Das Energiesystem resilient gestalten - Maßnahmen für eine gesicherte Versorgung - Union der deutschen ...

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Mai 2017
Stellungnahme

           Das Energiesystem resilient gestalten

           Maßnahmen für eine gesicherte Versorgung

           Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina | www.leopoldina.org
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Redaktion
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Wissenschaftliche Koordination
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Produktionskoordination
Marie-Christin Höhne, acatech

Gestaltung und Satz
Atelier Hauer + Dörfler GmbH, Berlin

Druck
Königsdruck, Berlin

ISBN: 978-3-8047-3668-9

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­detaillierte ­bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Energiesystem resilient gestalten

Maßnahmen für eine gesicherte Versorgung
Vorwort   3

Vorwort

Im Stromnetz läuft nicht immer alles störungsfrei: Kabelschäden und Kurzschlüsse
sind keine Seltenheit, manchmal müssen auch ganze Kraftwerke abgeschaltet werden.
Von den meisten Vorfällen erfahren wir nichts, weil die Stromversorgung trotzdem
stabil bleibt. Das liegt auch daran, dass es mehr Stromerzeuger, Transformatoren oder
Leitungen gibt als für den Normalbetrieb erforderlich sind. Es spielt daher zunächst
keine Rolle, weshalb eine Leitung ausfällt. Bis der Schaden behoben ist, kann der Strom
über eine andere weiterlaufen.

Solche Redundanz – doppelt hält besser – trägt maßgeblich zu einem resilienten Ener-
giesystem bei. Resilient bedeutet, dass das System auch unter Belastungen funktions-
fähig bleibt und Energie bereitstellt. Bislang ist die Stromversorgung nur in wenigen
anderen Ländern so zuverlässig wie in Deutschland. Allerdings wandelt sich das Ener-
giesystem derzeit tiefgreifend. Einige dieser Entwicklungen machen es verwundbarer:
Intelligente Stromzähler und -netze bieten neue Angriffspunkte, um die Stromversor-
gung mit vergleichsweise einfachen Mitteln zu sabotieren. Gleichzeitig werden Wärme-,
Gas-, Strom- oder Kommunikationsnetze stärker verknüpft, so dass sich Störungen
auch auf andere Systeme ausbreiten können. Zu diesen technischen Umbrüchen kön-
nen Gefahren von außen kommen, etwa Wetter­extreme infolge des Klimawandels.

Das Energiesystem unter diesen Bedingungen resilient zu gestalten, ist eine gemeinsame
Aufgabe von Netz- und Kraftwerksbetreibern, Behörden und politischen Entscheidungs-
trägern und Wissenschaftlern. Monitoring, IT-Sicherheit und die Aufklärung über das
Verhalten in Notfällen gehören zu den Handlungsfeldern, die ebenfalls in dieser Stellung-
nahme des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) adressiert werden.

Ausgangspunkt der hier formulierten Handlungsoptionen waren Szenarien, die beispiel-
haft illustrieren, wie einzelne Ereignisse oder Entwicklungen Kettenreaktionen auslösen
und Teile der Energieversorgung unterbrechen oder die Energiewende ins Stocken
bringen könnten. Ausführlicher beschrieben sind sie in der Analyse Das Energiesystem
resilient gestalten. Szenarien – Handlungsspielräume – Zielkonflikte. Den Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern, die beide Publikationen erarbeitet haben, danken
wir ebenso herzlich wie den Gutachterinnen und Gutachtern dieser Stellungnahme.

  Prof. Dr. Jörg Hacker         Prof. Dr. Dieter Spath        Prof. Dr. Dr. Hanns Hatt
          Präsident                      Präsident                      Präsident
    Nationale Akademie der      acatech – Deutsche Akademie   Union der deutschen Akademien
  ­Wissenschaften Leopoldina     der Technikwissenschaften          der Wissenschaften
Inhalt      5

Inhalt

      Zusammenfassung.................................................................... 6

1	Ein resilientes Energiesystem –
   was ist das und was nützt es?.................................................. 9

2	Neue Belastungen und Verwundbarkeiten –
   was ­könnte ­passieren?........................................................... 11

      2.1 Sabotage und Anschläge........................................................................................ 12
      2.2 Naturgefahren infolge des K  ­ limawandels.............................................................. 13
      2.3 Rohstoffknappheiten durch ­internationale Risiken............................................... 14
      2.4	­Ungeeignete E­ nergieinfra­struktur durch falsche Investitionsanreize.................... 15

3     Mehr als die Summe ihrer Teile: die Resilienzstrategie.......... 17

4     Maßnahmen........................................................................... 20

      4.1    Monitoring – von der Risiko­analyse zum Resilienz-­Monitoring..............................22
      4.2    Partizipation und ­Lastenausgleich......................................................................... 23
      4.3    Stärkung von Ressourcen­effizienz und -flexibilität................................................ 25
      4.4    Diversifizierung...................................................................................................... 27
      4.5    Redundanzen......................................................................................................... 28
      4.6    Puffer, Speicher und Reserven............................................................................... 30
      4.7    Dezentralität und ­funktionsfähige Teilsysteme...................................................... 32
      4.8    Information und Aufklärung der Bevölkerung....................................................... 33
      4.9    Notfallregelungen.................................................................................................. 34
      4.10   Lernen.................................................................................................................... 35

5	Wer koordiniert? ­Systemische ­Steuerung als ­Erfordernis...... 37

      Literatur.................................................................................. 39

      Das Akademienprojekt........................................................... 43
6   Zusammenfassung

    Zusammenfassung

    Mit der Energiewende betritt Deutschland       Wenn der Klimawandel ­voranschreitet,
    in vielen Bereichen unbekannte Pfade.          kann die Versorgung mit russischem
    Der damit verbundene sozio-technische          Erdgas ausfallen, weil Permafrostböden
    Umbruch macht das Energiesystem zu-            auftauen und damit Gasleitungen unter-
    nehmend komplex. Einige Beispiele: Ver-        brechen. Gleichzeitig wachsen mit der
    braucherinnen und Verbraucher werden zu        Umsetzung der Energiewende die Ansprü-
    „Prosumentinnen und Prosumenten“, die          che an die Energieversorgung. Im Kern
    auch Strom ins Netz einspeisen. Stromer-       lauten sie: „grüne Energie“ zu bezahlba-
    zeuger genauso wie Verbraucher können          ren Preisen und bei gleichbleibend hoher
    durch intelligente Netze digital gesteuert     Versorgungssicherheit. Umso drängender
    werden. Durch unterschiedliche Techniken       stellt sich die Frage: Wie kann das im Um-
    wie Elektromobilität oder das Herstellen       bau befindliche deutsche Energiesystem
    von synthetischem Gas als Speichermedi-        weiterhin ein hohes Maß an Versorgungs-
    um werden die Sektoren Strom, Wärme und        sicherheit gewährleisten?
    Mobilität stärker miteinander verknüpft.
                                                          Vor diesem Hintergrund erfordert
           Dieses Mehr an Komplexität ver-         eine vorausschauende Energiepolitik ne-
    spricht das künftige Energiesystem in          ben klassischen Risiko- und Kostenana-
    vielerlei Hinsicht effizienter und flexibler   lysen eine Resilienzstrategie. Resilienz
    zu machen. So können intelligente Strom-       bedeutet, dass ein System seine Funkti-
    netze dazu beitragen, den Verbrauch bes-       onsfähigkeit auch unter hoher Belastung
    ser auf die wetterabhängig schwankende         aufrechterhält oder nach Versagen schnell
    Einspeisung aus Windrädern und Pho-            wiederherstellt und aus solchen Vorgän-
    tovoltaikanlagen abzustimmen. Gleich-          gen lernt. In dieser Stellungnahme wird
    zeitig wird es schwieriger, Gefährdungen       Resilienz als Gewährleistung der Versor-
    der Versorgungssicherheit abzuschätzen.        gungssicherheit im Rahmen der Energie-
    Je komplexer ein System ist, desto mehr        wende verstanden.
    Ansatzpunkte gibt es für unvorhersehbare
    Störungen, und desto eher können Proble-               Weil nicht vorhersehbar ist, welche
    me, die in einem Teilbereich auftauchen,       Ereignisse und Entwicklungen im Wech-
    das gesamte System beeinträchtigen. Über       selspiel von internen und externen Ein-
    intelligente Stromzähler (Smart Meter)         flüssen zu massiven Störungen der Ener-
    können Haushalte zum Einfallstor für An-       gieversorgung führen könnten, müssen
    griffe auf das Gesamtsystem werden. Zu         Schutzkonzepte über den wahrscheinli-
    vielen dieser Gefährdungen liegen kaum         chen und erwartbaren Störfall hinausge-
    Erfahrungen vor. Dazu trägt bei, dass die      hen. Resilienzstrategien setzen genau hier
    Energiewende das System vergleichsweise        an. Sie dienen dazu, Systeme so zu ertüch-
    schnell tiefgreifend verändert.                tigen, dass sie auch bei unwahrscheinli-
                                                   chen und überraschenden Belastungen
          Belastungen entstehen auch durch         ihre Funktionsfähigkeit und Lernfähigkeit
    „externe“ Faktoren: Dazu zählen nicht nur      aufrechterhalten beziehungsweise kurz-
    Hackerangriffe auf die Energieversorgung.      fristig wiederherstellen können.
Zusammenfassung       7

