ZWISCHEN GENF UND AARAU - DER HELVETISCHE RELIGIONSFRIEDEN - FONDATION POUR GENÈVE

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Zwischen Genf
und Aarau
Der helvetische Religionsfrieden

Von Joëlle Kuntz

A
           m Nachmittag des 11. August 1712 erklingen          an eine Miliz erinnert. Wenn die ganze Armee aus solchen
           Trompetenfanfaren in der Stadt Aarau: Vertreter     Truppen bestünde, wäre sie einfacher zu befehligen».
           der Kantone Zürich und Bern einerseits sowie        Die Genfer tragen dazu bei, die Kämpfe zu Gunsten der
           der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden        Protestanten zu entscheiden. Der Preis sind zehn Tote und
und Zug andererseits haben den nationalen Frieden              sieben Verletzte – wenig im Vergleich zu den Verlusten
unterzeichnet und damit einen rechtlichen Strich unter         auf Seiten der Katholiken. In der Chronik befindet sich ein
die unzähligen Schikanen gezogen, denen sich die beiden        Brief an den Genfer Justizsekretär J.-J. Trembley, in dem ein
Konfessionsgruppen gegenseitig ausgeliefert haben.             Adliger und Teilnehmer der Schlacht schreibt: «Unsere
Zwischen den katholischen und den reformierten Orten           Deutschen haben mit viel Standhaftigkeit gekämpft,
der Eidgenossenschaft wird die konfessionelle Parität          die Waadtländer gut, die Neuenburger passabel und die
eingeführt.                                                    Genfer wie die Löwen. Ihnen gebührt der ganze Ruhm an
                                                               diesem Tag oder jedenfalls fast der ganze.» Bern zeigt
Ein bisschen ist der Frieden von Aarau auch Genf               sich dankbar. Trembley selbst berichtet: «Der Ehre und
zu verdanken. Der vierte Landfrieden beendet einen             Würdigung, die unseren Soldaten zuteil werden, lässt sich
kurzen, heftigen Konflikt: Zwischen Frühling und               nichts hinzufügen, man spricht nur von denen aus Genf,
Sommer 1712 wütet der blutigste Religionskrieg, den            welche die Berner Herrschaften seit dem Krieg als ihre
die Schweiz je gekannt hat. In Villmergen stehen sich          besten Verbündeten betrachten.»
katholische Kantone und die zwei protestantischen
Kantone, die am meisten Macht im Toggenburg                    Die Allianz wirkt in beide Richtungen. Oligarchen und
ausüben, gegenüber. Genf, durch einen Vertrag an Bern          Aristokraten verstehen sich bestens. Genf verfolgt Jacques-
und Zürich gebunden, nimmt ebenfalls teil und erfüllt          Bathélémy Micheli du Crest, einen kritischen Geist, dem
damit das erste und einzige Mal in der Geschichte der          vorgeworfen wird, Ideen zu verbreiten, die dem Rat
alte Eidgenossenschaft seine militärische Solidarität,         der Zweihundert zuwiderlaufen und zwar just, was die
zu der die Allianz verpflichtet.                               Verteidigung und den Festungsbau angeht. Micheli du Crest
                                                               muss flüchten, genau wie Rousseau sieben Jahre zuvor.
Die beteiligten Armeen liefern sich ein erbittertes Gefecht.   Im Jahr 1735 wird er in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Zunächst sind die Reformierten erfolgreich und erobern         Micheli du Crest flieht nach Frankreich, wo er ebenfalls
die Fürstabtei St. Gallen, dann Baden. Sie unterbreiten        aufklärerisches Gedankengut verbreitet und damit zur
den Katholiken einen Friedensvertrag, den diese jedoch         persona non grata wird. Er kehrt zurück in die Schweiz,
mit einer Vehemenz ablehnen, die durch apokalyptische          irrt von Zuflucht zu Zuflucht. 1746 wird Micheli du Crest
Prophezeiungen angeheizt wird.                                 in Neuenburg auf Befehl von Genf und Bern verhaftet und
                                                               in die Festung Aarburg gebracht. Er bleibt ein Gefangener
Im Juli greifen die Katholiken die Berner mit 9000 Mann        Berns bis wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1765.
an, verwunden General von Diesbach und erzwingen den
Rückzug. Die Truppen stehen kurz vor der Auflösung,            Während seiner Aargauer Haftzeit beschäftigt sich der
als der bereits betagte Samuel Frisching, Präsident des        Genfer, der bereits ein Thermometer entwickelt hat,
Berner Kriegsrates, das Oberkommando übernimmt und             mit barometrischen Höhenmessungen. Ohne Höhe
sie mit einem leidenschaftlichen Appell noch einmal            und Entfernung messen zu können, zeichnet er ein
zusammentrommelt. Die Genfer gehören zu den ersten, die        Alpenpanorama, das er in Leder gravieren lässt. Er sieht
reagieren. Mit dreihundert Mann ziehen sie in die Schlacht,    und zeichnet die neue Welt, die nach und nach die alte
Seite an Seite mit Neuenburgern und Waadtländern,              ersetzt. Mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod befreit
darunter Abraham Davel. General Tscharner ist der              sich der Aargau im Zuge der französischen Revolution
Meinung, dass «diese Truppe wohlgeordnet ist und nicht         von Bern. Schuld ist Rousseau.
Zwischen Genf
und Altdorf
Eine Geschäftsidee

Von Joëlle Kuntz

I
      m 14. Jahrhundert ist Genf ein Zentrum für            einen weiteren Genfer engagiert, Daniel Colladon,
      internationale Märkte. Uri verwaltet die Brücke       den Erfinder der Druckluftbohrmaschine, der
      in der Schöllenen-Schlucht, die dem Warenhandel       bereits mit seinen Bohrungen am Mont-Cenis für
      über den Gotthard dient. Urner und Genfer schlagen    Aufmerksamkeit sorgte. Zwischen 2000 und 4000
gleichzeitig in der Geschichte eine kaufmännische           Italiener arbeiten auf den Baustellen. Ihre Arbeits- und
Richtung ein. Sie sind von gleichem Schlag. Uri besitzt     Lebensbedingungen sind prekär. Favre hat Gebäude
inzwischen die neuen Alpentransversalen. Genf die           für fast eintausend Arbeiter errichten lassen, aber
Welthandelsorganisation. Eine Kultur verbindet sie:         das reicht nicht aus. Vor allem in Göschenen hausen
der Güteraustausch. Eine Geschichte verbindet sie:          viele Italiener zusammengepfercht in schmutzigen
die Verteidigung der wirtschaftlichen und politischen       Privatunterkünften, für die sie horrende Preise zahlen.
Voraussetzungen für den Handel sowie Strassen und           Im Tunnel selbst ist der Sauerstoff knapp, die Luft mit
Steuern.                                                    tödlichen Gasen durchsetzt. Dynamit und Erdrutsche
                                                            führen immer wieder zu Unfällen. Im Jahr 1876 bricht
Ein Mann verbindet sie: der Genfer Tunnelbauer Louis        auf der Baustelle Göschenen ein Streik aus. Die Miliz
Favre, der den ersten Eisenbahntunnel durch den             wird gerufen und von den Arbeitern mit Steinwürfen
Gotthard baute. Die dramatische Geschichte seines           empfangen. Die Streitkräfte schiessen. Vier Tote. Ein
Unternehmens zeugt von rücksichtslosem Wettbewerb,          eidgenössischer Kommissar wird ernannt und mit der
technischem Genie, Mut, Ausdauer, Geldgier, Lügen und       Untersuchung beauftragt. Sein Bericht belastet Favre,
Neid – Tugenden und Laster einer Epoche, in der die Alpen   der sich energisch verteidigt und vermutet, dass
erobert wurden. Favre wagt alles, um sich den Auftrag zu    Ingenieure der Gotthardbahngesellschaft hinter den
sichern: Er will den Tunnel in acht Jahren fertigstellen,   Anschuldigungen stecken.
ein Jahr weniger und mehr als 12 Millionen Franken
günstiger als sein Hauptkonkurrent. Jede Verzögerung        Die Gesellschaft sucht den Konflikt und hindert Favre
geht zu seinen Lasten. Damit wird die Zeit zu seinem        daran, mit den Maurerarbeiten im Tunnel fortzufahren,
grössten Feind. Doch es gibt noch andere Feinde: Die        obwohl er sie für unerlässlich hält. Der Genfer wendet sich
Gotthardbahngesellschaft, gegründet 1871 unter Alfred       an den Bundesrat – erfolglos. Am 1. August 1879, mitten
Escher mit Kapital aus der Schweiz, Deutschland und         im Tunnel und umgeben von seinen Arbeitern, bleibt sein
Italien, die möglichst rentabel wirtschaften muss,          Herz stehen. Favre stirbt mit 53 Jahren. Dabei hat er erst
immer darauf bedacht, die Kosten für die ergänzende         grad vom deutschen Verkehrsminister einen Brief erhalten,
Infrastruktur, inklusive Sicherheit, möglichst gering       der ihn hätte trösten sollen: «Damit ist eine wichtige
zu halten. Oder die Ingenieure, allzeit bereit, Favres      Etappe in diesem grossen Unternehmen geschafft, in dem
Entscheidungen anzufechten, in der Hoffnung, seinen         bislang einzig Ihr Genie der Schlüssel zum Erfolg gewesen
Platz einnehmen zu können. Oder die Techniker aus           ist.» Die Arbeiten werden mit zwei Jahren Verspätung
Zürich, deren Anliegen bei der Bundesverwaltung auf         abgeschlossen. Der Preis sind 177 Tote und 500 bis 800
offene Ohren stossen und die davon profitieren, um          Arbeiter, die an sogenannten Mineurkrankheiten leiden,
das Vorgehen Favres zu diskreditieren. Oder die kleine,     verursacht durch die giftigen Gase im Tunnel. Favres
ländliche Gemeinde Göschenen, die in beschämender           Unternehmen wird hochverschuldet aufgelöst. Noch Jahre
Weise mit den Bedürfnissen der Arbeiter spekuliert.         danach betreibt die Gotthardbahngesellschaft Favres
Und dann ist da noch der Fels: unberechenbar,               Erben.
widerspenstig, gefährlich.
                                                            Uri und Genf verbindet die ganze Geschichte des
Im Oktober 1872 eröffnet Favre die Baustellen in            19. Jahrhunderts, Fortschritt und Misere, in dieser
Göschenen und Airolo. Er ist 46 Jahre alt. Favre hat        Reihenfolge.
Zwischen Genf
und Appenzell
Patriotische Unstimmigkeiten

