AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...

Die Seite wird erstellt Mats Wegener
 
WEITER LESEN
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
70. Jahrgang, 48/2020, 23. November 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
   Schwarze Null
           Lukas Haffert                              Sandra Maß
    DIE „SCHWARZE NULL“                        ZUR POLITISIERUNG
       IST GESCHICHTE.                          DER SPARSAMKEIT
 ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT?                   IM 20. JAHRHUNDERT
 Kardelen Günaydin · Daniel Mertens                   Britta Kuhn
    POLITISIERTES SPAREN                     FINANZIELLE REPRESSION
    UND DIE EUROPÄISCHE                           ALS MITTEL DER
       ZENTRALBANK                            STAATSENTSCHULDUNG
          Riccardo Puglisi                          Caspar Dohmen
       SPAREN – EINE                            SCHULDENBREMSE
   DEUTSCHE OBSESSION?                            AUSGEBREMST

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
Schwarze Null
                                       APuZ 48/2020
LUKAS HAFFERT                                          SANDRA MA ẞ
DIE „SCHWARZE NULL“ IST GESCHICHTE.                    „WERDE EIN GUTER STAATSBÜRGER“.
ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT?                             ZUR POLITISIERUNG DER SPARSAMKEIT
Angesichts rekordverdächtiger Staatsverschul-          IM 20. JAHRHUNDERT
dung scheint die „Schwarze Null“ Geschichte zu         Die Idee von Sparsamkeit hat sich im Laufe
sein. Ihre Idee ist mittlerweile aber so tief in den   des 20. Jahrhunderts deutlich gewandelt. Die
fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundes-         Geschichte des Weltspartags zeigt gleichwohl,
republik verankert, dass sie womöglich auch die        dass das Konzept Sparsamkeit zu allen Zeiten
Corona-Pandemie unbeschadet überstehen wird.           politisiert worden ist und schon immer ökono-
Seite 04–10                                            mischen wie politischen Zwecken diente.
                                                       Seite 25–33
KARDELEN GÜNAYDIN · DANIEL MERTENS
POLITISIERTES SPAREN UND DIE EUROPÄISCHE               BRITTA KUHN
ZENTRALBANK. ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE                  WIE STARK KANN SICH DEUTSCHLAND
DER GELDPOLITISCHEN DEBATTE IN                         VERSCHULDEN? FINANZIELLE REPRESSION
DEUTSCHLAND                                            ALS MITTEL DER STAATSENTSCHULDUNG
Die Niedrigzinspolitik der EZB steht seit Jahren       Deutschlands Staatsverschuldung ist seit
in der Kritik, die deutschen Sparer zu schädigen.      Ausbruch der Corona-Krise deutlich gestiegen.
Welche Diskurskoalitionen tragen diese Kritik          Welche Folgen dies für zukünftiges Wirtschafts-
vor? Und wie verhält sie sich im Kontext der           wachstum hat, ist ebenso umstritten wie die
Eurokrise zur Entwicklung des deutschen                Frage, ob „finanzielle Repression“ dabei helfen
Wirtschafts- und Sozialmodells?                        kann, Staatsverschuldung schmerzlos abzubauen.
Seite 12–20                                            Seite 34–40

                                                       CASPAR DOHMEN
RICCARDO PUGLISI                                       SCHULDENBREMSE AUSGEBREMST.
SPAREN – EINE DEUTSCHE OBSESSION?                      DIE POLITISCHE DEBATTE ÜBER SINN
Externe Beobachter betrachten Deutschlands             UND UNSINN EINER SCHULDENGRENZE
vergleichsweise hohe Sparquote und sein relativ        Keine Schulden zu machen, galt in Deutschland
niedriges Staatsdefizit häufig mit Skepsis. Dies       lange Zeit als Staatsräson. Nicht zuletzt die
scheint nicht zuletzt mit dem größeren Einfluss        Auswirkungen der Corona-Krise bringen diesen
keynesianischer Theorien außerhalb Deutsch-            Grundsatz nun ins Wanken. Die Schuldenbrem-
lands zu tun zu haben.                                 se scheint überall in Europa ihre beste Zeit hinter
Seite 21–24                                            sich zu haben.
                                                       Seite 41–45
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
EDITORIAL
Wer auf die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik der zurückliegenden Jahre
blickt, dem kommen fast unvermeidlich zwei für den hiesigen Diskurs typische
Figuren in den Sinn: die „schwäbische Hausfrau“ und die „Schwarze Null“. Um
beide scheint es derzeit schlecht bestellt zu sein: Während privaten Haushalten
wachsende Verschuldung droht, ist das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts
angesichts des durch die Corona-Pandemie notwendig gewordenen massiven
Anstiegs der öffentlichen Ausgaben in weite Ferne gerückt. Deutschland erlebt
in diesem und wohl auch im nächsten Jahr eine Neuverschuldung, die nicht nur
die schwäbische Hausfrau unruhig schlafen lassen dürfte.
   Nicht wenige Beobachter in Europa dürften diese neue, aus der Not geborene
Verschuldungsleidenschaft der deutschen Politik mit Interesse und Erleichte-
rung beobachten – hat Deutschland manchen südeuropäischen Staaten doch
bis zuletzt eine teilweise schmerzhafte Austeritätspolitik abverlangt. Selbst die
heimische ordoliberale Orthodoxie sieht derzeit offenbar keine Alternative zu
einer expansiveren Haushaltspolitik. Die Corona-Krise fordert auch im Bereich
der Wirtschaftswissenschaften ihren Tribut.
   Gleichwohl bleibt unklar, ob die „Schwarze Null“ tatsächlich der Geschichte
angehört. Ein ausgeglichener Haushalt bleibt mittelfristig auch angesichts der im
Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ein wirkmächtiges politisches Ziel.
Das Ideal von deutscher Sparsamkeit und ausgeglichenen Haushalten, die Angst
vor überbordender Verschuldung und die über viele Jahrzehnte erfolgreiche
Politisierung von Sparsamkeit haben den politischen und gesellschaftlichen
Diskurs in der Bundesrepublik zutiefst geprägt. Ein Comeback der „Schwarzen
Null“ ist nicht ausgeschlossen.

                                                      Sascha Kneip

                                                                               03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
APuZ 48/2020

 DIE „SCHWARZE NULL“ IST GESCHICHTE.
       ABER HAT SIE EINE ZUKUNFT?
                                          Lukas Haffert

Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deut-     letzt davon ab, auf welche argumentativen Res-
sche Staat 2020 wieder ein Jahr mit einem Haus-      sourcen die jeweiligen Seiten in diesem Ringen
haltsdefizit abschließen, und zwar mit dem mit       zurückgreifen können.
Abstand größten Defizit aller Zeiten. Auch 2021           Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden
ist allein im Bundeshaushalt mit einem hohen         zunächst rekonstruiert, welche politische Funk-
zwei- oder sogar dreistelligen Milliardendefizit     tion die „Schwarze Null“ vor dem Ausbruch der
zu rechnen. Die Schuldenquote des Gesamtstaa-        Pandemie erfüllt hat. Wie kam es überhaupt dazu,
tes dürfte nächstes Jahr ein neues Rekordniveau      dass eine finanzstatistische Kennzahl mit einer
erreichen. Rote Zahlen, so weit das Auge reicht.     so enormen symbolischen Bedeutung aufgela-
    Bleibt die „Schwarze Null“ also eine bloße       den wurde? Und welche Kritik wurde bereits vor
Episode, die besonderen Umständen wie einem          dem Beginn der Corona-Krise an der „Schwar-
langen Exportboom und einem historisch nied-         zen Null“ formuliert? Auf Basis dieser Rekon-
rigen Zinsniveau zu verdanken war, aber keine        struktion wird dann gefragt, welche Interpretati-
bleibenden Auswirkungen auf die öffentlichen         on des Zusammenhangs von Corona-Krise und
Finanzen hinterlässt? Oder markiert sie einen        „Schwarzer Null“ die besten Chancen hat, sich
grundlegenden Einschnitt in der Geschichte der       durchzusetzen, und wovon dies abhängen wird.
deutschen Staatsfinanzen, der auch über die Co-           Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es
rona-Krise hinaus wirksam bleiben wird?              hilfreich, eine explizit vergleichende Perspektive
    Die Antwort auf diese Frage wird nicht allein    einzunehmen und deutsche Entwicklungen und
davon abhängen, wie tief der von der Pandemie        Debatten mit denen in anderen Ländern zu ver-
ausgelöste Wirtschaftseinbruch ausfällt und wie      gleichen. Mehrjährige Haushaltsüberschüsse sind
groß die als Reaktion geschnürten Rettungspake-      nämlich keineswegs eine deutsche Besonderheit,
te noch werden. Mindestens ebenso wichtig ist,       sondern ein aus anderen Ländern gut bekanntes
wie sehr die „Schwarze Null“ mittlerweile zu den     Phänomen. Daraus, wie andere „Überschusslän-
fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundes-       der“ mit, wenn auch kleineren, ökonomischen
republik zählt. Ist sie bereits so tief verankert,   Schocks umgegangen sind, lassen sich deshalb ge-
dass sie selbst angesichts der schwersten Wirt-      wisse Rückschlüsse für die deutsche Corona-Re-
schaftskrise der Nachkriegszeit nicht dauerhaft      aktion ziehen. Zudem zeigt die Erfahrung dieser
infrage gestellt wird? Oder war sie auch schon       Länder, inwieweit der deutsche Überschuss nur
vor Corona angreifbar geworden und erlebt jetzt      eine weitgehend übliche Form der Haushaltspo-
ihr überfälliges Ende?                               litik in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs ge-
    Die Möglichkeit völlig unterschiedlicher         wesen ist – und was an der „Schwarzen Null“
Entwicklungen weist darauf hin, dass Krisen sich     tatsächlich besonders ist und daher auch einer be-
nicht selbst interpretieren, sondern um ihre In-     sonderen Analyse bedarf.
terpretation politisch gerungen wird. Die Pan-
demie kann als Beleg dafür gedeutet werden,                    POPULARITÄTSFAKTOREN
wie notwendig ein dauerhafter fiskalpolitischer
Kurswechsel ist. Sie kann aber auch so gedeutet      Sucht man nach den Ursachen für den großen
werden, dass sie belegt, wie richtig und wichtig     politischen Erfolg der „Schwarzen Null“, lassen
die Politik des Haushaltsausgleichs gewesen ist      sich drei Quellen ausmachen: erstens eine letzt-
und weiterhin bleibt. Welche dieser Interpreta-      lich psychologisch bedingte Popularität ausgegli-
tionen sich politisch durchsetzt, hängt nicht zu-    chener Haushalte; zweitens ein über Jahrzehnte

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schwarze Null - Bundeszentrale für politische ...
Schwarze Null APuZ

eingeübter Defizitdiskurs, dessen Interpretati-                   schüsse eine Strategie des „Credit Claiming“,
on der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschich-                    bei der eine Regierung offensiv die Erfolge ihrer
te die Kontrastfolie zur „Schwarzen Null“ bil-                    Haushaltspolitik betonen kann, während Defi-
det; drittens schließlich die spezifische politische              zite zu einer Strategie der „Blame Avoidance“02
Konstellation zweier inhaltlich ausgezehrter, aber                zwingen, bei der sie deren Misserfolge kaschie-
durch eine Große Koalition aneinandergebunde-                     ren und anderen Akteuren oder Umständen zu-
ner Volksparteien.                                                schreiben muss.
                                                                      Anders, als es die ökonomische Theorie der
                        Psychologie                               Politik erwartet, der zufolge Defizite politisch at-
Zunächst einmal ist es keine deutsche Besonder-                   traktiv sind, weil sie erlauben, staatliche Wohlta-
heit, dass ausgeglichene Haushalte sehr populär                   ten zu verteilen, ohne dafür die Steuerzahler zur
sind. Das war besonders um die Jahrtausendwen-                    Kasse bitten zu müssen – eine Verlockung, der
de herum zu beobachten, als eine Reihe westlicher                 durch strenge fiskalische Regeln ein Riegel vor-
Demokratien mehrjährige Haushaltsüberschüs-                       geschoben werden müsse –, kann eine Politik
se erzielte. Auch in diesen Ländern inszenier-                    dauerhafter Überschüsse also hochgradig popu-
ten sich die für den Überschuss verantwortlichen                  lär sein.03 Tatsächlich werden Regierungen, die
Politiker erfolgreich als Garanten einer beson-                   ein Defizit in einen Überschuss verwandeln, fast
ders nachhaltigen, generationengerechten oder                     immer wiedergewählt. Und häufig legen Finanz-
wachstumsfördernden Politik. Das war bei US-                      minister, die ein Defizit in einen Überschuss ver-
Präsident Bill Clinton, der in den letzten Jahren                 wandeln, damit den Grundstein für den späteren
seiner Amtszeit Haushaltsüberschüsse erzielte,                    Aufstieg an die Regierungsspitze.
nicht anders als beim schwedischen Ministerprä-                       Gleichwohl ist die Staatsverschuldung trotz
sidenten Göran Persson oder seinem kanadischen                    dieser grundsätzlichen Popularität von Über-
Amtskollegen Paul Martin. Die Beispiele zeigen                    schüssen in den meisten Ländern seit etwa 1970
auch, dass ausgeglichene Haushalte keineswegs                     kontinuierlich gestiegen. Der deutsche Über-
nur ein konservatives Thema sind: Persson war                     schuss ist zwar nicht einzigartig – im Durch-
Sozialdemokrat, Clinton und Martin gehörten                       schnitt der zurückliegenden Jahrzehnte verbrach-
ebenfalls links der Mitte positionierten Parteien                 ten westliche Industrieländer etwa ein Fünftel der
an. Ihnen allen gelang es, Haushaltsüberschüs-                    Zeit im Überschuss04 –, aber er ist selten genug,
se in ein Narrativ moderner, progressiver Wirt-                   um einer weitergehenden Erklärung zu bedürfen.
schaftspolitik zu integrieren.
    Diese Inszenierung von Überschüssen macht                                           Defizit-Diskurs
sich die weitverbreitete „Haushaltsanalogie“,                     Bei dieser Erklärung spielt der dominante Dis-
also die Gleichsetzung öffentlicher Haushalte                     kurs über die negativen Folgen von Staatsver-
mit Privathaushalten zunutze, die in Deutsch-                     schuldung, der sich in Deutschland in den letzten
land vor allem durch das Bild der schwäbischen                    Jahrzehnten entwickelt hat, eine wichtige Rolle.
Hausfrau populär geworden ist:01 So wenig, wie                    Die Flut der roten Zahlen, die in diesem Diskurs
Privatpersonen dauerhaft „über ihre Verhältnis-                   regelmäßig aufgerufen wird, bildet die Kontrast-
se“ leben könnten, so wenig dürfe das ein Staat.                  folie, vor der die „Schwarze Null“ als einzig seri-
Hinzu kommt, dass die Null einen wichtigen                        öse Form der Haushaltspolitik erscheint.
psychologischen Referenzpunkt darstellt. Sie                          Auch dieser Fokus auf die negativen Folgen
trennt nicht einfach positive von negativen Zah-                  von Staatsverschuldung ist zunächst nicht spe-
len, sondern grenzt auch symbolisch den Bereich                   zifisch für den deutschen Diskurs. Auch in an-
fiskalpolitischen Erfolgs von jenem fiskalpoliti-                 deren Ländern mit Überschüssen wurden diese
schen Misserfolgs ab. Daher ermöglichen Über-
                                                                  02 R. Kent Weaver, The Politics of Blame Avoidance, in: Journal
01 Allerdings zeigen neuere empirische Arbeiten, dass es sich     of Public Policy 4/1986, S. 371–398.
bei dieser Analogie wohl weniger um eine Quelle fiskalpoliti-     03 Vgl. zum Beispiel James M. Buchanan/Richard E. Wagner,
scher Präferenzen handelt, sondern vielmehr um eine Strategie,    Democracy in Deficit: The Political Legacy of Lord Keynes,
bereits bestehende Präferenzen zu rechtfertigen. Vgl. Lucy Bar-   New York 1977.
nes/Tim Hicks, Are Policy Analogies Persuasive? The Household     04 Vgl. Lukas Haffert, Freiheit von Schulden, Freiheit zum
Budget Analogy and Public Support for Austerity, 13. 5. 2020,     Gestalten. Die Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen,
https://doi.org/10.31235/osf.io/7qa2b.                            Frankfurt/M. 2015.

