AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
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70. Jahrgang, 48/2020, 23. November 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Schwarze Null Lukas Haffert Sandra Maß DIE „SCHWARZE NULL“ ZUR POLITISIERUNG IST GESCHICHTE. DER SPARSAMKEIT ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT? IM 20. JAHRHUNDERT Kardelen Günaydin · Daniel Mertens Britta Kuhn POLITISIERTES SPAREN FINANZIELLE REPRESSION UND DIE EUROPÄISCHE ALS MITTEL DER ZENTRALBANK STAATSENTSCHULDUNG Riccardo Puglisi Caspar Dohmen SPAREN – EINE SCHULDENBREMSE DEUTSCHE OBSESSION? AUSGEBREMST ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Schwarze Null APuZ 48/2020 LUKAS HAFFERT SANDRA MA ẞ DIE „SCHWARZE NULL“ IST GESCHICHTE. „WERDE EIN GUTER STAATSBÜRGER“. ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT? ZUR POLITISIERUNG DER SPARSAMKEIT Angesichts rekordverdächtiger Staatsverschul- IM 20. JAHRHUNDERT dung scheint die „Schwarze Null“ Geschichte zu Die Idee von Sparsamkeit hat sich im Laufe sein. Ihre Idee ist mittlerweile aber so tief in den des 20. Jahrhunderts deutlich gewandelt. Die fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundes- Geschichte des Weltspartags zeigt gleichwohl, republik verankert, dass sie womöglich auch die dass das Konzept Sparsamkeit zu allen Zeiten Corona-Pandemie unbeschadet überstehen wird. politisiert worden ist und schon immer ökono- Seite 04–10 mischen wie politischen Zwecken diente. Seite 25–33 KARDELEN GÜNAYDIN · DANIEL MERTENS POLITISIERTES SPAREN UND DIE EUROPÄISCHE BRITTA KUHN ZENTRALBANK. ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE WIE STARK KANN SICH DEUTSCHLAND DER GELDPOLITISCHEN DEBATTE IN VERSCHULDEN? FINANZIELLE REPRESSION DEUTSCHLAND ALS MITTEL DER STAATSENTSCHULDUNG Die Niedrigzinspolitik der EZB steht seit Jahren Deutschlands Staatsverschuldung ist seit in der Kritik, die deutschen Sparer zu schädigen. Ausbruch der Corona-Krise deutlich gestiegen. Welche Diskurskoalitionen tragen diese Kritik Welche Folgen dies für zukünftiges Wirtschafts- vor? Und wie verhält sie sich im Kontext der wachstum hat, ist ebenso umstritten wie die Eurokrise zur Entwicklung des deutschen Frage, ob „finanzielle Repression“ dabei helfen Wirtschafts- und Sozialmodells? kann, Staatsverschuldung schmerzlos abzubauen. Seite 12–20 Seite 34–40 CASPAR DOHMEN RICCARDO PUGLISI SCHULDENBREMSE AUSGEBREMST. SPAREN – EINE DEUTSCHE OBSESSION? DIE POLITISCHE DEBATTE ÜBER SINN Externe Beobachter betrachten Deutschlands UND UNSINN EINER SCHULDENGRENZE vergleichsweise hohe Sparquote und sein relativ Keine Schulden zu machen, galt in Deutschland niedriges Staatsdefizit häufig mit Skepsis. Dies lange Zeit als Staatsräson. Nicht zuletzt die scheint nicht zuletzt mit dem größeren Einfluss Auswirkungen der Corona-Krise bringen diesen keynesianischer Theorien außerhalb Deutsch- Grundsatz nun ins Wanken. Die Schuldenbrem- lands zu tun zu haben. se scheint überall in Europa ihre beste Zeit hinter Seite 21–24 sich zu haben. Seite 41–45
EDITORIAL Wer auf die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik der zurückliegenden Jahre blickt, dem kommen fast unvermeidlich zwei für den hiesigen Diskurs typische Figuren in den Sinn: die „schwäbische Hausfrau“ und die „Schwarze Null“. Um beide scheint es derzeit schlecht bestellt zu sein: Während privaten Haushalten wachsende Verschuldung droht, ist das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts angesichts des durch die Corona-Pandemie notwendig gewordenen massiven Anstiegs der öffentlichen Ausgaben in weite Ferne gerückt. Deutschland erlebt in diesem und wohl auch im nächsten Jahr eine Neuverschuldung, die nicht nur die schwäbische Hausfrau unruhig schlafen lassen dürfte. Nicht wenige Beobachter in Europa dürften diese neue, aus der Not geborene Verschuldungsleidenschaft der deutschen Politik mit Interesse und Erleichte- rung beobachten – hat Deutschland manchen südeuropäischen Staaten doch bis zuletzt eine teilweise schmerzhafte Austeritätspolitik abverlangt. Selbst die heimische ordoliberale Orthodoxie sieht derzeit offenbar keine Alternative zu einer expansiveren Haushaltspolitik. Die Corona-Krise fordert auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften ihren Tribut. Gleichwohl bleibt unklar, ob die „Schwarze Null“ tatsächlich der Geschichte angehört. Ein ausgeglichener Haushalt bleibt mittelfristig auch angesichts der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ein wirkmächtiges politisches Ziel. Das Ideal von deutscher Sparsamkeit und ausgeglichenen Haushalten, die Angst vor überbordender Verschuldung und die über viele Jahrzehnte erfolgreiche Politisierung von Sparsamkeit haben den politischen und gesellschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik zutiefst geprägt. Ein Comeback der „Schwarzen Null“ ist nicht ausgeschlossen. Sascha Kneip 03
APuZ 48/2020 DIE „SCHWARZE NULL“ IST GESCHICHTE. ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT? Lukas Haffert Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deut- letzt davon ab, auf welche argumentativen Res- sche Staat 2020 wieder ein Jahr mit einem Haus- sourcen die jeweiligen Seiten in diesem Ringen haltsdefizit abschließen, und zwar mit dem mit zurückgreifen können. Abstand größten Defizit aller Zeiten. Auch 2021 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden ist allein im Bundeshaushalt mit einem hohen zunächst rekonstruiert, welche politische Funk- zwei- oder sogar dreistelligen Milliardendefizit tion die „Schwarze Null“ vor dem Ausbruch der zu rechnen. Die Schuldenquote des Gesamtstaa- Pandemie erfüllt hat. Wie kam es überhaupt dazu, tes dürfte nächstes Jahr ein neues Rekordniveau dass eine finanzstatistische Kennzahl mit einer erreichen. Rote Zahlen, so weit das Auge reicht. so enormen symbolischen Bedeutung aufgela- Bleibt die „Schwarze Null“ also eine bloße den wurde? Und welche Kritik wurde bereits vor Episode, die besonderen Umständen wie einem dem Beginn der Corona-Krise an der „Schwar- langen Exportboom und einem historisch nied- zen Null“ formuliert? Auf Basis dieser Rekon- rigen Zinsniveau zu verdanken war, aber keine struktion wird dann gefragt, welche Interpretati- bleibenden Auswirkungen auf die öffentlichen on des Zusammenhangs von Corona-Krise und Finanzen hinterlässt? Oder markiert sie einen „Schwarzer Null“ die besten Chancen hat, sich grundlegenden Einschnitt in der Geschichte der durchzusetzen, und wovon dies abhängen wird. deutschen Staatsfinanzen, der auch über die Co- Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es rona-Krise hinaus wirksam bleiben wird? hilfreich, eine explizit vergleichende Perspektive Die Antwort auf diese Frage wird nicht allein einzunehmen und deutsche Entwicklungen und