ZWISCHEN GENF UND AARAU - DER HELVETISCHE RELIGIONSFRIEDEN - FONDATION POUR GENÈVE
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Zwischen Genf und Aarau Der helvetische Religionsfrieden Von Joëlle Kuntz A m Nachmittag des 11. August 1712 erklingen an eine Miliz erinnert. Wenn die ganze Armee aus solchen Trompetenfanfaren in der Stadt Aarau: Vertreter Truppen bestünde, wäre sie einfacher zu befehligen». der Kantone Zürich und Bern einerseits sowie Die Genfer tragen dazu bei, die Kämpfe zu Gunsten der der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden Protestanten zu entscheiden. Der Preis sind zehn Tote und und Zug andererseits haben den nationalen Frieden sieben Verletzte – wenig im Vergleich zu den Verlusten unterzeichnet und damit einen rechtlichen Strich unter auf Seiten der Katholiken. In der Chronik befindet sich ein die unzähligen Schikanen gezogen, denen sich die beiden Brief an den Genfer Justizsekretär J.-J. Trembley, in dem ein Konfessionsgruppen gegenseitig ausgeliefert haben. Adliger und Teilnehmer der Schlacht schreibt: «Unsere Zwischen den katholischen und den reformierten Orten Deutschen haben mit viel Standhaftigkeit gekämpft, der Eidgenossenschaft wird die konfessionelle Parität die Waadtländer gut, die Neuenburger passabel und die eingeführt. Genfer wie die Löwen. Ihnen gebührt der ganze Ruhm an diesem Tag oder jedenfalls fast der ganze.» Bern zeigt Ein bisschen ist der Frieden von Aarau auch Genf sich dankbar. Trembley selbst berichtet: «Der Ehre und zu verdanken. Der vierte Landfrieden beendet einen Würdigung, die unseren Soldaten zuteil werden, lässt sich kurzen, heftigen Konflikt: Zwischen Frühling und nichts hinzufügen, man spricht nur von denen aus Genf, Sommer 1712 wütet der blutigste Religionskrieg, den welche die Berner Herrschaften seit dem Krieg als ihre die Schweiz je gekannt hat. In Villmergen stehen sich besten Verbündeten betrachten.» katholische Kantone und die zwei protestantischen Kantone, die am meisten Macht im Toggenburg Die Allianz wirkt in beide Richtungen. Oligarchen und ausüben, gegenüber. Genf, durch einen Vertrag an Bern Aristokraten verstehen sich bestens. Genf verfolgt Jacques- und Zürich gebunden, nimmt ebenfalls teil und erfüllt Bathélémy Micheli du Crest, einen kritischen Geist, dem damit das erste und einzige Mal in der Geschichte der vorgeworfen wird, Ideen zu verbreiten, die dem Rat alte Eidgenossenschaft seine militärische Solidarität, der Zweihundert zuwiderlaufen und zwar just, was die zu der die Allianz verpflichtet. Verteidigung und den Festungsbau angeht. Micheli du Crest muss flüchten, genau wie Rousseau sieben Jahre zuvor. Die beteiligten Armeen liefern sich ein erbittertes Gefecht. Im Jahr 1735 wird er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zunächst sind die Reformierten erfolgreich und erobern Micheli du Crest flieht nach Frankreich, wo er ebenfalls die Fürstabtei St. Gallen, dann Baden. Sie unterbreiten aufklärerisches Gedankengut verbreitet und damit zur den Katholiken einen Friedensvertrag, den diese jedoch persona non grata wird. Er kehrt zurück in die Schweiz, mit einer Vehemenz ablehnen, die durch apokalyptische irrt von Zuflucht zu Zuflucht. 1746 wird Micheli du Crest Prophezeiungen angeheizt wird. in Neuenburg auf Befehl von Genf und Bern verhaftet und in die Festung Aarburg gebracht. Er bleibt ein Gefangener Im Juli greifen die Katholiken die Berner mit 9000 Mann Berns bis wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1765. an, verwunden General von Diesbach und erzwingen den Rückzug. Die Truppen stehen kurz vor der Auflösung, Während seiner Aargauer Haftzeit beschäftigt sich der als der bereits betagte Samuel Frisching, Präsident des Genfer, der bereits ein Thermometer entwickelt hat, Berner Kriegsrates, das Oberkommando übernimmt und mit barometrischen Höhenmessungen. Ohne Höhe sie mit einem leidenschaftlichen Appell noch einmal und Entfernung messen zu können, zeichnet er ein zusammentrommelt. Die Genfer gehören zu den ersten, die Alpenpanorama, das er in Leder gravieren lässt. Er sieht reagieren. Mit dreihundert Mann ziehen sie in die Schlacht, und zeichnet die neue Welt, die nach und nach die alte Seite an Seite mit Neuenburgern und Waadtländern, ersetzt. Mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod befreit darunter Abraham Davel. General Tscharner ist der sich der Aargau im Zuge der französischen Revolution Meinung, dass «diese Truppe wohlgeordnet ist und nicht von Bern. Schuld ist Rousseau.
Zwischen Genf und Altdorf Eine Geschäftsidee Von Joëlle Kuntz I m 14. Jahrhundert ist Genf ein Zentrum für einen weiteren Genfer engagiert, Daniel Colladon, internationale Märkte. Uri verwaltet die Brücke den Erfinder der Druckluftbohrmaschine, der in der Schöllenen-Schlucht, die dem Warenhandel bereits mit seinen Bohrungen am Mont-Cenis für über den Gotthard dient. Urner und Genfer schlagen Aufmerksamkeit sorgte. Zwischen 2000 und 4000 gleichzeitig in der Geschichte eine kaufmännische Italiener arbeiten auf den Baustellen. Ihre Arbeits- und Richtung ein. Sie sind von gleichem Schlag. Uri besitzt Lebensbedingungen sind prekär. Favre hat Gebäude inzwischen die neuen Alpentransversalen. Genf die für fast eintausend Arbeiter errichten lassen, aber Welthandelsorganisation. Eine Kultur verbindet sie: das reicht nicht aus. Vor allem in Göschenen hausen der Güteraustausch. Eine Geschichte verbindet sie: viele Italiener zusammengepfercht in schmutzigen die Verteidigung der wirtschaftlichen und politischen Privatunterkünften, für die sie horrende Preise zahlen. Voraussetzungen für den Handel sowie Strassen und Im Tunnel selbst ist der Sauerstoff knapp, die Luft mit Steuern. tödlichen Gasen durchsetzt. Dynamit und Erdrutsche führen immer wieder zu Unfällen. Im Jahr 1876 bricht Ein Mann verbindet sie: der Genfer Tunnelbauer Louis auf der Baustelle Göschenen ein Streik aus. Die Miliz Favre, der den ersten Eisenbahntunnel durch den wird gerufen und von den Arbeitern mit Steinwürfen Gotthard baute. Die dramatische Geschichte seines empfangen. Die Streitkräfte schiessen. Vier Tote. Ein Unternehmens zeugt von rücksichtslosem Wettbewerb, eidgenössischer Kommissar wird ernannt und mit der technischem Genie, Mut, Ausdauer, Geldgier, Lügen und Untersuchung beauftragt. Sein Bericht belastet Favre, Neid – Tugenden und Laster einer Epoche, in der die Alpen der sich energisch verteidigt und vermutet, dass erobert wurden. Favre wagt alles, um sich den Auftrag zu Ingenieure der Gotthardbahngesellschaft hinter den sichern: Er will den Tunnel in acht Jahren fertigstellen, Anschuldigungen stecken. ein Jahr weniger und mehr als 12 Millionen Franken günstiger als sein Hauptkonkurrent. Jede Verzögerung Die Gesellschaft sucht den Konflikt und hindert Favre geht zu seinen Lasten. Damit wird die Zeit zu seinem daran, mit den Maurerarbeiten im Tunnel fortzufahren, grössten Feind. Doch es gibt noch andere Feinde: Die obwohl er sie für unerlässlich hält. Der Genfer wendet sich Gotthardbahngesellschaft, gegründet 1871 unter Alfred an den Bundesrat – erfolglos. Am 1. August 1879, mitten Escher mit Kapital aus der Schweiz, Deutschland und im Tunnel und umgeben von seinen Arbeitern, bleibt sein Italien, die möglichst rentabel wirtschaften muss, Herz stehen. Favre stirbt mit 53 Jahren. Dabei hat er erst immer darauf bedacht, die Kosten für die ergänzende grad vom deutschen Verkehrsminister einen Brief erhalten, Infrastruktur, inklusive Sicherheit, möglichst gering der ihn hätte trösten sollen: «Damit ist eine wichtige zu halten. Oder die Ingenieure, allzeit bereit, Favres Etappe in diesem grossen Unternehmen geschafft, in dem Entscheidungen anzufechten, in der Hoffnung, seinen bislang einzig Ihr Genie der Schlüssel zum Erfolg gewesen Platz einnehmen zu können. Oder die Techniker aus ist.» Die Arbeiten werden mit zwei Jahren Verspätung Zürich, deren Anliegen bei der Bundesverwaltung auf abgeschlossen. Der Preis sind 177 Tote und 500 bis 800 offene Ohren stossen und die davon profitieren, um Arbeiter, die an sogenannten Mineurkrankheiten leiden, das Vorgehen Favres zu diskreditieren. Oder die kleine, verursacht durch die giftigen Gase im Tunnel. Favres ländliche Gemeinde Göschenen, die in beschämender Unternehmen wird hochverschuldet aufgelöst. Noch Jahre Weise mit den Bedürfnissen der Arbeiter spekuliert. danach betreibt die Gotthardbahngesellschaft Favres Und dann ist da noch der Fels: unberechenbar, Erben. widerspenstig, gefährlich. Uri und Genf verbindet die ganze Geschichte des Im Oktober 1872 eröffnet Favre die Baustellen in 19. Jahrhunderts, Fortschritt und Misere, in dieser Göschenen und Airolo. Er ist 46 Jahre alt. Favre hat Reihenfolge.