                                                                                                                              05
APuZ 48/2020

regelmäßig als heilsamer Gegensatz zu den na-                    moralischer Vorwurf mit. Es geht also weniger
tionalen Erfahrungen mit Staatsverschuldung                      um die Frage, ob Schulden ein geeignetes Instru-
inszeniert – sei es in Abgrenzung zur schwedi-                   ment zur Erreichung bestimmter wirtschaftspo-
schen Bankenkrise der 1990er Jahre oder zum                      litischer Ziele sind, sondern vielmehr darum, ob
„Double-Deficit“ in Staatshaushalt und Han-                      dieses Instrument legitim ist. Bereits lange vor der
delsbilanz der Reagan-Administration in den                      „Schwarzen Null“ wurden ausgeglichene Haus-
USA der 1980er Jahre.                                            halte so von den konservativen Finanzministern
    Der deutsche Diskurs ist allerdings inso-                    Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel, aber auch
fern besonders, als diese historische Kontrastfo-                von ihren sozialdemokratischen Nachfolgern
lie besonders weit zurück reicht, nämlich bis zu                 Hans Eichel und Peer Steinbrück, als fiskalpoli-
den Erfahrungen der Weimarer Republik mit ih-                    tisches Dauerziel etabliert.
rem kaum verhüllten Staatsbankrott im Zuge der                        Durch die 2009 parteiübergreifend beschlos-
Hyperinflation 1923. Die These, hohe Staatsver-                  sene Einführung der Schuldenbremse gelang-
schuldung führe unweigerlich zu hoher Inflati-                   te das Ziel strukturell ausgeglichener Haushalte
on, wird noch heute regelmäßig mit dem Verweis                   schließlich ins Grundgesetz. Diese Verfassungs-
auf Weimar unterlegt und hat auch im Kon-                        änderung war weniger eine Ursache als vielmehr
text der Corona-Krise wieder Konjunktur.05 Im                    selbst das Ergebnis einer nochmaligen Verschär-
historisch nicht sehr präzisen Erinnerungsver-                   fung des Defizit-Diskurses: Erst, nachdem SPD
mögen vieler Deutscher vermengt sich die Er-                     und Grüne eine konkurrierende, positivere Deu-
innerung an die Hyperinflation mit der Mas-                      tung von Defiziten aufgegeben hatten, erlangte
senarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise in                  die Verschuldungsfurcht Verfassungsrang.
den frühen 1930er Jahren zu einer einzigen, all-                      Die Konstitutionalisierung von Details der
umfassenden Weimarer Krisenerzählung.06 Was                      Haushaltstechnik – Artikel 115 des Grundgeset-
in dieser Erzählung völlig fehlt, ist die Tatsache,              zes schreibt unter anderem die Verwendung eines
dass die Weltwirtschaftskrise gerade keine Infla-                Konjunkturbereinigungsverfahrens vor, mit des-
tions-, sondern eine Deflationskrise war, die von                sen Hilfe der strukturelle, durch politische Ent-
der Austeritätspolitik der Regierung Brüning                     scheidungen zu verantwortende Teil des Haus-
befeuert wurde. Mittlerweile ist in der wissen-                  haltssaldos von bloß konjunkturell bedingten
schaftlichen Literatur etabliert, dass gerade die-               Schwankungen isoliert werden soll – ist Aus-
se Sparpolitik maßgeblichen Anteil am Aufstieg                   druck einer sehr deutschen Vorstellung, Fiskal-
der NSDAP hatte.07 In der öffentlichen Debatte                   politik sei primär eine Frage formaler Regeln und
stehen diese Tatsachen aber auf verlorenem Pos-                  weniger eine von politischen Mehrheiten. Diese
ten gegenüber der eingängigen Verknüpfung von                    Vorstellung zeigt sich auch im deutschen Insistie-
Staatsverschuldung mit Hyperinflation und von                    ren darauf, der Eurokrise mit einer Vielzahl neuer
Hyperinflation mit Hitler.                                       fiskalischer Regeln auf europäischer Ebene zu be-
    Vermutlich noch wichtiger für den Erfolg der                 gegnen. Dieser Glaube an die Kraft besserer fis-
„Schwarzen Null“ als die vermeintlichen Lehren                   kalpolitischer Regeln ist allerdings nicht nur bei
aus den 1920er Jahren waren aber die fiskalpoliti-               den Anhängern der Schuldenbremse verbreitet:
schen Debatten der letzten 40 Jahre. Charakteris-                Auch die Befürworter einer expansiveren Fiskal-
tisch für diese Debatten ist, dass Staatsverschul-               politik arbeiten sich mit großer Energie an dieser
dung darin primär nach moralischen Maßstäben                     Verfassungsregel ab, so als würde deren Reform
und nicht nach ökonomischer Zweckmäßigkeit                       wie von selbst auch einen fiskalpolitischen Kurs-
beurteilt wird. In der Diagnose, der Staat lebe                  wechsel nach sich ziehen.
„über seine Verhältnisse“, schwingt immer ein
                                                                                    Politische
05 Vgl. beispielsweise Thomas Mayer, Steigende Verschuldung                       Opportunitäten
bringt Hyperinflation – und am Ende die Währungsreform,          Die grundsätzliche Popularität von Haushalts-
27. 8. 2020, www.welt.de/214​264​308.                            überschüssen und die über viele Jahrzehnte ein-
06 Vgl. Lukas Haffert/Nils Redeker/Tobias Rommel, Misre-
                                                                 geübte Problematisierung von Defiziten haben
membering Weimar. Unpacking the Historic Roots of Germany’s
Monetary Policy Discourse, Berlin 2019.
                                                                 in Deutschland also die Voraussetzungen für den
07 Vgl. Gregori Galofré-Vilà et al., Austerity and the Rise of   Erfolg der „Schwarzen Null“ geschaffen. Den-
the Nazi Party, in: Journal of Economic History (i. E.).         noch wären diese Voraussetzungen wohl nicht

