbeiten VERA:                     22. Juni 2017:
                                                        Belastung ohne Ertrag                        Fachtagung „Ausgeschult!“
                                                  Der GEW-Kreisverband Hanau woll-             Die Gruppe InklusionsBeobachtung
                                                  te sich mit einer eigenen Umfrage ein        Hessen (GIB) führt am Donnerstag, dem
                                                  genaueres Bild machen, wie die Leh-          22. Juni von 14 bis 18 Uhr in Frankfurt
                                                  rerinnen und Lehrer an Grundschulen          eine Fachtagung zum Phänomen der
                                                  die verbindlichen Vergleichsarbeiten in      steigenden Zahl „ausgeschulter“ Schü-
                                                  den Fächern Mathematik und Deutsch           lerinnen und Schüler durch. Die Tagung
                                                  in allen dritten Klassen (VerA3) beur-       thematisiert pädagogische Ansatzpunk-
                                                  teilen. 181 Grundschullehrkräfte betei-      te für den Umgang mit inklusiv be-
                                                  ligten sich an der Umfrage und waren         schulten Kindern und Jugendlichen, die
                                                  sich einig: 92,4 % der Befragten stimm-      ein besonders hohes Maß an Unter-
                                                  ten der Aussage „voll und ganz“ (83 %)       stützung und pädagogischer Aufmerk-
                                                  oder „eher“ zu, die Arbeit in der Inklu-     samkeit benötigen. In der GIB Hessen
                                                  sion und in heterogenen Gruppen wer-         arbeiten GEW, Landesbehindertenrat,
                                                  de von VerA „in keiner Weise unter-          Gemeinsam leben e.V., elternbund, Lan-
                                                  stützt“. 94,3 % halten die Forderung,        desschülervertretung und Landesaus-
                                                  die für VerA verwendeten Ressourcen          länderbeirat zusammen. Referentinnen
                                                  besser für zusätzliche Förderstunden         und Referenten sind Dr. Dorothea Ter­
                                                  und ‑materialien zu nutzen, für „höchst      pitz (Ausgeschult – Ein neuer Trend?)
             GEW: Bildung braucht                 dringlich“. Auch der Kritik, dass die        und Rektor a.D. Albert Claßen (Trai-
             bessere Bedingungen                  Vergleichsarbeiten „für deutsche Kin-        ningsraumkonzept). Arbeitsgruppen
                                                  der in homogenen Gruppen“ konzipiert         befassen sich mit Verhaltensauffällig-
        Am 9. und 10. Juni fordern Lehrerin-      sind und „Kinder mit Beeinträchtigun-        keiten (Jochen Raue, Lehrer und Kin-
        nen und Lehrer, Eltern und Schüler-       gen nicht vorkommen“, stimmen über           derpsychotherapeut) und mit Autismus
        vertretungen in mehreren hessischen       90 % der Befragten zu.                       (Dr. Monika Lang, Institut für Reha-
        Städten im Rahmen eines dezentralen       • Eine ausführliche Auswertung findet        bilitationspsychologie und Autismus).
        Aktionstags der GEW Hessen „besse-        man auf der Homepage der GEW Hanau           • Veranstaltungsort ist Hoffmanns Höfe,
        re Bedingungen für gute Bildung“. Die     (www.gew-hanau.de) und in der nächsten       Heinrich-Hoffmann-Str. 3, 60528 Frank­
        GEW-Kreisverbände Kassel-Stadt und        Ausgabe der HLZ.                             furt; Informationen und Programm: www.
        Kassel-Land initiierten außerdem eine                                                  gib-hessen.de
        Online-Petition. Noch bis zum Beginn
        der Sommerferien kann man sich der              GEW Hessen kritisiert
        Forderung anschließen, dass „an der             Landesrechnungshof                           23. Juni 2017, 19.30 Uhr:
        Bildung nicht gespart werden darf“.                                                          Regierung gesucht
        • https://www.openpetition.de/petition/   „Mangelnde Sachkenntnis“ warf die
        online/an-bildung-darf-nicht-gespart-     stellvertretende GEW-Landesvorsit-           Auch die Gewerkschaften müssen sich
        werden                                    zende Karola Stötzel dem Hessischen          Gedanken machen, wie ihre Forderun-
                                                  Landesrechnungshof vor, der in einem         gen auch in den Parlamenten vertreten
                                                  Bericht zu den Kosten der Kinderbetreu-      werden und mit welcher Mehrheit der
                                                  ung in Hessen eine Erhöhung der El-          geforderte Politikwechsel durchgesetzt
             17. Juni 2017:                       ternbeiträge und eine Reduzierung der        werden kann. Das Institut Solidarische
             Hessisches Sozialforum               Fachkräfte fordert. Dabei ignoriere er       Moderne (ISM) sucht dieses Bündnis