Zwischen Genf und Appenzell Patriotische Unstimmigkeiten Von Joëlle Kuntz N icht zum ersten Mal treffen Genf und Appen- und bedrohlich für den französischen Thron, dass König zell aufeinander, trotz der geografischen und Heinrich IV. jede mögliche Unterstützung bereitstellte, um kulturellen Distanz, die sie zu trennen scheint. den Herzog von Savoyen zum Frieden zu zwingen. Auch Im Jahr 1515, nach der Schlacht bei Marignano, Appenzell gehörte dazu. Der Kanton war 1513 in die trafen sich die Abgesandten aus der Schweiz, darunter auch Eidgenossenschaft aufgenommen worden unter der Beding- Vertreter des frisch in die Eidgenossenschaft aufgenomme- ung, in allen Konflikten, die nicht die Eidgenossenschaft nen Appenzells, mit den Botschaftern von König Franz I. als Ganzes betrafen, neutral zu bleiben. Daher konnte in Genf, um ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Als er zusammen mit Solothurn, Basel, Schaffhausen und Vermittler amtete des Königs Onkel, der Herzog von Savoyen. Glarus eine durchaus glaubwürdige Vermittlerrolle Am 7. November einigte man sich über den Wortlaut zwischen Genf und Savoyen übernehmen. eines Vertrages, den allerdings nicht alle beteiligten Kantone ratifizierten. Im Jahr darauf, 1516, wurde er durch den Frei- Allerdings hatte sich der Kanton 1597 in zwei Halbkan- burger Vertrag, die sogenannte «Ewige Richtung», ersetzt. tone aufgespalten, einen katholischen und einen protes- tantischen. Da beide Halbkantone ihren vormals gemein- Später führten religiöse Spannungen zu Rissen im Bünd- samen Verpflichtungen weiterhin nachkamen, waren in nis. Im Jahr 1571 begaben sich zwei Genfer Abgesandte ins Genf zwei Appenzeller Delegationen präsent. Appenzell in der Hoffnung, der Kanton würde den Beitritt Genfs in die Eidgenossenschaft unterstützen. Sie wurden Die Herren Diplomaten hielten sich bis im Juli 1603 in der mit aller Höflichkeit empfangen, erhielten aber keine Ant- Stadt auf, bis zu dem Tag, an dem der Vertrag von Saint- wort. Appenzell wollte zunächst mit den anderen Eidgenos- Julien unterzeichnet wurde, der Genf die politische Unab- sen Rücksprache nehmen. Diese vertraten keine eindeutige hängigkeit und den Genfern das Recht auf Freizügigkeit Meinung, sodass man die Antwort schuldig blieb. In Tat und in Savoyen zusicherte. Sie wurden mit Lob überschüttet. Wahrheit war der Kanton alles andere als begeistert von der Der Originalvertrag, ehrfürchtig verwahrt in den Genfer Idee, eine weitere protestantische Stadt in die Föderation Archiven aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung, aufzunehmen und protestierte entsprechend, als Genf sich trägt die Unterschriften und Siegel beider Appenzeller mit Bern und Zürich verbündete. Dieser Schritt, dieses Ein- Halbkantone. dringen durch die Hintertür, machte die Schweiz in seinen Augen zum Zentrum der Reformation. Im Jahr 1604 stellten Jean Sarasin, Mitglied des Rates, und Daniel Roset eine Genfer Abordnung zusammen, die sich Nun ist es aber nicht so, dass sich das katholische Appenzell in die Vermittlerkantone begab, insbesondere nach Appen- überhaupt nicht für das protestantische Genf interessierte, zell, um die Danksagungen zu erneuern. Später, 1673, als im Gegenteil: 1603 nahmen die drei adligen Appenzeller der Herzog von Savoyen den von ihm unterzeichneten Frie- Ulrich Näff, Jean Heimen und Sebastien Thoring an den densvertrag erneut verletzte, schlossen sich beide Appen- internationalen Vermittlungen teil, die dazu führten, zell den anderen Vermittlerkantonen an, um den Herzog zur dass der Herzog von Savoyen Genfs Unabhängigkeit Ordnung zu rufen. Die religiösen Gegensätze waren eine anerkannte. Sache, die diplomatischen Interessen eine andere. Ein Jahr zuvor, in einer dunklen Dezembernacht, hatte der Napoleon wurde gestürzt. An der ersten Abstimmung der Herzog tatsächlich einen Überraschungsangriff auf die Stadt Tagsatzung über die Aufnahme von Genf in die Eidgenossen- gewagt, und damit gegen alle diplomatischen Verpflichtun- schaft nahm Appenzell Ausserrhoden nicht teil, obwohl die gen verstossen. Wie in den besten Verschwörungsszenarien Siegermächte dies wünschten. Bei der zweiten Abstimmung führten glückliche Umstände dazu, dass die Genfer die sagte der Halbkanton Ja und, wie so oft, «ad referendum». Attacke abwehren und die Savoyer Truppen zurückdrän- Seitdem pflegen die beiden Kantone ihre Unstimmigkeiten gen konnten. Doch der Angriff war derart niederträchtig in bester patriotischer Kollegialität.