       Notwendig sind dafür Maßnahmen,               Monitoring dient dazu, Schwach-
die gegenüber möglichst vielen verschiede-    stellen und Gefährdungen des Ener-
nen Belastungen wirken. Eine probate Me-      giesystems zu identifizieren. Hier kann
thode, Handlungsspielräume auszuloten         auf Erkenntnisse des Risikomanagements
und geeignete Maßnahmen zu identifizie-       zurückgegriffen werden. Um auch uner-
ren, sind Szenarien. In dieser Stellungnah-   wartete Belastungen besser meistern zu
me skizzieren Kurz-Szenarien beispielhafte    können, müssen zunächst einmal Krite-
Bedrohungskonstellationen:                    rien und Methoden entwickelt werden,
                                              um die Resilienz des Energiesystems zu
•   Sabotage und Anschläge                    messen. Zweckmäßig ist ein regelmäßiges
•   Naturgefahren infolge des                 Monitoring des gesamten Energiesystems.
    Klimawandels
•   Rohstoffknappheiten durch                        Partizipation und Lastenausgleich
    internationale Risiken                    tragen dazu bei, dass die Zivilgesellschaft
•   Ungeeignete Infrastruktur durch           die Energiewende und den Bau nötiger
    falsche Investitionsanreize               Infrastruktur akzeptiert oder unterstützt.
                                              Mittel dafür sind Bürgerforen, Ombuds-
Eine Resilienzstrategie muss auch die         stellen, ein möglicher Entschädigungs-
Möglichkeit einer Kombination solcher         fonds für Belastungen durch den Bau von
(und weiterer) Szenarien berücksichtigen.     Infrastruktur oder Möglichkeiten finanzi-
Für kombinierte Szenarien gilt das Glei-      eller Teilhabe.
che wie für die einzelne Bedrohung: Zwar
ist es unwahrscheinlich, dass eine der hier          Für Elektroautos und Elektrolyseu-
ausgeführten Bedrohungskonstellationen        re sind Seltene Erden und Metalle notwen-
genau so eintritt wie beschrieben. Je mehr    dig, die Deutschland importiert. Um hier
Konstellationen allerdings möglich sind,      Engpässe auf dem Rohstoffmarkt und die
und bei komplexen Systemen wächst de-         Abhängigkeit von einzelnen Lieferländern
ren Zahl rapide, desto wahrscheinlicher       zu reduzieren, ist es sinnvoll, das Recycling
wird es, dass irgendeine davon eintritt.      etwa von Platingruppenmetallen und das
                                              Entwickeln von Ersatzstoffen voranzutrei-
      Eine Resilienzstrategie umfasst die     ben. Eine wichtige Grundlage dafür sind
vier Handlungsfelder:                         ausreichende Finanzierung der Forschung
                                              und verbesserte Gesetze und Standards.
•   Risiken und Schwachstellen
    identifizieren                                   Durch die Diversifizierung von
•   Das System robust und vorsorgend          Anlagen zur Stromerzeugung können Ri-
    gestalten                                 siken gestreut werden. Windräder sind
•   Ausfälle überbrücken und die              nicht von Hitzewellen betroffen und Gas-
    Systemleistung wiederherstellen           kraftwerke können dann Strom erzeugen,
•   Flexible und adaptive Systeme             wenn weder der Wind weht, noch die Son-
    aufbauen                                  ne scheint. Standards können mit verhin-
                                              dern, dass intelligente Netze oder Zähler
Umsetzen lässt sich die Resilienzstrategie    mit identischer Software ausgestattet wer-
mit Maßnahmen. Deren Ausgangspunkt            den, was sie anfälliger gegenüber Hacker-
sind oft Kooperationen: zwischen Behör-       angriffen macht.
den und Energieversorgern oder Netzbe-
treibern, vor allem aber zwischen Staaten.           Redundanz bedeutet, Leitungen, Ge-
Fast alle der folgenden zehn Typen von Re-    neratoren und andere Elemente häufiger
silienzmaßnahmen für das Energiesystem        zu installieren als für den Normalbetrieb
werden durch Kooperationen wirksamer:         nötig. Dann bleibt die Versorgung auch er-
8   Zusammenfassung

    halten, wenn einige dieser Elemente aus-               Lernen ist wichtig, um das System
    fallen. Wenn Daten in intelligenten Netzen      stets an neue Rahmenbedingungen an-
    stets mehrfach und über verschiedene Ka-        zupassen. Dafür ist es hilfreich, Ausfälle
    näle übermittelt werden, sind Manipulatio-      genauso zu dokumentieren wie „Beina-
    nen durch Hacker weniger wirksam.               he-Katastrophen“. Kritische Situationen
                                                    können durch Simulationen vorwegge-
           Puffer, Speicher und Ressourcen          nommen werden. Hierfür müssen Mo-
    aller Art können kurzfristige Engpässe ab-      delle weiter und neuentwickelt und Netz-
    fangen. Dazu zählen Erdgasspeicher oder         und Kraftwerksbetreiber damit vertraut
    Lager von Metallen. Dazu zählen aber            gemacht werden.
    auch unverplante Ressourcen wie Repa-
    ratureinheiten oder „Springer“, die bei                Angesichts der Vielfalt möglicher
    Bedarf schnell eingesetzt werden können.        Belastungen im künftigen Energiesystem
    In Stromnetzen könnten „Systembeobach-          ist damit zu rechnen, dass eine erfolgver-
    ter“ zum Einsatz kommen, die engen Kon-         sprechende Resilienzstrategie einer Kom-
    takt zu Reparatureinheiten halten.              bination von Maßnahmentypen bedarf.
                                                    Nicht in jeder Situation greift die gleiche
            Wenn das Gesamtsystem als Sum-          Maßnahme oder Maßnahmenkombina-
    me für sich funktionsfähiger Teilsysteme        tion. Resilienzförderung erfordert Maß-
    angelegt wird, sinkt das Risiko, dass Aus-      nahmen, die auf Rahmenbedingungen
    fälle sich großräumig ausbreiten. Ein sol-      und Akteure zugeschnitten sind. Das
    ches „zelluläres Design“ setzt voraus, dass     Energiesystem sollte als lernendes Sys-
    Stromerzeuger, Speicher, aber auch Repa-        tem gestaltet werden, das auf Ereignisse
    ratureinheiten räumlich verteilt und auch       und Entwicklungen flexibel und adaptiv
    die Netze intelligent verknüpft werden.         reagieren kann. Dies erfordert unter an-
                                                    derem, die Improvisationsfähigkeit von
           Information und Aufklärung der Be­       Akteuren zu stärken.
    völkerung können dazu beitragen, dass die
    Folgen von Versorgungsausfällen weniger                 Ein wichtiges Bewertungskriterium
    dramatisch ausfallen. Erfahrungen aus           für Resilienzmaßnahmen ist deren Effizi-
    Großbritannien zeigen, dass Unterricht und      enz in einer Langfristperspektive. Schließ-
    Schulungen signifikante Wirkung zeigen.         lich kostet Resilienz zunächst einmal Geld.
    Ebenfalls zur Versorgungssicherheit bei-        Eine allzu kurzfristige Perspektive ist dabei
    tragen können Kampagnen für Energieeffi­        allerdings problematisch. Langfristig ist
    zienz oder für das Installieren lokaler Spei-   Resilienz eine lohnende Investition. Wich-
    cher, um das System flexibler zu machen.        tig ist daher ein Wechsel der Perspektive:
                                                    weg von kurzfristiger Optimierung hin zu
          Mit Notfallregelungen lassen sich         langfristigem, strategischem Denken. Es ist
    Störungen überbrücken und der Betrieb           die Aufgabe der Politik, diesen Perspektiv-
    des Systems schneller wiederherstellen.         wechsel voranzutreiben und die Förderung
    Digitale Notbetriebs-Infrastrukturen kön-       von Resilienz so zu steuern, dass Maßnah-
    nen einspringen, wenn beispielsweise die        men und Akteurs-Verantwortlichkeiten
    Hauptrechner zerstört wurden. Verteilnet-       bestmöglich aufeinander abgestimmt sind.
    ze könnten so umgebaut werden, dass bei
    Störungen stufenweise Verbraucher ab-
    gekoppelt werden können. Dabei würden
    weniger wichtige Verbraucher wie Leucht-
    reklamen zuerst, essenzielle Verbraucher
    wie Feuerwehrzentralen dagegen nie von
    der Versorgung getrennt.
                      Ein resilientes Energiesystem – was ist das und was nützt es?                 9