Von Joëlle Kuntz

N
             icht zum ersten Mal treffen Genf und Appen-         und bedrohlich für den französischen Thron, dass König
             zell aufeinander, trotz der geografischen und       Heinrich IV. jede mögliche Unterstützung bereitstellte, um
             kulturellen Distanz, die sie zu trennen scheint.    den Herzog von Savoyen zum Frieden zu zwingen. Auch
             Im Jahr 1515, nach der Schlacht bei Marignano,      Appenzell gehörte dazu. Der Kanton war 1513 in die
trafen sich die Abgesandten aus der Schweiz, darunter auch       Eidgenossenschaft aufgenommen worden unter der Beding-
Vertreter des frisch in die Eidgenossenschaft aufgenomme-        ung, in allen Konflikten, die nicht die Eidgenossenschaft
nen Appenzells, mit den Botschaftern von König Franz I.          als Ganzes betrafen, neutral zu bleiben. Daher konnte
in Genf, um ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Als           er zusammen mit Solothurn, Basel, Schaffhausen und
Vermittler amtete des Königs Onkel, der Herzog von Savoyen.      Glarus eine durchaus glaubwürdige Vermittlerrolle
Am 7. November einigte man sich über den Wortlaut                zwischen Genf und Savoyen übernehmen.
eines Vertrages, den allerdings nicht alle beteiligten Kantone
ratifizierten. Im Jahr darauf, 1516, wurde er durch den Frei-    Allerdings hatte sich der Kanton 1597 in zwei Halbkan-
burger Vertrag, die sogenannte «Ewige Richtung», ersetzt.        tone aufgespalten, einen katholischen und einen protes-
                                                                 tantischen. Da beide Halbkantone ihren vormals gemein-
Später führten religiöse Spannungen zu Rissen im Bünd-           samen Verpflichtungen weiterhin nachkamen, waren in
nis. Im Jahr 1571 begaben sich zwei Genfer Abgesandte ins        Genf zwei Appenzeller Delegationen präsent.
Appenzell in der Hoffnung, der Kanton würde den Beitritt
Genfs in die Eidgenossenschaft unterstützen. Sie wurden          Die Herren Diplomaten hielten sich bis im Juli 1603 in der
mit aller Höflichkeit empfangen, erhielten aber keine Ant-       Stadt auf, bis zu dem Tag, an dem der Vertrag von Saint-
wort. Appenzell wollte zunächst mit den anderen Eidgenos-        Julien unterzeichnet wurde, der Genf die politische Unab-
sen Rücksprache nehmen. Diese vertraten keine eindeutige         hängigkeit und den Genfern das Recht auf Freizügigkeit
Meinung, sodass man die Antwort schuldig blieb. In Tat und       in Savoyen zusicherte. Sie wurden mit Lob überschüttet.
Wahrheit war der Kanton alles andere als begeistert von der      Der Originalvertrag, ehrfürchtig verwahrt in den Genfer
Idee, eine weitere protestantische Stadt in die Föderation       Archiven aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung,
aufzunehmen und protestierte entsprechend, als Genf sich         trägt die Unterschriften und Siegel beider Appenzeller
mit Bern und Zürich verbündete. Dieser Schritt, dieses Ein-      Halbkantone.
dringen durch die Hintertür, machte die Schweiz in seinen
Augen zum Zentrum der Reformation.                               Im Jahr 1604 stellten Jean Sarasin, Mitglied des Rates, und
                                                                 Daniel Roset eine Genfer Abordnung zusammen, die sich
Nun ist es aber nicht so, dass sich das katholische Appenzell    in die Vermittlerkantone begab, insbesondere nach Appen-
überhaupt nicht für das protestantische Genf interessierte,      zell, um die Danksagungen zu erneuern. Später, 1673, als
im Gegenteil: 1603 nahmen die drei adligen Appenzeller           der Herzog von Savoyen den von ihm unterzeichneten Frie-
Ulrich Näff, Jean Heimen und Sebastien Thoring an den            densvertrag erneut verletzte, schlossen sich beide Appen-
internationalen Vermittlungen teil, die dazu führten,            zell den anderen Vermittlerkantonen an, um den Herzog zur
dass der Herzog von Savoyen Genfs Unabhängigkeit                 Ordnung zu rufen. Die religiösen Gegensätze waren eine
anerkannte.                                                      Sache, die diplomatischen Interessen eine andere.

Ein Jahr zuvor, in einer dunklen Dezembernacht, hatte der        Napoleon wurde gestürzt. An der ersten Abstimmung der
Herzog tatsächlich einen Überraschungsangriff auf die Stadt      Tagsatzung über die Aufnahme von Genf in die Eidgenossen-
gewagt, und damit gegen alle diplomatischen Verpflichtun-        schaft nahm Appenzell Ausserrhoden nicht teil, obwohl die
gen verstossen. Wie in den besten Verschwörungsszenarien         Siegermächte dies wünschten. Bei der zweiten Abstimmung
führten glückliche Umstände dazu, dass die Genfer die            sagte der Halbkanton Ja und, wie so oft, «ad referendum».
Attacke abwehren und die Savoyer Truppen zurückdrän-             Seitdem pflegen die beiden Kantone ihre Unstimmigkeiten
gen konnten. Doch der Angriff war derart niederträchtig          in bester patriotischer Kollegialität.
Zwischen Genf
und Baden
Ein lang gehegter Traum
wird wahr