Zwischen Genf und Baden Ein lang gehegter Traum wird wahr Von Joëlle Kuntz M it Baden verknüpfte Genf eine Hoffnung: nossenschaft stärken und der verlorene Boden könnte den Zugang zur Tagsatzung, um sich nicht wieder gutgemacht werden. Dagegen wäre es jetzt direkt für seine Unabhängigkeit und seine möglich, ohne Kosten, Mühe und Arbeit einen Beitrag Sicherheitsbedürfnisse einsetzen zu kön- an die Ehre und den Wohlstand der Eidgenossenschaft nen. Baden war ein bevorzugter Ort für die Tagsatzung. zu leisten …» Aber ach! Stadt der Bäder, der Ruhe, Untertanenstadt zwar, aber klug und besonnen. Hier wurden die Jahresrechnungen Diesem Standpunkt konnten vier reformierte Kantone sämtlicher gemeiner Herrschaften abgenommen. etwas abgewinnen, fünf katholische waren dagegen. Würde Baden der nach Sicherheit strebenden Rhone- Die kleinen gemischten Kantone waren geteilter Mei- stadt einen Platz gewähren? Aber ach! nung. Solothurn und Freiburg, beide katholisch, teilten die strategischen Ziele von Zürich und Bern. Die Tagsat- Genf stand dank eines Vertrages aus dem Jahr 1526 unter zung traf daher keine Entscheidung. Berner Schutz. Durch den Beitritt zur Eidgenossenschaft erhoffte sich die Stadt eine vielfältigere und breitere Un- Genf musste sich mit separaten, fragilen Bündnissen terstützung, so wie sie Mülhausen und Rottweil zuteil begnügen, abhängig von regionalen und internationa- wurde. 1557 richtete sie eine entsprechende Anfrage an len Gegebenheiten. So sehr sie sich auch beschwerte, nie die Tagsatzung und bekam zur Antwort, dass es im Falle wurde die Stadt zu den Beratungen in Baden eingela- einer Bedrohung der Tagsatzung und der ganzen Eidge- den. Nie war sie Teil der politischen und sozialen Elite nossenschaft in der Tat «sehr nützlich wäre, Genf zu den der Schweiz, die in Baden offizielle und inoffizielle In- eigenen Reihen zählen zu können». Aber ach! formationen austauschte. Mit diesen Worten verwiesen die Kantone auf einen mög- Genf führte sein Leben anders. Im Jahr 1815 wurde lichen Vorteil, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Die die Stadt mit der Schweiz vereinigt, weil es in Baden «Genfer Frage» liess Baden nicht mehr los. Von der zwei- keine zögernde Tagsatzung mehr gab. 1846 kam es in ten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des Genf zur Revolution; die Stadt wollte sich am Krieg 17. Jahrhunderts stand sie auf der Badener Tagesordnung. gegen die katholischen Kantone, die sie so lange aus- Die Verfechter der katholischen Gegenreform, die sich geschlossen hatten, beteiligen. Danach hatte Genf in hinter Luzern stellten, sahen keinen Nachteil darin, dass Baden nichts mehr zu fordern, und Baden war froh, sich Savoyen der Stadt Genf bemächtigten wollte, um sie nicht mehr über die «Genfer Frage» nachdenken zu dem Heiligen Stuhl zurückzuführen. Die reformierten müssen. Alle Dossiers wurden an die Hauptstadt Bern Kantone hatten es dagegen eilig, Genf durch das eidge- übergeben. nössische Bündnis zu schützen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Als im Jahr 1847 Die konfessionellen Divergenzen wurden durch strate- die erste Schweizer Eisenbahnlinie eröffnet wurde, gische Interessen abgeschwächt. Im Jahr 1572 setzten die Spanisch-Brödli-Bahn, mit der frische Brötchen Solothurn, Bern und Freiburg die geopolitische Lage in einer halben Stunde von Baden nach Zürich trans- Genfs, die sie als «Schlüssel und Allee der Eidgenos- portiert werden konnten, hatte Genf grosse Entwick- senschaft» beschrieben, auf die Badener Agenda. lungspläne, träumte von Bahnen, Schiffen und Autos, «Liesse man sich diese günstige Gelegenheit entgehen, investierte in Stahl, Maschinen, Chemie und Strom – begründeten sie, würde das den Erbfeind der Eidge- wie Baden, nach der Moderne strebend.
Zwischen Genf und Basel Ein wunderbarer Fischzug Von Joëlle Kuntz R eligion und Spiritualität sind in beiden Städten Petrusaltar übrig bleibt, wird von einer barmherzigen zuhause: erst das Konzil, dann Erasmus und Seele versteckt und verschwindet für viereinhalb Jahr- Ökolampad in Basel, der Bischof, die Reforma- hunderte aus dem europäischen Bewusstsein. tion und Calvin in Genf. Da und dort entste- hen Visionen über die Existenz und die Welt, denen eines In Basel, wo die Persönlichkeiten des Konzils zahlreiche gemeinsam ist: Tragweite und Radikalität. Zu Beginn der Begabte und Künstler um sich scharen, entsteht eine Renaissance und in stillem Einvernehmen zeigen sich die Vorliebe für das Geschriebene, das Bild, die Kunst. Aus beiden Gründungsstädte des Denkens, der Kunst und der Buchdruckern werden Sammler. Die Sammlungen werden Politik von ihrer ehrgeizigen Seite. vom Vater an den Sohn vererbt. Im Kabinett von Basilius Amerbach, dem ersten Basler Sammler, finden sich 1586 Am Anfang steht das Konzil von Basel. Eine grosse Ver- unter anderem 104 Zeichnungen von Holbein und Dürer, sammlung (zeitweise mehrere zehntausend Personen), das Lob der Torheit von Erasmus mit Illustrationen von von langer Dauer (1431 bis 1449), hochrangig (Kardinäle, Holbein, etwa fünfzig der schönsten Bilder Holbeins, Bischöfe, Prinzen, Herzöge, Barone und Ritter) und belesen darunter die Werke Schreibender Erasmus und Der (Hunderte von Kopisten, Graveuren, Illustratoren). Ziel ist Leichnam Christi, dreitausend Grafiken, 1866 Zeichnungen es, den Dialog innerhalb der katholischen Christenheit, von deutschen oder Schweizer Meistern und zahlreiche der unter den abtrünnigen böhmischen Hussiten gelitten antike Kuriositäten aus archäologischen Ausgrabungen. hat, wiederherzustellen. Die Versammlung endet in einem Legitimitätskonflikt: Das Konzil ignoriert den Papst in Rom, Als ein niederländischer Händler diesen Schatz erwerben enthebt Eugen IV. seines Amtes und ersetzt ihn durch Ama- möchte, kauft der Basler Rat auf Anraten von Bürgermeister deus VIII., Graf von Savoyen, der 1440 unter dem Namen Wettstein das Kunstkabinett für 9000 Reichstaler und Felix V. feierlich eingesetzt wird. Amadeus gehört die Graf- gibt es in die Obhut der Universität, wo alsbald ein grosses schaft Genf, allerdings ohne die Stadt. Diese ist Eigentum Kunstfachwissen aufgebaut wird. des Bischofs, zu jener Zeit François de Metz. Der Benedik- tinermönch begibt sich nach Basel, wo er den deutschen Dieses Kunstwissen wirkt sich 1901 auch in Genf aus: Der Maler Konrad Witz entdeckt, der seit Beginn des Konzils Konservator der Schönen Künste in der Stadt am Rhein, in der Stadt weilt. Er betraut ihn mit der Ausführung des Daniel Burckhardt-Werthemann, verkündet in diesem Petrusaltars für die Genfer Petrus-Kathedrale. Das Werk Jahr, dass die zerbrochenen Teile des Petrusaltars von wird 1444 beendet und signiert. In der Zwischenzeit hat Konrad Witz wieder aufgetaucht seien und bestätigt der savoyische Gegenpapst den Bischof von Genf zum deren Echtheit. Tatsächlich fand der Genfer Archäologe Gegenkardinal gemacht. Jacques Mayor im Untergeschoss der Universität zwei grosse Tafeln des Altaraufsatzes, 1444 gefertigt und Nun hat Genf einen Prälaten, hervorgegangen aus einem mit Magister Conradus Sapientis de Basilea signiert. populistischen Aufstand im Herzen der Kirche, einen Burckhardt-Werthemann untersuchte die Tafeln im Gegenpapst in der Nachbarschaft und ein Gemälde, das Kerzenlicht und fand Ähnlichkeiten mit zwei anderen in die hierarchische Ordnung von Befehl und Ausführung Strassburg gefundenen Tafeln, der Heiligen Katharina durcheinanderbringt, denn Witz entscheidet selber, was und der Heiligen Maria-Magdalena, sowie der Begegnung und wie er malt: Er setzt Petrus vor die getreu abgebildete Joachims und Annas an der Goldenen Pforte, einem von Landschaft des Genfer Seebeckens, eine Premiere. einer Basler Sammlerin erworbenen Werk. Aber was bedeutet Sapientis? Der Weise? Burckhardt-Werthemann Nicht unter Calvin, sondern unter Farel wird der Altarauf- konsultierte eine von einem Fachmann erstellte Liste mit satz 1536 von den Bilderstürmern der Genfer Reformation den Namen von Basler Künstlern, darunter auch Konrad zerstört. Jener Farel, der so masslos war, dass Erasmus Witz aus Rottweil. Witz im Sinne von gewitzt, klug. Der ihn in Basel loswerden wollte, und den der Reformator pfiffige Konrad hielt Genf den ersten Spiegel vor, unter Ökolampad vergeblich zu mässigen suchte. Was vom den wohlwollenden Augen von Jesus Christus.