                                                  „wissenschaftlich untermauerte Fach-         mit den Gewerkschaften, um „Jahre des
       Das XII. Hessische Sozialforum steht       kraft-Kind-Relationen“ und Erkennt-          politischen Stillstands“ zu beenden. Im
       unter der Überschrift „Alle werden ge-     nisse der pädagogischen Forschung            Rahmen einer Veranstaltungsreihe des
       braucht! Hessen und Europa gehen           über die Bedeutung von Gruppengrö-           ISM diskutieren der Autor Imran Ayata,
       auch solidarisch!“ Im Frankfurter Haus     ßen und orientiere sich stattdessen „an      der Politikwissenschaftler Ulrich Brand
       am Dom diskutieren Vertreterinnen und      den Mindeststandards des Kinderför-          und die „Europäerin“ Daphne Bülles­
       Vertreter von sozialen Bewegungen und      derungsgesetzes“. Neben der unmittel-        bach über „die europäische Dimension
       Bürgerinitiativen, aus Kirchen, Ge-        baren Arbeit mit Kindern müsse auch          der Bundestagswahl im Herbst 2017“
       werkschaften und Wohlfahrtsverbän-         die Zeit für die Dokumentation von Bil-      und die Frage, welche Rolle „Deutsch-
       den über die Chancen für eine alterna-     dungsprozessen, die Konzeptentwick-          land in einem friedlichen, solidari-
       tive Politik im Lande Hessen und einen     lung und die Zusammenarbeit mit den          schen und demokratischen Europa spie-
       politischen Neustart für Europa. Refe-     Eltern angemessen berücksichtigt wer-        len kann“. Die Veranstaltung findet am
       rentinnen und Referenten sind unter        den. Auch den Vorschlag des Rech-            Freitag, dem 23. Juni, um 19.30 Uhr im
       anderem der ver.di-Vorsitzende Frank       nungshofs, die kostengünstigere Kin-         Ökohaus in Frankfurt statt (Kasseler
       Bsirske und Sabine Knickrehm, Vor-         dertagespflege auszubauen, lehnt die         Str.1a). Kooperationspartner sind un-
       sitzende Richterin am Bundessozialge-      GEW ab, weil „hier die nötigen fachli-       ter anderen die gewerkschaftliche Ini-
       richt in Kassel.                           chen Voraussetzungen zur Bildung, Er-        tiative „Europa neu begründen“, die IG
       • Samstag, 17. Juni, 10 bis 16 Uhr,        ziehung und Betreuung von Kindern in         Metall Frankfurt und die GEW Hessen.
       Frankfurt, Haus am Dom, Domplatz 3         der Regel nicht gegeben sind“.               • www.regierung-gesucht.de
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
7     HLZ 6/2017      zum Inhaltsverzeichnis                               T ite l thema : g E F L Ü C H T E T N A C H h E S S E N

                               Sadaf Amiri darf bleiben
    Der Schutz von menschlichem Leben ist doch wohl das Min-             rechtlichen Bestimmungen für eine solche Duldung so unklar,
    deste – sollte man meinen. Aber im Vorfeld der Bundes-               dass die Geflüchteten bei der Wahrnehmung ihrer Rechte re-
    tagswahl belehren das Innenministerium und die Abschie-              gelrecht behindert werden: Mal werden sie von einer Aus-
    bebehörden der Republik Öffentlichkeit und Geflüchtete in            länderbehörde monatelang hingehalten, bis die bevorstehen-
    wachsendem Maß eines Schlechteren. Das gilt insbesonde-              de Abschiebung die Gewährung einer Ausbildungsduldung
    re für Abschiebungen zum Teil noch sehr junger Menschen              hinfällig macht, dann wieder wird selbst Jugendlichen, die
    in den angeblich sicheren Herkunftsstaat Afghanistan, aber           bereits als Azubis arbeiten, trotz Ausbildungsvertrag keine
    auch nach Nordafrika, ins Kosovo und anderswohin.                    Duldung gewährt und eine Abschiebung angeordnet.
        Engagierten Menschen unter anderem an der Philipp-                  Im Vordergrund solcher Maßnahmen der Abschiebebe-
    Holzmann-Schule (PHS), einer Beruflichen Schule in Frank-            hörden stehen Menschen aus Afghanistan. Die politische
    furt, gelang es im Frühjahr 2017, durch eine breite Kampagne         und militärische Lage veranlasste erst kürzlich die US-
    die drohende Abschiebung der afghanischen Familie Amiri              Regierung, ihre spektakuläre MOAB-Bombe einzusetzen.
    zunächst und bis auf weiteres für alle Familienmitglieder zu         Gleichzeitig kündigte die NATO-Führung an, ihre Bünd-
    verhindern. Menschen aus dem Netzwerk der Unterstützerin-            nistruppen in Afghanistan zu verstärken. Es kann sich bei
    nen und Unterstützer um die Familie, Schülerinnen, Schüler           Afghanistan also gar nicht um ein „sicheres Herkunftsland“
    und Lehrkräfte sowie die Schülervertretung (SV) der PHS ar-          handeln. Die öffentlich zelebrierten Abschiebungen in dieses
    tikulierten ihren Protest in Resolutionen, alarmierten die Me-       Land sind Bestandteil eines populistischen Wahlkampfs im
    dien, malten Transparente und gingen schließlich gemeinsam           Vorfeld der Bundestagswahl. Die Behauptung, bei den Ab-
    mit Familie Amiri und vielen anderen Bedrohten und Unter-            zuschiebenden handele es sich um „Kriminelle“, ist in vie-
    stützerinnen und Unterstützern in Wiesbaden auf die Straße.          len Fällen gelogen.