Von Joëlle Kuntz

M
             it Baden verknüpfte Genf eine Hoffnung:          nossenschaft stärken und der verlorene Boden könnte
             den Zugang zur Tagsatzung, um sich               nicht wieder gutgemacht werden. Dagegen wäre es jetzt
             direkt für seine Unabhängigkeit und seine        möglich, ohne Kosten, Mühe und Arbeit einen Beitrag
             Sicherheitsbedürfnisse einsetzen zu kön-         an die Ehre und den Wohlstand der Eidgenossenschaft
nen. Baden war ein bevorzugter Ort für die Tagsatzung.        zu leisten …» Aber ach!
Stadt der Bäder, der Ruhe, Untertanenstadt zwar, aber
klug und besonnen. Hier wurden die Jahresrechnungen           Diesem Standpunkt konnten vier reformierte Kantone
sämtlicher gemeiner Herrschaften abgenommen.                  etwas abgewinnen, fünf katholische waren dagegen.
Würde Baden der nach Sicherheit strebenden Rhone-             Die kleinen gemischten Kantone waren geteilter Mei-
stadt einen Platz gewähren? Aber ach!                         nung. Solothurn und Freiburg, beide katholisch, teilten
                                                              die strategischen Ziele von Zürich und Bern. Die Tagsat-
Genf stand dank eines Vertrages aus dem Jahr 1526 unter       zung traf daher keine Entscheidung.
Berner Schutz. Durch den Beitritt zur Eidgenossenschaft
erhoffte sich die Stadt eine vielfältigere und breitere Un-   Genf musste sich mit separaten, fragilen Bündnissen
terstützung, so wie sie Mülhausen und Rottweil zuteil         begnügen, abhängig von regionalen und internationa-
wurde. 1557 richtete sie eine entsprechende Anfrage an        len Gegebenheiten. So sehr sie sich auch beschwerte, nie
die Tagsatzung und bekam zur Antwort, dass es im Falle        wurde die Stadt zu den Beratungen in Baden eingela-
einer Bedrohung der Tagsatzung und der ganzen Eidge-          den. Nie war sie Teil der politischen und sozialen Elite
nossenschaft in der Tat «sehr nützlich wäre, Genf zu den      der Schweiz, die in Baden offizielle und inoffizielle In-
eigenen Reihen zählen zu können». Aber ach!                   formationen austauschte.

Mit diesen Worten verwiesen die Kantone auf einen mög-        Genf führte sein Leben anders. Im Jahr 1815 wurde
lichen Vorteil, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Die      die Stadt mit der Schweiz vereinigt, weil es in Baden
«Genfer Frage» liess Baden nicht mehr los. Von der zwei-      keine zögernde Tagsatzung mehr gab. 1846 kam es in
ten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des     Genf zur Revolution; die Stadt wollte sich am Krieg
17. Jahrhunderts stand sie auf der Badener Tagesordnung.      gegen die katholischen Kantone, die sie so lange aus-
Die Verfechter der katholischen Gegenreform, die sich         geschlossen hatten, beteiligen. Danach hatte Genf in
hinter Luzern stellten, sahen keinen Nachteil darin, dass     Baden nichts mehr zu fordern, und Baden war froh,
sich Savoyen der Stadt Genf bemächtigten wollte, um sie       nicht mehr über die «Genfer Frage» nachdenken zu
dem Heiligen Stuhl zurückzuführen. Die reformierten           müssen. Alle Dossiers wurden an die Hauptstadt Bern
Kantone hatten es dagegen eilig, Genf durch das eidge-        übergeben.
nössische Bündnis zu schützen.
                                                              Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Als im Jahr 1847
Die konfessionellen Divergenzen wurden durch strate-          die erste Schweizer Eisenbahnlinie eröffnet wurde,
gische Interessen abgeschwächt. Im Jahr 1572 setzten          die Spanisch-Brödli-Bahn, mit der frische Brötchen
Solothurn, Bern und Freiburg die geopolitische Lage           in einer halben Stunde von Baden nach Zürich trans-
Genfs, die sie als «Schlüssel und Allee der Eidgenos-         portiert werden konnten, hatte Genf grosse Entwick-
senschaft» beschrieben, auf die Badener Agenda.               lungspläne, träumte von Bahnen, Schiffen und Autos,
«Liesse man sich diese günstige Gelegenheit entgehen,         investierte in Stahl, Maschinen, Chemie und Strom –
begründeten sie, würde das den Erbfeind der Eidge-            wie Baden, nach der Moderne strebend.
Zwischen Genf
und Basel
Ein wunderbarer Fischzug

Von Joëlle Kuntz

R
          eligion und Spiritualität sind in beiden Städten     Petrusaltar übrig bleibt, wird von einer barmherzigen
          zuhause: erst das Konzil, dann Erasmus und           Seele versteckt und verschwindet für viereinhalb Jahr-
          Ökolampad in Basel, der Bischof, die Reforma-        hunderte aus dem europäischen Bewusstsein.
          tion und Calvin in Genf. Da und dort entste-
hen Visionen über die Existenz und die Welt, denen eines       In Basel, wo die Persönlichkeiten des Konzils zahlreiche
gemeinsam ist: Tragweite und Radikalität. Zu Beginn der        Begabte und Künstler um sich scharen, entsteht eine
Renaissance und in stillem Einvernehmen zeigen sich die        Vorliebe für das Geschriebene, das Bild, die Kunst. Aus
beiden Gründungsstädte des Denkens, der Kunst und der          Buchdruckern werden Sammler. Die Sammlungen werden
Politik von ihrer ehrgeizigen Seite.                           vom Vater an den Sohn vererbt. Im Kabinett von Basilius
                                                               Amerbach, dem ersten Basler Sammler, finden sich 1586
Am Anfang steht das Konzil von Basel. Eine grosse Ver-         unter anderem 104 Zeichnungen von Holbein und Dürer,
sammlung (zeitweise mehrere zehntausend Personen),             das Lob der Torheit von Erasmus mit Illustrationen von
von langer Dauer (1431 bis 1449), hochrangig (Kardinäle,       Holbein, etwa fünfzig der schönsten Bilder Holbeins,
Bischöfe, Prinzen, Herzöge, Barone und Ritter) und belesen     darunter die Werke Schreibender Erasmus und Der
(Hunderte von Kopisten, Graveuren, Illustratoren). Ziel ist    Leichnam Christi, dreitausend Grafiken, 1866 Zeichnungen
es, den Dialog innerhalb der katholischen Christenheit,        von deutschen oder Schweizer Meistern und zahlreiche
der unter den abtrünnigen böhmischen Hussiten gelitten         antike Kuriositäten aus archäologischen Ausgrabungen.
hat, wiederherzustellen. Die Versammlung endet in einem
Legitimitätskonflikt: Das Konzil ignoriert den Papst in Rom,   Als ein niederländischer Händler diesen Schatz erwerben
enthebt Eugen IV. seines Amtes und ersetzt ihn durch Ama-      möchte, kauft der Basler Rat auf Anraten von Bürgermeister
deus VIII., Graf von Savoyen, der 1440 unter dem Namen         Wettstein das Kunstkabinett für 9000 Reichstaler und
Felix V. feierlich eingesetzt wird. Amadeus gehört die Graf-   gibt es in die Obhut der Universität, wo alsbald ein grosses
schaft Genf, allerdings ohne die Stadt. Diese ist Eigentum     Kunstfachwissen aufgebaut wird.
des Bischofs, zu jener Zeit François de Metz. Der Benedik-
tinermönch begibt sich nach Basel, wo er den deutschen         Dieses Kunstwissen wirkt sich 1901 auch in Genf aus: Der
Maler Konrad Witz entdeckt, der seit Beginn des Konzils        Konservator der Schönen Künste in der Stadt am Rhein,
in der Stadt weilt. Er betraut ihn mit der Ausführung des      Daniel Burckhardt-Werthemann, verkündet in diesem
Petrusaltars für die Genfer Petrus-Kathedrale. Das Werk        Jahr, dass die zerbrochenen Teile des Petrusaltars von
wird 1444 beendet und signiert. In der Zwischenzeit hat        Konrad Witz wieder aufgetaucht seien und bestätigt
der savoyische Gegenpapst den Bischof von Genf zum             deren Echtheit. Tatsächlich fand der Genfer Archäologe
Gegenkardinal gemacht.                                         Jacques Mayor im Untergeschoss der Universität zwei
                                                               grosse Tafeln des Altaraufsatzes, 1444 gefertigt und
Nun hat Genf einen Prälaten, hervorgegangen aus einem          mit Magister Conradus Sapientis de Basilea signiert.
populistischen Aufstand im Herzen der Kirche, einen            Burckhardt-Werthemann untersuchte die Tafeln im
Gegenpapst in der Nachbarschaft und ein Gemälde, das           Kerzenlicht und fand Ähnlichkeiten mit zwei anderen in
die hierarchische Ordnung von Befehl und Ausführung            Strassburg gefundenen Tafeln, der Heiligen Katharina
durcheinanderbringt, denn Witz entscheidet selber, was         und der Heiligen Maria-Magdalena, sowie der Begegnung
und wie er malt: Er setzt Petrus vor die getreu abgebildete    Joachims und Annas an der Goldenen Pforte, einem von
Landschaft des Genfer Seebeckens, eine Premiere.               einer Basler Sammlerin erworbenen Werk. Aber was
                                                               bedeutet Sapientis? Der Weise? Burckhardt-Werthemann
Nicht unter Calvin, sondern unter Farel wird der Altarauf-     konsultierte eine von einem Fachmann erstellte Liste mit
satz 1536 von den Bilderstürmern der Genfer Reformation        den Namen von Basler Künstlern, darunter auch Konrad
zerstört. Jener Farel, der so masslos war, dass Erasmus        Witz aus Rottweil. Witz im Sinne von gewitzt, klug. Der
ihn in Basel loswerden wollte, und den der Reformator          pfiffige Konrad hielt Genf den ersten Spiegel vor, unter
Ökolampad vergeblich zu mässigen suchte. Was vom               den wohlwollenden Augen von Jesus Christus.
Zwischen Genf
und Bern
Ein strategisches Einvernehmen

