Das europäische Strommarktdesign der Zukunft - ZUKUNFTSFRAGEN - energie.de
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ZUKUNFTSFRAGEN Das europäische Strommarktdesign der Zukunft Karl Kranner und Stephan Sharma Ein integrierter europäischer Energiemarkt wird in Zeiten steigender Einspeisung erneuerbarer Energien und konkur- rierender Marktmodelle immer dringlicher. Die erste Phase der Liberalisierung der europäischen Strommärkte war von der Entwicklung nationaler Teilmärkte mit unterschiedlichen Öffnungsgraden geprägt. Aufgrund von Netzengpässen an den Grenzen entstanden zwischen den einzelnen Marktgebieten mit Ausnahme Deutschland/Österreich erhebliche Preisdifferenzen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie eine Integration des europäischen Energiebinnenmarktes am besten erreicht werden kann. Ein Sechs-Punkte-Programm zur Stärkung des Strommarktes der Verbund AG setzt mehr auf Markt statt Regulierung. Bei harmonisierter Umsetzung könnten die energiepolitischen Ziele der EU wesentlich effi- zienter erreicht werden. Im zentraleuropäischen Strommarkt haben sich Spot- und Terminmärkte etabliert, deren Handelsvolumen zu etwa einem Drittel auf > > PA R A D I G M E N W E C H S E L Börsen und zwei Drittel auf OTC-Geschäfte entfallen. Auf diesen Märkten werden nur Arbeitspreise für tatsächlich erzeugte oder künftig zu erzeugende elektrische Energie abgegolten, weshalb sie auch Energy Only- Markets genannt werden. Die Preisbildung erfolgt auf Basis von Angebot und Nachfrage nach dem Merit Order-Prinzip. Hierbei bestimmen die variablen Kosten des für die Bedarfsdeckung zuletzt benötigten Kraftwerks den Markträumungspreis für alle Marktteilnehmer. In Märkten mit aus- reichenden Kraftwerkskapazitäten können nach diesem Prinzip nur jene Kraftwerke Deckungsbeiträge zu den Fixkosten er- wirtschaften, die geringere variable Kosten aufweisen als das preisbestimmende Grenz- kraftwerk. Ein europaweit harmonisiertes Programm führt eher zur effizienten Erreichung der energiepoliti- Ein Merit Order-Market führt daher nur schen Ziele als unkoordinierte Markteingriffe in Form von Kapazitätsmärkten dann zu Investitionsanreizen, wenn in genü- gend vielen Stunden ältere, ineffiziente und teure Kraftwerke für die Bedarfsdeckung parenzinitiativen und gemeinsame Markt- entwicklung – erhebliche Überkapazitäten benötigt werden und der technische Fort- plattformen nahm zwar die Konvergenz der entstanden. Der geförderte Ausbau der er- schritt groß genug ist, damit die Betreiber Großhandelspreise in den angrenzenden neuerbaren Energien und deren vorrangige neuer Kraftwerke mit höheren Wirkungs- nationalen Stromhandelsmärkten zu, aber Einspeisung führen außerdem zu wachsen- graden vollkostendeckende Erlöse erwarten bis heute sind Deutschland und Österreich den Erzeugungsmengen mit sehr geringen können (vgl. Abb. 1). immer noch die einzigen Länder, die einen variablen Kosten. Thermische Kraftwerke gemeinsamen Strommarkt mit einheitlichen werden dadurch zunehmend verdrängt und Obwohl in den letzten Jahren ein beschleu- Preisen besitzen. können mit den Erlösen aus den verbleiben- nigter Prozess der Marktkonzentration den Einsatzstunden nicht mehr ihre Vollkos- stattfand, gibt es bis heute keinen einheit- Das Merit Order-Modell ten decken. lichen europäischen Strombinnenmarkt. Im in der Krise Wettbewerb der Strombörsen konnte sich Für den Ausgleich der Einspeiseschwan- die EEX in Leipzig durchsetzen und wurde Durch die hohen Strompreise vor dem Aus- kungen der Erneuerbaren werden langfris- gemeinsam mit dem deutschen OTC-Markt bruch der Finanzkrise wurde eine intensive tig (ab ca. 2020) neue flexible Kraftwerks- zum liquidesten Stromhandelsmarkt in Zen- Investitionstätigkeit ausgelöst, so dass – kapazitäten benötigt. Angesichts des hohen traleuropa. Durch Marktkopplung, Trans- verstärkt durch die rückläufige Konjunktur- Anteils an geförderten erneuerbaren Tech- 62 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN ZUKUNFTSFRAGEN nologien stellt sich die Frage, ob das Me- rit Order-Modell für diesen zu erwartenden Bedarf in Zukunft überhaupt ausreichende Investitions- bzw. Preissignale liefern kann (siehe Abb. 2). Das Gasmarkt-Paradoxon Gaskraftwerke befinden sich in einer beson- ders schwierigen Situation. Die Stromprei- se sind im Vergleich zu den Gaspreisen zu niedrig und die Clean Spark Spreads (Erzeu- gungsmargen für Gaskraftwerke) liegen auf einem extrem tiefen Niveau. Noch dramati- scher ist die Lage von Gaskraftwerken, die Gas auf Basis langfristiger, ölpreisgebunde- ner Verträge mit Mindestabnahmeverpflich- tung beziehen – das ist in Zentraleuropa die Mehrzahl aller Kraftwerke. Abb. 1 Merit Order Deutschland 2013 – Terminmarktpreise vom 4.9.2012 Quelle (bei allen Abbildungen): Verbund AG, Energy Die europäischen Gasmarktpreise haben Fundamentals, Reuters, EEX Terminmarktnotierungen sich in den letzten Jahren aufgrund der stei- genden Bedeutung von Liquefied Natural Gas (LNG) vom Ölpreis abgekoppelt