Zwischen Genf und Bern Ein strategisches Einvernehmen Von Joëlle Kuntz M al ehrlich: Genf und Bern teilen eine grosse, Das zweite Streitgespräch mit Rive findet im Juni 1535 ziemlich stürmische Geschichte. Gehen wir ohne Gegner statt: Die religiösen Autoritäten haben die zurück ins 16. Jahrhundert. Im Jahr 1524 Einladung abgelehnt. Ein triumphierender Farel steigt wird Guillaume Farel, ein französischer Intel- Ende August auf die Kanzel der Genfer Kathedrale. Nach lektueller und Reformator, auf Drängen von Erasmus von seiner Predigt werden Altar und Bilder zerstört. Am 27. Rotterdam aus Basel vertrieben. Erasmus hat Mühe mit wird die Messe verboten. Im Mai 1536 wechselt Genf Farels dogmatischen Auslegungen und dessen rücksichts- offiziell zum reformierten Glauben. So wird Genf für die losem Eifer. Er gibt ihm den Übernahmen Phallicus (der protestantische Sache gewonnen, die doch in erster Linie Lüsterne). Bern, von Zwingli 1528 für die Reformation Berner Politik ist. Eine dauerhafte Sache, die sich über gewonnen, spannt Farel ein, um in den von Aigle, Ollon, Jahre bewährt, auch wenn sich Farel, unter dem Einfluss Bex und Ormont annektierten französischen Mandements von Calvin, schliesslich gegen das kirchliche System von zu predigen. Von dort aus und bestens beschützt durch Zwingli wendet und am Ende sogar den «Cäsaropapismus» Pierre Giraud, einem ehemaligen Schüler aus Meaux und der Berner anprangert. inzwischen Kanzler in Bern, geht er als Wanderpfarrer nach Neuenburg, wo er 1530 die neue Lehre einführt, dann nach Bern steht Genf, wenn auch halbherzig, zur Seite, als Genf, wo er 1532 als «Gesandter Jesu Christi» eintrifft. Savoyen die Stadt 1589 angreift. Und auch 1602 während der «Escalade», als Savoyer Söldner die Genfer Stadtmauern Die Stadt liegt in Schutt und Asche, zerrissen von den erklimmen. Am Ende des Ancien Régime kämpfen Berner religiösen Kämpfen, die innerhalb der Kirche begonnen Aristokraten Seite an Seite mit Genfer Patriziern gegen hatten, und den politischen Auseinandersetzungen die von Stadt zu Stadt sympathisierenden Revolutionäre. zwischen den Befürwortern der Eidgenossenschaft Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte gehen in (Eidguenots) und den Anhängern Savoyens (Mammelus). der französischen Besatzung unter. Der Bischof, Pierre de la Baume, ist nicht zugegen. Seit 1848 teilen Genf und Bern nur noch administrative Die Sterne stehen günstig für den Vertreter und Angelegenheiten. Gleichgestellt und geschützt unter Propagandisten von Bern. Genf, durch die Angriffe von dem Dach der Eidgenossenschaft haben beide nicht nur Savoyen geschwächt, ist in der Tat auf die Unterstützung den Status der Kantonshauptstadt inne, sie tragen noch der Berner angewiesen, und die lassen sich teuer bezahlen, eine höhere Verantwortung: Bundeshauptstadt die eine, in Geld und in Macht. Sie zwingen dem Klerus Farels internationale Stadt die andere. Die eine wie die andere Anwesenheit auf unter der Drohung, die Allianz platzen zu Funktion baut auf ein Prinzip der Solidarität: Genf wäre lassen, wenn die Stadt ihre Schuld von 9000 Reichstalern ohne Bern nicht international und Bern ohne Genf nicht nicht begleicht und Farel keine Kirche zur Verfügung stellt, Bundeshauptstadt. Über die gegenseitige Abhängigkeit in der er predigen kann. Bern zählt auf Farel und ermutigt wird nicht gesprochen, oder nur selten. Fast scheint es, als und unterstützt sein Handeln. Farel begründet zum Beispiel ob eine Diskretionsklausel sie umhüllt, weil der Verdacht die öffentliche «Disputation», für die nur die Heilige Schrift auf Vetternwirtschaft das reibungslose Funktionieren des herangezogen werden darf – sola scriptura. Da der Klerus, «Schweizer Haushaltes» bedrohen könnte. immer bemüht die Tradition zu hüten, die Heilige Schrift nicht mehr kennt, ist er schnell schachmatt gesetzt. Der Genfer Archivar, 1959 gebeten die Beziehung der zwei Städte für den Regierungsrat zusammenzufassen, widmet Beim ersten dieser Streitgespräche im März 1534 wird er den militärischen Angelegenheiten unter dem Ancien überrollt und Farel hat die Zuhörer in der Kappelle von Cor- Régime drei Seiten. Er schliesst mit dem Kommentar: «Im deliers für sich. Auf die Proteste der Magistraten antworten 19. und im 20. Jahrhundert sind die Beziehungen zwischen die Berner Abgeordneten, dass «sie dem Volk nicht wegneh- den beiden Kantonen sehr freundschaftlich, es gibt nichts, men können oder wollen, was Gott ihm gegeben hat». was eine spezielle Erwähnung verdient.»