davon abhängen, wie tief der von der Pandemie Debatten mit denen in anderen Ländern zu ver- ausgelöste Wirtschaftseinbruch ausfällt und wie gleichen. Mehrjährige Haushaltsüberschüsse sind groß die als Reaktion geschnürten Rettungspake- nämlich keineswegs eine deutsche Besonderheit, te noch werden. Mindestens ebenso wichtig ist, sondern ein aus anderen Ländern gut bekanntes wie sehr die „Schwarze Null“ mittlerweile zu den Phänomen. Daraus, wie andere „Überschusslän- fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundes- der“ mit, wenn auch kleineren, ökonomischen republik zählt. Ist sie bereits so tief verankert, Schocks umgegangen sind, lassen sich deshalb ge- dass sie selbst angesichts der schwersten Wirt- wisse Rückschlüsse für die deutsche Corona-Re- schaftskrise der Nachkriegszeit nicht dauerhaft aktion ziehen. Zudem zeigt die Erfahrung dieser infrage gestellt wird? Oder war sie auch schon Länder, inwieweit der deutsche Überschuss nur vor Corona angreifbar geworden und erlebt jetzt eine weitgehend übliche Form der Haushaltspo- ihr überfälliges Ende? litik in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs ge- Die Möglichkeit völlig unterschiedlicher wesen ist – und was an der „Schwarzen Null“ Entwicklungen weist darauf hin, dass Krisen sich tatsächlich besonders ist und daher auch einer be- nicht selbst interpretieren, sondern um ihre In- sonderen Analyse bedarf. terpretation politisch gerungen wird. Die Pan- demie kann als Beleg dafür gedeutet werden, POPULARITÄTSFAKTOREN wie notwendig ein dauerhafter fiskalpolitischer Kurswechsel ist. Sie kann aber auch so gedeutet Sucht man nach den Ursachen für den großen werden, dass sie belegt, wie richtig und wichtig politischen Erfolg der „Schwarzen Null“, lassen die Politik des Haushaltsausgleichs gewesen ist sich drei Quellen ausmachen: erstens eine letzt- und weiterhin bleibt. Welche dieser Interpreta- lich psychologisch bedingte Popularität ausgegli- tionen sich politisch durchsetzt, hängt nicht zu- chener Haushalte; zweitens ein über Jahrzehnte 04
Schwarze Null APuZ eingeübter Defizitdiskurs, dessen Interpretati- schüsse eine Strategie des „Credit Claiming“, on der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschich- bei der eine Regierung offensiv die Erfolge ihrer te die Kontrastfolie zur „Schwarzen Null“ bil- Haushaltspolitik betonen kann, während Defi- det; drittens schließlich die spezifische politische zite zu einer Strategie der „Blame Avoidance“02 Konstellation zweier inhaltlich ausgezehrter, aber zwingen, bei der sie deren Misserfolge kaschie- durch eine Große Koalition aneinandergebunde- ren und anderen Akteuren oder Umständen zu- ner Volksparteien. schreiben muss. Anders, als es die ökonomische Theorie der Psychologie Politik erwartet, der zufolge Defizite politisch at- Zunächst einmal ist es keine deutsche Besonder- traktiv sind, weil sie erlauben, staatliche Wohlta- heit, dass ausgeglichene Haushalte sehr populär ten zu verteilen, ohne dafür die Steuerzahler zur sind. Das war besonders um die Jahrtausendwen- Kasse bitten zu müssen – eine Verlockung, der de herum zu beobachten, als eine Reihe westlicher durch strenge fiskalische Regeln ein Riegel vor- Demokratien mehrjährige Haushaltsüberschüs- geschoben werden müsse –, kann eine Politik se erzielte. Auch in diesen Ländern inszenier- dauerhafter Überschüsse also hochgradig popu- ten sich die für den Überschuss verantwortlichen lär sein.03 Tatsächlich werden Regierungen, die Politiker erfolgreich als Garanten einer beson- ein Defizit in einen Überschuss verwandeln, fast ders nachhaltigen, generationengerechten oder immer wiedergewählt. Und häufig legen Finanz- wachstumsfördernden Politik. Das war bei US- minister, die ein Defizit in einen Überschuss ver- Präsident Bill Clinton, der in den letzten Jahren wandeln, damit den Grundstein für den späteren seiner Amtszeit Haushaltsüberschüsse erzielte, Aufstieg an die Regierungsspitze. nicht anders als beim schwedischen Ministerprä- Gleichwohl ist die Staatsverschuldung trotz sidenten Göran Persson oder seinem kanadischen dieser grundsätzlichen Popularität von Über- Amtskollegen Paul Martin. Die Beispiele zeigen schüssen in den meisten Ländern seit etwa 1970 auch, dass ausgeglichene Haushalte keineswegs kontinuierlich gestiegen. Der deutsche Über- nur ein konservatives Thema sind: Persson war schuss ist zwar nicht einzigartig – im Durch- Sozialdemokrat, Clinton und Martin gehörten schnitt der zurückliegenden Jahrzehnte verbrach- ebenfalls links der Mitte positionierten Parteien ten westliche Industrieländer etwa ein Fünftel der an. Ihnen allen gelang es, Haushaltsüberschüs- Zeit im Überschuss04 –, aber er ist selten genug, se in ein Narrativ moderner, progressiver Wirt- um einer weitergehenden Erklärung zu bedürfen. schaftspolitik zu integrieren. Diese Inszenierung von Überschüssen macht Defizit-Diskurs sich die weitverbreitete „Haushaltsanalogie“, Bei dieser Erklärung spielt der dominante Dis- also die Gleichsetzung öffentlicher Haushalte kurs über die negativen Folgen von Staatsver- mit Privathaushalten zunutze, die in Deutsch- schuldung, der sich in Deutschland in den letzten land vor allem durch das Bild der schwäbischen Jahrzehnten entwickelt hat, eine wichtige Rolle. Hausfrau populär geworden ist:01 So wenig, wie Die Flut der roten Zahlen, die in diesem Diskurs Privatpersonen dauerhaft „über ihre Verhältnis- regelmäßig aufgerufen wird, bildet die Kontrast- se“ leben könnten, so wenig dürfe das ein Staat. folie, vor der die „Schwarze Null“ als einzig seri- Hinzu kommt, dass die Null einen wichtigen öse Form der Haushaltspolitik erscheint. psychologischen Referenzpunkt darstellt. Sie Auch dieser Fokus auf die negativen Folgen trennt nicht einfach positive von negativen Zah- von Staatsverschuldung ist zunächst nicht spe- len, sondern grenzt auch symbolisch den Bereich zifisch für den deutschen Diskurs. Auch in an- fiskalpolitischen Erfolgs von jenem fiskalpoliti- deren Ländern mit Überschüssen wurden diese schen Misserfolgs ab. Daher ermöglichen Über- 02 R. Kent Weaver, The Politics of Blame Avoidance, in: Journal 01 Allerdings zeigen neuere empirische Arbeiten, dass es sich of Public Policy 4/1986, S. 371–398. bei dieser Analogie wohl weniger um eine Quelle fiskalpoliti- 03 Vgl. zum Beispiel James M. Buchanan/Richard E. Wagner, scher Präferenzen handelt, sondern vielmehr um eine Strategie, Democracy in Deficit: The Political Legacy of Lord Keynes, bereits bestehende Präferenzen zu rechtfertigen. Vgl. Lucy Bar- New York 1977. nes/Tim Hicks, Are Policy Analogies Persuasive? The Household 04 Vgl. Lukas Haffert, Freiheit von Schulden, Freiheit zum Budget Analogy and Public Support for Austerity, 13. 5. 2020, Gestalten. Die Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen, https://doi.org/10.31235/osf.io/7qa2b. Frankfurt/M. 2015. 05