und lie- gen deutlich tiefer als die ölindexierten Ver- tragspreise. Diese langfristigen Gasbezugs- verträge sind als historische Relikte mit den liberalisierten Energiemärkten nicht mehr vereinbar. Die intensiven Bemühungen der Gasimporteure und großen Gasverbraucher um eine marktkonforme Anpassung dieser Verträge stoßen aber auf den Widerstand der Gasproduzenten. Doch selbst mit den aktuellen Gasmarkt- preisen sind derzeit sogar hocheffiziente Gaskraftwerke unwirtschaftlich. Damit herrscht die paradoxe Situation vor, dass es gerade für Gaskraftwerke, die als besonders Abb. 2 Merit Order Deutschland 2020 – prognostizierte Terminmarktpreise geeignete Ausgleichskapazitäten für die volatile Erzeugung aus Wind- und Photovol- taik gelten, keine Investitionsanreize gibt und dass sich bestehende Anlagen in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Lage befinden (vgl. Abb. 3). Der Kollaps des CO2-Marktes Mit großen Hoffnungen, eine internationa- le Vorbildwirkung zu entfalten, führte die EU im Jahr 2005 das europäische Handels- system für CO2-Zertifikate (ETS) ein. Schon am Ende der ersten Handelsperiode von 2005 bis 2007 verfiel der Zertifikatspreis aufgrund von Überallokationen. Auch in Abb. 3 Clean Spark Spread Peaks bei marktindizierten (links) und ölindizierten (rechts) Gasverträgen im Vergleich (in €/MWh) der laufenden zweiten Handelsperiode (von ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2 63
ZUKUNFTSFRAGEN 2008 bis 2012) zeichnet sich ein massives Derartige Modelle existieren in unterschied- 1. Reform des CO2-Marktes Überangebot an Emissionszertifikaten ab licher Form bereits in Spanien, Irland, Itali- und die Preise tendieren nur deshalb nicht en, Finnland und Schweden. In Frankreich Der CO2-Markt sollte das Leitsystem zur wieder gegen Null, weil unverbrauchte Zer- und Großbritannien ist eine Einführung von Erreichung der Energiewende und zur Un- tifikate in die dritte Handelsperiode (2013 Kapazitätszahlungen, in Italien eine Neu- terstützung des Ausbaus der Erneuerbaren bis 2020) übertragen werden können. gestaltung des bestehenden Mechanismus bzw. CO2-armer Erzeugungstechnologien geplant. Auch auf EU-Ebene und in Deutsch- sein. Derzeit weist der Emissionszertifika- Die aktuellen Zertifikatspreise sind aber land, dem größten Strommarkt Europas, temarkt ein Überangebot von rd. 800 Mio. viel zu niedrig, um ausreichende Anreize werden Kapazitätsmärkte als Lösung für das EUA- und rd. 1 000 Mio. CER- und ERU-Zer- für den angestrebten Umstieg auf emissi- Problem der fehlenden Kostendeckung dis- tifikaten auf. Der größte Teil dieses Über- onsarme Erzeugungstechnologien zu bieten. kutiert. Von den Interessensverbänden und angebots wird durch Banking in die dritte Trotz ETS sind Kohlekraftwerke heute somit den großen Erzeugern werden Kapazitäts- Handelsperiode übertragen werden. Das wettbewerbsfähiger als emissionsärmere zahlungen jedoch mehrheitlich abgelehnt. Zertifikatsangebot muss daher dringend Gaskraftwerke. Neben dem Überangebot Die Gegner dieser Marktmodelle argumen- reduziert werden, damit der Zertifikate- an Zertifikaten ist dafür auch die kontra- tieren, dass damit der Regulierungsbedarf markt wieder genügend starke Signale für produktive Konkurrenz des CO2-Marktes sowie die Gefahr zusätzlicher Marktverzer- Investitionen in emissionsarme Technologi- zu effizienzsteigernden Maßnahmen und rungen und Ineffizienzen steigen würde. en liefern kann. Das bislang vorgeschlage- zur direkten Förderung der Erneuerbaren ne „Back and Loading“, also eine zeitliche verantwortlich. Das ETS ist daher bislang Sechs Punkte zur Verbesserung Verschiebung der Allokation von Zertifika- ein ineffizientes Instrument geblieben, dass des Marktsystems ten innerhalb der dritten Handelsperiode dringend und umfassend reformiert werden ist zwar begrüßenswert, aber nicht ausrei- muss (siehe Abb. 4). In der Verbund AG ist man ebenfalls der chend, um den Markt nachhaltig zu stabili- Ansicht, dass die Einführung von Kapa- sieren. Neue Marktmodelle gefragt zitätszahlungen einen weiteren Schritt in Richtung Regulierung bedeuten würde und Daher sollte zusätzlich ein Mechanismus Vor dem Hintergrund der angeführten Ent- stattdessen vorrangig regulatorische Ein- implementiert werden, durch den das Vo- wicklungen wird die nachhaltige Funktions- schränkungen abgebaut werden sollten. Um lumen der künftigen Auktionen laufend an tüchtigkeit des bestehenden Strommarkt- die energiepolitischen Ziele Versorgungs- den Zielerreichungsgrad der Emissionsre- designs intensiv und kontrovers diskutiert. sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umwelt- duktion, in Abhängigkeit vom Ausbau der Von verschiedenen Seiten wird die Forde- verträglichkeit zu erreichen und eine öko- erneuerbaren Energien, der Effizienzsteige- rung erhoben, dass der Energy Only-Markt nomisch effiziente Preisbildung auf dem rung und der Stromnachfrageentwicklung, durch Kapazitätszahlungsmechanismen er- bestehenden Elektrizitätsmarkt zu fördern, angepasst wird. Um das Vertrauen in die gänzt werden muss, damit auch Leistungs- wird die Umsetzung des nachfolgenden langfristige Funktionsfähigkeit des Zertifi- bereitstellung und Flexibilität einen Preis „Sechs-Punkte-Programms zur Stärkung katemarktes zu stärken, könnte eine unab- erhalten. des Strommarkts“ vorgeschlagen: hängige, europäische CO2-Kommission ein- gerichtet werden, die diesen Mechanismus entwickelt, umsetzt und überwacht. 