06
Schwarze Null APuZ

so eifrig genutzt worden, wenn die „Schwarze                    würdiges Image – noch in den 1990er Jahren
Null“ nicht perfekt in die politische Zeit gepasst              galt sie eher als Synonym für etwas zwielichtige
hätte und sinnbildlich für die Politik der Gro-                 Buchhaltungstricks eigentlich defizitärer Unter-
ßen Koalitionen der Ära Merkel stünde. Das be-                  nehmen –, gelang es nach 2010, daraus ein ein-
trifft zunächst die Unionsparteien selbst: Die                  deutig positiv konnotiertes Symbol zu formen.10
„Schwarze Null“ ist das ideale politische Projekt               Damit erwies sich das deutsche Finanzministe-
eines inhaltlich erschöpften Konservatismus,                    rium als sehr viel innovativer als seine amerika-
weil sie ein politisches Instrument, den Haus-                  nischen, australischen oder kanadischen Pen-
haltssaldo, zum eigentlichen politischen Ziel er-               dants, die zwar ebenfalls griffige Formeln für
klärt.08 Wer sich darauf beschränkt, nicht mehr                 ihre Überschusspolitik suchten – „In the Black“,
auszugeben, als er einnimmt, erspart sich unan-                 „Ba­lance or Better“ –, aber auf keinen Slogan
genehme Debatten darüber, wofür das Geld ei-                    mit vergleichbarem Vermarktungspotenzial stie-
gentlich ausgegeben wird und ob man es nicht                    ßen. Eine Formel wie „Balance or Better“ lässt
für ganz andere Dinge ausgeben sollte. In Zeiten                sich vielleicht noch auf Plakate drucken – unter
stabilen Wachstums und sinkender Zinsen adelt                   die Decke von Ministeriumsfoyers hängen oder
die „Schwarze Null“ insofern Ideenlosigkeit als                 als lebendige Skulptur aus Ministerialbeamten in
politisches Konzept.                                            schwarzen Anzügen formen kann man nur die
    Noch attraktiver wurde diese Politik aber für               „Schwarze Null“.
Große Koalitionen, die sich ja gerade nicht durch
ein gemeinsames inhaltliches politisches Projekt                                        KRITIK
definieren, sondern allenfalls durch das Verspre-                                    VOR CORONA
chen von Stabilität und staatspolitischer Verant-
wortung. Für solche Regierungen ist die „Schwar-                Die „Schwarze Null“ schöpft also aus psycholo-
ze Null“ der ideale politische Kitt, weil sie erlaubt,          gischen, historischen und parteipolitischen Popu-
inhaltliche Streitfragen in Finanzierungsfragen                 laritätsquellen. Dennoch ist von Beginn an auch
zu überführen und damit kaltzustellen: Die SPD                  häufig Kritik an dieser Politik formuliert worden.
verlangt höhere Staatsausgaben? Nicht finanzier-                So wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass
bar! Die Union will Steuersenkungen? Das wür-                   die staatlichen Ersparnisse zum deutschen Au-
de die „Schwarze Null“ aufs Spiel setzen! Dass                  ßenhandelsüberschuss und damit zu ökonomi-
ausgeglichene Haushalte das Ergebnis eines fis-                 schen Ungleichgewichten in Europa und der Welt
kalpolitischen Patts sein können, ist dabei eben-               beitrügen. Auch wurde kritisiert, dass der Staat
falls kein neuer Befund: In den USA wurden be-                  unnötigerweise darauf verzichte, von historisch
reits die Clinton-Überschüsse damit erklärt, dass               günstigen Finanzierungsbedingungen zu profi-
das demokratisch geführte Weiße Haus und das                    tieren, obwohl absehbar sei, dass die Zinsen noch
republikanisch kontrollierte Repräsentantenhaus                 für sehr lange Zeit auf diesem niedrigen Niveau
sich gegenseitig blockierten.09                                 verharren dürften.
    Echte Einzigartigkeit kann die deutsche Fis-                    Die inhaltlich schwerwiegendste und poli-
kalpolitik daher auch in dieser Hinsicht nicht                  tisch wohl einflussreichste Kritik lautete aber,
für sich beanspruchen. Wo sie das kann, ist al-                 die Politik der „Schwarzen Null“ sei mitverant-
lerdings ausgerechnet bei der Vermarktung des                   wortlich für den öffentlichen Investitionsstau.
Haushaltsüberschusses. Auf den genialen Kniff,                  Der bauliche Zustand der öffentlichen Schulen,
die buchhalterische Tatsache des Haushalts-                     die Dauersperrungen von Autobahnbrücken, die
ausgleichs mit dem wirkmächtigen Symbol der                     Pünktlichkeitskrise der Deutschen Bahn oder
„Schwarzen Null“ aufzuladen, war vorher noch                    der schleppende Breitbandausbau sind sichtba-
niemand gekommen. Hatte die Redeweise von                       rer Ausdruck eines jahrelangen Mangels an öf-
der „Schwarzen Null“ ursprünglich ein frag-                     fentlichen Investitionen, für den der Fokus auf
                                                                Haushaltsdisziplin mitverantwortlich ist. Dieser
                                                                Investitionsmangel kann sogar dazu führen, dass
08 Vgl. Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die
                                                                das staatliche Nettovermögen trotz sinkender
Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2018.
09 Vgl. Allen Schick, „A Surplus, If We Can Keep It“: How the
Federal Budget Surplus Happened, in: The Brookings Review,      10 Vgl. Lukas Haffert, Die schwarze Null. Über die Schat­ten­
Winter 2000, S. 36–39.                                          seiten ausgeglichener Haushalte, Berlin 2016.

                                                                                                                                07
APuZ 48/2020

öffentlicher Verschuldung weiter zurückgeht,                      die Haushaltsüberschüsse für Rentengeschenke
weil die Investitionen nicht ausreichen, auch nur                 statt für Schulen und Universitäten auszugeben.
den Verschleiß auszugleichen.11                                   Nichts hindere die Befürworter höherer Investi-
    Diese Verbindung von Haushaltsüberschüs-                      tionen daran, politische Mehrheiten für eine an-
sen mit einem Mangel an öffentlichen Investiti-                   dere Prioritätensetzung zu organisieren.
onen ist nicht selbstverständlich. Eigentlich war                     Die Erfahrungen anderer Länder mit Haus-
skeptischen Grünen und Sozialdemokraten die                       haltsüberschüssen zeigen allerdings, dass die
Schuldenbremse sogar mit dem genau gegentei-                      deutsche Entwicklung keineswegs einen Einzel-
ligen Versprechen schmackhaft gemacht worden:                     fall darstellt und dass solche Überschüsse ganz
ein Abbau der öffentlichen Verschuldung wer-                      regelmäßig mit einer nur verhaltenen Entwick-
de es ermöglichen, den schon damals existieren-                   lung der öffentlichen Investitionen einherge-
den Investitionsstau aufzulösen, weil er dem Staat                hen.16 Insofern scheint diese Entwicklung nicht
neue fiskalische Spielräume eröffne.12 Tatsächlich                bloß ein Ausdruck der politischen Prioritäten be-
attestiert sich die Bundesregierung in den vergan-                stimmter Mehrheitsverhältnisse, sondern struk-
genen Jahren auch jedes Jahr „Rekordinvestitio-                   turell mit der Erzielung von Überschüssen ver-
nen“. So haben sich die Investitionen des Bundes                  knüpft zu sein. Der Grund dafür liegt letztlich
laut Bundeshaushalt zwischen 2014 und 2019 von                    darin, dass eine bestimmte fiskalische Prioritäten-
29,3 Milliarden Euro auf 38,9 Milliarden Euro er-                 setzung nicht erst im Überschuss entsteht, son-
höht.13 Betrachtet man allerdings nicht die nomi-                 dern diesem vorausgeht. Die Verwendung von
nale Summe, sondern den Anteil der Investitionen                  Haushaltsüberschüssen ist daher nicht ohne eine
an den gesamten Bundesausgaben, hat sich dieser                   Analyse ihrer Entstehung zu verstehen.
kaum erhöht. Zudem wird der größte Teil der öf-                       Dieser Zusammenhang wird sehr deutlich,
fentlichen Investitionen in Deutschland gar nicht                 wenn man das Argument der fehlenden Pla-
vom Bund, sondern von den Kommunen getätigt,                      nungskapazitäten betrachtet, das häufig ins Feld
deren finanzielle Situation trotz gesamtstaatlicher               geführt wird, um zu erklären, warum die öffent-
Überschüsse noch immer sehr heterogen ist.14                      lichen Investitionen nicht schneller anwachsen:
Ein Bundesprogramm für öffentliche Investitio-                    Selbst wenn der Staat mehr investieren wolle,
nen müsste also eigentlich daran ansetzen, etwa                   dauere es eben, bis die dafür notwendigen Vo-
die Ruhrgebietsstädte überhaupt erst wieder in die                raussetzungen geschaffen seien. Der Abbau der
Lage zu versetzen, stärker investieren zu können.                 Planungskapazitäten war aber natürlich ein Teil
    Fürsprecher der „Schwarzen Null“ entgegnen                    jener Politik, die Überschüsse überhaupt erst er-
dem, diese durchwachsene Investitionsbilanz sei                   möglicht hat – und wirkt jetzt in den Überschuss
kein Ergebnis der Politik des Haushaltsausgleichs,                hinein fort. Eine langjährige Sparpolitik dreht
sondern einer problematischen Prioritätenset-                     also nicht bloß bestimmten Politikfeldern für eine
zung.15 Es sei eben eine politische Entscheidung,                 gewisse Zeit den sprichwörtlichen Geldhahn zu,
                                                                  sondern verändert das gesamte Leitungssystem,
                                                                  durch das das staatliche Geld fließen kann. Die
11 Vgl. Marcel Fratzscher, Wer echte Investitionen will,          Gleichzeitigkeit von Überschüssen und einem
muss die schwarze Null aufgeben, 17. 1. 2020, www.zeit.de/​
                                                                  nur langsamen Anstieg der öffentlichen Investiti-
wirtschaft/​2020-01/​bundeshaushalt-​ueberschuesse-​s teuern-​
schulden-​investitionen.
                                                                  onen ist also kein Zufall. Das eine hängt mit dem
12 Vgl. z. B. die Äußerungen von Peer Steinbrück, in: Deut-       anderen eng zusammen.
scher Bundestag, Plenarprotokoll 16/225. Stenografischer
Bericht der 225. Sitzung der 16. Wahlperiode, 29. 5. 2009.                      WIRD DURCH CORONA
13 Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Rekordinvestitionen,
                                                                                   ALLES ANDERS?
25. 11. 2019, www.bundesfinanzministerium.de/​Content/​DE/​
Standardartikel/​Themen/​Oeffentliche_​Finanzen/​Bundeshaus-
halt/​2019-11-20-rekordinvestitionen.html.                        Doch vielleicht ist all das bereits Geschichte? Wo-
14 Vgl. Jens Südekum, Stellungnahme im Haushaltsausschuss         möglich erfasst die von Corona herbeigeführte
des Deutschen Bundestages, 7.9.2020, www.bundestag.de/​           „neue Normalität“ auch die Staatsfinanzen und
resource/​blob/​710590/​e0431a98fb5d10c6cb12ea3390b99227/​
                                                                  stellt dort die lange gewohnte „alte Normalität“
Prof-​Jens-​Suedekum-​data.pdf.
15 So beispielsweise Lars P. Feld/Wolf Heinrich Reuter, Die Be-
                                                                  von Haushaltsdefiziten und wachsender Staats-
währungsprobe der Schuldenbremse hat gerade erst begonnen,
in: Wirtschaftsdienst 5/2019, S. 324–329.                         16 Vgl. Haffert (Anm. 10).