APuZ 48/2020 regelmäßig als heilsamer Gegensatz zu den na- moralischer Vorwurf mit. Es geht also weniger tionalen Erfahrungen mit Staatsverschuldung um die Frage, ob Schulden ein geeignetes Instru- inszeniert – sei es in Abgrenzung zur schwedi- ment zur Erreichung bestimmter wirtschaftspo- schen Bankenkrise der 1990er Jahre oder zum litischer Ziele sind, sondern vielmehr darum, ob „Double-Deficit“ in Staatshaushalt und Han- dieses Instrument legitim ist. Bereits lange vor der delsbilanz der Reagan-Administration in den „Schwarzen Null“ wurden ausgeglichene Haus- USA der 1980er Jahre. halte so von den konservativen Finanzministern Der deutsche Diskurs ist allerdings inso- Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel, aber auch fern besonders, als diese historische Kontrastfo- von ihren sozialdemokratischen Nachfolgern lie besonders weit zurück reicht, nämlich bis zu Hans Eichel und Peer Steinbrück, als fiskalpoli- den Erfahrungen der Weimarer Republik mit ih- tisches Dauerziel etabliert. rem kaum verhüllten Staatsbankrott im Zuge der Durch die 2009 parteiübergreifend beschlos- Hyperinflation 1923. Die These, hohe Staatsver- sene Einführung der Schuldenbremse gelang- schuldung führe unweigerlich zu hoher Inflati- te das Ziel strukturell ausgeglichener Haushalte on, wird noch heute regelmäßig mit dem Verweis schließlich ins Grundgesetz. Diese Verfassungs- auf Weimar unterlegt und hat auch im Kon- änderung war weniger eine Ursache als vielmehr text der Corona-Krise wieder Konjunktur.05 Im selbst das Ergebnis einer nochmaligen Verschär- historisch nicht sehr präzisen Erinnerungsver- fung des Defizit-Diskurses: Erst, nachdem SPD mögen vieler Deutscher vermengt sich die Er- und Grüne eine konkurrierende, positivere Deu- innerung an die Hyperinflation mit der Mas- tung von Defiziten aufgegeben hatten, erlangte senarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise in die Verschuldungsfurcht Verfassungsrang. den frühen 1930er Jahren zu einer einzigen, all- Die Konstitutionalisierung von Details der umfassenden Weimarer Krisenerzählung.06 Was Haushaltstechnik – Artikel 115 des Grundgeset- in dieser Erzählung völlig fehlt, ist die Tatsache, zes schreibt unter anderem die Verwendung eines dass die Weltwirtschaftskrise gerade keine Infla- Konjunkturbereinigungsverfahrens vor, mit des- tions-, sondern eine Deflationskrise war, die von sen Hilfe der strukturelle, durch politische Ent- der Austeritätspolitik der Regierung Brüning scheidungen zu verantwortende Teil des Haus- befeuert wurde. Mittlerweile ist in der wissen- haltssaldos von bloß konjunkturell bedingten schaftlichen Literatur etabliert, dass gerade die- Schwankungen isoliert werden soll – ist Aus- se Sparpolitik maßgeblichen Anteil am Aufstieg druck einer sehr deutschen Vorstellung, Fiskal- der NSDAP hatte.07 In der öffentlichen Debatte politik sei primär eine Frage formaler Regeln und stehen diese Tatsachen aber auf verlorenem Pos- weniger eine von politischen Mehrheiten. Diese ten gegenüber der eingängigen Verknüpfung von Vorstellung zeigt sich auch im deutschen Insistie- Staatsverschuldung mit Hyperinflation und von ren darauf, der Eurokrise mit einer Vielzahl neuer Hyperinflation mit Hitler. fiskalischer Regeln auf europäischer Ebene zu be- Vermutlich noch wichtiger für den Erfolg der gegnen. Dieser Glaube an die Kraft besserer fis- „Schwarzen Null“ als die vermeintlichen Lehren kalpolitischer Regeln ist allerdings nicht nur bei aus den 1920er Jahren waren aber die fiskalpoliti- den Anhängern der Schuldenbremse verbreitet: schen Debatten der letzten 40 Jahre. Charakteris- Auch die Befürworter einer expansiveren Fiskal- tisch für diese Debatten ist, dass Staatsverschul- politik arbeiten sich mit großer Energie an dieser dung darin primär nach moralischen Maßstäben Verfassungsregel ab, so als würde deren Reform und nicht nach ökonomischer Zweckmäßigkeit wie von selbst auch einen fiskalpolitischen Kurs- beurteilt wird. In der Diagnose, der Staat lebe wechsel nach sich ziehen. „über seine Verhältnisse“, schwingt immer ein Politische 05 Vgl. beispielsweise Thomas Mayer, Steigende Verschuldung Opportunitäten bringt Hyperinflation – und am Ende die Währungsreform, Die grundsätzliche Popularität von Haushalts- 27. 8. 2020, www.welt.de/214264308. überschüssen und die über viele Jahrzehnte ein- 06 Vgl. Lukas Haffert/Nils Redeker/Tobias Rommel, Misre- geübte Problematisierung von Defiziten haben membering Weimar. Unpacking the Historic Roots of Germany’s Monetary Policy Discourse, Berlin 2019. in Deutschland also die Voraussetzungen für den 07 Vgl. Gregori Galofré-Vilà et al., Austerity and the Rise of Erfolg der „Schwarzen Null“ geschaffen. Den- the Nazi Party, in: Journal of Economic History (i. E.). noch wären diese Voraussetzungen wohl nicht 06
Schwarze Null APuZ so eifrig genutzt worden, wenn die „Schwarze würdiges Image – noch in den 1990er Jahren Null“ nicht perfekt in die politische Zeit gepasst galt sie eher als Synonym für etwas zwielichtige hätte und sinnbildlich für die Politik der Gro- Buchhaltungstricks eigentlich defizitärer Unter- ßen Koalitionen der Ära Merkel stünde. Das be- nehmen –, gelang es nach 2010, daraus ein ein- trifft zunächst die Unionsparteien selbst: Die deutig positiv konnotiertes Symbol zu formen.10 „Schwarze Null“ ist das ideale politische Projekt Damit erwies sich das deutsche Finanzministe- eines inhaltlich erschöpften Konservatismus, rium als sehr viel innovativer als seine amerika- weil sie ein politisches Instrument, den Haus- nischen, australischen oder kanadischen Pen- haltssaldo, zum eigentlichen politischen Ziel er- dants, die zwar ebenfalls griffige Formeln für klärt.08 Wer sich darauf beschränkt, nicht mehr ihre Überschusspolitik suchten – „In the Black“, auszugeben, als er einnimmt, erspart sich unan- „Balance or Better“ –, aber auf keinen Slogan genehme Debatten darüber, wofür das Geld ei- mit vergleichbarem Vermarktungspotenzial stie- gentlich ausgegeben wird und ob man es nicht ßen. Eine Formel wie „Balance or Better“ lässt für ganz andere Dinge ausgeben sollte. In Zeiten sich vielleicht noch auf Plakate drucken – unter stabilen Wachstums und sinkender Zinsen adelt die Decke von Ministeriumsfoyers hängen oder die „Schwarze Null“ insofern Ideenlosigkeit als als lebendige Skulptur aus Ministerialbeamten in politisches Konzept. schwarzen Anzügen formen kann man nur die Noch attraktiver wurde diese Politik aber für „Schwarze Null“. Große Koalitionen, die sich ja gerade nicht durch ein gemeinsames inhaltliches politisches Projekt KRITIK definieren, sondern allenfalls durch das Verspre- VOR CORONA chen von Stabilität und staatspolitischer Verant- wortung. Für solche Regierungen