2. Integration der erneuerbaren Energien Damit ineffiziente Investitionsanreize ver- mieden werden und die Kosten für das Er- reichen der Energiewende die Akzeptanz- bereitschaft der Stromkonsumenten nicht überschreiten, ist eine möglichst rasche Ein- gliederung der erneuerbaren Erzeugungs- anlagen mit gleichen Rechten und Pflichten wie alle übrigen Kraftwerke in den Wettbe- werbsmarkt empfehlenswert. Um die Marktintegration voranzutreiben, sollten die bestehenden Einspeisetarife durch Investitionszuschüsse und in wei- Abb. 4 CO2- und Substitutionspreis (in €/t, Durchschnittspreise; Stand 30.11.2012) terer Folge durch einen Markt für handel- bare Grünstromzertifikate ersetzt werden. 64 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN ZUKUNFTSFRAGEN Nur durch eine schnelle und vollständige Um auf dem bestehenden Strommarkt Öffnung der Regelenergiemärkte über die Marktintegration wird der technologische die Voraussetzungen für eine rasche Er- derzeit geltenden (nationalen) Regelzonen Fortschritt im Bereich der Erneuerbaren reichung der Marktreife Erneuerbarer zu hinaus notwendig. Im Zuge dieser Öffnung gefördert und eine effiziente Erreichung der schaffen, sollte daher eine Stärkung der müssen einheitliche Regeln für die grenz- Ausbauziele sichergestellt. Marktkräfte und nicht eine weitere Steige- überschreitende Vermarktung von System- rung der Regulierung (z. B. in Form von Ka- dienstleistungen festgelegt werden. 3. Abbau von Markthemmnissen pazitätsmärkten) angestrebt werden. Dafür ist es notwendig, alle noch existierenden 6. Ausbau des Übertragungsnetzes Derzeit liefern die europäischen Großhan- Preisgrenzen aufzuheben und eine voll- delsmärkte für Strom keine korrekten Preis- ständige Liberalisierung der Großhandels- Zusätzlich zu den angeführten marktsei- signale. Trotz aller Bestrebungen, die ver- märkte für Primärenergieträger und Strom tigen Maßnahmen ist zur Vermeidung einbarten Klimaschutzziele zu erreichen, sowie der Endverbrauchermärkte in allen von Netzengpässen bzw. Versorgungsun- sind heute Braunkohlekraftwerke mit den Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Im Bereich terbrechungen der Ausbau der Übertra- höchsten spezifischen CO2-Emissionen die der Stromproduktion müsste außerdem eine gungsnetze unbedingt erforderlich. Zu den wirtschaftlich rentabelsten Erzeugungsan- Harmonisierung der national unterschiedli- Voraussetzungen dafür zählen raschere Ge- lagen. Flexible und weit umweltfreundli- chen Abgabebelastung für Erzeugungsanla- nehmigungsverfahren für prioritäre Netz- chere Gaskraftwerke, die dringend für den gen erfolgen. projekte und die Schaffung von attraktiven Ausgleich der Erzeugungsschwankungen wie stabilen Rahmenbedingungen durch die der erneuerbaren Energieträger benötigt 4. Erhöhung der Preiselastizität zuständigen Regulierungsbehörden. werden, können hingegen nicht vollkosten- deckend betrieben werden. Die Aufrechterhaltung der Versorgungs- Harmonisierte Implementierung sicherheit kann in Perioden geringer Kraft- Dieses Marktversagen ist auf eine Reihe werksverfügbarkeit und hohen Bedarfs auch Eine europaweit harmonisierte Umsetzung von Ursachen zurückzuführen. Zu den We- durch nachfrageorientierte Maßnahmen un- dieses Sechs-Punkte-Programms würde eher sentlichsten zählen der wegen der oben terstützt werden. In diesem Zusammenhang zur volkswirtschaftlich effizientesten Er- angeführten Gründe nicht funktionieren- sei insbesondere die Integration von De- reichung der energiepolitischen Ziele (Ver- de Markt für Emissionszertifikate, nicht mand Side Management in die Preisbildung, sorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und marktkonforme, langfristige, ölpreisgebun- bspw. in Form von Lastabwurfoptionen der Nachhaltigkeit) führen, als die herrschende dene Gasbezugsverträge, unterschiedliche Industrie, erwähnt. Tendenz zu unkoordinierten und national Marktöffnungsgrade und nicht abgestimmte unterschiedlich gestalteten Markteingriffen Regulierungsmaßnahmen bzw. Förderungs- 5. Öffnung des Regelenergiemarktes in Form von Kapazitätsmärkten. instrumente, die sich gegenseitig konterka- rieren. Durch diese Verzerrungen bei der Durch den wachsenden Erzeugungsanteil Preisbildung am Strommarkt wird nicht nur der Erneuerbaren steigen auch die Anfor- K. Kranner, Executive Advisor, S. Sharma, die künftige Versorgungssicherheit bedroht, derungen an die Regelenergiemärkte. Um Bereichsleitung, Geschäftssteuerung und sondern auch die Marktfähigkeit bereits die zunehmenden Prognoseabweichungen Marketing, Verbund AG, Wien ausgereifter erneuerbarer Erzeugungstech- zuverlässig und mit den geringstmögli- karl.kranner@verbund.com nologien in weite Ferne gerückt. chen Kosten ausregeln zu können, ist eine stephan.sharma@verbund.com Mit KISTERS Software die Energiewende umsetzen Für Ihren Erfolg im Markt: Die durchgängige KISTERS Lösung für Energiemarkt & Leittechnik energie.kisters.de ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2 65