1	Ein resilientes Energiesystem – was ist das
   und was nützt es?

Am 23. Dezember 2015 gingen in der                            Dienstleistungsunternehmen in Deutsch-
westlichen Ukraine die Lichter aus. Ha-                       land ist eine zuverlässige Versorgung ein
ckern war es gelungen, Schadsoftware in                       primäres Anliegen:3 Versorgungssicher-
die Computersysteme dreier ukrainischer                       heit ist ein Standortvorteil. Auch deshalb
Stromversorger einzuschleusen und so                          ist das Stromnetz heute schon so ausge-
mehrere Umspannwerke vom Netz zu                              legt, dass selbst bei Höchstlast einzelne
trennen. Gleichzeitig löschten sie Sys-                       Leitungen oder Kraftwerke ausfallen kön-
temdateien und legten das Callcenter ei-                      nen, ohne dass es zu einem großräumigen
nes der Versorger lahm, damit dieser sich                     Stromausfall kommt.
nicht durch Anrufe betroffener Kundin-
nen und Kunden ein Bild vom Ausmaß der                               Mit der Energiewende wird diese
Ausfälle machen konnte. Nach rund drei                        hochtechnisierte und vernetzte Infra-
Stunden gelang es den Verteilnetzbetrei-                      struktur komplett umgebaut. Dadurch
bern, die Versorgung wiederherzustellen.                      wird die Versorgung in mancher Hinsicht
Bis dahin waren über 200.000 Haushalte                        robuster: Schon heute sind die Millio-
vom Strom abgeschnitten.1                                     nen von Wind- und Photovoltaikanlagen
                                                              physisch schwerer auszuschalten als die
       Der erste bekanntermaßen von Ha-                       wenigen hundert Großkraftwerke, die in
ckern ausgelöste Stromausfall zeigt: Der                      den neunziger Jahren den Strom liefer-
Wandel des Energiesystems macht Belas-                        ten. Gleichzeitig entstehen jedoch neue
tungen möglich, die es davor nicht gege-                      Verwundbarkeiten: Windrädern und
ben hat. Dass die Energie- und insbeson-                      Photovoltaikanlagen fehlen die rotieren-
dere die Stromversorgung in Deutschland                       den Massen der Turbinen von Gas-, Koh-
in den letzten Jahrzehnten äußerst zuver-                     le- oder Kernkraftwerken, die zur Stabili-
lässig funktioniert haben, ist keine Garan-                   sierung der Netzfrequenz beitragen. Vor
tie, dass das auch so bleibt. Und dass die                    allem aber schwankt die Erzeugung von
deutsche Bevölkerung die Energiewende                         Strom aus erneuerbaren Energien wet-
mehrheitlich weiter befürwortet, bedeu-                       terbedingt und damit unabhängig vom
tet nicht, dass die Ansprüche an die Ver-                     Verbrauch. Um hier für mehr Flexibili-
sorgung sinken. Von den zentralen Zielen                      tät zu sorgen, werden intelligente Netze
der Energiewende sind Bezahlbarkeit und                       und Zähler eingeführt. Vernetzte Haus-
Versorgungssicherheit den Bürgerinnen                         haltsgeräte können zu einem weiteren
und Bürgern die wichtigsten.2 Das Ideal                       Einfallstor für digitale Angriffe auf das
lautet: „grüne Energie“ zu möglichst gerin-                   Energiesystem werden.4
gen Kosten bei gleichbleibend hoher Ver-
sorgungssicherheit. Vielen Industrie- und
                                                              3   Das zeigt sich beispielsweise daran, dass 2016 rund
                                                                  die Hälfte von über 2000 befragten ­Unternehmen
                                                                  Maßnahmen zur Absicherung gegen Stromausfälle
1   Vgl. E-ISAC/Sans 2016.                                        durchführte oder plante (vgl. DIHK 2016, S. 19).
2   In den Ergebnissen einer FORSA-Umfrage bewerten           4   Im Oktober 2016 benutzten Hacker vernetzte Kame��-
    die Befragten die Kosten als wichtiger als Versorgungs-       ras, Drucker und Babyphones, um Internetdienste wie
    sicherheit und Umweltfreundlichkeit (vgl. Forsa 2016).        Amazon oder Netflix durch Überlastung unbenutzbar
    In anderen Umfragen steht die Versorgungssicherheit           zu machen. Auch mit solchen Methoden könnten
    an erster Stelle (vgl.­Schubert et al. 2013, S. 36).          Hacker eines Tages das Energiesystem angreifen.
10   E in resilientes Energiesystem – was ist das und was nützt es?