Von Joëlle Kuntz

M
              al ehrlich: Genf und Bern teilen eine grosse,      Das zweite Streitgespräch mit Rive findet im Juni 1535
              ziemlich stürmische Geschichte. Gehen wir          ohne Gegner statt: Die religiösen Autoritäten haben die
              zurück ins 16. Jahrhundert. Im Jahr 1524           Einladung abgelehnt. Ein triumphierender Farel steigt
              wird Guillaume Farel, ein französischer Intel-     Ende August auf die Kanzel der Genfer Kathedrale. Nach
lektueller und Reformator, auf Drängen von Erasmus von           seiner Predigt werden Altar und Bilder zerstört. Am 27.
Rotterdam aus Basel vertrieben. Erasmus hat Mühe mit             wird die Messe verboten. Im Mai 1536 wechselt Genf
Farels dogmatischen Auslegungen und dessen rücksichts-           offiziell zum reformierten Glauben. So wird Genf für die
losem Eifer. Er gibt ihm den Übernahmen Phallicus (der           protestantische Sache gewonnen, die doch in erster Linie
Lüsterne). Bern, von Zwingli 1528 für die Reformation            Berner Politik ist. Eine dauerhafte Sache, die sich über
gewonnen, spannt Farel ein, um in den von Aigle, Ollon,          Jahre bewährt, auch wenn sich Farel, unter dem Einfluss
Bex und Ormont annektierten französischen Mandements             von Calvin, schliesslich gegen das kirchliche System von
zu predigen. Von dort aus und bestens beschützt durch            Zwingli wendet und am Ende sogar den «Cäsaropapismus»
Pierre Giraud, einem ehemaligen Schüler aus Meaux und            der Berner anprangert.
inzwischen Kanzler in Bern, geht er als Wanderpfarrer nach
Neuenburg, wo er 1530 die neue Lehre einführt, dann nach         Bern steht Genf, wenn auch halbherzig, zur Seite, als
Genf, wo er 1532 als «Gesandter Jesu Christi» eintrifft.         Savoyen die Stadt 1589 angreift. Und auch 1602 während
                                                                 der «Escalade», als Savoyer Söldner die Genfer Stadtmauern
Die Stadt liegt in Schutt und Asche, zerrissen von den           erklimmen. Am Ende des Ancien Régime kämpfen Berner
religiösen Kämpfen, die innerhalb der Kirche begonnen            Aristokraten Seite an Seite mit Genfer Patriziern gegen
hatten, und den politischen Auseinandersetzungen                 die von Stadt zu Stadt sympathisierenden Revolutionäre.
zwischen den Befürwortern der Eidgenossenschaft                  Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte gehen in
(Eidguenots) und den Anhängern Savoyens (Mammelus).              der französischen Besatzung unter.
Der Bischof, Pierre de la Baume, ist nicht zugegen.
                                                                 Seit 1848 teilen Genf und Bern nur noch administrative
Die Sterne stehen günstig für den Vertreter und                  Angelegenheiten. Gleichgestellt und geschützt unter
Propagandisten von Bern. Genf, durch die Angriffe von            dem Dach der Eidgenossenschaft haben beide nicht nur
Savoyen geschwächt, ist in der Tat auf die Unterstützung         den Status der Kantonshauptstadt inne, sie tragen noch
der Berner angewiesen, und die lassen sich teuer bezahlen,       eine höhere Verantwortung: Bundeshauptstadt die eine,
in Geld und in Macht. Sie zwingen dem Klerus Farels              internationale Stadt die andere. Die eine wie die andere
Anwesenheit auf unter der Drohung, die Allianz platzen zu        Funktion baut auf ein Prinzip der Solidarität: Genf wäre
lassen, wenn die Stadt ihre Schuld von 9000 Reichstalern         ohne Bern nicht international und Bern ohne Genf nicht
nicht begleicht und Farel keine Kirche zur Verfügung stellt,     Bundeshauptstadt. Über die gegenseitige Abhängigkeit
in der er predigen kann. Bern zählt auf Farel und ermutigt       wird nicht gesprochen, oder nur selten. Fast scheint es, als
und unterstützt sein Handeln. Farel begründet zum Beispiel       ob eine Diskretionsklausel sie umhüllt, weil der Verdacht
die öffentliche «Disputation», für die nur die Heilige Schrift   auf Vetternwirtschaft das reibungslose Funktionieren des
herangezogen werden darf – sola scriptura. Da der Klerus,        «Schweizer Haushaltes» bedrohen könnte.
immer bemüht die Tradition zu hüten, die Heilige Schrift
nicht mehr kennt, ist er schnell schachmatt gesetzt.             Der Genfer Archivar, 1959 gebeten die Beziehung der zwei
                                                                 Städte für den Regierungsrat zusammenzufassen, widmet
Beim ersten dieser Streitgespräche im März 1534 wird er          den militärischen Angelegenheiten unter dem Ancien
überrollt und Farel hat die Zuhörer in der Kappelle von Cor-     Régime drei Seiten. Er schliesst mit dem Kommentar: «Im
deliers für sich. Auf die Proteste der Magistraten antworten     19. und im 20. Jahrhundert sind die Beziehungen zwischen
die Berner Abgeordneten, dass «sie dem Volk nicht wegneh-        den beiden Kantonen sehr freundschaftlich, es gibt nichts,
men können oder wollen, was Gott ihm gegeben hat».               was eine spezielle Erwähnung verdient.»
Zwischen Genf
und Brig
Strassen, Hotels, Züge