ZUKUNFTSFRAGEN INTERVIEW „Wieviel Ineffizienz können wir uns bei der Erreichung der Energiewende-Oberziele leisten?“ Die Energiewende betritt Neuland, ist sehr komplex und langfristig angelegt. Ein jährliches Monitoring der Fortschritte anhand zentraler Indikatoren erscheint dabei absolut sinnvoll. Hierzu haben die vorwiegend damit befassten Ministerien (BMWi und BMU) am 18.12.2012 den ersten Bericht vorgelegt. Dieser wurde wie vorgesehen durch eine unabhängige Exper- tenkommission kritisch kommentiert. „et“ sprach mit Prof. Dr. Georg Erdmann, der Mitglied dieses vierköpfigen Gremiums ist, über Fortschritte und Defizite sowie darüber, wie mehr Schwung in die stagnierenden Bereiche gebracht werden könnte. „et“: Herr Prof. Erdmann, verschiedene Beratungs- in gewissem Maß gegeneinander austauschbar. liche Kraftwerksinvestoren auf den Plan rufen. häuser und Verbände fühlen über einen Index der Bekanntlich kommen wir beispielsweise bei der Doch mit Markteingriffen der Bundesnetzagentur Entwicklung der Energiewende regelmäßig deren Energieeffizienz im Gebäude- und Verkehrsbe- zugunsten von Reservekapazitäten und der poli- Puls. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Monitoring reich weniger schnell voran als es dem Zielpfad tischen Debatte über Kapazitätsmärkte sind die davon? entspricht. Als Kompensation machen wir mo- Energieversorger stark verunsichert und haben mentan beim Ausbau der regenerativen Energie- inzwischen bereits eine Reihe von Kraftwerkspro- Erdmann: Wir arbeiten im offiziellen Auftrag versorgung entsprechend größere Fortschritte, jekten auf Eis gelegt. Dieser erkennbare Rückzug der Bundesregierung. Unser Bericht spricht wie so dass wir uns bei den Treibhausgasen auf dem wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, die Stellungnahmen der Verbände erkennbare Zielpfad befinden. Die effiziente Netzintegration doch er ist ein deutliches Warnsignal dafür, dass Defizite bei der Umsetzung der Energiewende an, der dargebotsabhängigen Stromerzeugung ist die Energiepolitik mit ihren Interventionen im Be- verfolgt jedoch dabei keine interessengeleitete zwar kein eigenständiges Ziel, doch eine wesent- griff steht, die Stromversorgungssicherheit aufs Intention. Unsere Aufgabe ist ein konstruktiv-kri- liche Voraussetzung dafür, dass es bei der rege- Spiel zu setzen. tischer Kommentar zum Monitoring-Bericht der nerativen Stromerzeugung weiter vorangehen Bundesregierung. Dies betrifft unter anderem die kann. Hier muss der Hebel bei der anstehenden „et“: Wie ist es um die gesamtwirtschaftlichen Fol- Auswahl und Interpretation der Indikatoren, mit Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) gen der Energiewendebemühungen bestellt? denen die Entwicklung von Versorgungssicher- angesetzt werden. heit, Preiswürdigkeit und Zuverlässigkeit der Erdmann: Sowohl der erste Monitoring-Bericht Energiewende beurteilt werden kann. Wachsende Herausforderungen: der Bundesregierung, als auch unser Kommen- Versorgungssicherheit tar enthalten je ein Kapitel zu den volkswirt- „et“: Sie kritisieren, dass im Gegensatz zur Bun- und Kosten schaftlichen Folgen der Energiewende. Die desregierung für Sie die Ampel bei der Netzinteg- entsprechenden Ausführungen sind jedoch ration Erneuerbarer, vor allem aber der Energieef- „et“: In welchen Bereichen sehen Sie ernsthafte sehr lückenhaft und rudimentär. Hier müssen fizienz noch auf tiefrot steht… Gefahren aufziehen? die künftigen Monitoringberichte nachlegen. Aus Sicht der Expertenkommission sind mit Erdmann: … Die Energiewende besteht aus zwei Erdmann: Große und wachsende Herausforde- der Energiewende und den vielen Einzelzielen übergeordneten Zielen: einem Fahrplan bei der rungen entstehen im Bereich der Stromversor- zwangsläufig volkswirtschaftliche Effizienzver- Reduktion der Treibhausgasemissionen und gungssicherheit. Es ist absehbar, dass der Über- luste verbunden, die sich die wirtschaftlich sehr dem Ausstieg aus der Kernenergie bis zum Jahr tragungsnetzausbau nicht ausreicht, um die in erfolgreiche Bundesrepublik Deutschland mo- 2022. Die vielen weiteren Energiewendeziele stel- Süddeutschland noch betriebenen Kernkraftwer- mentan scheinbar leisten kann. Doch muss die len einen Rahmen für das Erreichen der beiden ke zeitnah durch Stromerzeugungskapazitäten in Debatte geführt werden, ob und gegebenenfalls Oberziele dar, sind aber diesen gegenüber un- Norddeutschland zu ersetzen. Dies müsste nor- wie die Oberziele der Energiewende volkswirt- tergeordnet. Die Einzelziele sind demnach auch malerweise in Süddeutschland