        In der Schule gründete sich eine AG, um sicherzustel-               Wir sind uns in der Flüchtlings-AG der PHS einig: Durch
    len, dass auch weitere Ausreiseaufforderungen und dro-               die Abschiebung einer Schülerin oder eines Schülers unse-
    hende Abschiebungen im selben Sinn beantwortet würden.               rer Schule wird auch der Charakter unserer Schule unwi-
    An der PHS gibt es derzeit fünf InteA-Klassen. Die meisten           derruflich verändert – von der Schule zum Vorfeld des Ab-
    Jugendlichen suchen einen Ausbildungsplatz, unter anderem            schiebegefängnisses. Bildung und Integration verlangen nach
    weil die sogenannte Ausbildungsduldung für zunächst drei             einer angstfreien und menschenwürdigen Umgebung. Dar-
    Jahre derzeit die beste Möglichkeit darstellt, vor einer Ab-         um verteidigen wir mit den Geflüchteten an der PHS auch
    schiebung gesichert zu werden (HLZ S. 8). Die Flüchtlings-AG         uns selbst, unsere Vorstellungen einer befreienden und men-
    hat (hoffentlich) zu allen potenziell von Abschiebung bedroh-        schenfreundlichen Arbeit als Lehrkräfte und als Seelsorgerin-
    ten Schülerinnen und Schülern insbesondere in den InteA-             nen und Seelsorger in der Gesellschaft dieses Landes.
    Klassen Kontakt aufgenommen, um sie zu beraten und nie-                                        Pfarrer Dr. Hans Christoph Stoodt
    manden mit einem negativen Bescheid des BAMF allein zu
                                                                         Der Autor ist Schulseelsorger und SV-Verbindungslehrer der Philipp-
    lassen. Dazu haben wir enge Kontakte mit Flüchtlingsiniti-           Holzmann-Schule und engagiert sich in der Flüchtlings-AG der PHS.
    ativen, Anwaltskanzleien und Betreuerinnen und Betreuern
    in den staatlichen Maßnahmen geknüpft.                               • In der Ausgabe 6/2017 der e&w, der diese HLZ beigelegt ist,
        Eine „Ausbildungsduldung“ sollte in jedem Fall möglichst         findet man eine weitere Reportage zu den Aktivitäten der Philipp-
    frühzeitig beantragt werden. Allerdings sind die aufenthalts-        Holzmann-Schule auf den Seiten 42 und 43

                   Protest gegen Abschiebung                             Die Protestpostkarte gegen Abschiebungen nach Afghanistan findet
                                                                         man auf der Homepage von PRO ASYL zum Bestellen oder Aus­
    Sadaf Amiri macht eine Ausbildung als Bauzeichnerin und ist          drucken (https://proasyl.de > Materialien).
    Schülerin der Philipp-Holzmann-Schule. Gegen ihre drohen­
    de Abschiebung protestierten im Januar 2017 auch die Schü­
    lerinnen und Schüler ihrer Klasse.
    „Wir, die Klasse 10BZ der Philipp-Holzmann-Schule Frankfurt,
    sind entsetzt darüber, wie menschenverachtend der Umgang mit
    der Familie unserer Klassenkameradin Sadaf ist. Wir möchten
    hiermit unseren Protest über die Entscheidung des BAMF ausdrü-
    cken und darauf hinweisen, wie grausam es ist, dass eine junge
    Frau mit großartiger Zukunftsperspektive aus ihrem Leben hier in
    Deutschland gerissen werden soll. (...) Wir können es als Menschen
    nicht verantworten, dass eine in unserem Land integrierte Familie
    sehenden Auges zurück in den Tod geschickt wird. Sadaf hat sich
    während der Zeit ihres Studiums an der Polytechnischen Univer-
    sität in Kabul für Frauenrechte eingesetzt. Ihr Bruder wurde als
    Soldat der afghanischen Armee von den Taliban entführt und der
    Familie gedroht. (…) Wir fordern die Rücknahme des Abschiebe-
    bescheids für Familie Amiri!“
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
Titelthema                                                                                  zum Inhaltsverzeichnis         HLZ 6/2017      8

                                                                         Asyl und Aufenthalt
                     Die Rechtslage ist kaum noch zu durchschauen
     Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, bestand das
     Asylrecht in Artikel 16 Abs.2 aus einem einzigen kurzen Satz:          Anhörung und Entscheidung durch das BAMF
     „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Durch mehrere Grundge­         Bis zur Zuweisung eines Anhörungstermins sind bereits meh-
     setzänderungen und immer wieder geänderte Ausführungsgeset­         rere Monate, ein Jahr oder länger vergangen. Auch danach
     ze wurde daraus ein Konvolut von Regelungen, Auslegungen und        müssen sich Betroffene und Helferinnen und Helfer auf eine
     Ausnahmen. Rechtsanwalt Victor Pfaff, einer der besten Kenner       lange, zermürbende Wartezeit einstellen. Der Anteil der Men-
     der Materie, brachte es bei einer Veranstaltung in Rüsselsheim
                                                                         schen, die mit dem Bescheid des BAMF als Asylberechtigte
     auf den Punkt: „Was fehlt, ist eine vernünftige und unbürokrati­
                                                                         nach § 16a GG oder als Flüchtlinge nach der Genfer Flücht­
     sche Bleiberechtsregelung. Denn alle wissen, dass die ganz große
     Mehrheit der Flüchtlinge bleiben wird. Stattdessen jagt eine Ver­   lingskonvention anerkannt werden, wird immer geringer.