08
Schwarze Null APuZ

verschuldung wieder her? Schließlich hat Corona                       Corona zu reagieren. Auch die zuletzt so stark in
ja nicht nur zu einem Einbruch der Steuereinnah-                      die Kritik geratene Schuldenbremse kann mit die-
men geführt, sondern möglicherweise auch eine                         sem Argument rehabilitiert werden, schließlich
generelle Renaissance staatlicher Daseinsvorsorge                     habe die Pandemie gezeigt, dass die Verfassungs-
ausgelöst, die entsprechend teuer wird.                               regel flexibel genug sei, um einen angemessenen
     Prognosen, durch eine Krise werde „alles an-                     Umgang mit Krisensituationen zu ermöglichen.18
ders“, haben in Krisensituationen naturgemäß                          Ob diese Flexibilität wirklich ausreicht, wird sich
Hochkonjunktur. Wie kurz die Halbwertszeit sol-                       allerdings erst dann zeigen, wenn die in der Kri-
cher Prognosen sein kann, hat aber erst die Welt-                     se aufgenommenen Schulden ab 2023 getilgt wer-
finanzkrise von 2008 gezeigt. Die damals ange-                        den müssen.19
kündigte Renaissance des Staates währte keine                             Blickt man auf die oben beschriebenen Quel-
zwei Jahre. Allenfalls öffnen Krisen also ein Ge-                     len für die Popularität der „Schwarzen Null“, so
legenheitsfenster, in denen ein grundlegender Po-                     dürften zumindest zwei dieser drei Quellen in der
litikwechsel möglich ist, sie führen ihn aber nicht                   Zeit nach der Pandemie eher wieder an Kraft ge-
selbst herbei.                                                        winnen. So werden die enormen Haushaltsdefi-
     Politische Paradigmenwechsel müssen also                         zite den eingeübten Defizit-Diskurs wieder auf
auch in Krisen politisch erkämpft werden – von                        die politische Agenda setzen. Aus dieser Sicht er-
gut organisierten Akteuren mit klaren Zielen, die                     scheint die stark gestiegene Schuldenquote wie
sich diese Gelegenheit zunutze machen. Vor dem                        eine dauerhafte Mahnung, zur „fiskalpolitischen
Hintergrund der bisherigen Analyse erscheint es                       Vernunft“ zurückzukehren. Wie stark dieser Dis-
jedoch als unwahrscheinlich, dass solche Akteure                      kurs ist, zeigt sich bereits daran, dass der Bund
in Deutschland existieren und dass die bereits vor                    sich entschlossen hat, die von der Schuldenbrem-
Corona aufgekommene Kritik an der „Schwar-                            se geforderte Tilgung der Corona-Schulden in-
zen Null“ die Grundlage für einen solchen Para-                       nerhalb von nur 20 Jahren zu leisten.
digmenwechsel bietet.                                                     Damit kommen auch die psychologischen
     Der wichtigste Grund dafür ist, dass ein Pa-                     Mechanismen hinter dem Erfolg der „Schwarzen
radigmenwechsel nicht nur eine negative Kritik                        Null“, die mit ihrer Normalisierung zunehmend
am bisherigen Paradigma erfordert, sondern auch                       an Kraft verloren hatten, wieder ins Spiel. Eine
einen positiv formulierten Entwurf für ein neues                      Regierung, die auch nach dem Ende der Pande-
Paradigma. Eine solche „kohärente und weit ent-                       mie Defizite zu verantworten hat, wird damit
wickelte Alternative“17 zur „Schwarzen Null“ ist                      ganz erhebliche Vorwürfe auf sich ziehen, wäh-
jedoch bisher nicht zu erkennen. Die Schar der                        rend die Überwindung dieser Defizite Anlass
Kritiker der Überschusspolitik ist auch zu hete-                      für neuerliches „Credit Claiming“ bieten dürfte.
rogen, als dass sie sich in kürzester Zeit auf ein                    Welcher Finanzminister würde nicht gerne ver-
solches alternatives Paradigma einigen könn-                          künden, die Rückkehr zu ausgeglichenen Haus-
te. Während ein Teil der Kritiker bereits mit ei-                     halten belege, dass Deutschland die Corona-Kri-
ner spürbaren Erhöhung der staatlichen Investi-                       se nun auch ökonomisch überwunden habe?
tionsquote zufrieden wäre, streben andere eine                            Vor diesem Hintergrund könnte die Corona-
viel fundamentalere Neujustierung der Rolle des                       Krise sogar dazu beitragen, die „Schwarze Null“
Staates in der Wirtschaft an.                                         dauerhaft zu stärken. Das heißt nicht, dass die
     Gegen einen dauerhaften Kurswechsel in der                       Bundesrepublik bereits 2022 oder 2023 zu ausge-
Fiskalpolitik spricht auch, dass die leistungsstar-                   glichenen Haushalten zurückkehren wird. Zwei-
ke Reaktion des deutschen Staates auf die wirt-                       fellos wird sich die dann amtierende Bundesregie-
schaftlichen Folgen der Pandemie zu belegen                           rung aber starken Erwartungen ausgesetzt sehen,
scheint, wie richtig und wichtig die Politik des                      einen Plan für eine Rückkehr in den Überschuss
Schuldenabbaus war. Die Haushaltspolitik der
vergangenen Jahre habe erst die Spielräume ge-                        18 Beide Argumente finden sich beispielsweise in Heinz
schaffen, die es jetzt ermöglichten, so kraftvoll auf                 Gebhardt/Lars-H. Siemers, Staatsfinanzen in der Corona-
                                                                      Krise: Günstige Bedingungen sichern Handlungsfähigkeit, in:
                                                                      Wirtschaftsdienst 7/2020, S. 501–506.
17 Peter A. Hall, Policy Paradigms, Social Learning, and the State.   19 Vgl. Martin Greive, „Größenordnungen der Krise stellen
The Case of Economic Policymaking in Britain, in: Comparative         alles in den Schatten“ – Schuldenbremse droht der schleichende
Politics 3/1993, S. 275–296, hier S. 286.                             Tod, 20. 10. 2020, www.handelsblatt.com/​26288866.html.