ist die „Schwar- Die „Schwarze Null“ schöpft also aus psycholo- ze Null“ der ideale politische Kitt, weil sie erlaubt, gischen, historischen und parteipolitischen Popu- inhaltliche Streitfragen in Finanzierungsfragen laritätsquellen. Dennoch ist von Beginn an auch zu überführen und damit kaltzustellen: Die SPD häufig Kritik an dieser Politik formuliert worden. verlangt höhere Staatsausgaben? Nicht finanzier- So wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass bar! Die Union will Steuersenkungen? Das wür- die staatlichen Ersparnisse zum deutschen Au- de die „Schwarze Null“ aufs Spiel setzen! Dass ßenhandelsüberschuss und damit zu ökonomi- ausgeglichene Haushalte das Ergebnis eines fis- schen Ungleichgewichten in Europa und der Welt kalpolitischen Patts sein können, ist dabei eben- beitrügen. Auch wurde kritisiert, dass der Staat falls kein neuer Befund: In den USA wurden be- unnötigerweise darauf verzichte, von historisch reits die Clinton-Überschüsse damit erklärt, dass günstigen Finanzierungsbedingungen zu profi- das demokratisch geführte Weiße Haus und das tieren, obwohl absehbar sei, dass die Zinsen noch republikanisch kontrollierte Repräsentantenhaus für sehr lange Zeit auf diesem niedrigen Niveau sich gegenseitig blockierten.09 verharren dürften. Echte Einzigartigkeit kann die deutsche Fis- Die inhaltlich schwerwiegendste und poli- kalpolitik daher auch in dieser Hinsicht nicht tisch wohl einflussreichste Kritik lautete aber, für sich beanspruchen. Wo sie das kann, ist al- die Politik der „Schwarzen Null“ sei mitverant- lerdings ausgerechnet bei der Vermarktung des wortlich für den öffentlichen Investitionsstau. Haushaltsüberschusses. Auf den genialen Kniff, Der bauliche Zustand der öffentlichen Schulen, die buchhalterische Tatsache des Haushalts- die Dauersperrungen von Autobahnbrücken, die ausgleichs mit dem wirkmächtigen Symbol der Pünktlichkeitskrise der Deutschen Bahn oder „Schwarzen Null“ aufzuladen, war vorher noch der schleppende Breitbandausbau sind sichtba- niemand gekommen. Hatte die Redeweise von rer Ausdruck eines jahrelangen Mangels an öf- der „Schwarzen Null“ ursprünglich ein frag- fentlichen Investitionen, für den der Fokus auf Haushaltsdisziplin mitverantwortlich ist. Dieser Investitionsmangel kann sogar dazu führen, dass 08 Vgl. Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die das staatliche Nettovermögen trotz sinkender Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018. 09 Vgl. Allen Schick, „A Surplus, If We Can Keep It“: How the Federal Budget Surplus Happened, in: The Brookings Review, 10 Vgl. Lukas Haffert, Die schwarze Null. Über die Schatten Winter 2000, S. 36–39. seiten ausgeglichener Haushalte, Berlin 2016. 07
APuZ 48/2020 öffentlicher Verschuldung weiter zurückgeht, die Haushaltsüberschüsse für Rentengeschenke weil die Investitionen nicht ausreichen, auch nur statt für Schulen und Universitäten auszugeben. den Verschleiß auszugleichen.11 Nichts hindere die Befürworter höherer Investi- Diese Verbindung von Haushaltsüberschüs- tionen daran, politische Mehrheiten für eine an- sen mit einem Mangel an öffentlichen Investiti- dere Prioritätensetzung zu organisieren. onen ist nicht selbstverständlich. Eigentlich war Die Erfahrungen anderer Länder mit Haus- skeptischen Grünen und Sozialdemokraten die haltsüberschüssen zeigen allerdings, dass die Schuldenbremse sogar mit dem genau gegentei- deutsche Entwicklung keineswegs einen Einzel- ligen Versprechen schmackhaft gemacht worden: fall darstellt und dass solche Überschüsse ganz ein Abbau der öffentlichen Verschuldung wer- regelmäßig mit einer nur verhaltenen Entwick- de es ermöglichen, den schon damals existieren- lung der öffentlichen Investitionen einherge- den Investitionsstau aufzulösen, weil er dem Staat hen.16 Insofern scheint diese Entwicklung nicht neue fiskalische Spielräume eröffne.12 Tatsächlich bloß ein Ausdruck der politischen Prioritäten be- attestiert sich die Bundesregierung in den vergan- stimmter Mehrheitsverhältnisse, sondern struk- genen Jahren auch jedes Jahr „Rekordinvestitio- turell mit der Erzielung von Überschüssen ver- nen“. So haben sich die Investitionen des Bundes knüpft zu sein. Der Grund dafür liegt letztlich laut Bundeshaushalt zwischen 2014 und 2019 von darin, dass eine bestimmte fiskalische Prioritäten- 29,3 Milliarden Euro auf 38,9 Milliarden Euro er- setzung nicht erst im Überschuss entsteht, son- höht.13 Betrachtet man allerdings nicht die nomi- dern diesem vorausgeht. Die Verwendung von nale Summe, sondern den Anteil der Investitionen Haushaltsüberschüssen ist daher nicht ohne eine an den gesamten Bundesausgaben, hat sich dieser Analyse ihrer Entstehung zu verstehen. kaum erhöht. Zudem wird der größte Teil der öf- Dieser Zusammenhang wird sehr deutlich, fentlichen Investitionen in Deutschland gar nicht wenn man das Argument der fehlenden Pla- vom Bund, sondern von den Kommunen getätigt, nungskapazitäten betrachtet, das häufig ins Feld deren finanzielle Situation trotz gesamtstaatlicher geführt wird, um zu erklären, warum die öffent- Überschüsse noch immer sehr heterogen ist.14 lichen Investitionen nicht schneller anwachsen: Ein Bundesprogramm für öffentliche Investitio- Selbst wenn der Staat mehr investieren wolle, nen müsste also eigentlich daran ansetzen, etwa dauere es eben, bis die dafür notwendigen Vo- die Ruhrgebietsstädte überhaupt erst wieder in die raussetzungen geschaffen seien. Der Abbau der Lage zu versetzen, stärker investieren zu können. Planungskapazitäten war aber natürlich ein Teil Fürsprecher der „Schwarzen Null“ entgegnen jener Politik, die Überschüsse überhaupt erst er- dem, diese durchwachsene Investitionsbilanz sei möglicht hat – und wirkt jetzt in den Überschuss kein Ergebnis der Politik des Haushaltsausgleichs, hinein fort. Eine langjährige Sparpolitik dreht sondern einer problematischen Prioritätenset- also nicht bloß bestimmten Politikfeldern für eine zung.15 Es sei eben eine politische Entscheidung, gewisse Zeit den sprichwörtlichen Geldhahn zu, sondern verändert das gesamte Leitungssystem, durch das das staatliche Geld fließen kann. Die 11 Vgl. Marcel Fratzscher, Wer echte Investitionen will, Gleichzeitigkeit von Überschüssen und einem muss die schwarze Null aufgeben, 17. 1. 2020, www.zeit.de/ nur langsamen Anstieg der öffentlichen Investiti- wirtschaft/2020-01/bundeshaushalt-ueberschuesse-s teuern- schulden-investitionen. onen ist also kein Zufall. Das eine hängt mit dem 12 Vgl. z. B. die Äußerungen von Peer Steinbrück, in: Deut- anderen eng zusammen. scher Bundestag, Plenarprotokoll 16/225. Stenografischer Bericht der 225. Sitzung der 16. Wahlperiode, 29. 5. 2009. WIRD DURCH CORONA 13 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Rekordinvestitionen, ALLES ANDERS? 25. 11. 2019, www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Bundeshaus- halt/2019-11-20-rekordinvestitionen.html. Doch vielleicht ist all das bereits Geschichte? Wo- 14 Vgl. Jens Südekum, Stellungnahme im Haushaltsausschuss möglich erfasst die von Corona herbeigeführte des Deutschen Bundestages, 7.9.2020, www.bundestag.de/ „neue Normalität“ auch die Staatsfinanzen und resource/blob/710590/e0431a98fb5d10c6cb12ea3390b99227/ stellt dort die lange gewohnte „alte Normalität“ Prof-Jens-Suedekum-data.pdf. 15 So beispielsweise Lars P. Feld/Wolf Heinrich Reuter, Die Be- von Haushaltsdefiziten und wachsender Staats- währungsprobe der Schuldenbremse hat gerade erst begonnen, in: Wirtschaftsdienst 5/2019, S. 324–329. 16 Vgl. Haffert (Anm. 10). 08