Von Joëlle Kuntz

G
         enf und Brig teilen sich denselben Fluss. Die Rhone    Transportmittel, engagierte Maultiertreiber, sorgte für den
         fliesst durch Brig und verlässt die Schweiz in Genf.   Strassenunterhalt und liess Depots bauen.
         Alles deutet darauf hin, dass es bald eine Auto-
         bahn zwischen Genf und Brig geben wird.                Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Genfer Bankier
                                                                Edouard Hentsch den ersten Finanzierungsplan für den
Brig wartet schon lange darauf, Geburtsstadt des berühm-        Bau des Simplontunnels vor. Hentsch war Leiter der
ten Strassenbauers Ernest Guglielminetti, der 1862 das          Banque nouvelle des Chemins de fer suisses (der neu-
Licht der Welt erblickte. Der Arzt und Lungenspezialist         en Schweizerischen Eisenbahnbank), die in Abhängig-
erfand zunächst ein Atemgerät für Bergsteiger, Feuerwehr-       keit des Comptoir d’escompte de Paris (CEP) gegründet
leute und Taucher. Guglielminetti arbeitete auf Java und        worden war, bei dem Hentsch das Amt des Verwaltungs-
Sumatra, bevor er, ein Star seiner Branche, nach Monaco         rates innehatte. Es gelang ihm, 96 Millionen Franken zu
kam. Der Strassenstaub, aufgewirbelt unter anderem durch        mobilisieren und das seit langem zögernde Italien für
die ersten Automobile, war der grosse Feind der Lungen.         das Vorhaben zu interessieren. Der Kupferkrach und die
Prinz Albert bat den Arzt, etwas dagegen zu unternehmen.        Krise der Panamagesellschaft führten allerdings 1889
Dieser erinnerte sich an ein Spital in Indonesien, in dem       zum Zusammenbruch des CEP und das Simplon-Projekt
die Holzwände zusätzlich mit einer Teerschicht überzogen        wurde eingestellt. Brig musste zehn Jahre auf den Bau-
waren. Er wollte diese Methode auf Monacos Strassen             beginn des Tunnels warten, für den Genf viele Fahrgäste
ausprobieren. Im Jahr 1902 wurde die Hauptstrasse ge-           und noch mehr Kapital bereitstellte.
teert. Den monegassischen Lungen ging es von da an viel
besser und der Briger wurde unter dem Titel Dr. Goudron         Ebenfalls als Kunden lernten vermögende Genfer César
(französisch für «Teer») zum Freund des sauberen Verkehrs       Ritz aus Niederwald kennen, der seine ersten Monate im
befördert. Seine Erfindung setzte sich durch und ergänzte       Hotelgewerbe in der Auberge des Trois Couronnes und
sich bestens mit derjenigen des Schotten John McAdam,           der Auberge de la Poste in Brig absolvierte. Er erfand
der einen Strassenbelag zur Befestigung der Strassen-           eine Form der Luxushotellerie, die Genf übernahm, zu-
decke, den Makadam, entwickelt hatte.                           nächst um die reichen Touristen aus Grossbritannien zu
                                                                beherbergen, später dann die hochrangigen Politiker des
Auf Initiative des Touringclubs der Schweiz wurde die           Völkerbundes. Wie Stockalper lange vor ihm war auch
Strasse zwischen Genf und Lausanne geteert. Noch im             Ritz als Mobilitätsunternehmer tätig und konzentrierte
selben Jahr übernahm die Liga der Tourismusverbände             sich ganz auf den Aufenthalt seiner Gäste im Luxusho-
das neue Verfahren an ihrem internationalen Kongress in         tel; auf diesen Moment, in dem sich die reisende High
Genf und verbreitete es auf der ganzen Welt. General Dufour     Society auf der Suche nach Bekanntschaften und ange-
beglückwünschte Guglielminetti persönlich zu seinem             zogen von einer kosmopolitischen Geselligkeit traf.
Beitrag zum Strassenverkehr, insbesondere dankte er für
die Vorteile, die der Armee daraus erwuchsen. Dr. Groudron      Das Erstklasshotel wurde zum Mittelpunkt seines
starb in Genf, aber es war die Stadt Brig, die ihm 1938 ein     Lebens. Architektur, Dekor, Komfort, Küche, Hygiene und
Denkmal setzte.                                                 Service, alles musste stimmen, damit der Hotelaufent-
                                                                halt der Pracht der besuchten Landschaft oder Stadt
Die Beziehung zwischen Brig und Genf wurde schon immer          entsprach.
vom Thema Strasse beherrscht. Im 17. Jahrhundert richtete
Kaspar Stockalper, Gründer der Stockalper-Dynastie,             Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verliess jeden Tag
den ersten regelmässigen Kurierdienst zwischen Genf             um die Mittagszeit eine Postkutsche Genf, um über den
und Mailand über den Simplon ein. Zum Dank wurden               Simplon in Richtung Mailand zu fahren. Mit Halt in Brig.
ihm Privilegien im Warentransport gewährt. Dieses erste         Dort brachte sie einen Gomser Jungen mit Namen César
kapitalistische Unternehmen im Wallis war im Besitz aller       Ritz zum Träumen.
Zwischen Genf
und Brunnen
Zwei Bündnisse zur
kollektiven Sicherheit

Von Joëlle Kuntz

I
     n Brunnen wird ein Bund geschlossen. In Genf eben-           des internationalen Friedens und der internationalen
     falls. Das ist der rote Faden, der die beiden Namen im       Sicherheit wesentlich ist,
     nationalen Album und in einem Abstand von sieben         -   bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum
     Jahrhunderten verbindet.                                     Kriege zu schreiten,
                                                              -   in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre
Im Jahr 1315 erneuern die Leute aus Uri, Schwyz und               gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten,
Unterwalden am Ufer des Vierwaldstättersees schriftlich       -   die Vorschriften des Völkerrechts, die fürderhin als
und in einem für alle verständlichen Deutsch ihren Willen,        Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der
sich gegenseitig «gegen die Strenge und Härte dieser Zeit»        Regierungen anerkannt sind, genau zu beobachten,
zu schützen: «… damit wir besser in Frieden und Gnaden        -   die Gerechtigkeit herrschen zu lassen und alle Vertrags-
leben und Leib und Besitz schützen können, haben wir              verpflichtungen in den gegenseitigen Beziehungen der
uns durch Schwur und Versprechen für immer und ewig               organisierten Völker peinlich zu achten, nehmen die
gebunden und dazu verpflichtet, einander gegenseitig              Hohen vertragschliessenden Teile die gegenwärtige
und auf eigene Kosten zu helfen und zu unterstützen, im           Satzung, die den Völkerbund errichtet, an.»
eigenen Land sowie nach aussen, gegen alle und gegen
jeden, der uns Eidgenossen oder einen der unseren angreift    Die folgenden 26 Artikel beschreiben die Verpflichtungen
oder anzugreifen beabsichtigt oder uns oder unserem           der Mitglieder. Artikel 16 hält insbesondere die Folgen fest,
Besitz ein Unrecht zufügt.»                                   sollte ein Mitglied seinen Verpflichtungen nicht nachkom-
                                                              men: «Schreitet ein Bundesmitglied entgegen den … über-
Dieser Bund zur kollektiven Sicherheit übernimmt den          nommenen Verpflichtungen zum Kriege, so wird es ohne
Wortlaut des Bundes von 1291, diesmal allerdings in einer     weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung
vereinfachten Sprache, die auch von der betroffenen Bevöl-    gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen.» Danach
kerung verstanden wird. Die Schlacht von Morgarten liegt      folgen alle Massnahmen, die von den Mitgliedern ergriffen
erst 23 Tage zurück und den bäuerlichen Gemeinschaften        werden können, um sich gegenseitig zu unterstützen.
am Gotthard, die das anrückende Heer von Leopold von
Habsburg erfolgreich in die Flucht geschlagen haben, liegt    Die Schweiz tritt dem Völkerbund bei, obwohl die
viel daran, ihre Solidarität zu festigen.                     Unterzeichner des Bundes von Brunnen dagegen sind.
                                                              Bundesrat Giuseppe Motta leitet die Eröffnungssitzung in
Im Jahr 1920 wird Genf, an den Ufern eines anderen Sees,      Genf im November 1920. Der gebürtige Tessiner aus Airolo,
Hüterin des Völkerbundes, der im Jahr zuvor in Paris von      am Eingang zum Gotthard, wo die Täler nach Venedig und
den Siegermächten über das deutsche, österreichische          Rom führen, ergreift die einzig mögliche zeitgenössische
und osmanische Reich unterzeichnet worden ist. Die            Massnahme der kollektiven Sicherheit: die Universalität
kollektive Sicherheit nimmt nach den Schrecken des            des Völkerbundes.
Ersten Weltkrieges eine globale Dimension an, aber der
Geist der Unterzeichner ist nicht grundlegend anders          Von nun an sieht man die Welt nördlich und südlich
als jener damals in Brunnen: Ziel ist es, die Gerechtigkeit   des Gotthards anders, aber es ist dennoch die Welt, die
auf Basis von Recht und einer offenen, beratenden             man sieht, ob man sich nun von ihr fernhalten will, oder
Diplomatie zu schützen.                                       vorgibt, sie zu organisieren. In Brunnen wie in Genf wird
                                                              von Jahrhundert zu Jahrhundert darüber diskutiert, wie
In der Präambel der Völkerbundsatzung ist zu lesen:           man vorgehen muss, um frei und in Frieden zu leben. Die
  «In der Erwägung, dass es zur Förderung der Zusam-		        Meinungsverschiedenheiten halten sich hartnäckig. Die
  menarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung         Diskussion geht weiter.
Zwischen Genf
und Chur
Ein Lehrer, ein Diplomat
und ein Präsident