privatwirtschaft- schaftlich effizienter erreicht werden können, als dies momentan absehbar ist. „Bei der Energiewende geht es in erster Linie um den Klimaschutz und den Ersatz für die abzustellenden Kernkraftwerke. Wir brau- „et“: Sie befürchten in Ihrer Stellungnahme für die chen eine Debatte darüber, wie viel Ineffizienz wir uns bei der Zukunft drastische Strompreissteigerungen. Lässt Umsetzung dieser beiden Oberziele leisten wollen und können. Im sich diese Entwicklung überhaupt aufhalten? Augenblick hat es den Anschein, dass jede Gruppe nur laut genug nach Unterstützung rufen muss, um von der Politik die gewünsch- Erdmann: Mit der Energiewende ist ein weiterer te Förderung zugesprochen zu bekommen. Inzwischen finanziert überproportionaler Strompreisanstieg absehbar. sich praktisch keine Investition im Bereich der Stromversorgung Es geht dabei nicht nur um die Mehrkosten der allein am Markt. Die Politik wäre gut beraten, ihr energiepoliti- regenerativen Stromerzeugung, sondern auch sches Füllhorn so schnell wie möglich zu stopfen.“ um den notwendigen Ausbau der Verteil- und Übertragungsnetze, die Schaffung von Ersatzka- Prof. Dr. Georg Erdmann, Professor für Energiesysteme, TU Berlin pazitäten und das intelligente Lastmanagement, 66 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN INTERVIEW ZUKUNFTSFRAGEN „Aus Sicht der Expertenkommission sind mit der Energiewende und den vielen Einzelzielen zwangsläufig volkswirtschaftliche Effizienzverluste verbunden, die sich die wirtschaftlich sehr er- von den Kosten des Speicherausbaus ganz zu folgreiche Bundesrepublik Deutschland momentan scheinbar leisten kann. Doch muss die Debatte schweigen. Die Energiewende wurde von einer geführt werden, ob und gegebenenfalls wie die Oberziele der Energiewende volkswirtschaftlich überwältigenden parlamentarischen Mehrheit effizienter erreicht werden können, als dies momentan absehbar ist.“ beschlossen, wobei die Abgeordneten von einem breiten Rückhalt in Bevölkerung und Wirtschaft Prof. Dr. Georg Erdmann, Professor für Energiesysteme, TU Berlin ausgehen konnten. Niemand sollte sich heute darauf berufen, er habe nur zugestimmt, weil einige Interessensvertreter und ihre Berater Übrigen früher oder später auch die europäische Mehr Schwung für bei den seinerzeitigen Debatten behaupteten, und deutsche Wirtschaft erreichen. Die mit tiefen stagnierende Bereiche die Energiewende sei so gut wie kostenlos. Wer Erdgaspreisen verbundenen Auswirkungen auf wollte, konnte die ebenfalls publizierten seriö- die Energiewende werden dann noch zu etlichen „et“: Gibt es ein allgemeines Rezept, mit denen sen Kostenschätzungen zur Kenntnis nehmen. Diskussionen Anlass geben. sich die stärksten Hemmnisse der ja noch sehr jun- Jetzt braucht es einen gesellschaftlichen Konsens gen Energiewende überwinden ließen? über die Deckung der mit der Energiewende ver- Sorgenkind Netzausbau bundenen Ausgaben, insbesondere im Bereich Erdmann: Bei der Energiewende geht es in erster der Stromversorgung. „et“: Mit der jüngsten Änderung des Energiewirt- Linie um den Klimaschutz und den Ersatz für die schaftsgesetzes wurden die Bedingungen für den abzustellenden Kernkraftwerke. Wir brauchen „et“: Wie beurteilen Sie die derzeitige Ausgangsla- Ausbau der Offshore-Windkraft weiter verbessert. eine Debatte darüber, wie viel Ineffizienz wir uns ge für einen derartigen Konsens? Platzt nun der Knoten? bei der Umsetzung dieser beiden Oberziele leis- ten wollen und können. Im Augenblick hat es den Erdmann: Leider führen einzelne Gruppen jetzt Erdmann: Mit der Rahmensetzung für Offshore- Anschein, dass jede Gruppe nur laut genug nach Verteilungskämpfe mit dem Ziel, sich aus der Investitionen und den Netzausbau bis zur Küste Unterstützung rufen muss, um von der Politik die Verpflichtung zur Finanzierung der beschlosse- ist es nicht getan. Investitionen in die Offshore- gewünschten Förderung zugesprochen zu bekom- nen Energiewende zu verabschieden. Die Vertei- Windkraft setzen voraus, dass Klarheit darüber men. Inzwischen finanziert sich praktisch keine lungskämpfe sind Anzeichen einer sinkenden ge- besteht, wann und in welchen Mengen diese Investition im Bereich der Stromversorgung al- sellschaftlichen Zahlungsbereitschaft. Darin sehe Elektrizität in die Verbraucherzentren transpor- lein am Markt. Die Politik wäre gut beraten, ihr ich eine ernste Gefahr für den Erfolg der Energie- tiert werden kann. Die Entwicklung wird also energiepolitisches Füllhorn so schnell wie mög- wende. Daher dürfen die Ausgaben für die Strom- durch den schleppenden Bau von Übertragungs- lich zu stopfen. versorgung bei der Gestaltung der Energiewende leitungen gebremst. Gleichzeitig wird mit dem nicht beliebig weiter steigen, ansonsten werden Stichwort der dezentralen Stromerzeugung eine „et“: Die gegenwärtige Debatte um die Energie- die Verteilungskonflikte nicht mehr beherrschbar verbrauchernahe Stromversorgung gefordert, die wende vermittelt ein Bild der Uneinigkeit und die bleiben. mit diesen Netzausbauplänen schwer kompatibel Fortschritte in vielen Bereichen stagnieren. Was ist. Hier ist die Gestaltungsaufgabe der Energiepo- muss geschehen, damit wieder mehr Schwung in „et“: Wie steht es um eine Bewertung der Folgen litik gefordert. die Sache kommt? der Energiewende in einem internationalen Um- feld? Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In- „et“: Wie könnte der schleppende Netzausbau Erdmann: Dort, wo die Energiewende noch nicht dustrie könnte zusätzlich durch den Schwenk der rasch und effektiv beschleunigt werden? genügend Schwung hat – Netzausbau, Bau von Er- USA hin zu sehr billigem Erdgas ohnehin unter satzkraftwerken, Gebäudesanierung, etc. –, sind Druck geraten. Erdmann: Infrastrukturinvestitionen werden sehr viele politische Entscheidungsträger invol- nur Erfolg haben können, wenn das Verhalten viert, die nach außen hin in der Tat den Eindruck Erdmann: Die deutsche Wirtschaft ist trotz sehr der Marktteilnehmer – insbesondere der Elektri- endloser Streitereien vermitteln. Es wäre daher hoher Energiepreise und anderer Defizite interna- zitätsverbraucher – realistisch eingeschätzt wird. kein Nachteil, die auf verschiedene Bundesminis- tional enorm wettbewerbsfähig. Manche klagen Bisher gab es kaum größere Veränderungen bei terien verteilten Energiekompetenzen in einem also auf einem sehr hohen Niveau. Angesichts un- der Stromversorgung. Mit der Energiewende ist Ministerium zu bündeln. Doch dies wird nur Er- serer Exportüberschüsse wird international im- dies jetzt anders, und entsprechend muss mit folg haben können, wenn das Gestrüpp energie- mer öfter die Forderung geäußert, dass Deutsch- größeren Verhaltensänderungen der industriel- politischer Regelungen und Eingriffe entrümpelt land bitteschön etwas weniger wettbewerbsfähig len und privaten Verbraucher gerechnet werden. wird und sich daraus verlässliche Rahmenbe- werden möge. Von daher ist die Energiewende zu- Zu nennen ist insbesondere der Trend zum Eigen- dingungen für die Energiemarktteilnehmer ent- mindest auf absehbare Zeit nicht ungebeten – die verbrauch bzw. zur Eigenerzeugung von Elektri- wickeln, die dann über längere Zeit kalkulierbar selbst auferlegten Lasten verringern die Gefahr zität. Dieser Trend wird zur Folge haben, dass es bleiben. eines neu aufkeimenden internationalen Protekti- künftig schwieriger wird, die Stromversorger mit onismus. Andererseits werden sich die wenigsten Umlagen über die Netzentgelte zur Finanzierung „et“: Herr Prof. Erdmann, vielen Dank für das In- Nationen ein ähnlich ambitioniertes energiepoli- aller möglichen Aufgaben zur Kasse zu bitten. terview. tisches Experiment leisten können. Sofern es sich Wenn es nicht gelingt, die Energiewende effizi- bei dem gesunkenen Gaspreisniveau in den USA enter zu gestalten, kann sie in einer Sackgasse Die Fragen stellte Franz Lamprecht, um einen nachhaltigen Trend handelt, wird er im landen. „et“-Redaktion ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2 67
ZUKUNFTSFRAGEN Moderne Braunkohlenkraftwerke – ein flexibler Baustein für die Energiewende Reinhold Elsen, Thomas Körber und Lars Kulik Der europäische Strommarkt unterliegt derzeit einem Veränderungsprozess mit vielschichtigen, gleichzeitig auftretenden Einflussfaktoren. Angesichts steigender Anforderungen aus dem Klimaschutz, der zunehmenden und hoch volatilen Ein- speisung regenerativer Energien sowie des Ausstiegs aus der Kernenergie müssen die EVU ihre Kraftwerke zukünftig unter geänderten Rahmenbedingungen betreiben. RWE Power begegnet diesen Herausforderungen unter anderem durch Effizienz- und Flexibilitätssteigerungsmaßnahmen in Bestandsanlagen sowie durch optimierte Anlagenkonzepte bei aktuellen sowie geplanten Kraftwerksneubauprojekten. Marktanalysen zeigen, dass flexible und effiziente Braunkohlenkraftwerke auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag im Energiemix leisten werden und als Partner der regenerativen Energien einen bedeuten- den Baustein für die Energiewende darstellen. Der Kraftwerkspark in Deutschland umfasst Q Zunehmender Ausbau und gesetzlicher sich jedoch zunehmend eine Veränderung konventionelle Kraftwerke (Kernenergie, Vorrang für die Einspeisung erneuerbarer bzw. teilweise bereits ein faktischer Wegfall Kohle und Gas) und Stromerzeugungsanla- Energien bei hoher Volatilität des Stromdar- der klassischen Lastregime Grund-, Mittel- gen auf Basis von erneuerbaren Energien gebots, eine derzeit dafür unzureichende und Spitzenlast (vgl. Abb. 1). (Wasser-, Wind- und Solarenergie sowie Bio- Netzstruktur und nicht ausreichende Spei- masse). Die Energieversorgung gewinnt an cherkapazitäten: Steigende Anforderungen Diese Entwicklung wird sich durch den Versorgungssicherheit, Kosteneffizienz und an die Flexibilität konventioneller Kraftwer- geplanten Ausbau der erneuerbaren Ener- Umweltfreundlichkeit, wenn die einzelnen ke; gien weiter verschärfen. Für die bisher in Primärenergieträger optimiert nach ihren Q Kernenergieausstieg: Steigende