Schwarze Null APuZ verschuldung wieder her? Schließlich hat Corona Corona zu reagieren. Auch die zuletzt so stark in ja nicht nur zu einem Einbruch der Steuereinnah- die Kritik geratene Schuldenbremse kann mit die- men geführt, sondern möglicherweise auch eine sem Argument rehabilitiert werden, schließlich generelle Renaissance staatlicher Daseinsvorsorge habe die Pandemie gezeigt, dass die Verfassungs- ausgelöst, die entsprechend teuer wird. regel flexibel genug sei, um einen angemessenen Prognosen, durch eine Krise werde „alles an- Umgang mit Krisensituationen zu ermöglichen.18 ders“, haben in Krisensituationen naturgemäß Ob diese Flexibilität wirklich ausreicht, wird sich Hochkonjunktur. Wie kurz die Halbwertszeit sol- allerdings erst dann zeigen, wenn die in der Kri- cher Prognosen sein kann, hat aber erst die Welt- se aufgenommenen Schulden ab 2023 getilgt wer- finanzkrise von 2008 gezeigt. Die damals ange- den müssen.19 kündigte Renaissance des Staates währte keine Blickt man auf die oben beschriebenen Quel- zwei Jahre. Allenfalls öffnen Krisen also ein Ge- len für die Popularität der „Schwarzen Null“, so legenheitsfenster, in denen ein grundlegender Po- dürften zumindest zwei dieser drei Quellen in der litikwechsel möglich ist, sie führen ihn aber nicht Zeit nach der Pandemie eher wieder an Kraft ge- selbst herbei. winnen. So werden die enormen Haushaltsdefi- Politische Paradigmenwechsel müssen also zite den eingeübten Defizit-Diskurs wieder auf auch in Krisen politisch erkämpft werden – von die politische Agenda setzen. Aus dieser Sicht er- gut organisierten Akteuren mit klaren Zielen, die scheint die stark gestiegene Schuldenquote wie sich diese Gelegenheit zunutze machen. Vor dem eine dauerhafte Mahnung, zur „fiskalpolitischen Hintergrund der bisherigen Analyse erscheint es Vernunft“ zurückzukehren. Wie stark dieser Dis- jedoch als unwahrscheinlich, dass solche Akteure kurs ist, zeigt sich bereits daran, dass der Bund in Deutschland existieren und dass die bereits vor sich entschlossen hat, die von der Schuldenbrem- Corona aufgekommene Kritik an der „Schwar- se geforderte Tilgung der Corona-Schulden in- zen Null“ die Grundlage für einen solchen Para- nerhalb von nur 20 Jahren zu leisten. digmenwechsel bietet. Damit kommen auch die psychologischen Der wichtigste Grund dafür ist, dass ein Pa- Mechanismen hinter dem Erfolg der „Schwarzen radigmenwechsel nicht nur eine negative Kritik Null“, die mit ihrer Normalisierung zunehmend am bisherigen Paradigma erfordert, sondern auch an Kraft verloren hatten, wieder ins Spiel. Eine einen positiv formulierten Entwurf für ein neues Regierung, die auch nach dem Ende der Pande- Paradigma. Eine solche „kohärente und weit ent- mie Defizite zu verantworten hat, wird damit wickelte Alternative“17 zur „Schwarzen Null“ ist ganz erhebliche Vorwürfe auf sich ziehen, wäh- jedoch bisher nicht zu erkennen. Die Schar der rend die Überwindung dieser Defizite Anlass Kritiker der Überschusspolitik ist auch zu hete- für neuerliches „Credit Claiming“ bieten dürfte. rogen, als dass sie sich in kürzester Zeit auf ein Welcher Finanzminister würde nicht gerne ver- solches alternatives Paradigma einigen könn- künden, die Rückkehr zu ausgeglichenen Haus- te. Während ein Teil der Kritiker bereits mit ei- halten belege, dass Deutschland die Corona-Kri- ner spürbaren Erhöhung der staatlichen Investi- se nun auch ökonomisch überwunden habe? tionsquote zufrieden wäre, streben andere eine Vor diesem Hintergrund könnte die Corona- viel fundamentalere Neujustierung der Rolle des Krise sogar dazu beitragen, die „Schwarze Null“ Staates in der Wirtschaft an. dauerhaft zu stärken. Das heißt nicht, dass die Gegen einen dauerhaften Kurswechsel in der Bundesrepublik bereits 2022 oder 2023 zu ausge- Fiskalpolitik spricht auch, dass die leistungsstar- glichenen Haushalten zurückkehren wird. Zwei- ke Reaktion des deutschen Staates auf die wirt- fellos wird sich die dann amtierende Bundesregie- schaftlichen Folgen der Pandemie zu belegen rung aber starken Erwartungen ausgesetzt sehen, scheint, wie richtig und wichtig die Politik des einen Plan für eine Rückkehr in den Überschuss Schuldenabbaus war. Die Haushaltspolitik der vergangenen Jahre habe erst die Spielräume ge- 18 Beide Argumente finden sich beispielsweise in Heinz schaffen, die es jetzt ermöglichten, so kraftvoll auf Gebhardt/Lars-H. Siemers, Staatsfinanzen in der Corona- Krise: Günstige Bedingungen sichern Handlungsfähigkeit, in: Wirtschaftsdienst 7/2020, S. 501–506. 17 Peter A. Hall, Policy Paradigms, Social Learning, and the State. 19 Vgl. Martin Greive, „Größenordnungen der Krise stellen The Case of Economic Policymaking in Britain, in: Comparative alles in den Schatten“ – Schuldenbremse droht der schleichende Politics 3/1993, S. 275–296, hier S. 286. Tod, 20. 10. 2020, www.handelsblatt.com/26288866.html. 09
APuZ 48/2020 zu entwerfen. Als Referenzpunkt dafür, was eine Krisen interpretieren sich also nicht von selbst, verantwortungsvolle Fiskalpolitik ist, wird die auch nicht in fiskalpolitischer Hinsicht. Welche „Schwarze Null“ den deutschen finanzpoliti- Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen sind, ist schen Diskurs weiterhin prägen. vielmehr Gegenstand politischer Konflikte, in de- Wie stark dieser Diskurs die tatsächliche Fis- nen diejenigen bessere Karten haben, die bereits kalpolitik beeinflusst, dürfte dabei nicht zuletzt eine politische Agenda besitzen, die sich mit der von der parteipolitischen Konstellation und da- Krise gut verknüpfen lässt. Dabei kann die Co- mit vom Ausgang der Bundestagswahl 2021 ab- rona-Krise sowohl als Rechtfertigung für den hängen. Anders als die Großen Koalitionen der Abschied von der „Schwarzen Null“ verwendet Jahre ab 2013 wird die kommende Bundesregie- werden als auch für deren Neubelebung. Sicher rung den Haushalt nicht mit einer Finanzpolitik ist nur: Wer auch immer sich durchsetzt, wird der ruhigen Hand ausgleichen können. Stattdes- hinterher behaupten, Corona belege die Richtig- sen