            Dabei wird das System immer kom-                        oder zumindest innerhalb kurzer Zeit wie-
     plexer: Dafür sorgen immer mehr Anla-                          derhergestellt werden kann, ist ein resili-
     gen und Stromversorger sowie neue Ver-                         entes Energiesystem. Dem Vorsorgeprinzip
     bindungen und Schnittstellen zwischen                          entsprechend sollte auch die Energiewende
     Strom-, Wärme-, Gas- und Kommunika-                            in Deutschland um eine Resilienzstrategie
     tionsnetzen oder Wasserstofftankstellen.                       ergänzt werden. Sie sollte sich in eine allge-
     Verglichen mit den letzten Jahrzehnten                         meine Nachhaltigkeitsstrategie einfügen.6
     des 20. Jahrhunderts verändert sich das
     System zudem immer schneller. Damit die
     Versorgung weiterhin reibungslos funkti-                           Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, seine
     oniert, müssen Technik, regulatorischer                            Funktionsfähigkeit unter Belastungen auf-
     Rahmen und das Verhalten der Nutzerin-                             rechtzuerhalten beziehungsweise kurzfristig
     nen und Nutzer zusammenpassen. Doch je                             wiederherzustellen.
     komplexer und dynamischer ein System,
     desto weniger lassen sich die Auswirkun-
     gen einzelner Störfaktoren und ihre Wech-                             Mit „System“ ist dabei ein sozio-
     selwirkungen im Vorhinein einschätzen.                         technisches System gemeint, in dem
                                                                    auch psychologische, soziale und öko-
            Unter diesen Bedingungen werden                         nomische Logiken gelten. Im Folgenden
     sogenannte „schwarze Schwäne“ wahr-                            wird skizziert, wie die Versorgungssicher-
     scheinlicher. Dabei handelt es sich um                         heit dieses Systems gewährleistet werden
     wirkmächtige Ereignisse, die sich schlecht                     kann. Die Rahmenbedingungen ändern
     quantifizieren und prognostizieren lassen                      sich dabei laufend. Zum einen wird das
     und überraschend eintreffen5 – wenn                            Energiesystem selbst in hoher Geschwin-
     schon nicht für einzelne Fachleute, so für                     digkeit umgebaut. Zum anderen gewin-
     die handelnden Personen. In der Regel                          nen bestimmte äußere Faktoren an Be-
     lassen sich „schwarze Schwäne“ erst im                         deutung; es ist sehr wahrscheinlich, dass
     Nachhinein erklären. Ein Beispiel ist das                      Klimawandel oder Terrorismus zu ihnen
     Ozonloch: Dieses hatte niemand vorher-                         zählen. Der Fokus auf Künftiges ist des-
     gesehen, obwohl grundsätzlich bekannt                          halb wichtig, weil die Energiewende ein
     war, dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe                         langfristiges Projekt ist, dessen Zielvor-
     in der Atmosphäre zum Abbau von Ozon                           gaben bis in das Jahr 2050 reichen.7 Das
     führen. Gegenüber derartigen Belastun-                         ist auch der Zeithorizont der Belastungen
     gen stößt klassisches Risikomanagement                         und Resilienzmaßnahmen, die im Folgen-
     an seine Grenzen.                                              den skizziert werden. Dabei wird voraus-
                                                                    gesetzt, dass die bundesdeutsche Politik
           Abhilfe schafft hier eine Resili-                        an den Zielen der Energiewende festhält.
     enzstrategie. Ein Energiesystem, dessen
     Funktion – hier die Versorgungssicher-
     heit – unter Belastungen erhalten bleibt

     5   Zur Definition des Begriffs „Schwarzer Schwan“ vgl.
         Taleb 2007, S. xvii-xix. Deutlich weiter gefasst ist die   6    In der „Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie“, die das
         Definition des Begriffs „schwarzer Schwan“ in einer             Bundeskabinett im Januar 2017 beschlossen hat,
         vom Bundeswirtschaftsministerium beauftragten                   spielt die Versorgungssicherheit im Abschnitt zum
         Studie zum Risikomanagement für die Energiewende                Thema Energie zwar eine Rolle, der Begriff „Resilienz“
         (siehe Prognos/ewi/GWS 2016). Sie werden dort darin             wird an dieser Stelle aber nicht genannt (vgl. Bundes-
         zwar als unerwartete und überraschende Ereignisse               regierung 2017, S. 113−121).
         definiert, die die Zielerreichung der Energiewende         7    Für die Ziele der Energiewende vgl. Umbach 2015,
         gefährden könnten. Im Folgenden werden aus 150                  S. 11−15. Zwei der wichtigsten quantitativen Ziele
         „schwarzen Schwänen“, die in einer Literaturanalyse             lauten, dass die Treibhausgasemissionen um 80 bis
         und in Experteninterviews identifiziert wurden, 15              95 Prozent bis 2050 (gegenüber 1990) reduziert wer-
         „Risikocluster“ gebildet und erörtert. Viele dieser             den und der Primärenergieverbrauch bis 2050 um 50
         Ereignisse – etwa steigende Energiepreise – wären               Prozent und bis 2020 um 20 Prozent (gegenüber 2008)
         allerdings weder unerwartet, noch überraschend.                 gesenkt wird (vgl. Bundesregierung 2010, S. 4−5).
Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?                              11

2	Neue Belastungen und Verwundbarkeiten –
   was ­könnte passieren?

Ungünstige Entwicklungen oder Ereig-                            mögliche Fehlentwicklungen und Belas-
nisse können durch einzelne technische,                         tungen, die zum Teil gravierende Folgen
organisatorische und Natureinflüsse ge-                         haben können. Einige Entwicklungen sind
nauso verursacht werden wie durch die                           absehbar, etwa die wachsende Digitalisie-
Wechselwirkungen zwischen diesen. An-                           rung des Energiesystems, der zunehmen-
zahl und Ausprägung von Bedrohungs-                             de Bedarf an metallischen Rohstoffen,
szenarien lassen sich nicht vollständig                         die Zunahme des internationalen Terro-
überblicken. Allerdings lässt sich anhand                       rismus und schädliche Auswirkungen des
einiger ausgewählter Szenarien ausloten,                        Klimawandels.
an welchen Stellen Handlungsbedarf und
Handlungsspielraum für Resilienzmaß-                                   Die Bedrohungskonstellationen
nahmen besteht. Auch wenn sie nur einen                         der vier Beispielszenarien sind aus den
Ausschnitt möglicher Belastungen für das                        Bedrohungsszenarien der ESYS-Analyse
Energiesystem abbilden, liefern die Sze-                        Das Energiesystem resilient gestalten.
narien daher wichtige Hinweise, was man                         Szenarien – Handlungsspielräume –
tun kann, um das Energiesystem resilien-                        Zielkonflikte abgeleitet,9 auf der diese
ter zu machen.                                                  Stellungnahme aufbaut. Sie dienen als
                                                                exemplarische Belastungstests für die
       In dieser Stellungnahme werden                           Versorgungssicherheit im Rahmen der
vier Szenarien mit unterschiedlichen Aus-                       Energiewende. Die in den beiden erstge-
lösern skizziert:                                               nannten Szenarien beschriebenen Belas-
                                                                tungen gefährden das Energiesystem und
•   Sabotage und Terroranschläge                                damit die Versorgungssicherheit unmit-
•   Naturgefahren infolge des                                   telbar. Sie können direkt zu großräumigen
    Klimawandels                                                Stromausfällen führen. Die Szenarien zu
•   Rohstoffknappheiten infolge                                 zeitweiligen Rohstoffknappheiten und feh-
    internationaler Entwicklungen                               lenden oder fehlgeleiteten Investitionen in
•   Ungeeignete Energieinfrastruktur                            Infrastruktur dagegen beschreiben, wie die
    infolge falscher Investitionsanreize                        Energiewende ausgebremst werden kann.
                                                                Indem sie zu Engpässen führen, machen
Die narrativen Szenarien bilden beispiel-                       sie das System verwundbarer und bedro-
haft ab, was sein könnte.8 Sie sind jedoch                      hen die Versorgungssicherheit mittelbar.
keine Prognosen und sagen nichts dar-
über aus, wie wahrscheinlich es ist, dass
bedrohliche Situationen tatsächlich eintre-
ten. Vielmehr werfen sie Schlaglichter auf

8   Für qualitativ-narrative Szenarien gilt genauso wie für
    quantifizierende: Ein Szenario bringt zum Ausdruck,         9   Vgl. Renn 2017. In der Analyse ist der Gegenstand
    dass ein zukünftiger Zustand oder eine zukünftige               von Resilienz jedoch weiter gefasst: Dort ist er auf die
    Entwicklung für möglich gehalten wird; „möglich“                Energiewende als Prozess und mit ihr auf die Ziele
    be­deutet hier: konsistent mit dem aktuellen Stand des          Klimaverträglichkeit, Bezahlbarkeit, Versorgungssi-
    relevanten Wissens (vgl. acatech/Leopoldina/Akade-              cherheit sowie Ressourcenschonung, Sozialverträg-
    mienunion 2015-3, S. 9−10; Dieckhoff et al. 2014, S. 10).       lichkeit und globale Verantwortung bezogen.
12   Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?