                                                                                                                                  09
APuZ 48/2020

zu entwerfen. Als Referenzpunkt dafür, was eine           Krisen interpretieren sich also nicht von selbst,
verantwortungsvolle Fiskalpolitik ist, wird die       auch nicht in fiskalpolitischer Hinsicht. Welche
„Schwarze Null“ den deutschen finanzpoliti-           Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen sind, ist
schen Diskurs weiterhin prägen.                       vielmehr Gegenstand politischer Konflikte, in de-
     Wie stark dieser Diskurs die tatsächliche Fis-   nen diejenigen bessere Karten haben, die bereits
kalpolitik beeinflusst, dürfte dabei nicht zuletzt    eine politische Agenda besitzen, die sich mit der
von der parteipolitischen Konstellation und da-       Krise gut verknüpfen lässt. Dabei kann die Co-
mit vom Ausgang der Bundestagswahl 2021 ab-           rona-Krise sowohl als Rechtfertigung für den
hängen. Anders als die Großen Koalitionen der         Abschied von der „Schwarzen Null“ verwendet
Jahre ab 2013 wird die kommende Bundesregie-          werden als auch für deren Neubelebung. Sicher
rung den Haushalt nicht mit einer Finanzpolitik       ist nur: Wer auch immer sich durchsetzt, wird
der ruhigen Hand ausgleichen können. Stattdes-        hinterher behaupten, Corona belege die Richtig-
sen würde sie politisch schmerzhafte Maßnah-          keit der eigenen Strategie.
men auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite
ergreifen müssen, um einem erneuten Überschuss
näherzukommen.
     Paradoxerweise könnte es einer Bundesre-
gierung, an der CDU/CSU beteiligt sind, da-
bei leichter fallen, auf solche Maßnahmen zu
verzichten. Denn es ist leicht ausrechenbar, auf
welch fundamentalen Widerstand der Oppositi-
on ein linkes Regierungsbündnis stoßen würde,
das einen dauerhaften Bruch mit der Politik der
„Schwarzen Null“ vollziehen würde. Die Union,
die ja gewissermaßen das politische Copyright
an diesem Symbol hält, könnte hingegen mit viel
größerer Glaubwürdigkeit dafür eintreten, dass
weitere Defizite schlicht notwendig seien.
     Die Erfahrungen anderer Länder mit Haus-
haltsüberschüssen scheinen keine eindeutige Ant-
wort auf die Frage zu bieten, ob Krisen eher den
Abschied von Überschusspolitik einleiten oder ob
sie diese sogar stärken. Für beide Konstellationen
lassen sich Beispiele finden. So boten die Rezes-
sion des Jahres 2001 und die Terroranschläge des
11. September für US-Präsident George W. Bush,
dem ein großes Steuersenkungspaket ohnehin
wichtiger war als ausgeglichene Haushalte, wert-
volle Argumente dafür, zugunsten von Steuersen-
kungen auf Überschüsse zu verzichten. Sein ka-
nadischer Nachbar Paul Martin dagegen setzte
zeitgleich darauf, trotz eines Konjunktureinbruchs
an seiner bisherigen Haushaltspolitik festzuhal-
ten und so schnell wie möglich in den Überschuss
zurückzukehren. Die Erfahrung anderer Län-
der zeigt aber eindeutig, dass Regierungen, die
nach der Erholung der Wirtschaft noch ein Defi-
zit im Staatshaushalt ausweisen, unter sehr starken   LUKAS HAFFERT
Druck geraten, dieses zu korrigieren. In Australien   ist politischer Ökonom und Oberassistent am
beispielsweise wurde das Ziel eines baldigen Bud-     Lehrstuhl für Vergleichende Politische Ökonomie
getausgleichs in den Jahren nach der Weltfinanz-      der Universität Zürich.
krise zu einem politisch dominanten Thema.            lukas.haffert@uzh.ch

10
APuZ 48/2020

              POLITISIERTES SPAREN UND
           DIE EUROPÄISCHE ZENTRALBANK
      Zur politischen Ökonomie der geldpolitischen Debatte
                         in Deutschland
                            Kardelen Günaydin · Daniel Mertens

Die Verwerfungen der Corona-Pandemie waren            von der Enteignung des deutschen Sparers und die
in Deutschland noch gar nicht recht angekommen,       im gleichen Atemzug angeführte Beschädigung ei-
die massiven geld- und fiskalpolitischen Gegen-       ner deutschen Sparkultur finden sich sowohl in
maßnahmen noch gar nicht ergriffen, als im März       der oben exemplarisch aufgeführten EZB-Kritik
2020 eine Autorengruppe um die ehemaligen Mi-         politischer und wirtschaftlicher Eliten als auch in
nisterpräsidenten Edmund Stoiber, Peer Stein-         den Alltagsdiskursen breiter Bevölkerungsschich-
brück und Wolfgang Clement öffentlichkeitswirk-       ten. Diese Kritik ist in Deutschland, bekannt für
sam eine „neue Geldpolitik der EZB“ nach der          die hohe Sparquote seiner Haushalte, so virulent
Corona-Krise forderte.01 Eine Abkehr von den          geworden, dass sie politische Handlungsimpulse
seit Beginn der Euro-Krise 2010 sukzessive er-        setzt – nicht nur in Bezug auf eine Politisierung
griffenen expansiven geldpolitischen Maßnahmen        der formal unabhängigen EZB, sondern auch in
war gemeint, ein Ausstieg aus der Niedrigzinspoli-    Bezug auf das Sparen selbst: Angesichts niedri-
tik, mit der die Europäische Zentralbank (und vie-    ger Zinsen vor allem in klassischen Sparsegmenten
le andere Zentralbanken) die Finanzmärkte vorü-       wie Giro- und Tagesgeldkonten wurde etwa vom
bergehend stabilisiert hatte und mit der sie nach     ehemaligen Bundesverfassungsrichter Paul Kirch-
wie vor versucht, die Zielinflationsrate von unter,   hof ein „Grundrecht auf Zinsen“ im Rahmen des
aber nahe 2 Prozent im Euro-Währungsraum zu           Schutzes des Privateigentums angemahnt; die am-
erreichen. Der Zeitpunkt der Wortmeldung hätte        tierende Regierungskoalition prüfte gar ein Gesetz
nicht schlechter sein können, denn nur Tage da-       zum Schutz vor Negativzinsen.
nach verkündete die EZB ein 750 Milliarden Euro           Dieser Diskurs kann, analog zu den Debatten
umfassendes Anleihekaufprogramm (PEPP) zur            um die „Schwarze Null“, als Kristallisationspunkt
Bekämpfung der Pandemie-Auswirkungen. Auch            für Spannungen im gegenwärtigen Kapitalismus
eine Erhöhung des Leitzinses scheint Ende 2020        und im Zusammenspiel von europäischen und na-
ein auf unbestimmte Zeit verschobenes Szenario.       tionalen Institutionen gesehen werden. Dazu zählt
    Die von den Autoren geäußerte Kritik an der
EZB ist aber ohnehin längst ein Dauerbrenner der        1. dass eine europäisierte Geldpolitik mit den
wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland, in          Institutionen des deutschen Wirtschafts-
deren Folge das Mandat der EZB gar zum Gegen-              und Sozialmodells kollidiert, da sie sich
stand mehrfacher juristischer Auseinandersetzun-           einerseits an einem aus unterschiedlichen
gen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)              Volkswirtschaften zusammengesetzten
und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wur-               Währungsraum orientieren muss und ande-
de.02 In diesem Beitrag möchten wir uns dieser De-         rerseits in einem weltwirtschaftlichen Um-
batte politökonomisch nähern, indem wir uns mit            feld operiert, das durch Kapitalüberangebot
den verteilungspolitischen Ideen und Interessen            bereits auf das Zinsniveau drückt;
auseinandersetzen, die sich um eine zentrale Argu-
mentation und Diskursfigur der Debatte formiert         2. dass die diskursive Konstruktion eines uni-
haben: die „Enteignung des deutschen Sparers               formen „deutschen Sparers“ – männlich
durch die Niedrigzinspolitik der EZB“. Die Rede            und von Klassenunterschieden unberührt –