würde sie politisch schmerzhafte Maßnah- keit der eigenen Strategie. men auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite ergreifen müssen, um einem erneuten Überschuss näherzukommen. Paradoxerweise könnte es einer Bundesre- gierung, an der CDU/CSU beteiligt sind, da- bei leichter fallen, auf solche Maßnahmen zu verzichten. Denn es ist leicht ausrechenbar, auf welch fundamentalen Widerstand der Oppositi- on ein linkes Regierungsbündnis stoßen würde, das einen dauerhaften Bruch mit der Politik der „Schwarzen Null“ vollziehen würde. Die Union, die ja gewissermaßen das politische Copyright an diesem Symbol hält, könnte hingegen mit viel größerer Glaubwürdigkeit dafür eintreten, dass weitere Defizite schlicht notwendig seien. Die Erfahrungen anderer Länder mit Haus- haltsüberschüssen scheinen keine eindeutige Ant- wort auf die Frage zu bieten, ob Krisen eher den Abschied von Überschusspolitik einleiten oder ob sie diese sogar stärken. Für beide Konstellationen lassen sich Beispiele finden. So boten die Rezes- sion des Jahres 2001 und die Terroranschläge des 11. September für US-Präsident George W. Bush, dem ein großes Steuersenkungspaket ohnehin wichtiger war als ausgeglichene Haushalte, wert- volle Argumente dafür, zugunsten von Steuersen- kungen auf Überschüsse zu verzichten. Sein ka- nadischer Nachbar Paul Martin dagegen setzte zeitgleich darauf, trotz eines Konjunktureinbruchs an seiner bisherigen Haushaltspolitik festzuhal- ten und so schnell wie möglich in den Überschuss zurückzukehren. Die Erfahrung anderer Län- der zeigt aber eindeutig, dass Regierungen, die nach der Erholung der Wirtschaft noch ein Defi- zit im Staatshaushalt ausweisen, unter sehr starken LUKAS HAFFERT Druck geraten, dieses zu korrigieren. In Australien ist politischer Ökonom und Oberassistent am beispielsweise wurde das Ziel eines baldigen Bud- Lehrstuhl für Vergleichende Politische Ökonomie getausgleichs in den Jahren nach der Weltfinanz- der Universität Zürich. krise zu einem politisch dominanten Thema. lukas.haffert@uzh.ch 10
APuZ 48/2020 POLITISIERTES SPAREN UND DIE EUROPÄISCHE ZENTRALBANK Zur politischen Ökonomie der geldpolitischen Debatte in Deutschland Kardelen Günaydin · Daniel Mertens Die Verwerfungen der Corona-Pandemie waren von der Enteignung des deutschen Sparers und die in Deutschland noch gar nicht recht angekommen, im gleichen Atemzug angeführte Beschädigung ei- die massiven geld- und fiskalpolitischen Gegen- ner deutschen Sparkultur finden sich sowohl in maßnahmen noch gar nicht ergriffen, als im März der oben exemplarisch aufgeführten EZB-Kritik 2020 eine Autorengruppe um die ehemaligen Mi- politischer und wirtschaftlicher Eliten als auch in nisterpräsidenten Edmund Stoiber, Peer Stein- den Alltagsdiskursen breiter Bevölkerungsschich- brück und Wolfgang Clement öffentlichkeitswirk- ten. Diese Kritik ist in Deutschland, bekannt für sam eine „neue Geldpolitik der EZB“ nach der die hohe Sparquote seiner Haushalte, so virulent Corona-Krise forderte.01 Eine Abkehr von den geworden, dass sie politische Handlungsimpulse seit Beginn der Euro-Krise 2010 sukzessive er- setzt – nicht nur in Bezug auf eine Politisierung griffenen expansiven geldpolitischen Maßnahmen der formal unabhängigen EZB, sondern auch in war gemeint, ein Ausstieg aus der Niedrigzinspoli- Bezug auf das Sparen selbst: Angesichts niedri- tik, mit der die Europäische Zentralbank (und vie- ger Zinsen vor allem in klassischen Sparsegmenten le andere Zentralbanken) die Finanzmärkte vorü- wie Giro- und Tagesgeldkonten wurde etwa vom bergehend stabilisiert hatte und mit der sie nach ehemaligen Bundesverfassungsrichter Paul Kirch- wie vor versucht, die Zielinflationsrate von unter, hof ein „Grundrecht auf Zinsen“ im Rahmen des aber nahe 2 Prozent im Euro-Währungsraum zu Schutzes des Privateigentums angemahnt; die am- erreichen. Der Zeitpunkt der Wortmeldung hätte tierende Regierungskoalition prüfte gar ein Gesetz nicht schlechter sein können, denn nur Tage da- zum Schutz vor Negativzinsen. nach verkündete die EZB ein 750 Milliarden Euro Dieser Diskurs kann, analog zu den Debatten umfassendes Anleihekaufprogramm (PEPP) zur um die „Schwarze Null“, als Kristallisationspunkt Bekämpfung der Pandemie-Auswirkungen. Auch für Spannungen im gegenwärtigen Kapitalismus eine Erhöhung des Leitzinses scheint Ende 2020 und im Zusammenspiel von europäischen und na- ein auf unbestimmte Zeit verschobenes Szenario. tionalen Institutionen gesehen werden. Dazu zählt Die von den Autoren geäußerte Kritik an der EZB ist aber ohnehin längst ein Dauerbrenner der 1. dass eine europäisierte Geldpolitik mit den wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland, in Institutionen des deutschen Wirtschafts- deren Folge das Mandat der EZB gar zum Gegen- und Sozialmodells kollidiert, da sie sich stand mehrfacher juristischer Auseinandersetzun- einerseits an einem aus unterschiedlichen gen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Volkswirtschaften zusammengesetzten und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wur- Währungsraum orientieren muss und ande- de.02 In diesem Beitrag möchten wir uns dieser De- rerseits in einem weltwirtschaftlichen Um- batte politökonomisch nähern, indem wir uns mit feld operiert, das durch Kapitalüberangebot den verteilungspolitischen Ideen und Interessen bereits auf das Zinsniveau drückt; auseinandersetzen, die sich um eine zentrale Argu- mentation und Diskursfigur der Debatte formiert 2. dass die diskursive Konstruktion eines uni- haben: die „Enteignung des deutschen Sparers formen „deutschen Sparers“ – männlich durch die Niedrigzinspolitik der EZB“. Die Rede und von Klassenunterschieden unberührt – 12
Schwarze Null APuZ dazu beiträgt, Interessen und Ungleichhei- POLITISIERTES SPAREN UND ten zu verdecken, die dieses Modell hervor- GELDPOLITIK IN DEUTSCHLAND gebracht hat; und Die Politisierung des Sparens im Sinne einer po- 3. dass das dominante Hohelied auf das Spa- litischen Indienstnahme privater Spartätigkeit ist ren einer (ordo)liberal-konservativen Kri- keineswegs ein neues Phänomen, bedarf aber je- tiklinie folgt, die den kollektiven Effekten weils einer historisch spezifischen Verortung. So der Niedrigzinspolitik – wie die Eröffnung wie das bürgerliche Sparideal im 19. Jahrhun- fiskalpolitischer Handlungsräume – keine dert als vermeintliche Lösung der sozialen Fra- Lösungskompetenz für existierende Vertei- ge mobilisiert wurde oder das private Sparen zum lungswirkungen zuschreibt. Dienst an der Nation zu Kriegszeiten verpflich- tet wurde,04 so scheint heutzutage eine „nationale Diese Punkte im Folgenden zu substantiieren be- Sparkultur“ propagiert zu werden, um tiefgrei- deutet nicht, die EZB vor Kritik zu isolieren. Wie fendere Fragen über die Abgabe