Von Joëlle Kuntz

Z
         wei bedeutende Churer Persönlichkeiten haben         Seminar bildete übrigens die meisten der Führungskräfte
         im Abstand von hundertfünfzig Jahren ihren           der Helvetischen Republik aus, darunter den Waadtländer
         wohltuenden Einfluss bis nach Genf ausgedehnt:       Frédéric-César de La Harpe, künftiger Privatlehrer von
         ein Lehrer, Martin Planta, Mitte des 18. Jahrhun-    Alexander von Russland und späterer Verbündeter
derts, und ein Bundesrat, Felix Calonder, Anfang des 20.      Bonapartes in schweizerischen Angelegenheiten.
Jahrhunderts.
                                                              Die geschickte Formulierung der Schweizer Neutralität,
Mit dem Namen einer Allee ehrt Genf das Andenken an           die der ehemalige Schüler von Martin Planta 1815 am Wie-
Charles Pictet de Rochemont, den Mann, der vor zweihun-       ner Kongress durchgesetzt hatte, wurde ein Jahrhundert
dert Jahren am Wiener Kongress die Bedingungen für den        später zum ersten Mal einer grossen juristischen Prüfung
Beitritt der Republik zur Eidgenossenschaft ausgehandelt      unterzogen: Würde sie der Eidgenossenschaft den Beitritt
hat. Die Stadt zelebriert seine diplomatische Begabung,       zum Völkerbund erlauben, dieser internationalen Sicher-
seinen offenen Charakter, der an den europäischen Höfen       heitsorganisation, die 1919 von den Siegern des Ersten
gern gesehen ist, die Leichtigkeit, mit der er sich in den    Weltkrieges ins Leben gerufen wurde und die in Genf
wichtigsten Sprachen ausdrückt, seine scharfsinnigen          beheimatet werden sollte? Wäre die Neutralität mit dem En-
Situationsanalysen. Aber all das und noch viel mehr           gagement der anderen Nationen vereinbar, die gemeinsam
verdankt Pictet de Rochemont seiner Ausbildung, die er ab     Angreifer und andere Kriegsstifter bekämpfen wollten? Es
dem 13. Lebensjahr in Haldenstein in der Nähe von Chur        war der Bündner Felix Calonder, zunächst Rechtsprofes-
am Seminar genoss, das 1761 von Martin Planta gegrün-         sor, dann Bundesrat, der die Lösung fand: Die Neutralität,
det wurde, einem Pfarrer und Hansdampf in allen Gassen,       so erklärte er, kann «absolut» oder «differentiell» sein. In
Physiker und Erfinder eines Dampfschiffes, vor allem aber     Kriegszeiten muss sie absolut sein. In Friedenszeiten kann
Pädagoge, stark beeinflusst von Rousseau.                     sie differentiell sein, das heisst, die Schweiz kann sich an
                                                              Wirtschaftssanktionen der Mitgliedsstaaten gegenüber
Planta eröffnete seine Schule mit der Unterstützung der       Staaten, die den Frieden gefährden, beteiligen. «Die Gele-
fortschrittlich denkenden Männer, die ihn umgaben:            genheit, die Grundlagen für ein Bündnis zu schaffen, mit
Ulysse de Salis-Marschlins, die Mitglieder der Helvetischen   dem der Völkerfrieden gewahrt werden kann, wird sich so
Gesellschaft von Schinznach und sogar die Vertreter der       schnell nicht wieder bieten». sagt er dem Ständerat, um
Bündner Tagsatzung – rasch verbreiteten sie den Ruf des       seine Überlegungen zu rechtfertigen. «Und diese Gelegen-
Seminars. Den Eltern Pictet war die Verbannung Rousseaus      heit verdanken wir den extrem schwierigen Zeiten».
durch die Genfer Oligarchie und das Verbot seiner
politischen Bücher Emil oder über die Erziehung und Vom       Calonder war überzeugend genug, um den Widerstand
Gesellschaftsvertrag, die öffentlich verbrannt wurden, ein    von rechts und von links zu brechen. Im November 1919
Dorn im Auge. Für sie war es Ehrensache, ihren zweiten        stimmten beide Kammern seiner Interpretation der Neu-
Sohn sieben Jahre lang Martin Planta anzuvertrauen, damit     tralität zu. Das – wenn auch unsichere – Versprechen auf
er bei ihm eine avantgardistische Ausbildung erhielt.         einen auf Recht beruhenden internationalen Frieden, und
                                                              die Rolle als Hüterin, die Genf und die Schweiz dabei spie-
Etwa fünfzig Knaben wurden in Haldenstein in den              len könnten, hatten seine juristische Fantasie in Gang ge-
Sprachen Französisch, Deutsch und Italienisch sowie in        setzt. Das Volk gab ihm Recht, indem es im folgenden Jahr
Geschichte, Geografie, Mathematik, Logik, Musik und Tanz      für den Beitritt stimmte.
unterrichtet. Körperliche Ertüchtigung und handwerkliche
Arbeiten vervollständigten eine auf republikanischen          Genf verdankt Calonder die Position als internationale
Idealen basierende Erziehung, mit der die jungen Leute        Stadt, um die sie bis zum letzten Moment mit Brüssel
auf eine grosse Karriere vorbereitet werden sollten. Das      konkurrierte.
Zwischen Genf
und Frauenfeld
Hüter der Eidgenossenschaft

Von Joëlle Kuntz

I
     m Jahr 1852 wird der Thurgauer Kantonsrat                lichen Stadt». Am nächsten Tag um 14 Uhr trifft die
     Johann Konrad Kern für drei Monate als Kommissar         Truppe in Genf ein. Der Bahnhof ist voller Menschen.
     der jungen Eidgenossenschaft nach Genf geschickt.        Die Kaserne ist schmutzig und in einem schlechten
     Ihm obliegt die Aufgabe, die politischen Bewe-           Zustand. Sie müssen Ordnung machen. Die Nahrung
gungen und Aktivitäten der ausländischen Revolutio-           ist ungewohnt, aber erträglich, auch wenn der Apfel-
näre zu untersuchen, die in die Schweiz geflohen sind,        saft fehlt. Die Betten sind ebenfalls schmutzig.
dem einzigen europäischen Staat, dem es vier Jahre zu-
vor gelungen ist, das Ancien Régime abzuschaffen. Die         Am nächsten Tag spazieren sie durch die Strassen. Dort
umliegenden Monarchien sehen die Eidgenossenschaft            gibt es viel zu sehen und jede Menge Bistros. Sie geben
als ein Nest der Subversion und verlangen von Bern            viel Geld aus, zu viel findet Soldat Brugger.
die Auslieferung aller Flüchtlinge. Der Bundesrat wi-
dersetzt sich, weist die Kantone aber an, die Zahl und        Ihr Dienst ist nicht besonders anspruchsvoll. Sie sind
Identität der Flüchtlinge zu kontrollieren. Genf verneint     zur Überwachung da, nicht mehr. Sie finden die Genfer
die Anwesenheit französischer Flüchtlinge auf seinem          sympathisch und diese sind ihnen wohlgesonnen.
Boden. Kern soll das überprüfen. Er findet welche und         «Die Genfer haben Schweizer Blut», versichert der
verpflichtet die Genfer Regierung, sich an die Anwei-         berichterstattende Soldat. Das Bataillon bleibt drei
sungen des Bundes zu halten.                                  Wochen und verlässt Genf mit einer Berner Eskorte
                                                              und Wein. Sie sagen der «schönen Stadt» Adieu und
Später, im Herbst 1864, wird eine eidgenössische Truppe       ermahnen sie, dem Vaterland verbunden zu bleiben
nach Genf entsandt, um die öffentliche Ordnung auf-           und ihm ebenfalls zu Hilfe zu kommen, sollte dies
recht zu erhalten, die durch einen heftigen Wahldisput        nötig sein. Kaspar Brugger kommt an Weihnachten
zwischen Radikalen und Unabhängigen (die spätere              nach Hause, mit einem sensationellen Geschenk für
liberale Partei) gestört wird. Die Staatsratswahlen vom       die Seinen: ein Foto von ihm, Genf im Hintergrund,
21. August sind stürmisch. Auf der Liste der Unabhäng-        das Ganze aufgenommen von einem Fotografen. In
igen tritt ein Bankier gegen den Radikalen James Fazy         Frauenfeld gibt es noch keine Berufsfotografen.
an. Und besiegt ihn mit einem Mehr von 300 Stimmen.
Die Radikalen als Herren des Staatsapparates weigern          Die Thurgauer Truppe kommt fast ein Jahrhundert
sich, das Resultat anzuerkennen. Die Unabhängigen             später wieder nach Genf, nämlich 1954, um die
rufen zu den Waffen, die Radikalen schiessen in die           Delegationen der Indochina-Konferenz zu schützen.
Menge, es gibt drei Tote und acht Verwundete. Die             Das 31. Regiment beteiligt sich an der Wache für die
Eidgenossenschaft wird um Hilfe angerufen.                    französischen, russischen, amerikanischen, britischen
                                                              und chinesischen Minister. Was für ein Erlebnis!
Der Thurgau stellt das Bataillon 14 zur Verfügung. Die Sol-
daten sind angehalten, sich ausgerüstet und bewaffnet         An der Palästina-Konferenz 1983 sorgt ein Thurgauer
auf dem Zeughausplatz in Frauenfeld einzufinden. Sie          Panzerbataillon für den Schutz des Genfer Flughafens.
werden vom Regierungspräsidenten vereidigt und stei-
gen am Morgen des 3. Dezembers 1864 in einen Sonder-          Die Verbindung zwischen Frauenfeld und Genf ist die
zug. Der Soldat Kaspar Brugger aus Weinfelden erzählt,        eines Beschützers gegenüber einem Beschützten. Der
dass sie die Nacht in Biel verbrachten, einer «freund-        Thurgau ist der Hüter von Genf.
Zwischen Genf
und Glarus
Das Glück der Arbeit