     änderung im Aufenthalts- und Asylrecht die nächste.“ Die fol­       Nach der Genfer Flüchtlingskonvention gelten Menschen als
     genden Ausführungen geben nur einen kurzen, oberflächlichen         Flüchtlinge, die von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteu-
     Einblick in das aktuelle Asylrecht und die wichtigsten Kontro­      ren aufgrund ihrer „Rasse“, Nationalität, politischen Überzeu-
     versen. Die jüngste weitere Verschärfung, die der Bundestag im      gung, religiösen Grundentscheidung oder Zugehörigkeit zu
     Mai 2017 beschloss, ist noch nicht berücksichtigt.                  einer bestimmten sozialen Gruppe (und damit auch aufgrund
     Alle Ratgeber für ehrenamtliche Helferinnen und Helfer              einer bestimmten sexuellen Orientierung) verfolgt werden.
     empfehlen, bei der Beratung und Unterstützung von ge-               Damit geht die Flüchtlingskonvention über die ausschließlich
     flüchteten Menschen der Anhörung durch das Bundesamt                politische Verfolgung hinaus. Nach den jüngsten Zahlen des
     für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ganz besondere Auf-            BAMF stieg der Anteil abgelehnter Asylanträge von 2016 bis
     merksamkeit zu widmen. Hier entscheidet sich, welche Blei-          April 2017 von 25 % auf 37 %. Gleichzeitig sank der Anteil
     beperspektiven Flüchtlinge haben und welcher Status zuer-           anerkannter Flüchtlinge von 37 % auf 22 %. Dazu kommen
     kannt wird. Eine auf der Grundlage der Anhörung getroffene          die Fälle, die nach dem Dublin-Verfahren aufgrund der Zu-
     Entscheidung ist später gerichtlich nur noch schwer zu re-          ständigkeit eines anderen EU-Staates oder wegen der Rück-
     vidieren. Deshalb sollten ehrenamtliche Betreuerinnen und           nahme des Antrags nur „formell“ entschieden wurden. 2016
     Betreuer viel Zeit in die Vorbereitung investieren und den          waren dies 18 % der Fälle.
     geflüchteten Menschen helfen, sich an die oft schmerzhaf-               Wird ein Antrag auf Anerkennung der Asylberechtigung
     ten Umstände der Flucht, an Details der Diskriminierung             oder als Flüchtling abgelehnt, besteht die Möglichkeit, dass
     und Verfolgung zu erinnern, Dokumente und Belege zusam-             ein subsidiärer Schutz nach Artikel 4 des Asylgesetzes zuer-
     menzustellen und ihre Gründe überzeugend darzulegen. Sie            kannt wird. Er soll dann gewährt werden, wenn den Betrof-
     können eine Vertrauensperson oder einen Anwalt mitneh-              fenen im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Dazu ge-
     men und sollten widersprechen, wenn sie den vom Amt be-             hören die Gefahren durch die Verhängung der Todesstrafe,
     reitgestellten Übersetzer nicht verstehen, der die Aussagen         durch Folter oder durch Krieg und Bürgerkrieg im Herkunfts-
     des Flüchtlings übersetzen und das angefertigte Protokoll           land. Während Menschen aus Syrien zunächst in den meis-
     rückübersetzen soll.                                                ten Fällen als Flüchtlinge anerkannt wurden, erhalten sie jetzt
                                                                         zumeist nur subsidiären Schutz. Dieser wird in dem Bescheid
                                                                         des BAMF zunächst für ein Jahr ausgesprochen und dann je-
                                                                         weils um zwei Jahre verlängert. Entzogen werden könnte er
                                                                         aber nur dann, wenn sich die Verhältnisse im Herkunftsland
                                                                         substanziell ändern und die Gefahr für Leib und Leben nicht
                                                                         mehr besteht. Nach fünf Jahren kann der subsidiäre Schutz
                                                                         in ein dauerhaftes Niederlassungsrecht umgewandelt werden,
                                                                         wenn weitere Voraussetzungen wie die Sicherung des Lebens-
                                                                         unterhalts sowie ausreichende Deutschkenntnisse erfüllt sind.
                                                                         Dabei wird die Dauer des Asylverfahrens nicht eingerechnet.

                                                                                   Abschiebungen nach Afghanistan
                                                                         Wird der Asylantrag abgelehnt und auch kein subsidiärer
                                                                         Schutz gewährt, erfolgt eine Aufforderung zur Ausreise bzw.
                                                                         eine Abschiebung. 2017 hat bereit das BAMF in 6 Prozent al-
                                                                         ler Fälle nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes
                                                                         ein Abschiebungsverbot festgestellt und damit eine Duldung
                                                                         ausgesprochen. Ansonsten kann ein solches Abschiebever-
                                                                         bot nur noch gerichtlich durchgesetzt werden.