     2.1 Sabotage und Anschläge                                schaftsstärker und dichter besiedelt die
                                                               betroffene Region ist.
     Terrorismus ist eine weltweite Gefahr.
     Energieinfrastruktur war bereits Ziel von                        Zwar wird im Zuge der Energie-
     Angriffen: Anfang der sechziger Jahre                     wende die physische Infrastruktur de-
     sprengten Mitglieder des separatisti-                     zentraler. Gleichzeitig kann deren digita-
     schen „Befreiungsausschusses Südtirol“                    le Steuerung zentraler werden. Bei einer
     rund vierzig Strommasten. Einige nord­                    weitgehend zentralen digitalen Steuerung
     italienische Industriegebiete waren da-                   von Stromerzeugern und Netzen können
     nach kurzzeitig von der Stromversorgung                   Sicherheitslücken entstehen. Das Gleiche
     abgeschnitten, Züge blieben während der                   gilt, wenn mehr Privathaushalte mit in-
     Fahrt stehen. Dass der Strom sich heut-                   telligenter Messtechnik ausgestattet sind.
     zutage auch mit IT-Kenntnissen kappen                     Selbst wenn „Secure Smart Meters“ zusätz-
     lässt, zeigt der eingangs skizzierte Hacker-              liche Datensicherheit gewährleisten, ent-
     angriff auf ukrainische Stromversorger im                 stehen dadurch mögliche neue Angriffs­
     Dezember 2015. Derartige Stromausfälle                    punkte. Dann nimmt die Verwundbarkeit
     sind umso schadensträchtiger, je wirt-                    der Infrastrukturen durch Sabotage zu.

                                               Szenario Hackerangriff

       Nehmen wir an, die öffentliche Debatte über IT-Sicherheitsrisiken für das Energiesystem ist ausgeblie-
       ben, obwohl viele Probleme unter Fachleuten bekannt waren. So hat das Bundesamt für Sicherheit in
       der Informationstechnik zwar klargestellt, dass die Unternehmen einschließlich der Kraftwerke sich nicht
       allein auf den Schutz durch den Staat verlassen dürfen, sondern sich vor allem selbst schützen müssen.
       Das Gleiche gilt für Privathaushalte, die mit ihren dezentralen Erneuerbare-Energien-Anlagen inzwischen
       einen großen Teil des Stroms in Deutschland erzeugen. Sowohl Energieversorger als auch Privathaushalte
       bekamen Sicherheitsrichtlinien zur Verfügung gestellt. Oft wurden diese aber nicht umgesetzt.

       Außerdem haben viele Energieunternehmen aus Furcht vor Imageschäden nicht über versuchte oder ge-
       lungene Hackerangriffe auf ihre Energieanlagen berichtet, obwohl sie laut dem Gesetz zur Informations-
       sicherheit dazu verpflichtet gewesen wären. Branchenweit haben deshalb Unternehmen die Gefahren
       mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen unterschätzt. Sie haben es daher versäumt, ausreichend in die
       IT-Sicherheit zu investieren, weil dies keine unmittelbaren Wettbewerbsvorteile versprach.

       Die Energieversorger sind also schlecht vorbereitet, als Hacker sich über das zentrale Portal für Betriebsda-
       ten Zugriff auf einzelne Kraftwerke sowie eine große Anzahl dezentraler Erzeugungsanlagen verschaffen.
       Dieses Portal hat die Bundesnetzagentur aufgebaut, um die Daten möglichst vieler Stromerzeuger und
       -verbraucher zu erfassen. Auf Basis dieser Daten erstellen Netzbetreiber und Energieversorger Prognosen
       zu Netzauslastung und Strombedarf. Damit schaffen sie jedoch einen „Single Point of Failure“, über den
       sich das gesamte System manipulieren lässt. Indem die Hacker überhöhte Verbrauchsprognosen einspei-
       sen, sorgen sie dafür, dass viele Kraftwerke zwischen höchster Erzeugung und Notabschaltung pendeln.

       Der Angriff verursacht neben starken Preisschwankungen an den Strombörsen auch großräumige Strom-
       ausfälle. Die Bevölkerung verliert nicht nur das Vertrauen in die Sicherheit des digital gesteuerten Ener-
       giesystems, sondern in die Energiewende als solche. Behörden und Systembetreiber führen daraufhin
       in großem Maßstab rigide Sicherheitsmaßnahmen ein, die die Energieversorgung teurer und zugleich
       weniger flexibel machen.
Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?              13

2.2 Naturgefahren infolge des                            dere freistehende Stromleitungen be-
    ­Klimawandels                                        schädigen. Überschwemmungen können
                                                         Umspannwerke und Strommasten unter-
Wetterextreme und Naturgefahren tref-                    spülen und zerstören. Häufigere Hitzewel-
fen auch das Energiesystem. Im Novem-                    len können das deutsche Energiesystem
ber 2005 froren große Mengen nassen                      und den Systemumbau stark belasten.
Schnees an Stromleitungen und Strom-                     Wenn die Permafrostböden in Sibirien
masten fest, so dass schließlich mehrere                 auftauen, könnten Erdgaspipelines be-
davon zusammenbrachen. Die Belastung                     schädigt und Lieferketten dieses wichti-
waren heftige Schneefälle in kurzer Zeit,                gen Rohstoffs unterbrochen werden.
die Schwachstelle war die veraltete Infra-
struktur: Zahlreiche Strommasten waren                          Auch selten, aber regelmäßig auf-
über 65 Jahre alt und aus sprödem und                    tretende Naturereignisse können künf-
relativ leicht brechendem Stahl. Rund                    tige Energiesysteme stark beeinträch-
250.000 Haushalte blieben tagelang ohne                  tigen: Geomagnetische Stürme können
Strom; der wirtschaftliche Schaden durch                 Transformatoren beschädigen und damit
das „Münsterländer Schneechaos“ wird                     Stromnetze zum Ausfall bringen. Und ein
auf rund 100 Millionen Euro geschätzt.                   Vulkanausbruch in der Größenordnung
                                                         des Krakatau-Ausbruchs 1883, nach dem
     Mit dem Klimawandel werden                          noch jahrelang Aschepartikel in der Atmo-
Wetterextreme wahrscheinlicher. Außer                    sphäre schwebten, würde den Ertrag an
Schnee können auch Stürme insbeson-                      Solar­energie massiv reduzieren.

                                          Szenario Hitzewellen

  Nehmen wir an, ab dem Jahr 2030 ist es durchschnittlich einmal pro Jahr so lange so heiß wie im Som-
  mer 2003. Die Hitzewellen reichen von Südfrankreich bis Russland. Kohlekraftwerke können nicht mehr
  per Schiff mit Kohle versorgt werden, weil die Pegel der großen Flüsse zu niedrig sind. Vor allem aber
  wird das verbliebene Wasser sehr warm. Aus Gründen des Gewässerschutzes darf es daher nicht mehr
  verwendet werden, um Kohle- und Gaskraftwerke zu kühlen. Die Situation verschärft sich, weil in meh-
  reren Nachbarländern Deutschlands Kühltürme fehlen, die für das Kühlen von Kraftwerken mit weniger
  Frischwasser auskommen. Dort müssen so viele Kraftwerke herunterfahren, dass die Grundlast nicht
  mehr zuverlässig bedient werden kann. Weil das deutsche Stromnetz mit dem der europäischen Nach-
  barländer verbunden ist, wird auch die deutsche Stromversorgung instabil.

  Weil sich die Hitzewellen häufen, stellen immer mehr Privatleute und Gewerbebetriebe mobile und zu-
  gleich ineffiziente Klein-Klimaanlagen auf. Der zusätzliche Stromverbrauch führt vor allem mittags zu
  neuen Lastspitzen. Diese können auch durch Solarstrom nicht vollständig ausgeglichen werden, weil die
  Produktivität von Photovoltaikzellen bei starker Hitze sinkt.

  Während der Hitzewellen bricht die Stromversorgung daher mehrfach zusammen. Zwar sind die Ausfälle
  nur vorübergehend, als Gegenmaßnahme erhöht der Gesetzgeber aber die Standards für die Kühlsyste-
  me der Gas- und der verbliebenen Kohlekraftwerke. Statt in Netze oder Speicher investieren Energiever-
  sorger nun vorrangig in Kühlsysteme älterer Kraftwerke. Das macht die Energieversorgung teurer, aber
  nicht klimafreundlicher. Unternehmen sehen die neuen Anforderungen für Kühlungen als Eingriffe in die
  Planungs- und Investitionssicherheit, die Bürgerinnen und Bürger sehen sie als Kurswechsel gegen die
  Energiewende, deren Akzeptanz damit entsprechend nachlässt.
14   Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?