12
Schwarze Null APuZ

      dazu beiträgt, Interessen und Ungleichhei-                               POLITISIERTES SPAREN UND
      ten zu verdecken, die dieses Modell hervor-                             GELDPOLITIK IN DEUTSCHLAND
      gebracht hat; und
                                                                      Die Politisierung des Sparens im Sinne einer po-
  3. dass das dominante Hohelied auf das Spa-                         litischen Indienstnahme privater Spartätigkeit ist
     ren einer (ordo)liberal-konservativen Kri-                       keineswegs ein neues Phänomen, bedarf aber je-
     tiklinie folgt, die den kollektiven Effekten                     weils einer historisch spezifischen Verortung. So
     der Niedrigzinspolitik – wie die Eröffnung                       wie das bürgerliche Sparideal im 19. Jahrhun-
     fiskalpolitischer Handlungsräume – keine                         dert als vermeintliche Lösung der sozialen Fra-
     Lösungskompetenz für existierende Vertei-                        ge mobilisiert wurde oder das private Sparen zum
     lungswirkungen zuschreibt.                                       Dienst an der Nation zu Kriegszeiten verpflich-
                                                                      tet wurde,04 so scheint heutzutage eine „nationale
Diese Punkte im Folgenden zu substantiieren be-                       Sparkultur“ propagiert zu werden, um tiefgrei-
deutet nicht, die EZB vor Kritik zu isolieren. Wie                    fendere Fragen über die Abgabe geldpolitischer
die sozialwissenschaftliche Literatur seit Längerem                   Souveränität aufzuwerfen. Dabei besteht kein
festhält, hat die europäische Notenbank bei der                       Zweifel daran, dass der Entwicklungspfad des
Ausweitung ihrer Kampfzone aus gutem Grund                            deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells ein-
an Legitimität in unterschiedlichen politischen                       herging mit dem Aufbau einer institutionellen
Lagern eingebüßt. Einerseits wirkte sie über ihre                     Struktur zur Habitualisierung der Spartätigkeit.
Geldpolitik und die Beteiligung an der Troika zu-                     Sparkassen und Genossenschaftsbanken gehören
nächst an der antidemokratischen Disziplinierung                      zu dieser Entwicklung ebenso dazu wie die Ge-
einiger Euro-Mitgliedsländer mit und hat sich –                       schichte fiskalischer Sparförderung.05
nicht zuletzt aus eigenem Steuerungsinteresse – der                        Wir wollen uns an dieser Stelle auf einige zen-
Ausweitung eines marktbasierten Finanzsystems                         trale Merkmale der Verknüpfung von Sparen
verschrieben. Andererseits hat sie im Zuge anhal-                     und Geldpolitik seit 1945 begrenzen und insbe-
tender Anleihekaufprogramme ebendiese Diszip-                         sondere die Herausforderung in den Blick neh-
linierungsfunktion nach und nach eingeschränkt                        men, die vor diesem Hintergrund mit der Über-
und sich damit vom liberalen Format einer unab-                       nahme geldpolitischer Verantwortung durch die
hängigen Zentralbank des ausgehenden 20. Jahr-                        EZB 1999 verbunden war. Deutschland verfolgte
hunderts entfernt. Diese paradoxe Konstellation                       insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg einen
ergibt sich zum Teil aus einem tieferliegenden Pro-                   „währungs- und fiskalpolitischen Merkantilis-
zess monetärer Transformation: Zentralbanken,                         mus“, wie der Wirtschaftshistoriker Carl-Lud-
deren institutionelle Ausstattung und Mandate ei-                     wig Holtfrerich zum 50. Jubiläum der Deut-
gentlich auf die historisch geprägte Bekämpfung                       schen Mark 1998 festhielt.06 Eine restriktive, das
von Inflation ausgerichtet sind, müssen nun gegen                     heißt auf zügigen Leitzinserhöhungen fußende
anhaltende deflationäre Tendenzen kämpfen.03                          und auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik
    Vor diesem Hintergrund wollen wir im Folgen-                      trug hier zur Förderung des privaten Sparens bei,
den eine politökonomische Einordnung des spar-                        mit dem Ziel, die Lohn- und Preisentwicklung –
und geldpolitischen Diskurses vornehmen und die                       und damit die Inlandsnachfrage – zu dämpfen
drei oben genannten Spannungen aufgreifen.                            und so die Exporte und das auf ihnen beruhen-
                                                                      de Wirtschaftsmodell zu stützen. Diese Geldpoli-
                                                                      tik wurde komplementiert durch eine sozialpoli-
01 Vgl. Edmund Stoiber et al., Für eine neue Geldpolitik der
EZB, 15. 3. 2020, www.faz.net/-16679542.
02 Zuletzt urteilte das BVerfG am 5. Mai 2020 (AZ: 2 BvR              04 Vgl. Robert Muschalla, Sparen. Geschichte einer deutschen
859/15), die EZB habe insbesondere mit ihrem Anleihekaufpro-          Tugend, Berlin 2018. Siehe auch den Beitrag von Sandra Maß in
gramm PSPP den rechtlichen Rahmen ihres Handelns überschritten.       diesem Heft.
03 Vgl. Adam Tooze, The Death of the Central Bank Myth,               05 Vgl. hierzu und dem Folgenden Daniel Mertens, Erst
13. 5. 2020, https://foreignpolicy.com/2020/05/13/european.           sparen, dann kaufen? Privatverschuldung in Deutschland,
Siehe auch Jan Sparsam/Malte Flachmeyer, Voll normal. Die             Frankfurt/M. 2015.
unkonventionelle Geldpolitik der EZB seit der Euro-Krise, in: Levi-   06 Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich, Geldpolitik bei festen Wech-
athan 48/2020, S. 176–194; Benjamin Braun, Two Sides of the           selkursen (1948–1970), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Fünfzig
Same Coin. Independence and Accountability of the European            Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland
Central Bank, Brüssel 2017.                                           seit 1948, München 1998, S. 347–438.

                                                                                                                                  13
APuZ 48/2020

tisch verankerte Vermögenspolitik, die klassische                  hinzu: Auch wenn die EZB der Deutschen Bun-
Bankeinlagen, Bausparverträge und das Versiche-                    desbank institutionell nachempfunden war, samt
rungssparen – also jene in der EZB-Kritik ange-                    der Priorisierung der Preisstabilität, war das ge-
führten zinsempfindlichen Anlageformen – durch                     sellschaftliche Spielfeld ein anderes. Sowohl die
Zulagen und Steuervergünstigungen förderte.                        fehlende Europäisierung der Lohn- und Fiskal-
    Dabei wurde vonseiten der Bundesbank und                       politik als auch die Heterogenität der Mitglieds-
ihrer Vorgängerin, der Bank deutscher Länder,                      länder lagen quer zu einer echten Adaption der
gerne an „den deutschen Sparer“ appelliert, um                     deutschen Stabilitätspolitik und führten zu struk-
die Unabhängigkeit der Zentralbank und das Ziel                    turellen Problemen der Währungsunion. Dabei
der Preisstabilität im Sinne des Wirtschafts- und                  war der entscheidende Punkt, dass sich die No-
Sozialmodells in der Bevölkerung zu verankern.                     tenbank in ihrer Geldpolitik nun an der durch-
Schließlich wurde die Figur des Sparers hierzulan-                 schnittlichen Preisentwicklung im gesamten
de ein „politisches Subjekt, das alle sozialen und                 Euro-Währungsraum orientieren musste und
religiösen Trennlinien transzendierte“ und daher                   dementsprechend auch einen einheitlichen Leit-
die direkte Ansprache der deutschen Geldpoli-                      zinssatz für alle Mitgliedsländer festlegte. Die
tik genoss.07 Diese Figur erhielt durch einen ste-                 Folge war eine abnehmende Passgenauigkeit der
tigen Anstieg der Sparquote bis in die 1970er Jah-                 geldpolitischen Maßnahmen. In den ersten Jah-
re hinein, als diese ihren Höchststand erreichte,                  ren der Währungsunion stellte sich deshalb ein
eine materielle Basis, mit der auch ein wachsen-                   für die Konjunkturentwicklung in Deutschland
der Rückhalt in der Bevölkerung für die deutsche                   insgesamt nachteiliger Effekt ein, den die politi-
Währungspolitik beobachtet werden konnte, dem                      schen Entscheidungsträger unterschätzt hatten.10
sich die Bundesbank mit einer an „die Sparer“ ad-                  Die Zinspolitik der EZB war in dieser Phase zu
ressierten Öffentlichkeitsarbeit fortwährend ver-                  restriktiv für die deutsche Wirtschaft – allerdings
sicherte.08 Dabei entsprang die geldpolitische                     spielte der „deutsche Sparer“ keine Rolle in der
Leitlinie einer stabilitätsorientierten Unterbewer-                Kritik an den neuen währungspolitischen Ver-
tung der D-Mark weniger einem sozialpolitischen                    hältnissen; das änderte sich erst mit der Krisen-
Sinn fürs Sparen als vielmehr einem interessens-                   politik der 2010er Jahre.
basierten Konsens zwischen den eng verwobenen
Banken und Industrieunternehmen, der von den                                 NACH DER FINANZKRISE –
durchaus für Inflationssorgen empfänglichen Ge-                            LEGITIMATIONSPROBLEME UND
werkschaften mitgetragen wurde.09                                              DISKURSKOALITIONEN
    Mit der Verwirklichung der Europäischen
Währungsunion und der sie begleitenden Libe-                       Der geldpolitische Rahmen der EZB, der vor der
ralisierungsprozesse wurde dieser Konsens und                      Euro-Krise auf das Zinsmanagement ausgerich-
der ihn absichernde Nexus aus Geldpolitik und                      tet war, änderte sich nach 2008 erheblich. Die
Sparkultur allerdings durchbrochen. Die staat-                     Deflation wurde zur größeren Bedrohung als die
liche Sparförderung machte aufgrund frühe-                         Inflation, und der Zusammenhang von Banken-
rer Kürzungsprogramme ohnehin nur noch ei-                         und Staatsschuldenkrise gefährdete die Integra-
nen Bruchteil ihres einstigen Umfangs aus, und                     tion des Währungsraumes insgesamt. Die EZB
die Sparkassen hatten im verschärften Wettbe-                      griff deshalb nicht nur zu Zinssenkungen und
werb ihre einstige Rolle als Förderinstitutionen                   negativen Zinssätzen (zuletzt 2019), sondern
des Sparsinns zunehmend aufgegeben. Dem füg-                       begann auch, Staats- und Unternehmensanlei-
te sich nun aber eine institutionelle Spannung                     hen aufzukaufen. Auf das im Mai 2010 angekün-
                                                                   digte Wertpapiermarktprogramm (SMP) folgten
07 Simon Mee, Central Bank Independence and the Legacy of
                                                                   im August 2012 nach Mario Draghis berühmter
the German Past, Cambridge 2019, S. 147, eigene Übersetzung.       Londoner „Whatever It Takes“-Rede sogenann-
08 Vgl. Rudolf Richter, Deutsche Geldpolitik 1948–1998 im          te Outright Monetary Transactions (OMT), bei
Spiegel der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion,
Tübingen 1999.
09 Vgl. Jan Logemann, Trams or Tailfins? Public and Private        10 Vgl. Peter A. Hall/Robert J. Franzese, Die Europäische
Prosperity in Postwar West Germany and the United States,          Wirtschafts- und Währungsunion als work in progress, in: Martin
Chicago 2012; Randall C. Henning, Currencies and Politics in the   Höpner/Armin Schäfer (Hrsg.), Die Politische Ökonomie der
United States, Germany, and Japan, Washington, D. C. 1994.         europäischen Integration, Frank­furt/M. 2008, S. 407–413.