Von Joëlle Kuntz

A
           ls erstes Gebäude für den Völkerbund wurde        Die Fabrikanten erhielten Ausnahmeregelungen und
           das Büro der Internationalen Arbeitsorgani-       das Thema Nachtarbeit wurde wieder aktuell. Doch
           sation gebaut. «Hier entsteht etwas, das es       die Bevölkerung hatte sich inzwischen an das Nacht-
           noch nie gegeben hat, ein Haus, in dem sich       arbeitsverbot gewöhnt und verlangte, dass es beibe-
die Völker endlich durch die einzige Geste solidarisieren,   halten werde. Im Jahr 1848 führte der Volksentscheid
die sie gleich und brüderlich macht: die Arbeit», hiess      der Landsgemeinde zum ersten Arbeitsgesetz in jener
es am Eröffnungstag im Jahr 1926. Vor dem Gebäude, in        Zeit. Darin wurden die Arbeitzeiten für alle Arbeiter,
dem heute die Welthandelsorganisation untergebracht          Erwachsene und Kinder, genau geregelt. Allerdings
ist, denkt man an Glarus und seine Vorreiterrolle im         galt das Gesetz nur für die Spinnereien. Diese Restrik-
Arbeitsrecht.                                                tion setzte eine neue Streikwelle in Gang, die zunächst
                                                             dazu führte, dass das Gesetz 1856 auf alle Industriebe-
Der Kanton Glarus führte 1848 als erster Kanton den          triebe ausgedehnt wurde. Im Jahr 1858 kam das Sonn-
normalen Arbeitstag mit 13 Stunden ein. Er war es            tagsarbeitsverbot dazu und nach und nach wurden die
auch, der den Arbeitstag 1872 auf 11 Stunden kürzte          Arbeitstage gekürzt: von 12 Stunden im Jahr 1864 auf
und der sich für das eidgenössische Fabrikgesetz             11 Stunden im Jahr 1872.
stark machte, das 1877 erlassen wurde – weltweit ein
Novum. Daraufhin engagierte sich die Schweiz dafür,          Über all die Jahre äusserten die Fabrikanten Bedenken
dass auch andere europäische Staaten soziale Normen          wegen der Kosten, die durch die gesetzlichen Beschrän-
einführten, um die wirtschaftlichen Bedingungen für den      kungen entstanden, sowie ihrer geschwächten Position
industriellen Wettbewerb zu vereinheitlichen. Gelungen       gegenüber der Konkurrenz. Doch 1874 fegte die Glarner
ist es ihr nicht, trotz zahlreicher Versuche. Doch die       Handelskommission alle Einwände vom Tisch, indem
Katastrophe des Ersten Weltkrieges gab der Schweiz           sie ein idyllisches Bild des 11-Stunden-Arbeitstages
Recht: Der nationale und internationale Frieden konnte       zeichnete: «Mit Freude lässt sich feststellen, dass die
nur durch mehr Respekt für die Arbeiter und durch eine       Arbeiter nicht mehr für ihre Mahlzeiten nach Hause und
allgemeine Verbesserung ihrer Bedingungen gesichert          danach wieder zur Arbeit hetzen müssen, sondern dass
werden. Normen mussten her, um alle Arbeiter einander        sie in Ruhe ihr Essen zubereiten können und sich die
gleichzustellen. Die Internationale Arbeitsorganisation      Ernährung verbessert hat. Sehr oft sieht man Arbeiter,
wurde 1919 ins Leben gerufen; ihre Satzung ist Tei des       die nach dem Essen im Vorgarten Holz hacken und sich,
Versailler Vertrages, aus dem der Völkerbund hervorging.     um es kurz zu sagen, mehr in Freiheit bewegen. Dadurch
                                                             hat sich die Gesundheit der Arbeiter verbessert. Auch in-
Eine Vorsichtsmassnahme war der Grund für das                tellektuell hat die Verkürzung der Arbeitszeit durchaus
avantgardistische Arbeitsgesetz im Kanton Glarus.            positive Auswirkungen gezeigt. Der Arbeiter […] kann
Die unzureichende Beleuchtung in den Textilfabriken,         die Beziehungen zu seinesgleichen besser pflegen. Der
die leicht entflammbare Baumwolle und der häufig             Geist ist lebendiger als früher […], die Kinder besuchen
auftretende Föhn im Tal der Linth stellten eine              häufiger eine Primar- oder Abendschule […]. Auch das
ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar.       Familienleben hat davon profitiert […].»
Der Landamann des Kantons folgte deshalb dem Rat
der Feuerversicherungskommission und ordnete 1824            Als 1919 die Internationale Arbeitsorganisation gegrün-
an, dass die Spinnereien im Winter um 20 Uhr und im          det wird, beteiligt sich die Schweiz eifrig an der Aus-
Sommer um 21 Uhr zu schliessen seien. Damit wurde die        arbeitung der Normen. Die Schweizer Textilindustrie
Nachtarbeit de facto abgeschafft.                            jedoch steckt in einer Krise. Viele Glarner wandern aus
                                                             und gründen New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin.
Während etwa fünfzehn Jahren wurde die Verordnung            Die verbliebenen Glarner stimmen gegen den Beitritt der
strikt befolgt, dann kam es immer öfter zu Verstössen.       Schweiz zum Völkerbund.
Zwischen Genf
und Herisau
Ein Genie fällt in Ungnade

Von Joëlle Kuntz

H
           erisau nahm Henry Dunant in Heiden auf,          die Entstehung des Roten Kreuzes, in dem er Dunants
           als Genf nichts mehr von ihm wissen wollte.      Rolle als Gründer betonte. Und das Buch, mit dem alles
           Ruiniert, als Bankrotteur verachtet und          begonnen hatte, Un Souvenir de Solférino, wurde
           von seinen Gläubigern verwünscht. Heiden         unter dem Titel Eine Erinnerung an Solferino auf Deutsch
nahm sich seiner an und gab ihm ein neues Leben.            übersetzt. Auch die österreichische Pazifistin Bertha
Unter seinem Schutz wurde Dunants Name wieder zu            von Suttner besuchte und unterstützte ihn. Aus dem
einem grossen Namen.                                        Heidener Flüchtling wurde wieder Henry Dunant. Von
                                                            Neuem begann er, gegen den Militarismus zu kämpfen,
Herisau liegt 356 Kilometer von Genf entfernt, Heiden       sich für die Frauenrechte einzusetzen, die Ausbildung
noch ein bisschen weiter. Die nötige Distanz, um zwei       von Krankenschwestern, die Schaffung einer Weltbiblio-
ehemalige Genfer Komplizen zu trennen, die sich in-         thek, die Gründung des Staates Israel.
zwischen hassten: Henry Dunant, Prophet, Erfinder des
Roten Kreuzes, humanitärer Propagandist und Gustave         Im Jahr 1901 erreichte ihn in Heiden die Mitteilung,
Moynier, Verwalter und pragmatischer Organisator der        dass ihm das Komitee des norwegischen Parlaments
Rotkreuz-Bewegung. Dunant, der Verrückte, Moynier,          den Friedensnobelpreis verliehen hatte, gleichzeitig mit
der Weise. Genf behielt den Weisen, der das Rot-Kreuz-      dem französischen Pazifisten Frédéric Passy. Im selben
Gebäude baute; Appenzell Ausserrhoden nahm den              Jahr waren auch Gustave Moynier und das Internationale
Verrückten mit seinem Messianismus.                         Komitee des Roten Kreuzes nominiert worden.