     2.3 Rohstoffknappheiten durch                                     Embargos oder Kriege sind nur die
         ­internationale Risiken                                auffälligsten Ursachen für explodieren-
                                                                de Preise von Energierohstoffen. Andere
     Die Preise für Energierohstoffe sind eng                   Ursachen sind technische Probleme oder
     mit politischen Entwicklungen in den                       falsche Einschätzungen darüber, wie viel
     Lieferländern verknüpft. Ab 2006 be-                       Rohstoffe förderbar oder auch nur am
     schränkte die chinesische Regierung die                    Markt verfügbar sind. Daraus entstehen-
     Exporte Seltener Erden. Da über neun-                      de „Rohstoffhypes“ können dazu führen,
     zig Prozent der weltweit geförderten Sel-                  dass Rohstoffe wie Platingruppenmetalle11
     tenen Erden aus China stammte, folgten                     schlagartig teuer und schwerer verfügbar
     rapide Preissteigerungen: Von 2010, als                    werden. Für den Aufbau der neuen Ener-
     die Exportquoten um vierzig Prozent ge-                    gieinfrastruktur sind metallische Rohstof-
     senkt wurden, bis Mitte 2011 verzehnfach-
     ten sich die Preise für Neodym, das unter
     anderem für die Magneten in den Rotoren                    11   Zu den Platingruppenmetallen gehören die sechs
     von Windrädern verwendet wird.10                                Elemente Platin [Pt], Palladium [Pd], Ruthenium [Ru],
                                                                     Rhodium [Rh], Iridium [Ir] und Osmium [Os]. Sie
                                                                     treten als gekoppelte Elemente – vergleichbar den
                                                                     Seltenen Erden – in Lagerstätten immer zusammen
                                                                     auf. Wirtschaftlich mit Abstand am bedeutendsten sind
                                                                     Platin mit einer Weltbergbauproduktion von 190 Ton-
                                                                     nen pro Jahr und Palladium mit 210 Tonnen pro Jahr.
                                                                     Die anderen Platingruppenelemente werden nur als
     10    Vgl. Angerer et al. 2016, S. 145; BGR 2014, S. 4.         Beiprodukte bei der Platin- und Palladiumgewinnung
           Gegenüber dem Jahr 2003, in dem der „China-Preis-         produziert, von Iridium zum Beispiel 3 bis 4 Tonnen
           Boom “ begann, traten, wenn man Tagesspitzenpreise        pro Jahr. Gewonnen werden sie überwiegend aus
           berücksichtigt, sogar Preissteigerungen um den            eigenständigen Lagerstätten, teilweise auch als Beipro-
           Faktor 70 beziehungsweise über 100 auf.                   dukt in Nickellagerstätten (vgl. Renn 2017, S. 23).

                                      Szenario Platingruppenmetall-Knappheit

          Nehmen wir an, in den 2030er-Jahren fahren immer mehr Menschen Autos mit Brennstoffzellen, die
          Wasserstoff als Energieträger nutzen. Dadurch werden Platingruppenmetalle sehr wichtig. Sie werden
          für die Brennstoffzellen ebenso benötigt wie für die Elektrolyseure, die den Wasserstoff herstellen. Die
          Nachfrage nach Platingruppenmetallen wächst daher rapide.

          Südafrika, eines der wichtigsten Lieferländer, verhängt jedoch einen Exportstopp für Platingruppenme-
          talle, weil es die Produktion von Elektrolyseuren im eigenen Land vorantreiben will. In Russland, Simbab-
          we und den USA, wo die Produktion erhöht werden sollte, streiken die Bergleute. Sie fordern, dass die
          Gehälter mit den gestiegenen Gewinnen der Bergbaugesellschaften mitziehen. Neue Lieferanten wird es
          auf absehbare Zeit nicht am Markt geben. Die Exploration weiterer Lagerstätten von Platingruppenme-
          tallen in Indonesien, dem Oman oder den Philippinen kommt aufgrund lokaler Proteste gegen Umwelt-
          schäden und einen befürchteten sozialen Abstieg der Anwohnerinnen und Anwohner ebenfalls nicht
          voran. Wasserstoff-Langzeitspeicher oder Brennstoffzellen, die ohne Platingruppenmetalle auskommen,
          wurden bisher nicht mit Nachdruck entwickelt. Sie stehen mindestens kurzfristig nicht zur Verfügung.

          Unmittelbar ist die Versorgungssicherheit in Deutschland nicht gefährdet. Weil durch den anhaltenden
          Engpass bei Platingruppenmetallen Wasserstoff teuer wird, gerät jedoch die Energiewende ins Stocken.
          Dazu trägt bei, dass die medialen Debatten über Metallknappheit einen Stimmungsumschwung verursa-
          chen: Viele Menschen glauben nicht mehr, dass die Energiewende gelingen kann: Die Proteste gegen den
          notwendigen Ausbau der Energieinfrastruktur nehmen zu, Investitionen in klimafreundlichere Technik
          nehmen ab.
Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?     15

fe die wichtigste Gruppe.12 In Deutsch-                     Interessenkonflikte zwischen regio-
land werden entsprechende Metalle nicht              naler, nationaler und europäischer Politik,
abgebaut; bei den Primärrohstoffen ist               die sich in einem längeren Entscheidungs-
Deutschland daher vollständig von Impor-             stau niederschlagen, wachsende Proteste
ten abhängig. Daher kann es problema-                gegen den Bau neuer Energieinfrastruktur
tisch werden, wenn rohstoffexportierende             wie Stromtrassen oder Windparks oder
Länder die Ausfuhr beschränken oder es               wechselnde Positionen zur Energiewende
dort zu Protesten gegen den Rohstoffab-              auf Regierungsebene belasten das Ener-
bau kommt. Beides kann zu Rohstoffeng-               giesystem gleichermaßen. Solche Entwick-
pässen in Deutschland führen.                        lungen können Investoren verunsichern
                                                     und damit den notwendigen Aus- und Um-
                                                     bau von Energieinfrastruktur verhindern.
2.4	­Ungeeignete ­Energieinfra­struktur
     durch falsche Investitionsanreize                      Kombinationen der aufgeführten
                                                     und anderer Bedrohungsszenarien sind
Die Politik eines Landes kann auch dessen            ebenfalls möglich. Ein Beispiel sind ter-
eigene Versorgungssicherheit gefährden:              roristische Angriffe auf ein durch Extrem-
Im Zug der Deregulierung des kaliforni-              wetter bereits belastetes Energiesystem,
schen Strommarkts ab 1996 waren die                  das aufgrund unzureichender Investi­
etablierten Versorger angewiesen wor-                tionen zu wenige „Puffer“ für Ausfallsi-
den, zahlreiche ihrer Kraftwerke zu ver-             tuationen bereithält. Würden solche oder
kaufen. Den größten Teil des Stroms, den             andere Bedrohungsszenarien unvorbe-
sie ab dann lieferten, mussten sie davor             reitet Wirklichkeit werden, könnte dies
selbst einkaufen. Allerdings wurden nur              zu Krisen führen, die nur sehr schwer zu
die Großhandelspreise für Strom liberali-            bewältigen wären. Für kombinierte Sze-
siert, während die Endkundenpreise gede-             narien gilt das Gleiche wie für die einzelne
ckelt blieben. Unter diesen Bedingungen              Bedrohung: Es ist zwar unwahrscheinlich,
konnten Kraftwerksbetreiber ihre Profite             dass eine spezielle Bedrohungskonstel-
steigern, indem sie Kraftwerke abschal-              lationeintritt. Je mehr Konstellationen
teten und damit das Angebot künstlich                allerdings möglich sind, desto wahr-
verknappten. In den Jahren 2000 und                  scheinlicher wird es, dass einer von vielen
2001 waren die etablierten kalifornischen            möglichen Effekten dieser Kombinatio-
Stromversorger zahlungsunfähig, und es               nen eintritt, der zum Ausfall der Versor-
kam zu rollierenden Abschaltungen und                gung führen kann.
großflächigen Stromausfällen. Der wirt-
schaftliche Schaden durch die „kaliforni-
sche Energiekrise“ wird auf über 40 Milli-
arden US-Dollar geschätzt.13

12   Vgl. Angerer et al. 2016.
13   Vgl. Weare 2003, Schätzung der Kosten S. 3−4.
16   Neue Belastungen und Verwundbarkeiten – was ­könnte passieren?