                                                                             Gegen die Bescheide des BAMF sind Rechtsmittel möglich.
                                                                         Die Fristen müssen im Bescheid genannt werden. Bei jedem
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
9     HLZ 6/2017      zum Inhaltsverzeichnis

    Gericht besteht eine Rechtsantragsstelle, die bei der Einle-
    gung von Rechtsmitteln durch die Betroffenen oder bevoll-
    mächtigte Personen behilflich sein muss, die Klagebegrün-
    dung kann nachgereicht werden.
       Afghanistan ist für Flüchtlingsorganisationen und Wohl-
    fahrtsverbände derzeit das „am stärksten asylpolitisch um-
    kämpfte Land“. Die Bundesregierung erhöht derzeit den Druck
    auf ausreisepflichtige Menschen aus Afghanistan durch me-
    dial inszenierte Abschiebungen und den Abschluss eines EU-
    Rückübernahmeabkommens mit der Regierung in Kabul. Mit
    der Behauptung, es würden nur alleinstehende, gesunde und
    vorbestrafte junge Männer abgeschoben, sollen Helferinnen
    und Helfer beruhigt und flüchtlingsfeindliche Stimmungen
    bedient werden. Rechtsanwalt Victor Pfaff berichtete aller-
    dings auch, dass gegenläufig sowohl das Bundesverfassungs-
    gericht in mehreren Eilentscheidungen als auch einzelne
    Verwaltungsgerichte Abschiebungen nach Afghanistan ge-
    stoppt haben und sich hier ein Wandel der Rechtsprechung
    andeutet. Die Gerichte beziehen sich dabei sowohl auf eine
    verschlechterte Sicherheitslage in Afghanistan als auch auf
    schlechte Chancen, ohne Bindungen zu Afghanistan und
    ohne familiären Rückhalt dort wenigstens „das Existenz-
                                                                    https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37384420
    minimum zu sichern“ (Urteil des Verwaltungsgerichts Ham-        (Opihuck – CC BY-SA 3.0)
    burg vom 20. 2. 2017).
                                                                        Eine solches Abschiebeverbot gibt es nicht für Jugend-
           Auch Hessen erwägt Wohnsitzauflagen                      liche, die noch die Schule besuchen. § 25a des Aufenthalts-
                                                                    gesetzes regelt die Möglichkeit, bei „gut integrierten Ju-
    Inzwischen prüft auch die schwarz-grüne hessische Landes-       gendlichen und Heranwachsenden“ die Duldung in einen
    regierung, Flüchtlinge nach § 12a des Aufenthaltsgesetzes zu    dauerhaften Aufenthalt umzuwandeln. Voraussetzungen für
    verpflichten, einen bestimmten Wohnort zu nehmen oder ge-       einen solchen Antrag, der vor Vollendung des 21. Lebensjah-
    rade nicht zu nehmen. Unabhängig von der strittigen Frage,      res gestellt werden muss, sind ein vierjähriger ununterbro-
    ob das Grundrecht der Freizügigkeit für anerkannte Flücht-      chener legaler Aufenthalt in Deutschland, ein „erfolgreicher“
    linge durch eine solche Wohnsitzauflage aufgehoben werden       Schulbesuch seit mindestens vier Jahren oder ein anerkannter
    darf und ob die Zuweisung in ländliche Regionen tatsäch-        Schul- oder Berufsabschluss. Außerdem muss „gewährleis-
    lich zu einer Verbesserung des Fortkommens und der Inte­        tet“ sein, dass sich der Jugendliche „auf Grund seiner bishe-
    gration führt, besteht für die Behörden eine Nachweispflicht,   rigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensver-
    dass die Auflage überprüfbar die Wohnsituation verbessert       hältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann“.
    und den Spracherwerb und die Aufnahme einer Ausbildung
    oder Erwerbstätigkeit erleichtert.
                                                                            Einschränkung des Familiennachzugs
                   Ausbildung und Schulbesuch                       Zu den negativen Veränderungen des Asyl- und Aufent-
                                                                    haltsrechts gehört die Aussetzung des Rechts auf Familien-
    Zu den wenigen Verbesserungen im Asyl- und Aufent-              nachzug für geflüchtete Menschen mit subsidiärem Schutz
    haltsrecht gehört die vorübergehende Aussetzung der Ab-         für die Dauer von zwei Jahren. Durch die lange Zeit bis zum
    schiebung, wenn eine qualifizierte Berufsausbildung auf-        Bescheid des BAMF können daraus auch vier Jahre werden.