Zwischen Genf und Brig Strassen, Hotels, Züge Von Joëlle Kuntz G enf und Brig teilen sich denselben Fluss. Die Rhone Transportmittel, engagierte Maultiertreiber, sorgte für den fliesst durch Brig und verlässt die Schweiz in Genf. Strassenunterhalt und liess Depots bauen. Alles deutet darauf hin, dass es bald eine Auto- bahn zwischen Genf und Brig geben wird. Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Genfer Bankier Edouard Hentsch den ersten Finanzierungsplan für den Brig wartet schon lange darauf, Geburtsstadt des berühm- Bau des Simplontunnels vor. Hentsch war Leiter der ten Strassenbauers Ernest Guglielminetti, der 1862 das Banque nouvelle des Chemins de fer suisses (der neu- Licht der Welt erblickte. Der Arzt und Lungenspezialist en Schweizerischen Eisenbahnbank), die in Abhängig- erfand zunächst ein Atemgerät für Bergsteiger, Feuerwehr- keit des Comptoir d’escompte de Paris (CEP) gegründet leute und Taucher. Guglielminetti arbeitete auf Java und worden war, bei dem Hentsch das Amt des Verwaltungs- Sumatra, bevor er, ein Star seiner Branche, nach Monaco rates innehatte. Es gelang ihm, 96 Millionen Franken zu kam. Der Strassenstaub, aufgewirbelt unter anderem durch mobilisieren und das seit langem zögernde Italien für die ersten Automobile, war der grosse Feind der Lungen. das Vorhaben zu interessieren. Der Kupferkrach und die Prinz Albert bat den Arzt, etwas dagegen zu unternehmen. Krise der Panamagesellschaft führten allerdings 1889 Dieser erinnerte sich an ein Spital in Indonesien, in dem zum Zusammenbruch des CEP und das Simplon-Projekt die Holzwände zusätzlich mit einer Teerschicht überzogen wurde eingestellt. Brig musste zehn Jahre auf den Bau- waren. Er wollte diese Methode auf Monacos Strassen beginn des Tunnels warten, für den Genf viele Fahrgäste ausprobieren. Im Jahr 1902 wurde die Hauptstrasse ge- und noch mehr Kapital bereitstellte. teert. Den monegassischen Lungen ging es von da an viel besser und der Briger wurde unter dem Titel Dr. Goudron Ebenfalls als Kunden lernten vermögende Genfer César (französisch für «Teer») zum Freund des sauberen Verkehrs Ritz aus Niederwald kennen, der seine ersten Monate im befördert. Seine Erfindung setzte sich durch und ergänzte Hotelgewerbe in der Auberge des Trois Couronnes und sich bestens mit derjenigen des Schotten John McAdam, der Auberge de la Poste in Brig absolvierte. Er erfand der einen Strassenbelag zur Befestigung der Strassen- eine Form der Luxushotellerie, die Genf übernahm, zu- decke, den Makadam, entwickelt hatte. nächst um die reichen Touristen aus Grossbritannien zu beherbergen, später dann die hochrangigen Politiker des Auf Initiative des Touringclubs der Schweiz wurde die Völkerbundes. Wie Stockalper lange vor ihm war auch Strasse zwischen Genf und Lausanne geteert. Noch im Ritz als Mobilitätsunternehmer tätig und konzentrierte selben Jahr übernahm die Liga der Tourismusverbände sich ganz auf den Aufenthalt seiner Gäste im Luxusho- das neue Verfahren an ihrem internationalen Kongress in tel; auf diesen Moment, in dem sich die reisende High Genf und verbreitete es auf der ganzen Welt. General Dufour Society auf der Suche nach Bekanntschaften und ange- beglückwünschte Guglielminetti persönlich zu seinem zogen von einer kosmopolitischen Geselligkeit traf. Beitrag zum Strassenverkehr, insbesondere dankte er für die Vorteile, die der Armee daraus erwuchsen. Dr. Groudron Das Erstklasshotel wurde zum Mittelpunkt seines starb in Genf, aber es war die Stadt Brig, die ihm 1938 ein Lebens. Architektur, Dekor, Komfort, Küche, Hygiene und Denkmal setzte. Service, alles musste stimmen, damit der Hotelaufent- halt der Pracht der besuchten Landschaft oder Stadt Die Beziehung zwischen Brig und Genf wurde schon immer entsprach. vom Thema Strasse beherrscht. Im 17. Jahrhundert richtete Kaspar Stockalper, Gründer der Stockalper-Dynastie, Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verliess jeden Tag den ersten regelmässigen Kurierdienst zwischen Genf um die Mittagszeit eine Postkutsche Genf, um über den und Mailand über den Simplon ein. Zum Dank wurden Simplon in Richtung Mailand zu fahren. Mit Halt in Brig. ihm Privilegien im Warentransport gewährt. Dieses erste Dort brachte sie einen Gomser Jungen mit Namen César kapitalistische Unternehmen im Wallis war im Besitz aller Ritz zum Träumen.
Zwischen Genf und Brunnen Zwei Bündnisse zur kollektiven Sicherheit Von Joëlle Kuntz I n Brunnen wird ein Bund geschlossen. In Genf eben- des internationalen Friedens und der internationalen falls. Das ist der rote Faden, der die beiden Namen im Sicherheit wesentlich ist, nationalen Album und in einem Abstand von sieben - bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Jahrhunderten verbindet. Kriege zu schreiten, - in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre Im Jahr 1315 erneuern die Leute aus Uri, Schwyz und gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten, Unterwalden am Ufer des Vierwaldstättersees schriftlich - die Vorschriften des Völkerrechts, die fürderhin als und in einem für alle verständlichen Deutsch ihren Willen, Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der sich gegenseitig «gegen die Strenge und Härte dieser Zeit» Regierungen anerkannt sind, genau zu beobachten, zu schützen: «… damit wir besser in Frieden und Gnaden - die Gerechtigkeit herrschen zu lassen und alle Vertrags- leben und Leib und Besitz schützen können, haben wir verpflichtungen in den gegenseitigen Beziehungen der uns durch Schwur und Versprechen für immer und ewig organisierten Völker peinlich zu achten, nehmen die gebunden und dazu verpflichtet, einander gegenseitig Hohen vertragschliessenden Teile die gegenwärtige und auf eigene Kosten zu helfen und zu unterstützen, im Satzung, die den Völkerbund errichtet, an.» eigenen Land sowie nach aussen, gegen alle und gegen jeden, der uns Eidgenossen oder einen der unseren angreift Die folgenden 26 Artikel beschreiben die Verpflichtungen oder anzugreifen beabsichtigt oder uns oder unserem der Mitglieder. Artikel 16 hält insbesondere die Folgen fest, Besitz ein Unrecht zufügt.» sollte ein Mitglied seinen Verpflichtungen nicht nachkom- men: «Schreitet ein Bundesmitglied entgegen den … über- Dieser Bund zur kollektiven Sicherheit übernimmt den nommenen Verpflichtungen zum Kriege, so wird es ohne Wortlaut des Bundes von 1291, diesmal allerdings in einer weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung vereinfachten Sprache, die auch von der betroffenen Bevöl- gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen.» Danach kerung verstanden wird. Die Schlacht von Morgarten liegt folgen alle Massnahmen, die von den Mitgliedern ergriffen erst 23 Tage zurück und den bäuerlichen Gemeinschaften werden können, um sich gegenseitig zu unterstützen. am Gotthard, die das anrückende Heer von Leopold von Habsburg erfolgreich in die Flucht geschlagen haben, liegt Die Schweiz tritt dem Völkerbund bei, obwohl die viel daran, ihre Solidarität zu festigen. Unterzeichner des Bundes von Brunnen dagegen sind. Bundesrat Giuseppe Motta leitet die Eröffnungssitzung in Im Jahr 1920 wird Genf, an den Ufern eines anderen Sees, Genf im November 1920. Der gebürtige Tessiner aus Airolo, Hüterin des Völkerbundes, der im Jahr zuvor in Paris von am Eingang zum Gotthard, wo die Täler nach Venedig und den Siegermächten über das deutsche, österreichische Rom führen, ergreift die einzig mögliche zeitgenössische und osmanische Reich unterzeichnet worden ist. Die Massnahme der kollektiven Sicherheit: die Universalität kollektive Sicherheit nimmt nach den Schrecken des des Völkerbundes. Ersten Weltkrieges eine globale Dimension an, aber der Geist der Unterzeichner ist nicht grundlegend anders Von nun an sieht man die Welt nördlich und südlich als jener damals in Brunnen: Ziel ist es, die Gerechtigkeit des Gotthards anders, aber es ist dennoch die Welt, die auf Basis von Recht und einer offenen, beratenden man sieht, ob man sich nun von ihr fernhalten will, oder Diplomatie zu schützen. vorgibt, sie zu organisieren. In Brunnen wie in Genf wird von Jahrhundert zu Jahrhundert darüber diskutiert, wie In der Präambel der Völkerbundsatzung ist zu lesen: man vorgehen muss, um frei und in Frieden zu leben. Die «In der Erwägung, dass es zur Förderung der Zusam- Meinungsverschiedenheiten halten sich hartnäckig. Die menarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung Diskussion geht weiter.