geldpolitischer die sozialwissenschaftliche Literatur seit Längerem Souveränität aufzuwerfen. Dabei besteht kein festhält, hat die europäische Notenbank bei der Zweifel daran, dass der Entwicklungspfad des Ausweitung ihrer Kampfzone aus gutem Grund deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells ein- an Legitimität in unterschiedlichen politischen herging mit dem Aufbau einer institutionellen Lagern eingebüßt. Einerseits wirkte sie über ihre Struktur zur Habitualisierung der Spartätigkeit. Geldpolitik und die Beteiligung an der Troika zu- Sparkassen und Genossenschaftsbanken gehören nächst an der antidemokratischen Disziplinierung zu dieser Entwicklung ebenso dazu wie die Ge- einiger Euro-Mitgliedsländer mit und hat sich – schichte fiskalischer Sparförderung.05 nicht zuletzt aus eigenem Steuerungsinteresse – der Wir wollen uns an dieser Stelle auf einige zen- Ausweitung eines marktbasierten Finanzsystems trale Merkmale der Verknüpfung von Sparen verschrieben. Andererseits hat sie im Zuge anhal- und Geldpolitik seit 1945 begrenzen und insbe- tender Anleihekaufprogramme ebendiese Diszip- sondere die Herausforderung in den Blick neh- linierungsfunktion nach und nach eingeschränkt men, die vor diesem Hintergrund mit der Über- und sich damit vom liberalen Format einer unab- nahme geldpolitischer Verantwortung durch die hängigen Zentralbank des ausgehenden 20. Jahr- EZB 1999 verbunden war. Deutschland verfolgte hunderts entfernt. Diese paradoxe Konstellation insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg einen ergibt sich zum Teil aus einem tieferliegenden Pro- „währungs- und fiskalpolitischen Merkantilis- zess monetärer Transformation: Zentralbanken, mus“, wie der Wirtschaftshistoriker Carl-Lud- deren institutionelle Ausstattung und Mandate ei- wig Holtfrerich zum 50. Jubiläum der Deut- gentlich auf die historisch geprägte Bekämpfung schen Mark 1998 festhielt.06 Eine restriktive, das von Inflation ausgerichtet sind, müssen nun gegen heißt auf zügigen Leitzinserhöhungen fußende anhaltende deflationäre Tendenzen kämpfen.03 und auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik Vor diesem Hintergrund wollen wir im Folgen- trug hier zur Förderung des privaten Sparens bei, den eine politökonomische Einordnung des spar- mit dem Ziel, die Lohn- und Preisentwicklung – und geldpolitischen Diskurses vornehmen und die und damit die Inlandsnachfrage – zu dämpfen drei oben genannten Spannungen aufgreifen. und so die Exporte und das auf ihnen beruhen- de Wirtschaftsmodell zu stützen. Diese Geldpoli- tik wurde komplementiert durch eine sozialpoli- 01 Vgl. Edmund Stoiber et al., Für eine neue Geldpolitik der EZB, 15. 3. 2020, www.faz.net/-16679542. 02 Zuletzt urteilte das BVerfG am 5. Mai 2020 (AZ: 2 BvR 04 Vgl. Robert Muschalla, Sparen. Geschichte einer deutschen 859/15), die EZB habe insbesondere mit ihrem Anleihekaufpro- Tugend, Berlin 2018. Siehe auch den Beitrag von Sandra Maß in gramm PSPP den rechtlichen Rahmen ihres Handelns überschritten. diesem Heft. 03 Vgl. Adam Tooze, The Death of the Central Bank Myth, 05 Vgl. hierzu und dem Folgenden Daniel Mertens, Erst 13. 5. 2020, https://foreignpolicy.com/2020/05/13/european. sparen, dann kaufen? Privatverschuldung in Deutschland, Siehe auch Jan Sparsam/Malte Flachmeyer, Voll normal. Die Frankfurt/M. 2015. unkonventionelle Geldpolitik der EZB seit der Euro-Krise, in: Levi- 06 Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich, Geldpolitik bei festen Wech- athan 48/2020, S. 176–194; Benjamin Braun, Two Sides of the selkursen (1948–1970), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Fünfzig Same Coin. Independence and Accountability of the European Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland Central Bank, Brüssel 2017. seit 1948, München 1998, S. 347–438. 13
APuZ 48/2020 tisch verankerte Vermögenspolitik, die klassische hinzu: Auch wenn die EZB der Deutschen Bun- Bankeinlagen, Bausparverträge und das Versiche- desbank institutionell nachempfunden war, samt rungssparen – also jene in der EZB-Kritik ange- der Priorisierung der Preisstabilität, war das ge- führten zinsempfindlichen Anlageformen – durch sellschaftliche Spielfeld ein anderes. Sowohl die Zulagen und Steuervergünstigungen förderte. fehlende Europäisierung der Lohn- und Fiskal- Dabei wurde vonseiten der Bundesbank und politik als auch die Heterogenität der Mitglieds- ihrer Vorgängerin, der Bank deutscher Länder, länder lagen quer zu einer echten Adaption der gerne an „den deutschen Sparer“ appelliert, um deutschen Stabilitätspolitik und führten zu struk- die Unabhängigkeit der Zentralbank und das Ziel turellen Problemen der Währungsunion. Dabei der Preisstabilität im Sinne des Wirtschafts- und war der entscheidende Punkt, dass sich die No- Sozialmodells in der Bevölkerung zu verankern. tenbank in ihrer Geldpolitik nun an der durch- Schließlich wurde die Figur des Sparers hierzulan- schnittlichen Preisentwicklung im gesamten de ein „politisches Subjekt, das alle sozialen und Euro-Währungsraum orientieren musste und religiösen Trennlinien transzendierte“ und daher dementsprechend auch einen einheitlichen Leit- die direkte Ansprache der deutschen Geldpoli- zinssatz für alle Mitgliedsländer festlegte. Die tik genoss.07 Diese Figur erhielt durch einen ste- Folge war eine abnehmende Passgenauigkeit der tigen Anstieg der Sparquote bis in die 1970er Jah- geldpolitischen Maßnahmen. In den ersten Jah- re hinein, als diese ihren Höchststand erreichte, ren der Währungsunion stellte sich deshalb ein eine materielle Basis, mit der auch ein wachsen- für die Konjunkturentwicklung in Deutschland der Rückhalt in der Bevölkerung für die deutsche insgesamt nachteiliger Effekt ein, den die politi- Währungspolitik beobachtet werden konnte, dem schen Entscheidungsträger unterschätzt hatten.10 sich die Bundesbank mit einer an „die Sparer“ ad- Die Zinspolitik der EZB war in dieser Phase zu ressierten Öffentlichkeitsarbeit fortwährend ver- restriktiv für die deutsche Wirtschaft – allerdings sicherte.08 Dabei entsprang die geldpolitische spielte der „deutsche Sparer“ keine Rolle in der Leitlinie einer stabilitätsorientierten Unterbewer- Kritik an den neuen währungspolitischen Ver- tung der D-Mark weniger einem sozialpolitischen hältnissen; das änderte sich erst mit der Krisen- Sinn fürs Sparen als vielmehr einem interessens- politik der 2010er Jahre. basierten Konsens zwischen den eng verwobenen Banken und Industrieunternehmen, der von den NACH DER FINANZKRISE – durchaus für Inflationssorgen empfänglichen Ge- LEGITIMATIONSPROBLEME UND werkschaften mitgetragen wurde.09 DISKURSKOALITIONEN Mit der Verwirklichung der Europäischen Währungsunion und der sie begleitenden Libe- Der geldpolitische Rahmen der EZB, der vor der ralisierungsprozesse