    genommen wurde. Diese Änderung erfolgte vor allem auf           Das Deutsche Institut für Menschenrechte hält diese Geset-
    Druck der Wirtschaft, die hofft, Nachwuchssorgen in Man-        zesänderung in einer Stellungnahme vom 16. 12. 2016 für
    gelberufen auch auf diesem Weg zu minimieren. § 60a Ab-         einen Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte. Die deut-
    satz 2 des Aufenthaltsgesetzes ermöglicht es, „für die im       schen Auslandsvertretungen müssten deshalb auch weiterhin
    Ausbildungsvertrag bestimmte Dauer der Berufsausbil-            „Anträge auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberech-
    dung“ eine Duldung auszusprechen, „wenn der Auslän-             tigten aus völkerrechtlichen Gründen bearbeiten und posi-
    der eine quali­fizierte Berufsausbildung in einem staatlich     tiv entscheiden“. Dies gelte insbesondere für den Nachzug
    anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsbe-         von Kindern. Nach Artikel 25 GG sind die allgemeinen Re-
    ruf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat“ und           geln des Völkerrechtes unmittelbarer „Bestandteil des Bun-
    noch keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingelei-            desrechtes“. Dies gilt auch für die UN-Kinderrechtskonven-
    tet wurden. Im Hinblick auf eine weitere Bleibeperspekti-       tion, die in Artikel 3 den Vorrang des Kindeswohls für alle
    ve nach dem Ende der Ausbildung kann auch die „Positiv-         staatlichen Maßnahmen begründet und in Artikel 11 alle Ver-
    liste“ der Bundesagentur für Arbeit zur „Zuwanderung in         tragsstaaten verpflichtet, „von einem Kind oder seinen Eltern
    Ausbildungsberufe“ herangezogen werden. Sie enthält die         zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge“ auf
    Berufe, bei denen „die Besetzung offener Stellen mit aus-       Einreise oder Ausreise „wohlwollend, human und beschleu-
    ländischen Bewerberinnen oder Bewerbern arbeitsmarkt-           nigt“ zu bearbeiten, ohne dass der Antrag „nachteilige Fol-
    und integrationspolitisch (...) verantwortbar ist“ (https://    gen für die Antragsteller und deren Familienangehörige hat“.
    www.arbeitsagentur.de/positivliste).                                                                         Harald Freiling
70.Jahr Heft6 Juni2017 - Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung
Titelthema                                                                               zum Inhaltsverzeichnis         HLZ 6/2017      10

                                        Willkommenskultur am Ende?
     Im Gespräch mit der SPD-Landtagsabgeordneten Andrea Ypsilanti
     Andrea Ypsilanti (SPD) ist seit 1999 Mitglied des hessischen      Fehlern von Behörden nachgehen soll. Dem BAMF und den
     Landtags und seit 2014 Vorsitzende des Petitionsausschus-         Ausländerbehörden Fehlentscheidungen nachzuweisen, ist
     ses. Außerdem ist sie Mitglied der Härtefallkommission. HLZ-      kaum möglich. Sie entscheiden nämlich in der Regel durch-
     Redakteur Harald Freiling sprach mit Andrea Ypsilanti über        aus „rechtmäßig“, allerdings im Rahmen der immer wieder
     Fragen des Aufenthaltsrechts und die Nöte geflüchteter Men-       verschärften Asylgesetze. Trotzdem kann ich als Abgeordne-
     schen und der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer.              te, die sich eines bestimmten Falles annimmt, schon beraten
                                                                       und auch ohne eine formelle Entscheidung im Ausschuss im
     HLZ: Welche Bedeutung haben die Probleme und Nöte geflüch­        persönlichen Gespräch wichtige Hinweise geben. Wichtig ist
     teter Menschen für die Arbeit des Petitionsausschusses?           auch, dass für die Dauer des Petitionsverfahrens in der Re-
                                                                       gel die Abschiebung ausgesetzt ist und dass die Petition Vo-
     Ypsilanti: Eine ganz große! Das Bundesamt für Migration
                                                                       raussetzung für die Anrufung der Härtefallkommission ist.
     und Flüchtlinge (BAMF) hat in den letzten Monaten die Ver-
     fahren enorm beschleunigt. Die vielen Neueinstellungen und        Was macht diese Hilflosigkeit mit Ihnen?
     die Trennung von Anhörung und Entscheidung beeinträchti-
                                                                       Die sorgt auch schon mal für schlaflose Nächte. Ich führe
     gen allerdings die Sorgfalt der Recherche. In vielen Beschei-
                                                                       viele Gespräche mit den ehrenamtlichen Helfern, mit Sozi-
     den wird nur ein befristeter subsidiärer Schutz gewährt, vie-
                                                                       alpädagoginnen und Sozialpädagogen und Flüchtlingsor-
     le andere setzen eine Frist von 30 Tagen für die „freiwillige“
                                                                       ganisationen. Die haben natürlich dann große Erwartungen
     Ausreise. Es reicht ja schon ein einziger solcher Bescheid,
                                                                       und die Petition erscheint als letzter Rettungsanker. Die Men-
     dass ein vernünftiges Weiterarbeiten in einer InteA-Klasse
                                                                       schen sitzen auf gepackten Koffern und sehen jede Hoffnung
     unmöglich ist. Was ist, wenn in einer solchen Klasse drei oder
                                                                       schwinden. Da gibt es zum Beispiel junge Menschen aus Eri-
     vier Jugendliche oder junge Erwachsene einen solchen Be-
                                                                       trea, die in Deutschland erst alphabetisiert wurden und jetzt
     scheid bekommen! Die Betroffenen sind in Panik, die Lehr-
                                                                       mit Hochdruck Deutsch lernen, Kinder aus Roma-Familien
     kräfte oder ehrenamtlichen Patinnen und Paten verzweifelt.