Zwischen Genf und Chur Ein Lehrer, ein Diplomat und ein Präsident Von Joëlle Kuntz Z wei bedeutende Churer Persönlichkeiten haben Seminar bildete übrigens die meisten der Führungskräfte im Abstand von hundertfünfzig Jahren ihren der Helvetischen Republik aus, darunter den Waadtländer wohltuenden Einfluss bis nach Genf ausgedehnt: Frédéric-César de La Harpe, künftiger Privatlehrer von ein Lehrer, Martin Planta, Mitte des 18. Jahrhun- Alexander von Russland und späterer Verbündeter derts, und ein Bundesrat, Felix Calonder, Anfang des 20. Bonapartes in schweizerischen Angelegenheiten. Jahrhunderts. Die geschickte Formulierung der Schweizer Neutralität, Mit dem Namen einer Allee ehrt Genf das Andenken an die der ehemalige Schüler von Martin Planta 1815 am Wie- Charles Pictet de Rochemont, den Mann, der vor zweihun- ner Kongress durchgesetzt hatte, wurde ein Jahrhundert dert Jahren am Wiener Kongress die Bedingungen für den später zum ersten Mal einer grossen juristischen Prüfung Beitritt der Republik zur Eidgenossenschaft ausgehandelt unterzogen: Würde sie der Eidgenossenschaft den Beitritt hat. Die Stadt zelebriert seine diplomatische Begabung, zum Völkerbund erlauben, dieser internationalen Sicher- seinen offenen Charakter, der an den europäischen Höfen heitsorganisation, die 1919 von den Siegern des Ersten gern gesehen ist, die Leichtigkeit, mit der er sich in den Weltkrieges ins Leben gerufen wurde und die in Genf wichtigsten Sprachen ausdrückt, seine scharfsinnigen beheimatet werden sollte? Wäre die Neutralität mit dem En- Situationsanalysen. Aber all das und noch viel mehr gagement der anderen Nationen vereinbar, die gemeinsam verdankt Pictet de Rochemont seiner Ausbildung, die er ab Angreifer und andere Kriegsstifter bekämpfen wollten? Es dem 13. Lebensjahr in Haldenstein in der Nähe von Chur war der Bündner Felix Calonder, zunächst Rechtsprofes- am Seminar genoss, das 1761 von Martin Planta gegrün- sor, dann Bundesrat, der die Lösung fand: Die Neutralität, det wurde, einem Pfarrer und Hansdampf in allen Gassen, so erklärte er, kann «absolut» oder «differentiell» sein. In Physiker und Erfinder eines Dampfschiffes, vor allem aber Kriegszeiten muss sie absolut sein. In Friedenszeiten kann Pädagoge, stark beeinflusst von Rousseau. sie differentiell sein, das heisst, die Schweiz kann sich an Wirtschaftssanktionen der Mitgliedsstaaten gegenüber Planta eröffnete seine Schule mit der Unterstützung der Staaten, die den Frieden gefährden, beteiligen. «Die Gele- fortschrittlich denkenden Männer, die ihn umgaben: genheit, die Grundlagen für ein Bündnis zu schaffen, mit Ulysse de Salis-Marschlins, die Mitglieder der Helvetischen dem der Völkerfrieden gewahrt werden kann, wird sich so Gesellschaft von Schinznach und sogar die Vertreter der schnell nicht wieder bieten». sagt er dem Ständerat, um Bündner Tagsatzung – rasch verbreiteten sie den Ruf des seine Überlegungen zu rechtfertigen. «Und diese Gelegen- Seminars. Den Eltern Pictet war die Verbannung Rousseaus heit verdanken wir den extrem schwierigen Zeiten». durch die Genfer Oligarchie und das Verbot seiner politischen Bücher Emil oder über die Erziehung und Vom Calonder war überzeugend genug, um den Widerstand Gesellschaftsvertrag, die öffentlich verbrannt wurden, ein von rechts und von links zu brechen. Im November 1919 Dorn im Auge. Für sie war es Ehrensache, ihren zweiten stimmten beide Kammern seiner Interpretation der Neu- Sohn sieben Jahre lang Martin Planta anzuvertrauen, damit tralität zu. Das – wenn auch unsichere – Versprechen auf er bei ihm eine avantgardistische Ausbildung erhielt. einen auf Recht beruhenden internationalen Frieden, und die Rolle als Hüterin, die Genf und die Schweiz dabei spie- Etwa fünfzig Knaben wurden in Haldenstein in den len könnten, hatten seine juristische Fantasie in Gang ge- Sprachen Französisch, Deutsch und Italienisch sowie in setzt. Das Volk gab ihm Recht, indem es im folgenden Jahr Geschichte, Geografie, Mathematik, Logik, Musik und Tanz für den Beitritt stimmte. unterrichtet. Körperliche Ertüchtigung und handwerkliche Arbeiten vervollständigten eine auf republikanischen Genf verdankt Calonder die Position als internationale Idealen basierende Erziehung, mit der die jungen Leute Stadt, um die sie bis zum letzten Moment mit Brüssel auf eine grosse Karriere vorbereitet werden sollten. Das konkurrierte.
Zwischen Genf und Frauenfeld Hüter der Eidgenossenschaft Von Joëlle Kuntz I m Jahr 1852 wird der Thurgauer Kantonsrat lichen Stadt». Am nächsten Tag um 14 Uhr trifft die Johann Konrad Kern für drei Monate als Kommissar Truppe in Genf ein. Der Bahnhof ist voller Menschen. der jungen Eidgenossenschaft nach Genf geschickt. Die Kaserne ist schmutzig und in einem schlechten Ihm obliegt die Aufgabe, die politischen Bewe- Zustand. Sie müssen Ordnung machen. Die Nahrung gungen und Aktivitäten der ausländischen Revolutio- ist ungewohnt, aber erträglich, auch wenn der Apfel- näre zu untersuchen, die in die Schweiz geflohen sind, saft fehlt. Die Betten sind ebenfalls schmutzig. dem einzigen europäischen Staat, dem es vier Jahre zu- vor gelungen ist, das Ancien Régime abzuschaffen. Die Am nächsten Tag spazieren sie durch die Strassen. Dort umliegenden Monarchien sehen die Eidgenossenschaft gibt es viel zu sehen und jede Menge Bistros. Sie geben als ein Nest der Subversion und verlangen von Bern viel Geld aus, zu viel findet Soldat Brugger. die Auslieferung aller Flüchtlinge. Der Bundesrat wi- dersetzt sich, weist die Kantone aber an, die Zahl und Ihr Dienst ist nicht besonders anspruchsvoll. Sie sind Identität der Flüchtlinge zu kontrollieren. Genf verneint zur Überwachung da, nicht mehr. Sie finden die Genfer die Anwesenheit französischer Flüchtlinge auf seinem sympathisch und diese sind ihnen wohlgesonnen. Boden. Kern soll das überprüfen. Er findet welche und «Die Genfer haben Schweizer Blut», versichert der verpflichtet die Genfer Regierung, sich an die Anwei- berichterstattende Soldat. Das Bataillon bleibt drei sungen des Bundes zu halten. Wochen und verlässt Genf mit einer Berner Eskorte und Wein. Sie sagen der «schönen Stadt» Adieu und Später, im Herbst 1864, wird eine eidgenössische Truppe ermahnen sie, dem Vaterland verbunden zu bleiben nach Genf entsandt, um die öffentliche Ordnung auf- und ihm ebenfalls zu Hilfe zu kommen, sollte dies recht zu erhalten, die durch einen heftigen Wahldisput nötig sein. Kaspar Brugger kommt an Weihnachten zwischen Radikalen und Unabhängigen (die spätere nach Hause, mit einem sensationellen Geschenk für liberale Partei) gestört wird. Die Staatsratswahlen vom die Seinen: ein Foto von ihm, Genf im Hintergrund, 21. August sind stürmisch. Auf der Liste der Unabhäng- das Ganze aufgenommen von einem Fotografen. In igen tritt ein Bankier gegen den Radikalen James Fazy Frauenfeld gibt es noch keine Berufsfotografen. an. Und besiegt ihn mit einem Mehr von 300 Stimmen. Die Radikalen als Herren des Staatsapparates weigern Die Thurgauer Truppe kommt fast ein Jahrhundert sich, das Resultat anzuerkennen. Die Unabhängigen später wieder nach Genf, nämlich 1954, um die rufen zu den Waffen, die Radikalen schiessen in die Delegationen der Indochina-Konferenz zu schützen. Menge, es gibt drei Tote und acht Verwundete. Die Das 31. Regiment beteiligt sich an der Wache für die Eidgenossenschaft wird um Hilfe angerufen. französischen, russischen, amerikanischen, britischen und chinesischen Minister. Was für ein Erlebnis! Der Thurgau stellt das Bataillon 14 zur Verfügung. Die Sol- daten sind angehalten, sich ausgerüstet und bewaffnet An der Palästina-Konferenz 1983 sorgt ein Thurgauer auf dem Zeughausplatz in Frauenfeld einzufinden. Sie Panzerbataillon für den Schutz des Genfer Flughafens. werden vom Regierungspräsidenten vereidigt und stei- gen am Morgen des 3. Dezembers 1864 in einen Sonder- Die Verbindung zwischen Frauenfeld und Genf ist die zug. Der Soldat Kaspar Brugger aus Weinfelden erzählt, eines Beschützers gegenüber einem Beschützten. Der dass sie die Nacht in Biel verbrachten, einer «freund- Thurgau ist der Hüter von Genf.