Dunant entdeckte Heiden 1881 durch einen Freund aus         Dunant starb 1910, zwei Monate nach Gustave Moynier.
Stuttgart. Er führte damals ein Leben in Armut und          Zu einer Versöhnung kam es nie. Die Zeit hat die Spuren
Einsamkeit, verfolgt von seinen Genfer Missgeschicken       ihres auf Temperament- und Charakterunterschieden
und untröstlich über den Verlust von Glanz und Ruhm.        beruhenden Streits ausgelöscht: Obschon es empfeh-
Er mochte den Ort, nicht wegen der Molkekuren, für die      lenswert ist, ein Budget im Griff zu haben, ist ein Kon-
Heiden berühmt war, sondern wegen der Freundschaf-          kurs keine Schande mehr. Was die avantgardistischen
ten, die ihm entgegengebracht wurden, von der Familie       Visionen angeht, so sind sie noch immer suspekt, aber
Stähelin im Gasthof Paradies, vom Arzt Hermann              man hat sich daran gewöhnt.
Altherr im Bezirkskrankenhaus und von anderen, denen
Dunants vor Ressentiments und Wut brodelnde Persön-         Appenzell Ausserrhoden und Genf bewahren nur Spuren
lichkeit zu Herzen ging. Und er mochte Heiden, weil ihn     des Streits, diese sind aber umso bezeichnender: Heiden
der Anblick des Bodensees an den Genfersee erinnerte,       hat das Henry-Dunant-Museum, Genf das Internationale
an seine Vergangenheit am anderen Ende der Schweiz.         Rotkreuzmuseum.
Sein Mut kehrte zurück.
                                                            Am 1. Januar 2000 haben die kleine Gemeinde am
Er begann, seine Memoiren aufzuschreiben. Eine junge        Bodensee und die grosse am Genfersee doch noch zu
Freundin, Suzanna Sonderegger, bot ihm an, in Heiden        einem historischen Zusammenschluss gefunden:
eine lokale Rotkreuz-Sektion zu gründen. Ein Sankt Galler   Jakob Kellenberger – 1944 in dem Spital geboren, in dem
Journalist führte ein langes Interview mit ihm, der Arti-   Dunant lebte – wird zum Präsidenten des Internationa-
kel erschien in einer deutschen Zeitung und ging um die     len Komitees des Roten Kreuzes gewählt. Das war nicht
ganze Welt. Vergessene Freundschaften kamen zurück.         einfach so vorgegeben, denn Kellenberger wuchs nicht
Der Bundesrat verlieh ihm einen Preis, Papst Leo XIII.      in Verehrung von Dunant auf. Seine Kindheit in Heiden
bedeutete ihm seine Anerkennung, die russische Za-          war eine ganz normale Kindheit. Aber als die Umstände
rin gewährte ihm eine jährliche Rente. Sein Stuttgarter     zu seiner Wahl führten, liess er es zu, das Fortbestehen
Freund, inzwischen Professor, publizierte ein Buch über     der humanitären Idee zu präsidieren.
Zwischen Genf
und Kreuzlingen
Gelebte Melancholie

Von Joëlle Kuntz

B
            is 1980 stand in Kreuzlingen eine berühmte         Starobinski in seiner Doktorarbeit, die 1960 heimlich
            psychiatrische Klinik, die 1857 von Ludwig         gedruckt wurde. «Der Patient leidet an einer Krankheit,
            Binswanger auf dem Gelände einer säkularisierten   aber er gestaltet sie auch, oder empfängt sie von seiner
            Abtei gegründet wurde. Um die Jahrhundert-         Umwelt. Der Arzt untersucht das Leiden, als wäre es
wende wurden dort so berühmte Patienten wie Bertha             ein rein biologisches Phänomen, aber durch eben jene
Pappenheim (die Anna O. aus Freuds «Studien über Hyste-        isolierte Betrachtung und durch ihre Benennung wird aus
rie»), der Kunsthistoriker Aby Warburg, der russische Tänzer   der Krankheit ein Vernunftgebilde, in dem ein besonderer
Nijinsky und der Maler Ernst Kirchner behandelt.               Moment jenes kollektiven Abenteuers zum Ausdruck
                                                               kommt, das wir Wissenschaft nennen. Vonseiten des
Unter dem Einfluss von Heidegger und Husserls                  Kranken, wie vonseiten des Arztes ist die Krankheit eine
Phänomenologie hatte Ludwig Binswanger (1881-1966),            kulturelle Gegebenheit, und als solche ändert sie sich mit
der Enkel des Gründers, die «Daseinsanalyse» entwickelt        den kulturellen Bedingungen.»
– eine Neuheit, für die die Elite der Psychiatrie in Scharen
nach Kreuzlingen pilgerte. Bei der Daseinsanalyse              Mit der Zeit trat der Arzt Starobinski immer stärker
geht es darum, aufzudecken, welche Beziehungen der             hinter dem Essayisten Starobinski zurück, dem Literaten,
Kranke zwischen sich und der Welt und anderen sieht.           dem Philosphen. In seinem letzten Buch «L’encre de la
Denn entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass          mélancholie» (Die Tinte der Melancholie), das 2012
der Kranke abgeschnitten von der Welt und von anderen          veröffentlicht wurde, unterwirft er die Kunst dem
entfremdet lebt, sah Binswanger in dieser Entfremdung          kühlen Blick der Untersuchung der «schwarzen Galle»
die vielleicht einzige Möglichkeit des Kranken, in der         jener «dunklen Wasser», aus denen Literatur entsteht.
Welt zu sein. Besondere Aufmerksamkeit galt daher              «Schreiben», so Starobinski, «bedeutet, auf einen weissen
dem Leben der Patienten. Noch vor der eigentlichen             Bogen Zeichen verdunkelter Hoffnung zu setzen; einer
Behandlung ging es also darum, sie zu begleiten und            Vielzahl von unterschiedlichen Vokabeln die Abwesenheit
ihnen zuzuhören.                                               einer Zukunft einzuprägen; die Unmöglichkeit des Lebens
                                                               zu verwandeln in die Möglichkeit des Sagens.»
Um 1958 lebte in Genf ein junger Akademiker namens
Jean Starobinski. Er war gleichzeitig Facharzt für Innere      In Kreuzlingen unterschied Ludwig Binswanger zwischen
Medizin und Oberassistent für französische Literatur. Bei      dem Heilen und dem Heil: der Behandlung und der Seelsor-
seiner Doktorarbeit in Medizin fiel ihm auf, dass in der       ge. Drei Jahre nach seiner Einweisung verliess der Kunst-
gesamten Fachliteratur über individuelle Krankheitsfälle       historiker Aby Warburg am 12. August 1924 die Klinik, in
immer jemand fehlte: nämlich der Kranke selbst, seine          der er wegen Schizophrenie behandelt worden war. Zum
lebendige Gegenwart und seine Art, die Krankheit zu (er-)      Beweis seiner Heilung hatte er dort einen Vortrag über das
leben. Der neuartige Ansatz der Kreuzlinger Gruppe war         Schlangenritual der Indianer Neu-Mexikos gehalten, an
wie für ihn gemacht. Er widmete seine Disseration der          dem er vor 26 Jahren teilgenommen hatte. Er war davon
Geschichte der Melancholiebehandlung. Die Schrift wurde        überzeugt, dass die Wiederaufnahme seiner wissenschaft-
somit gleichzeitig eine Geschichte der Wissenschaft,           lichen Tätigkeit Beweis seiner wiedererlangten Gesundheit
eine Geschichte der Melancholie und eine Geschichte            sein würde. Er sollte Recht behalten. Hatte Binswanger ihn
der Melancholiker von Homer über Rousseau bis hin zu           geheilt oder gerettet? Das sind die Fragen, die Kreuzlingen
Baudelaire und Kafka.                                          und Genf in den Köpfen ihrer jeweiligen Philosophen
                                                               beschäftigen und damit verbinden.
Mit dieser Mischung von Psychiatrie und Literatur entstand
unter der Feder von Jean Starobinski und in der Tradition      Das Gebäude des Sanatoriums Bellevue wurde 1990
der Kreuzlinger Schule ein kritisches Meisterwerk zur          abgerissen. Aber bei der offiziellen Vorstellung der
«gelebten Melancholie» in Genf. «Die Erkrankungen des          Gemeinde Kreuzlingen und ihrer Geschichte steht sein
Menschen sind keine natürliche Spezies für sich.», schrieb     Name weiterhin ganz oben.
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