wurde dieser Konsens und Euro-Krise auf das Zinsmanagement ausgerich- der ihn absichernde Nexus aus Geldpolitik und tet war, änderte sich nach 2008 erheblich. Die Sparkultur allerdings durchbrochen. Die staat- Deflation wurde zur größeren Bedrohung als die liche Sparförderung machte aufgrund frühe- Inflation, und der Zusammenhang von Banken- rer Kürzungsprogramme ohnehin nur noch ei- und Staatsschuldenkrise gefährdete die Integra- nen Bruchteil ihres einstigen Umfangs aus, und tion des Währungsraumes insgesamt. Die EZB die Sparkassen hatten im verschärften Wettbe- griff deshalb nicht nur zu Zinssenkungen und werb ihre einstige Rolle als Förderinstitutionen negativen Zinssätzen (zuletzt 2019), sondern des Sparsinns zunehmend aufgegeben. Dem füg- begann auch, Staats- und Unternehmensanlei- te sich nun aber eine institutionelle Spannung hen aufzukaufen. Auf das im Mai 2010 angekün- digte Wertpapiermarktprogramm (SMP) folgten 07 Simon Mee, Central Bank Independence and the Legacy of im August 2012 nach Mario Draghis berühmter the German Past, Cambridge 2019, S. 147, eigene Übersetzung. Londoner „Whatever It Takes“-Rede sogenann- 08 Vgl. Rudolf Richter, Deutsche Geldpolitik 1948–1998 im te Outright Monetary Transactions (OMT), bei Spiegel der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion, Tübingen 1999. 09 Vgl. Jan Logemann, Trams or Tailfins? Public and Private 10 Vgl. Peter A. Hall/Robert J. Franzese, Die Europäische Prosperity in Postwar West Germany and the United States, Wirtschafts- und Währungsunion als work in progress, in: Martin Chicago 2012; Randall C. Henning, Currencies and Politics in the Höpner/Armin Schäfer (Hrsg.), Die Politische Ökonomie der United States, Germany, and Japan, Washington, D. C. 1994. europäischen Integration, Frankfurt/M. 2008, S. 407–413. 14
Schwarze Null APuZ denen die EZB, verbunden mit wirtschaftspoli- Der Ursprung der deutschen EZB-Kritik tischen Auflagen, eine unbegrenzte Anzahl von nach der Krise lässt sich im Kontext des SMP- Staatsanleihen auf Sekundärmärkten kaufen Programms verorten, als der ehemalige Bun- konnte. OMT wurde bis heute von keinem Mit- desbankpräsident Axel Weber und dann sein gliedsstaat in Anspruch genommen, was vor al- Nachfolger Jens Weidmann die EZB vor einer lem seinen Erfolg bei der Wiederherstellung des verbotenen „monetären Staatsfinanzierung“ Vertrauens in die Märkte beweist. Neben weite- warnten, was sich auch im Rücktritt des deut- ren Maßnahmen zur Schaffung von Anreizen für schen EZB-Ratsmitglieds Jürgen Stark 2011 eine Kreditexpansion führte die EZB Ende 2014 widerspiegelte.13 Radikalere Kritiker des SMP, ihr größtes Anleihekaufprogramm ein, in dessen insbesondere die ordnungspolitische Initiative Rahmen die Notenbank Unternehmensanleihen Europolis unter Leitung des Ökonomen Mar- und Staatsanleihen sowie Wertpapiere erwarb. kus C. Kerber, brachten die Bank wegen eines Bis August 2020 hatte die EZB für rund 2,8 Bil- Verstoßes gegen den Artikel 123 des Vertrags lionen Euro Anleihen gekauft, wovon 80 Pro- über die Arbeitsweise der Europäischen Uni- zent Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer on (AEUV), der die monetäre Finanzierung von waren. Staaten verbietet, vor das BVerfG.14 Obwohl die Während einige die EZB als „Heldin“ in der Klage vom BVerfG abgewiesen wurde, konnten Bewältigung der Krise feierten, verurteilten andere die Streitigkeiten um die Einführung der unkon- sie zunehmend als „Ungeheuer“.11 In Deutschland ventionellen Geldpolitik nicht beigelegt wer- beruhte die Kritik – jenseits der vielen Verunglimp- den. Die Rechtmäßigkeit des OMT-Programms fungen Mario Draghis durch die Boulevardpres- etwa wurde in ähnlicher Weise infrage gestellt, se – auf zwei Säulen: die erste betrifft die demo- als eine zunächst durchaus heterogene Koali- kratische Legitimität der Zentralbankmaßnahmen, tion im Juni 2013 in Karlsruhe ihre Klage mit wonach die europäischen Verträge keinen ausrei- dem gleichen Vorwurf der monetären Staatsfi- chenden Rechtsrahmen für die „unkonventionel- nanzierung einreichte. Zu dieser gehörte nicht le“ Geldpolitik der EZB böten; die zweite betrifft nur der frühere CSU-Vizechef Peter Gauweiler, die ökonomischen Auswirkungen dieser Geldpo- der die EU seit 2009 regelmäßig verklagt, son- litik, bei denen neben der „Enteignung des deut- dern auch der Verein „Mehr Demokratie e.V.“. schen Sparers“ die Entstehung von Vermögens- Im Juni 2015 entschied der Europäische Ge- preisblasen, Fehlanreize für Regierungen bei der richtshof, dass OMT in den Geltungsbereich Haushaltskonsolidierung und die Schwächung des Mandats der EZB fällt und nicht als mone- der Bankenrentabilität ausgemacht werden.12 Ob- täre Finanzierung betrachtet werden kann.15 Die wohl diese Kritikpunkte, wenngleich mit unter- jüngste Entscheidung des BVerfG vom 5. Mai schiedlichen Schwerpunkten und Begründungen, 2020, das PSPP-Anleihekaufprogramm der EZB im gesamten politischen Spektrum diskutiert wer- für ultra vires, also für außerhalb der durch eu- den, zeigt sich sowohl in der medialen Repräsen- ropäisches Recht zugewiesenen Kompetenzen, tation als auch in den rechtlichen Auseinanderset- zu erklären, ging auf die Klage einer Gruppe zungen vor dem Bundesverfassungsgericht eine von Juristen, Politikern und Wirtschaftswis- Dominanz des (ordo)liberal-konservativen Spek- senschaftlern zurück, bei denen neben den po- trums. Die Verbindung der beiden Kritiksäulen litischen Initiatoren Bernd Lucke, Joachim Star- lässt sich vor allem bei Vertretern von CDU/CSU, batty (beides Mitbegründer der AfD) und Peter Industrie und Finanzsektor verorten, während die juristischen Anfechtungen zumeist von konserva- 13 Vgl. Ralph Atkins, Bundesbank and ECB Need Not Clash, tiven und AfD-nahen Beschwerdeführern voran- 7. 12. 2011, www.ft.com/content/42478e54-2022-11e1-9878- gebracht wurden. 00144feabdc0. Auch 2019 trat im Streit über die Anleihekauf- programme eine deutsche Vertreterin, Sabine Lautenschläger, 11 Vgl. Vivien A. Schmidt, The Eurozone’s Crisis of Democratic aus dem Gremium zurück. Legitimacy. Can the EU Rebuild Public Trust and Support for 14 Vgl. Markus C. Kerber et al., Ankauf von Staatsanleihen durch European Economic Integration?, European Economy Discussion die EZB: Wie ist die neue Offenmarktpolitik der Europäischen Papers 15/2015. Zentralbank zu bewerten?, in: Ifo Schnelldienst 63/2010, S. 3–10. 12 Vgl. Ulrich Bindseil/Clemens Domnick/Jörg Zeuner, Critique 15 Vgl. EZB, ECB Governing Council Takes Note of Ruling on of Accommodating Central Bank Policies and the ‚Expropriation OMT, Pressemitteilung, 18. 6. 2015, www.ecb.europa.eu/press/ of the Saver‘, ECB Occasional Paper 161/2015. pr/date/2015/html/pr150618.en.html. 15
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