Zwischen Genf und Glarus Das Glück der Arbeit Von Joëlle Kuntz A ls erstes Gebäude für den Völkerbund wurde Die Fabrikanten erhielten Ausnahmeregelungen und das Büro der Internationalen Arbeitsorgani- das Thema Nachtarbeit wurde wieder aktuell. Doch sation gebaut. «Hier entsteht etwas, das es die Bevölkerung hatte sich inzwischen an das Nacht- noch nie gegeben hat, ein Haus, in dem sich arbeitsverbot gewöhnt und verlangte, dass es beibe- die Völker endlich durch die einzige Geste solidarisieren, halten werde. Im Jahr 1848 führte der Volksentscheid die sie gleich und brüderlich macht: die Arbeit», hiess der Landsgemeinde zum ersten Arbeitsgesetz in jener es am Eröffnungstag im Jahr 1926. Vor dem Gebäude, in Zeit. Darin wurden die Arbeitzeiten für alle Arbeiter, dem heute die Welthandelsorganisation untergebracht Erwachsene und Kinder, genau geregelt. Allerdings ist, denkt man an Glarus und seine Vorreiterrolle im galt das Gesetz nur für die Spinnereien. Diese Restrik- Arbeitsrecht. tion setzte eine neue Streikwelle in Gang, die zunächst dazu führte, dass das Gesetz 1856 auf alle Industriebe- Der Kanton Glarus führte 1848 als erster Kanton den triebe ausgedehnt wurde. Im Jahr 1858 kam das Sonn- normalen Arbeitstag mit 13 Stunden ein. Er war es tagsarbeitsverbot dazu und nach und nach wurden die auch, der den Arbeitstag 1872 auf 11 Stunden kürzte Arbeitstage gekürzt: von 12 Stunden im Jahr 1864 auf und der sich für das eidgenössische Fabrikgesetz 11 Stunden im Jahr 1872. stark machte, das 1877 erlassen wurde – weltweit ein Novum. Daraufhin engagierte sich die Schweiz dafür, Über all die Jahre äusserten die Fabrikanten Bedenken dass auch andere europäische Staaten soziale Normen wegen der Kosten, die durch die gesetzlichen Beschrän- einführten, um die wirtschaftlichen Bedingungen für den kungen entstanden, sowie ihrer geschwächten Position industriellen Wettbewerb zu vereinheitlichen. Gelungen gegenüber der Konkurrenz. Doch 1874 fegte die Glarner ist es ihr nicht, trotz zahlreicher Versuche. Doch die Handelskommission alle Einwände vom Tisch, indem Katastrophe des Ersten Weltkrieges gab der Schweiz sie ein idyllisches Bild des 11-Stunden-Arbeitstages Recht: Der nationale und internationale Frieden konnte zeichnete: «Mit Freude lässt sich feststellen, dass die nur durch mehr Respekt für die Arbeiter und durch eine Arbeiter nicht mehr für ihre Mahlzeiten nach Hause und allgemeine Verbesserung ihrer Bedingungen gesichert danach wieder zur Arbeit hetzen müssen, sondern dass werden. Normen mussten her, um alle Arbeiter einander sie in Ruhe ihr Essen zubereiten können und sich die gleichzustellen. Die Internationale Arbeitsorganisation Ernährung verbessert hat. Sehr oft sieht man Arbeiter, wurde 1919 ins Leben gerufen; ihre Satzung ist Tei des die nach dem Essen im Vorgarten Holz hacken und sich, Versailler Vertrages, aus dem der Völkerbund hervorging. um es kurz zu sagen, mehr in Freiheit bewegen. Dadurch hat sich die Gesundheit der Arbeiter verbessert. Auch in- Eine Vorsichtsmassnahme war der Grund für das tellektuell hat die Verkürzung der Arbeitszeit durchaus avantgardistische Arbeitsgesetz im Kanton Glarus. positive Auswirkungen gezeigt. Der Arbeiter […] kann Die unzureichende Beleuchtung in den Textilfabriken, die Beziehungen zu seinesgleichen besser pflegen. Der die leicht entflammbare Baumwolle und der häufig Geist ist lebendiger als früher […], die Kinder besuchen auftretende Föhn im Tal der Linth stellten eine häufiger eine Primar- oder Abendschule […]. Auch das ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Familienleben hat davon profitiert […].» Der Landamann des Kantons folgte deshalb dem Rat der Feuerversicherungskommission und ordnete 1824 Als 1919 die Internationale Arbeitsorganisation gegrün- an, dass die Spinnereien im Winter um 20 Uhr und im det wird, beteiligt sich die Schweiz eifrig an der Aus- Sommer um 21 Uhr zu schliessen seien. Damit wurde die arbeitung der Normen. Die Schweizer Textilindustrie Nachtarbeit de facto abgeschafft. jedoch steckt in einer Krise. Viele Glarner wandern aus und gründen New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin. Während etwa fünfzehn Jahren wurde die Verordnung Die verbliebenen Glarner stimmen gegen den Beitritt der strikt befolgt, dann kam es immer öfter zu Verstössen. Schweiz zum Völkerbund.