                                                                       aus Albanien, die in der Schule aufgeblüht sind, weil sie zum
     Sie fragen sich, was aus der „Willkommenskultur“ geworden
                                                                       ersten Mal Mitschülerinnen und Mitschülern und Lehrkräf-
     ist, und stehen vor den Scherben ihres Engagements. In dieser
                                                                       ten begegnen, die sie ohne Diskriminierung annehmen. Sol-
     Situation wenden sie sich dann an den Petitionsausschuss.
                                                                       che Schicksale gehen schon unter die Haut…
     Welche Möglichkeiten hat der Petitionsausschuss, in dieser Si­
     tuation zu helfen?                                                Sie haben die InteA-Klassen angesprochen. Leider gilt ja der
                                                                       Schutz vor Abschiebung nicht für die schulische Ausbildung,
     Leider sind sie begrenzt! Das hat vor allem etwas mit dem         aber doch für die Berufsausbildung…
     gesetzlichen Auftrag des Petitionsausschusses zu tun, der         …aber auch dieser Schutz gilt nur begrenzt. Die Ausländerbe-
                                                                       hörden haben bei Ausbildungsduldungen einen Ermessens-
                      Der Petitionsausschuss                           spielraum, insbesondere wenn bereits „aufenthaltsbeendigen-
                                                                       de Maßnahmen“ ergriffen wurden. Auch eine vermeintliche
     Das Petitionsrecht nach Artikel 17 des Grundgesetzes und          Verweigerung der Mitwirkung bei der Erfüllung der Aus-
     Artikel 16 der Hessischen Verfassung gilt ausdrücklich für        weispflicht kann ausreichen, dass eine Ausbildungserlaub-
     „jedermann“, also auch für Minderjährige, Menschen an-            nis verweigert wird. Oft melden sich bei uns auch Betriebe,
     derer Staatsangehörigkeit, Bürgerinitiativen oder Vereine.        die gern einen Ausbildungsvertrag abschließen würden, aber
     Mit Einverständnis der Betroffenen kann es auch von Drit-         die Ausbildungsduldung wurde verweigert. Dann erreiche ich
     ten wahrgenommen werden. Der Petitionsausschuss des               schon in dem einen oder anderen Fall eine Lösung auch in
     Landtags kann sich mit allen Entscheidungen von Behör-            Gesprächen mit den Behörden vor Ort, aber eben nicht das,
     den befassen, die der Aufsicht des Landes Hessen unterste-        was die Menschen brauchen, eine sichere Bleibeperspektive.
     hen, oder das Anliegen der Petition an zuständige Stellen
     weiterleiten. Die Petition ist an keine Form gebunden und         Kommen wir dann zur Härtekommission…
     kann auch online übermittelt werden. Nach den Beratun-            Das ist oft die letzte Option, dass die abgelehnten Petitionen
     gen im Petitionsausschuss entscheidet der Landtag. In auf-        in die Härtefallkommission eingebracht werden. Aber auch
     enthaltsrechtlichen Fragen hat der Petitionsausschuss kei-        in der Härtefallkommission sind die Hürden hoch. Die ge-
     nen humanitären Ermessensspielraum, vielmehr prüft er nur         flüchteten Menschen müssen aktive „Integrationsleistungen“
     mögliche Verstöße gegen Gesetze und aufenthaltsrechtliche         nachweisen, vor allem aber, dass sie sich und ihre Familie
     Verfahrensvorschriften. Allerdings ist die Wahrnehmung            aus eigener Kraft finanziell unterhalten können. Und worin
     des Petitionsrechts eine zwingende Voraussetzung für eine         liegt die „besondere Härte“ einer Abschiebung? Reicht die
     Prüfung des Einzelfalls durch die Härtefallkommission.            Diskriminierung einer Roma-Familie im Kosovo aus, um die
     • Hinweise auf die nächsten Bürgersprechstunden des Petiti­       Mehrheit der Kommission und vor allem danach den Innen-
     onsausschusses und das Formular für eine Online-Petition findet   minister zu überzeugen? Gut, alle Kolleginnen und Kollegen
     man unter https://hessischer-landtag.de > Service > Petition.     in der Kommission sind sehr engagiert und nehmen ihren
11      HLZ 6/2017     zum Inhaltsverzeichnis                                                                               Titelthema

     humanitären Auftrag ernst, aber alle Fälle, die in die Kom-
     mission eingebracht und positiv entschieden werden, unter-
     liegen dann am Ende immer noch der Entscheidung des In-
     nenministers. Die weicht dann schon hin und wieder vom
     positiven Votum der Kommission ab...
     …die wiederum Ausdruck einer veränderten Gesetzgebung ist…
     …aber nicht nur der Gesetzgebung. Bei Afghanistan spielt
     die Einschätzung durch die Bundesregierung die maßgebli-
     che Rolle. Da muss ich mir schon vorhalten lassen, dass auch
     das Außenministerium, das seit vielen Jahren von SPD-Mi-
     nistern geleitet wird, an der Einschätzung festhält, große Tei-
     le von Afghanistan seien „sicher“. Nach den Gesprächen, die
     ich führe, kann ich dies nicht teilen…
     ...und wohl auch einige Gerichte nicht (HLZ S.8–9). Aber gilt
     da nicht die Aussage des hessischen Innenministers, dass aus­
     schließlich vorbestrafte ausreisepflichtige junge Männer abge­
     schoben werden?