                                             Szenario Investitionsstau

       Nehmen wir an, obwohl die Bundesregierung in den Jahren 2014 bis 2016 das Marktdesign für den Strom-
       sektor in einer breit angelegten Diskussion erarbeitet hat, ändern wechselnde Regierungskoalitionen die-
       ses Design in den Jahrzehnten darauf immer wieder. Vor allem über die Förderung von erneuerbaren
       Energien und Energieeffizienz sowie das Vorhalten von flexiblen Kraftwerken oder Speichern herrscht
       Uneinigkeit. An die neuen Anforderungen eines Energiesystems mit wachsenden Anteilen dezentraler
       erneuerbarer Energien in intelligent vernetzten Systemen (Strom, Wärme, Verkehr) werden die Energie-
       märkte nicht ausreichend angepasst. Die nötigen Investitionsanreize bleiben aus.

       Das blockiert den notwendigen Umbau des Kraftwerksparks: Ineffiziente alte Kohlekraftwerke werden
       nach entsprechender Prüfung durch die Bundesnetzagentur durch Subventionen am Leben gehalten, weil
       sie systemrelevant sind. Gleichzeitig werden moderne Gas- und Kraft-Wärme-Kopplung-Kraftwerke durch
       die Betreiber stillgelegt, weil sie sich angesichts ihrer immer selteneren Einsätze nicht mehr rechnen.

       Parallel dazu wurde versäumt, die Netze auszubauen sowie die Entwicklung und den Einsatz von Ener-
       giespeichern voranzutreiben. Angesichts des rasant zunehmenden Anteils schwankend einspeisender
       erneuerbarer Energien sinkt die Versorgungssicherheit des Energiesystems zusehends. In der Folge fällt
       der Strom immer häufiger aus. Nachrichten über Versorgungsstörungen und ihre echten oder vermeint-
       lichen Ursachen verbreiten sich über Twitter rasant. Blogger und auch einige Politiker machen ebenfalls
       in sozialen Medien Stimmung gegen die Energiewende als Grund der Störungen. Das Verhältnis zwischen
       Energiepolitik und Energiewirtschaft ist gestört, die Stabilität der Energieversorgung durch unkontrollier-
       te oder fehlgeleitete Veränderungen der Energieinfrastruktur gefährdet und die Gesellschaft nicht länger
       bereit, sich auf weitere „Energiewende-Experimente“ einzulassen.
Mehr als die Summe ihrer Teile: die Resilienzstrategie                 17

3       Mehr als die Summe ihrer Teile: die Resilienzstrategie

Zwar sind bestimmte Entwicklungen, die                      die genannten Maßnahmentypen fokus-
für das Energiesystem bedrohlich werden                     siert als das internationale Modell.15 Ihre
könnten, absehbar. Die Einzelereignisse                     vier Handlungsfelder ergänzen sich und
und ihre Abfolge, für die vier mögliche                     bauen aufeinander auf. Allerdings ist es
Entwicklungen beispielhaft skizziert wur-                   möglich, einzelnen der vier Handlungsfel-
den, sind es aber nicht. Hinzu kommt die                    der ein stärkeres und anderen ein weniger
Gefährdung durch die genannten „schwar-                     starkes Gewicht beizumessen.
zen Schwäne“. Überraschende, neue und
unterschätzte Ereignisse hebeln Präven­ti­                         Risiken und Schwachstellen
onsmaßnahmen aus, die auf spezielle Be-                     identifizieren: Idealerweise sollen Be-
lastungen zugeschnitten sind.                               lastungen für die Energieversorgung
                                                            schon neutralisiert werden, bevor sie sich
       Im Folgenden geht es daher nicht da-                 auswirken können. Außer technischen Be-
rum, bestimmten Risiken mit einer auf sie                   lastungen können das auch Faktoren wie
zugeschnittenen Strategie oder gar punk-                    unzureichende Investitionen in die Infra-
tuellen Gegenmaßnahmen beizukommen –                        struktur sein. Dazu gehört, sie zu identifi-
das wäre klassisches Risikomanagement.                      zieren und ihre potenziellen Auswirkun-
Eine Resilienzstrategie ist nicht auf erwart-               gen auf das Energiesystem zu untersuchen
bare externe Belastungen fokussiert. Ihr                    (Risikoanalyse). Des Weiteren müssen
Ziel ist es vielmehr, das System so robust                  Schwachstellen im System identifiziert
zu gestalten, dass es seine Funktionsfähig-                 werden (Vulnerabilitätsanalyse). Daten
keit erhalten oder – egal was passiert – so                 aus dem Monitoring des Energiesystems
schnell wie möglich wiederherstellen kann.                  und den Dokumentationen vergangener
Sie trägt dazu bei, mit unterschiedlichsten                 Krisen können dazu beitragen, Simula-
Belastungen umzugehen, auch mit unter-                      tionsmethoden zu verbessern. Aus den
schätzten („graue Schwäne“) und schwer                      Ergebnissen können wirksame Präventi-
prognostizierbaren und überraschenden                       vmaßnahmen und neue Vorgaben für die
(„schwarze Schwäne“).14                                     Planung von Energieinfrastrukturen abge-
                                                            leitet werden.
       Die im Folgenden skizzierte Resili-
enzstrategie unterscheidet sich vom Ab-                           Das System robust und vorsor-
lauf des Verhaltens resilienter Systeme,                    gend gestalten: Belastungen sollen die
der in internationaler Literatur beschrie-                  Funktion des Systems nur minimal beein-
ben wird. Sie wurde für diese Stellung-                     trächtigen. Redundanz, also das Vorhal-
nahme entwickelt und ist stärker auf die                    ten von mehr Betriebsmitteln als für den
Handlungsspielräume der Akteure und                         Normalbetrieb notwendig, oder andere

14   Auch daher ist im Folgenden die Rede von „schwarzen    15   Dieser Ablauf besteht ebenfalls aus vier Feldern,
     Schwänen“ und nicht von „Dragon Kings“. Der Fokus           die sich allerdings auf das System und nicht auf die
     dieses alternativen Konzepts, das der Physiker und          systemgestaltenden Akteure beziehen. Die Felder
     Risikoforscher Didier Sornette entwickelt hat, liegt        heißen „Absorbing“, „Recovering“, „Adapting Through
     mehr auf den unwahrscheinlichen Ereignissen und             Self-organization and Learning“ und „Transforming
     Methoden, sie näherungsweise zu prognostizieren             into a Different System by Altering Structures, Func-
     (vgl. zum Beispiel Sornette 2009).                          tions and Feedback Loops“ (Kröger/Sansavini 2016).
18   Mehr als die Summe ihrer Teile: die Resilienzstrategie

                Risiken und Schwachstellen                               Das System robust und
                        identifizieren                                    vorsorgend gestalten

                                                                        Ausfälle überbrücken und
                   Lernende und adaptive
                                                                          Systemdienstleistung
                     Systeme aufbauen
                                                                            wiederherstellen

     Abbildung 1: Resilienzstrategie. Eigene Darstellung.