Zwischen Genf und Herisau Ein Genie fällt in Ungnade Von Joëlle Kuntz H erisau nahm Henry Dunant in Heiden auf, die Entstehung des Roten Kreuzes, in dem er Dunants als Genf nichts mehr von ihm wissen wollte. Rolle als Gründer betonte. Und das Buch, mit dem alles Ruiniert, als Bankrotteur verachtet und begonnen hatte, Un Souvenir de Solférino, wurde von seinen Gläubigern verwünscht. Heiden unter dem Titel Eine Erinnerung an Solferino auf Deutsch nahm sich seiner an und gab ihm ein neues Leben. übersetzt. Auch die österreichische Pazifistin Bertha Unter seinem Schutz wurde Dunants Name wieder zu von Suttner besuchte und unterstützte ihn. Aus dem einem grossen Namen. Heidener Flüchtling wurde wieder Henry Dunant. Von Neuem begann er, gegen den Militarismus zu kämpfen, Herisau liegt 356 Kilometer von Genf entfernt, Heiden sich für die Frauenrechte einzusetzen, die Ausbildung noch ein bisschen weiter. Die nötige Distanz, um zwei von Krankenschwestern, die Schaffung einer Weltbiblio- ehemalige Genfer Komplizen zu trennen, die sich in- thek, die Gründung des Staates Israel. zwischen hassten: Henry Dunant, Prophet, Erfinder des Roten Kreuzes, humanitärer Propagandist und Gustave Im Jahr 1901 erreichte ihn in Heiden die Mitteilung, Moynier, Verwalter und pragmatischer Organisator der dass ihm das Komitee des norwegischen Parlaments Rotkreuz-Bewegung. Dunant, der Verrückte, Moynier, den Friedensnobelpreis verliehen hatte, gleichzeitig mit der Weise. Genf behielt den Weisen, der das Rot-Kreuz- dem französischen Pazifisten Frédéric Passy. Im selben Gebäude baute; Appenzell Ausserrhoden nahm den Jahr waren auch Gustave Moynier und das Internationale Verrückten mit seinem Messianismus. Komitee des Roten Kreuzes nominiert worden. Dunant entdeckte Heiden 1881 durch einen Freund aus Dunant starb 1910, zwei Monate nach Gustave Moynier. Stuttgart. Er führte damals ein Leben in Armut und Zu einer Versöhnung kam es nie. Die Zeit hat die Spuren Einsamkeit, verfolgt von seinen Genfer Missgeschicken ihres auf Temperament- und Charakterunterschieden und untröstlich über den Verlust von Glanz und Ruhm. beruhenden Streits ausgelöscht: Obschon es empfeh- Er mochte den Ort, nicht wegen der Molkekuren, für die lenswert ist, ein Budget im Griff zu haben, ist ein Kon- Heiden berühmt war, sondern wegen der Freundschaf- kurs keine Schande mehr. Was die avantgardistischen ten, die ihm entgegengebracht wurden, von der Familie Visionen angeht, so sind sie noch immer suspekt, aber Stähelin im Gasthof Paradies, vom Arzt Hermann man hat sich daran gewöhnt. Altherr im Bezirkskrankenhaus und von anderen, denen Dunants vor Ressentiments und Wut brodelnde Persön- Appenzell Ausserrhoden und Genf bewahren nur Spuren lichkeit zu Herzen ging. Und er mochte Heiden, weil ihn des Streits, diese sind aber umso bezeichnender: Heiden der Anblick des Bodensees an den Genfersee erinnerte, hat das Henry-Dunant-Museum, Genf das Internationale an seine Vergangenheit am anderen Ende der Schweiz. Rotkreuzmuseum. Sein Mut kehrte zurück. Am 1. Januar 2000 haben die kleine Gemeinde am Er begann, seine Memoiren aufzuschreiben. Eine junge Bodensee und die grosse am Genfersee doch noch zu Freundin, Suzanna Sonderegger, bot ihm an, in Heiden einem historischen Zusammenschluss gefunden: eine lokale Rotkreuz-Sektion zu gründen. Ein Sankt Galler Jakob Kellenberger – 1944 in dem Spital geboren, in dem Journalist führte ein langes Interview mit ihm, der Arti- Dunant lebte – wird zum Präsidenten des Internationa- kel erschien in einer deutschen Zeitung und ging um die len Komitees des Roten Kreuzes gewählt. Das war nicht ganze Welt. Vergessene Freundschaften kamen zurück. einfach so vorgegeben, denn Kellenberger wuchs nicht Der Bundesrat verlieh ihm einen Preis, Papst Leo XIII. in Verehrung von Dunant auf. Seine Kindheit in Heiden bedeutete ihm seine Anerkennung, die russische Za- war eine ganz normale Kindheit. Aber als die Umstände rin gewährte ihm eine jährliche Rente. Sein Stuttgarter zu seiner Wahl führten, liess er es zu, das Fortbestehen Freund, inzwischen Professor, publizierte ein Buch über der humanitären Idee zu präsidieren.
Zwischen Genf und Kreuzlingen Gelebte Melancholie Von Joëlle Kuntz B is 1980 stand in Kreuzlingen eine berühmte Starobinski in seiner Doktorarbeit, die 1960 heimlich psychiatrische Klinik, die 1857 von Ludwig gedruckt wurde. «Der Patient leidet an einer Krankheit, Binswanger auf dem Gelände einer säkularisierten aber er gestaltet sie auch, oder empfängt sie von seiner Abtei gegründet wurde. Um die Jahrhundert- Umwelt. Der Arzt untersucht das Leiden, als wäre es wende wurden dort so berühmte Patienten wie Bertha ein rein biologisches Phänomen, aber durch eben jene Pappenheim (die Anna O. aus Freuds «Studien über Hyste- isolierte Betrachtung und durch ihre Benennung wird aus rie»), der Kunsthistoriker Aby Warburg, der russische Tänzer der Krankheit ein Vernunftgebilde, in dem ein besonderer Nijinsky und der Maler Ernst Kirchner behandelt. Moment jenes kollektiven Abenteuers zum Ausdruck kommt, das wir Wissenschaft nennen. Vonseiten des Unter dem Einfluss von Heidegger und Husserls Kranken, wie vonseiten des Arztes ist die Krankheit eine Phänomenologie hatte Ludwig Binswanger (1881-1966), kulturelle Gegebenheit, und als solche ändert sie sich mit der Enkel des Gründers, die «Daseinsanalyse» entwickelt den kulturellen Bedingungen.» – eine Neuheit, für die die Elite der Psychiatrie in Scharen nach Kreuzlingen pilgerte. Bei der Daseinsanalyse Mit der Zeit trat der Arzt Starobinski immer stärker geht es darum, aufzudecken, welche Beziehungen der hinter dem Essayisten Starobinski zurück, dem Literaten, Kranke zwischen sich und der Welt und anderen sieht. dem Philosphen. In seinem letzten Buch «L’encre de la Denn entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass mélancholie» (Die Tinte der Melancholie), das 2012 der Kranke abgeschnitten von der Welt und von anderen veröffentlicht wurde, unterwirft er die Kunst dem entfremdet lebt, sah Binswanger in dieser Entfremdung kühlen Blick der Untersuchung der «schwarzen Galle» die vielleicht einzige Möglichkeit des Kranken, in der jener «dunklen Wasser», aus denen Literatur entsteht. Welt zu sein. Besondere Aufmerksamkeit galt daher «Schreiben», so Starobinski, «bedeutet, auf einen weissen dem Leben der Patienten. Noch vor der eigentlichen Bogen Zeichen verdunkelter Hoffnung zu setzen; einer Behandlung ging es also darum, sie zu begleiten und Vielzahl von unterschiedlichen Vokabeln die Abwesenheit ihnen zuzuhören. einer Zukunft einzuprägen; die Unmöglichkeit des Lebens zu verwandeln in die Möglichkeit des Sagens.» Um 1958 lebte in Genf ein junger Akademiker namens Jean Starobinski. Er war gleichzeitig Facharzt für Innere In Kreuzlingen unterschied Ludwig Binswanger zwischen Medizin und Oberassistent für französische Literatur. Bei dem Heilen und dem Heil: der Behandlung und der Seelsor- seiner Doktorarbeit in Medizin fiel ihm auf, dass in der ge. Drei Jahre nach seiner Einweisung verliess der Kunst- gesamten Fachliteratur über individuelle Krankheitsfälle historiker Aby Warburg am 12. August 1924 die Klinik, in immer jemand fehlte: nämlich der Kranke selbst, seine der er wegen Schizophrenie behandelt worden war. Zum lebendige Gegenwart und seine Art, die Krankheit zu (er-) Beweis seiner Heilung hatte er dort einen Vortrag über das leben. Der neuartige Ansatz der Kreuzlinger Gruppe war Schlangenritual der Indianer Neu-Mexikos gehalten, an wie für ihn gemacht. Er widmete seine Disseration der dem er vor 26 Jahren teilgenommen hatte. Er war davon Geschichte der Melancholiebehandlung. Die Schrift wurde überzeugt, dass die Wiederaufnahme seiner wissenschaft- somit gleichzeitig eine Geschichte der Wissenschaft, lichen Tätigkeit Beweis seiner wiedererlangten Gesundheit eine Geschichte der Melancholie und eine Geschichte sein würde. Er sollte Recht behalten. Hatte Binswanger ihn der Melancholiker von Homer über Rousseau bis hin zu geheilt oder gerettet? Das sind die Fragen, die Kreuzlingen Baudelaire und Kafka. und Genf in den Köpfen ihrer jeweiligen Philosophen beschäftigen und damit verbinden. Mit dieser Mischung von Psychiatrie und Literatur entstand unter der Feder von Jean Starobinski und in der Tradition Das Gebäude des Sanatoriums Bellevue wurde 1990 der Kreuzlinger Schule ein kritisches Meisterwerk zur abgerissen. Aber bei der offiziellen Vorstellung der «gelebten Melancholie» in Genf. «Die Erkrankungen des Gemeinde Kreuzlingen und ihrer Geschichte steht sein Menschen sind keine natürliche Spezies für sich.», schrieb Name weiterhin ganz oben.
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