Anfor- Grund- und Mittellast betriebenen Kraftwer- Fähigkeiten und Stärken eingesetzt werden. derungen an verbleibende, konventionelle ke stehen damit zunehmend steile Lastram- Energieträger zur Gewährleistung der Ver- pen, die Absenkung von Mindestlasten und Für die Planung der Energieinfrastruktur sorgungssicherheit. kurze Anfahrzeiten im Fokus. Zusätzlich bedeutet dies, dass ein nachhaltiges Ener- werden sog. Ancilliary Services, d. h. für giekonzept sich insbesondere auch nach Alle diese Anforderungen sind beim Betrieb die Funktionstüchtigkeit der Elektrizitäts- technischen und physikalischen Gegeben- von Bestandskraftwerken und der Planung versorgung notwendige Systemdienstleis- heiten und nicht allein an gerade aktuellen von Kraftwerksneubauten auf Basis des ein- tungen, vom Markt in Zukunft deutlich stär- und oft politischen Schwerpunktthemen heimischen Energieträgers Braunkohle zu ker als bisher gefordert und entsprechend auszurichten hat. Die neuen Rahmenbedin- berücksichtigen. bewertet. Hierzu zählen Leistungen für die gungen für den zukünftigen Energiemarkt Frequenz- und Spannungshaltung sowie ergeben sich im Wesentlichen durch folgen- Zukunftsfähige Stromerzeugung Dienste im Bereich der Betriebsführung de Einflussfaktoren: braucht flexible Kraftwerke bzw. des Netzengpassmanagements. Q Klimaschutz und Emissionshandelssys- In der Vergangenheit wurden Braunkohlen- Um die u. a. hierfür erforderliche Regel- tem: Kosten für CO2-Zertifikate als zusätzli- kraftwerke überwiegend in der Grundlast leistung mit der geforderten Elastizität che wirtschaftliche Einflussfaktoren; eingesetzt. In den letzten zehn Jahren zeigt und Dynamik für das Netz bereitzustellen und damit die Stromerzeugung sicher so- wie gleichzeitig wirtschaftlich zu gestalten, müssen die genannten Flexibilitätsanforde- rungen bei der strategischen Ausrichtung des Kraftwerkparks berücksichtigt und insbesondere auf zwei Ebenen umgesetzt werden: Q Elastizität: Möglichst geringe Mindest- und hohe Maximallasten sowie hohe Start- anzahlen und Laufzyklen; Q Dynamik: Hohe Laständerungsge- schwindigkeiten, kurze Anfahrzeiten bis Abb. 1 Kraftwerksleistung früher und morgen (schematisch) zur Mindest- und Nennlast sowie kurze Min- deststillstandzeiten. 68 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN destlast deutlich reduziert und hierdurch der verfügbare Regelbereich erweitert wer- den. Auch die Anfahrzeiten konnten ver- kürzt werden. Optimierte Bestandsanlagen erreichen inzwischen Mindestlasten von z. T. unter 50 %. Somit sind die Braunkohlen- bestandsanlagen bereits heute ein wichtiger und flexibler Baustein für die Energiewen- de und die Versorgungssicherheit Deutsch- lands. Moderne Neuanlagen Die Modernisierung des Kraftwerkparks im Rheinischen Braunkohlerevier erfolgt im Rahmen eines bereits 1994 mit dem Land Nordrhein-Westfalen vereinbarten Kraftwerkserneuerungsprogramms, das eine kontinuierliche Erneuerung und Mo- dernisierung der Anlagen vorsieht. We- sentliches Element bildet die Effizienzstei- Abb. 2 Wirkung und Bedeutung von Flexibilität (schematisch) gerung und hierdurch die Reduzierung der CO2-Emissionen. Darüber hinaus wurden bei der Konzeption und dem Bau der Neu- Sowohl die dynamischen als auch die elas- Bestandsanlagen anlagen die sich ändernden Umfeldbedin- tischen Flexibilitätsanforderungen müssen gungen berücksichtigt, insbesondere die dabei sicher, wettbewerbsfähig und um- Für die Braunkohlenbestandsanlagen der zunehmenden Anforderungen im Hinblick weltfreundlich verwirklicht werden. Dazu RWE Power, die größtenteils in den 1960er auf die Flexibilität der konventionellen tragen möglichst niedrige Anfahrkosten, und 1970er Jahren für den Grundlasteinsatz Kraftwerke. die Begrenzung der Betriebs- und War- konzipiert und ausgelegt wurden, ergeben tungskosten sowie ein möglichst hoher Wir- sich durch die veränderten Anforderungen Mit dem BoA-Konzept steht eine hochmoder- kungsgrad im gesamten Regelbereich des des Marktes immense Herausforderungen ne Kraftwerkstechnik zur Verfügung. Die Kraftwerksblocks bei insgesamt möglichst hinsichtlich der Flexibilität. RWE Power Abkürzung „BoA“ steht für „Braunkohlen- geringen zusätzlichen Investitionskosten hat sich diesen Herausforderungen gestellt, kraftwerk mit optimierter Anlagentechnik“. bei. Die Wirkung von elastischen und dy- indem an den Bestandsanlagen sukzessive Im Rahmen des vorgenannten Kraftwerks- namischen Flexibilitätseigenschaften und Modernisierungs- und Flexibilitätssteige- erneuerungsprogramms hat RWE dieses die Bedeutung von flexiblen Kraftwerken ist rungsprogramme umgesetzt wurden und Konzept mittlerweile an drei Neubaublö- schematisch in Abb. 2 dargestellt. zukünftig werden. cken der 1 000 MW-Klasse im Rheinischen Revier umgesetzt: Der Block K des Kraft- Flexible Kraftwerkstechnik im Diese Programme zur Flexibilitätsver- werks Niederaußem wurde im Jahr 2003 in Rheinischen Braunkohlenrevier besserung umfassen im Wesentlichen Betrieb genommen, die Blöcke