     Eine belastbare Aussage der Landesregierung gibt es dazu
     nicht. Bei den meisten Abschiebungen wird erst nachträg-
     lich bestätigt, dass auch Menschen aus Hessen im Flieger sa-
     ßen. So verhindert man Proteste und bleibt trotzdem „kon-
     sequent“. Die Abschiebungen nach Afghanistan haben sehr
     viel Unruhe in die Reihen der ehrenamtlichen Helferinnen
     und Helfer gebracht. Unmenschlich finde ich auch das Hin-
     ausschieben des Familiennachzugs bei subsidiärem Schutz.
     Es gibt tausende von Fällen in Europa, wo Eltern und Kin-
     der nicht zusammenkommen können.
     Wie beurteilen Sie auf diesem Hintergrund die aktuelle Flücht­
     lingspolitik der deutschen Bundesregierung und der EU?            Andrea Ypsilanti (SPD) ist seit 1999 Mitglied des hessischen
                                                                       Landtags und seit 2014 Vorsitzende des Petitionsausschusses.
     Die Willkommenskultur im Sommer 2015 wurde vor allem
     von der Bevölkerung getragen. Inzwischen werden die eh-
     renamtlichen Helferinnen und Helfer weitgehend im Stich                           Die Härtefallkommission
     gelassen und die Regierung setzt auf Abschottung und Ab-
     schiebung. Diese Politik – so hat es Gesine Schwan im SPIE-       Die Härtefallkommission beim Hessischen Ministerium
     GEL formuliert – steht der Mauer Donald Trumps gegen Me-          des Innern und für Sport ist ein behördenunabhängiges
     xiko in nichts nach. Das hat mit Willkommenskultur nichts         Gremium, das sich im Rahmen des Härtefallgesetzes vom
     mehr zu tun! Es ist zwar viel davon die Rede, dass man die        14.12.2009 mit dem Schicksal der Menschen befasst, bei de-
     Fluchtursachen vor Ort bekämpfen müsse, doch davon ist            nen das aufenthaltsrechtliche Verfahren abgeschlossen ist
     noch nichts zu sehen. Zäune, Repression und Ausgrenzung           und offenkundig ein besonderer Härtefall vorliegt. Ziel ist es,
     führen nur zu Gewalt, zu Rassismus und Extremismus. Um            Einzelfälle humanitär zu lösen, die bei Anwendung der Asyl-
     das Sterben auf dem Mittelmeer endlich zu stoppen, brau-          und Aufenthaltsgesetze nicht hätten gelöst werden können.
     chen wir legale Möglichkeiten der Einreise für Asylsuchen-            In der Kommission sind Kirchen, Wohlfahrtsverbände und
     de und für Kriegsflüchtlinge und eine Neuregelung des Fa-         Menschenrechtsorganisationen vertreten, ebenso Landtags-
     miliennachzugs.                                                   abgeordnete, kommunale Spitzenverbände und Ausländerbe-
                                                                       hörden sowie das Innen- und das Sozialministerium. Anders
     Wo könnte man einen Hebel ansetzen, um Bewegung in die fest­
                                                                       als im Petitionsrecht befasst sich die Härtefallkommission
     gefahrenen Positionen in Europa zu bringen?
                                                                       nur dann mit einem Fall, wenn ein Mitglied der Kommissi-
     Ich finde, dass Gesine Schwan einen bemerkenswerten Vor-          on diesen aufgreift und in die Kommission einbringt. Eine
     schlag für eine neue Flüchtlingspolitik der EU vorgelegt hat,     weitere zwingende Voraussetzung ist, dass zuvor eine Peti-
     um mit einem europäischen Investitionsfonds den Gemein-           tion abgeschlossen wurde. Die Befassung der Härtefallkom-
     den, die die Hauptaufgabe der Integration schultern, neue         mission ist ausgeschlossen, wenn bereits ein Abschiebeter-
     Handlungsspielräume zu eröffnen. Gemeinden, die freiwil-          min festgesetzt wurde. Für die Dauer des Härtefallverfahrens
     lig Flüchtlinge aufnehmen und integrieren, sollen nicht nur       besteht in der Regel für maximal drei Monate ein Abschiebe-
     die bei der Flüchtlingsaufnahme entstehenden Kosten erstat-       schutz. Über das Votum der Härtefallkommission entscheidet
     tet bekommen, sondern darüber hinaus auch Mittel erhalten,        das Innenministerium. Nach den letzten vorliegenden Zah-
     um die kommunale Infrastruktur zu verbessern. Sie erhofft         len beriet die Kommission zwischen 2008 und 2015 über 330
     sich dadurch einen „menschlichen und ökonomischen Vita-           Fälle, von denen 261 zu einem Härtefallersuchen beim In-
     litätsschub“. Das ist eine Vorstellung, die ich teile.            nenminister führten. 187 Anträgen gab das Innenministe-
                                                                       rium zum Teil unter Auflagen statt (Bericht über die Tätig-
     Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für die weite­
     re Arbeit.                                                        keit der Härtefallkommission vom 1.1. bis 31.12.2015, S.17)
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