     Formen von Puffern wie Speicher oder                          Ausfälle überbrücken und
     Reparaturtrupps können Schwachstel-                    Systemleistung wiederherstellen:
     len beseitigen. Vorhandene Technik kann                Um Schäden durch einen Energieausfall
     durch alternative Lösungen ergänzt und                 lokal zu begrenzen und die Funktionen
     damit das System diversifiziert werden.                des Systems so schnell wie möglich wie-
     Dabei sollen auch Schwachstellen identi-               derherzustellen, müssen Bevölkerung und
     fiziert werden, die bislang nicht belastet             Unternehmen gut informiert und bei der
     wurden und auch noch nicht zu Ausfällen                Selbsthilfe unterstützt werden. Dazu die-
     geführt haben. Durch Analyse, Diversi-                 nen Notfallpläne und regelmäßige Übun-
     tät, Redundanz und eine möglichst offene               gen, die Zivilschutzorganisationen wie das
     und nachjustierbare Gestaltung kann das                Technische Hilfswerk organisieren kön-
     Energiesystem robuster gemacht werden.                 nen. Die kritischsten Folgen haben lang­
     Das gilt besonders, wenn neue Techno-                  anhaltende Stromausfälle, aber auch das
     logien zum Einsatz kommen oder bisher                  Unterbrechen der Wärme- und Kraftstoff-
     unabhängige Infrastrukturen miteinander                versorgung ist problematisch. Wenn das
     verknüpft werden. Bei der intelligenten                Energiesystem dezentraler wird, müssen
     Kopplung von Sektoren (Strom, Wärme,                   auch die Möglichkeiten zur Notfallversor-
     Mobilität) ist eine maximale Flexibilität bei          gung und zum Wiederaufbau der Versor-
     gleichzeitiger Minimierung gegenseitiger               gung dezentral angelegt sein. Hier können
     Abhängigkeiten das Ziel.                               auch mobile Erzeuger eine Lösung sein,
                                                            etwa Aggregate, die mit synthetischen
                                                            Treibstoffen betrieben werden können.
                                                            Bereits bestehende dezentrale Strukturen
                                                            wie lokale Strom- oder Wärmenetze müs-
                                                            sen möglicherweise angepasst werden, da-
                                                            mit sie das System stabilisieren und/oder
                                                            nach Ausfällen zu dessen Wiederherstel-
                                                            lung beitragen können.
Mehr als die Summe ihrer Teile: die Resilienzstrategie   19

       Lernende und adaptive Systeme
aufbauen: Ziel sollte sein, sowohl aus ein-
getretenen als auch aus vermiedenen Kata-
strophen zu lernen und dadurch das System
anpassungsfähig zu halten. Entscheidend
ist dabei nicht, dass die Struktur oder be-
stimmte Elemente des Energiesystems –
etwa Wärmenetze oder Kohlekraftwerke
– erhalten bleiben, sondern die Dienstleis-
tungen, die das System bereitstellt – in
diesen Fällen Wärme und Strom. Hierfür
müssen Störfälle und überstandene Krisen
dokumentiert (Wissensspeicher) und sys-
tematisch ausgewertet (Lösungsspeicher)
werden, sodass sie als Grundlage für Plan-
spiele und Notfallszenarien verwendet wer-
den können. Auf diese Weise können auch
Sicherheitsstandards regelmäßig überarbei-
tet werden. Welche Belastungen in Zukunft
auf das Energiesystem zukommen können,
ist unsicher. Es ist daher wichtig, dass die
beteiligten Akteure improvisieren können.
Ferner sind technische und organisato­
rische Strukturen regelmäßigen Stresstests
zu unterziehen, bei denen Simulationen
zum Einsatz kommen können.

       Zuletzt müssen die gesellschaftliche
Akzeptanz für eine langfristige Transfor-
mation des Energiesystems und das Be-
wusstsein, dass es zu Störungen und Aus-
fällen kommen kann, gefördert werden.
Schließlich können Widerstand der Be-
völkerung und soziale Unruhen das Wie-
derherstellen der Energieversorgung nach
Ausfällen beträchtlich verlangsamen.
20   Maßnahmen

     4     Maßnahmen

     Um das Energiesystem resilient zu gestal-    und stärker treffen als etwa Knappheiten
     ten, sind zehn Maßnahmentypen wich-          von Treibstoffen. Und auch hier gilt: Ohne
     tig; oft sind deren Grundlage – vor allem    Strom fallen selbst die Zapfsäulen an den
     internationale – Kooperationen. Einige       Tankstellen aus.
     Überschneidungen in Kauf nehmend,
     können sie den vier Handlungsfeldern                Um die Funktionsfähigkeit des
     der Resilienzstrategie zugeordnet werden.    Systems zu gewährleisten, sind inter-
     Wie diese wurden die zehn Maßnahmen-         nationale und sektorübergreifende
     typen für diese Stellungnahme entwickelt.    Kooperationen unerlässlich. Schon
     Einige davon sind eher geeignet, mittel-     heute wird im Stromsystem auf europä-
     und langfristig Verwundbarkeiten des         ischer Ebene zusammengearbeitet, etwa
     Systems zu reduzieren, andere sind darauf    um die Funktionsfähigkeit auch in Krisen-
     ausgerichtet, kurzfristigen Störungen oder   fällen zu sichern.16 Eine wichtige Maßnah-
     Schocks zu begegnen (siehe Abbildung 2).     me, um die Stromversorgung aufrechtzu-
     Für viele der genannten Maßnahmen wer-       erhalten, ist der europaweite Ausbau der
     den Kosten anfallen. Wie hoch sie im Ein-    Übertragungs- und Verteilnetze.17 Koope-
     zelnen ausfallen, wurde allerdings nicht     ration auf europäischer Ebene ist auch bei
     berechnet und wird daher im Folgenden        Gefährdungen von außerhalb der eigenen
     auch nicht beziffert.                        Landesgrenzen sinnvoll. Der intensive
                                                  Austausch der Sicherheitsbehörden senkt
            Der Schwerpunkt der hier beschrie-    das Risiko durch im Ausland vorbereitete
     benen Maßnahmen liegt auf dem Strom-         Sabotage deutscher Infrastruktur.
     sektor. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum
     einen ist es sehr wahrscheinlich, dass in          Die Sicherung der Rohstoffver-
     den nächsten Jahrzehnten die Bedeu-          sorgung, gleich ob für Energie- oder
     tung des Stroms zunehmen wird, da die        metallische Rohstoffe, ist eine privat-
     Sektoren Wärme und Mobilität in großen       wirtschaftliche Aufgabe. Staatlicherseits
     Teilen elektrifiziert werden. Zum anderen    kann Rohstoffbezug flankierend durch
     ist die Stromversorgung die zentrale Inf-    internationale Abkommen abgesichert
     rastruktur schlechthin: Vom Strom sind       werden. Durch verstärkte Kooperation
     weitere Infrastrukturen direkt abhängig,     (zum Beispiel durch eine gemeinsame
     etwa die Wasserversorgung oder die Te-       Versorgungs- und Reservepolitik) lassen
     lekommunikation. Hier spielen Wechsel-       sich im Krisenfall Ausgleiche herstellen,
     wirkungen zwischen den Systemen eine
     wichtige Rolle: So kann es funktionieren-
     de Kommunikationsnetze und Informati-        16   Die europäischen Netzbetreiber kooperieren im ENT��  -
                                                       SO-E Verbund (European Network of Transmission
     onstechnik – die wiederum Strom brau-             System Operators for Electricity) in zentralen Fragen
                                                       der Standardisierung und Sicherheit.
     chen – erfordern, um das Stromnetz nach
                                                  17   Im Rahmen des von der EU getragenen Großprojekts
     einem Ausfall wiederherzustellen. Aus             e-Highway2050 wurde detailliert untersucht, welche
                                                       langfristigen Veränderungen dem europäischen
     diesen Gründen würden großflächige und            Stromsystem bevorstehen. Insbesondere wurde
     andauernde Stromausfälle die modernen             betrachtet, wie Energiesicherheit bei zunehmender
                                                       Dekarbonisierung aufrechterhalten werden kann:
     Gesellschaften sehr viel unmittelbarer            e-highway2050.eu/
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