14
Schwarze Null APuZ

denen die EZB, verbunden mit wirtschaftspoli-                         Der Ursprung der deutschen EZB-Kritik
tischen Auflagen, eine unbegrenzte Anzahl von                    nach der Krise lässt sich im Kontext des SMP-
Staatsanleihen auf Sekundärmärkten kaufen                        Programms verorten, als der ehemalige Bun-
konnte. OMT wurde bis heute von keinem Mit-                      desbankpräsident Axel Weber und dann sein
gliedsstaat in Anspruch genommen, was vor al-                    Nachfolger Jens Weidmann die EZB vor einer
lem seinen Erfolg bei der Wiederherstellung des                  verbotenen „monetären Staatsfinanzierung“
Vertrauens in die Märkte beweist. Neben weite-                   warnten, was sich auch im Rücktritt des deut-
ren Maßnahmen zur Schaffung von Anreizen für                     schen EZB-Ratsmitglieds Jürgen Stark 2011
eine Kre­dit­ex­pan­sion führte die EZB Ende 2014                widerspiegelte.13 Radikalere Kritiker des SMP,
ihr größtes Anleihekaufprogramm ein, in dessen                   insbesondere die ordnungspolitische Initiative
Rahmen die Notenbank Unternehmensanleihen                        Europolis unter Leitung des Ökonomen Mar-
und Staatsanleihen sowie Wertpapiere erwarb.                     kus C. Kerber, brachten die Bank wegen eines
Bis August 2020 hatte die EZB für rund 2,8 Bil-                  Verstoßes gegen den Artikel 123 des Vertrags
lionen Euro Anleihen gekauft, wovon 80 Pro-                      über die Arbeitsweise der Europäischen Uni-
zent Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer                     on (AEUV), der die monetäre Finanzierung von
waren.                                                           Staaten verbietet, vor das BVerfG.14 Obwohl die
     Während einige die EZB als „Heldin“ in der                  Klage vom BVerfG abgewiesen wurde, konnten
Bewältigung der Krise feierten, verurteilten andere              die Streitigkeiten um die Einführung der unkon-
sie zunehmend als „Ungeheuer“.11 In Deutschland                  ventionellen Geldpolitik nicht beigelegt wer-
beruhte die Kritik – jenseits der vielen Verunglimp-             den. Die Rechtmäßigkeit des OMT-Programms
fungen Mario Draghis durch die Boulevardpres-                    etwa wurde in ähnlicher Weise infrage gestellt,
se – auf zwei Säulen: die erste betrifft die demo-               als eine zunächst durchaus heterogene Koali-
kratische Legitimität der Zentralbankmaßnahmen,                  tion im Juni 2013 in Karlsruhe ihre Klage mit
wonach die europäischen Verträge keinen ausrei-                  dem gleichen Vorwurf der monetären Staatsfi-
chenden Rechtsrahmen für die „unkonventionel-                    nanzierung einreichte. Zu dieser gehörte nicht
le“ Geldpolitik der EZB böten; die zweite betrifft               nur der frühere CSU-Vizechef Peter Gauweiler,
die ökonomischen Auswirkungen dieser Geldpo-                     der die EU seit 2009 regelmäßig verklagt, son-
litik, bei denen neben der „Enteignung des deut-                 dern auch der Verein „Mehr Demokratie e.V.“.
schen Sparers“ die Entstehung von Vermögens-                     Im Juni 2015 entschied der Europäische Ge-
preisblasen, Fehlanreize für Regierungen bei der                 richtshof, dass OMT in den Geltungsbereich
Haushaltskonsolidierung und die Schwächung                       des Mandats der EZB fällt und nicht als mone-
der Bankenrentabilität ausgemacht werden.12 Ob-                  täre Finanzierung betrachtet werden kann.15 Die
wohl diese Kritikpunkte, wenngleich mit unter-                   jüngste Entscheidung des BVerfG vom 5. Mai
schiedlichen Schwerpunkten und Begründungen,                     2020, das PSPP-Anleihekaufprogramm der EZB
im gesamten politischen Spektrum diskutiert wer-                 für ultra vires, also für außerhalb der durch eu-
den, zeigt sich sowohl in der medialen Repräsen-                 ropäisches Recht zugewiesenen Kompetenzen,
tation als auch in den rechtlichen Auseinanderset-               zu erklären, ging auf die Klage einer Gruppe
zungen vor dem Bundesverfassungsgericht eine                     von Juristen, Politikern und Wirtschaftswis-
Dominanz des (ordo)liberal-konservativen Spek-                   senschaftlern zurück, bei denen neben den po-
trums. Die Verbindung der beiden Kritiksäulen                    litischen Initiatoren Bernd Lucke, Joachim Star-
lässt sich vor allem bei Vertretern von CDU/CSU,                 batty (beides Mitbegründer der AfD) und Peter
Industrie und Finanzsektor verorten, während die
juristischen Anfechtungen zumeist von konserva-
                                                                 13 Vgl. Ralph Atkins, Bundesbank and ECB Need Not Clash,
tiven und AfD-nahen Beschwerdeführern voran-
                                                                 7. 12. 2011, www.ft.com/​content/​42478e54-​2022-​11e1-​9878-​
gebracht wurden.                                                 00144​feab​dc0. Auch 2019 trat im Streit über die Anleihekauf-
                                                                 programme eine deutsche Vertreterin, Sabine Lautenschläger,
11 Vgl. Vivien A. Schmidt, The Eurozone’s Crisis of Democratic   aus dem Gremium zurück.
Legitimacy. Can the EU Rebuild Public Trust and Support for      14 Vgl. Markus C. Kerber et al., Ankauf von Staatsanleihen durch
European Economic Integration?, European Economy Discussion      die EZB: Wie ist die neue Offenmarktpolitik der Europäischen
Papers 15/2015.                                                  Zentralbank zu bewerten?, in: Ifo Schnelldienst 63/2010, S. 3–10.
12 Vgl. Ulrich Bindseil/Clemens Domnick/Jörg Zeuner, Critique    15 Vgl. EZB, ECB Governing Council Takes Note of Ruling on
of Accommodating Central Bank Policies and the ‚Expropriation    OMT, Pressemitteilung, 18. 6. 2015, www.ecb.europa.eu/press/
of the Saver‘, ECB Occasional Paper 161/2015.                    pr/​date/2015/html/pr150618.en.html.

                                                                                                                               15
Sie können auch lesen