F und G am die Ausnutzung von Auslegungsreserven Standort Neurath folgten im Sommer 2012. RWE Power verfügt im Rheinischen Revier verschiedener Bauteile an den 300- und Mit Wirkungsgraden von über 43 % zählen über eine Braunkohlenkraftwerkskapazität 600-MW-Blöcken, die mithilfe weiterentwi- diese Anlagen weltweit zu den modernsten von mehr als 10 000 MW. Die Flexibilitäts- ckelter Berechnungsverfahren im Hinblick ihrer Art. Dieses hohe Effizienzniveau wird verbesserung stand bereits in den zurücklie- auf die aktuellen Marktanforderungen neu durch Optimierungsmaßnahmen in den genden Jahren und steht auch weiterhin im bewertet werden. Durch die Nachrüstung verschiedensten Bereichen erreicht, u. a. Fokus der technischen Optimierung bei den einer modernen Leittechnik zur Automa- durch eine Anhebung der Frischdampftem- Bestandsanlagen. Ebenso wurde sie bei reali- tisierung von An- und Abfahrtsvorgängen peratur und des Frischdampfdruckes, durch sierten modernen Neubauten (BoA-Technik) wird die Basis für eine deutliche Flexibili- den Einsatz neuer Materialien, durch eine berücksichtigt und ist wichtiger Konzeptbe- tätssteigerung gelegt. Die bessere Regelgüte verbesserte Auslegung der Dampfturbine, standteil derzeit laufender Planungen für der Anlagen ermöglicht dabei z. B. ein ziel- durch Optimierung des Kreislaufprozesses, Neubauten der nächsten Generation (BoAp- genaueres und zeitlich präziser planbares durch Reduktion des elektrischen Eigen- lus-Technologie). Die Flexibilitätseigenschaf- Anfahren gewünschter Betriebszustände. bedarfs mithilfe moderner Leistungselekt- ten in beiden Anlagengruppen sollen nach- In Kombination mit anderen Maßnahmen ronik sowie durch konsequente Abgaswär- folgend genauer erläutert werden. konnten so u. a. die technisch mögliche Min- menutzung. Unmittelbar verknüpft mit den 70 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN ZUKUNFTSFRAGEN hohen Wirkungsgraden ist eine deutliche Nennleistung eine mittlere Leistungsände- Die speziell für diese Aufgabe entwickelte Verminderung der Emissionen und damit rungsgeschwindigkeit von etwa 30 MW/ Anlagenkonzeption zeichnet sich durch eine erhebliche Verbesserung im Bereich min, was etwa den Parametern moderner Innovation und eine damit verbundene Ver- der Umweltverträglichkeit. GuD-Anlagen entspricht. In bestimmten ringerung der Auswirkungen auf Umwelt Lastbereichen sind darüber hinaus La- und Nachbarschaft aus. Die wesentlichen Die meisten der genannten Maßnahmen zur ständerungsgeschwindigkeiten von bis Konzeptbausteine der BoAplus-Technologie Steigerung von Effizienz und Umweltver- zu 60 MW/min möglich. Beide Blöcke sind in Abb. 3 dargestellt. Sie unterscheidet träglichkeit stehen einer hohen Anlagenfle- zusammen sind somit in der Lage, Last- sich an markanten Stellen maßgeblich von xibilität nicht entgegen oder unterstützen schwankungen von mehr als 1 000 MW in der aktuellen BoA-Kraftwerksgeneration. sie sogar. Erhebliche Herausforderungen etwa einer Viertelstunde auszugleichen. So ist ein sog. „Integriertes Feuerungs- ergeben sich jedoch durch die hohen Dampf- Dies entspricht einer Kapazität von bis zu konzept“ vorgesehen, welches den Einsatz parameter. Insbesondere die Sammler im 400 Onshore-Windanlagen. sowohl von Trockenbraunkohle als auch Bereich des Dampferzeugers, in denen ein- von Rohbraunkohle vorsieht und somit den zelne Rohrleitungen der Heizflächen auf ei- Laufende Planungen erhöhten zukünftigen Flexibilitätsanforde- nen einzigen Strang mit großem Querschnitt für Neuanlagen rungen des Strommarktes gerecht werden zusammengeführt werden, sind hohen Be- soll. Neben einem Zugewinn an Effizienz, anspruchungen ausgesetzt und daher mit Um auch zukünftig die Chancen der Ener- der mit dem integrierten Feuerungskon- entsprechend groß dimensionierten Wand- giewende wahrzunehmen und gleichzeitig zept verbunden ist, übernimmt die Tro- stärken auszuführen. Um Materialschäden wirtschaftlich im Markt agieren zu können, ckenbraunkohle eine wesentliche Funktion zu vermeiden, dürfen diese dickwandigen entwickelt RWE Power in Zusammenarbeit bei der Optimierung der Laststeuerung der Bauteile jedoch nur vergleichsweise lang- mit RWE Technology die BoA-Technik unter Anlage. Das Mindestlastniveau kann durch sam erwärmt und abgekühlt werden. Sie Federführung eigener Engineering- sowie eine verbesserte Brennersteuerung mit ei- bestimmen somit wesentlich die Anlagen- Forschungs- und Entwicklungsressourcen nem stabileren Flammenbild und Einzel- flexibilität. kontinuierlich weiter. Derzeit plant RWE Po- flammenüberwachung deutlich gegenüber wer den Bau des weltweit effizientesten und der aktuellen BoA-Technologie reduziert Die für die Anlagenflexibilität entscheiden- flexibelsten Braunkohlenkraftwerks, das in werden. den Sammler der Neubaublöcke F und G des Anlehnung an die weiterentwickelte BoA- Kraftwerks Neurath wurden daher unter Technologie mit „BoAplus“ bezeichnet wird. Für den Einsatz der Trockenbraunkohle Verwendung neuer Werkstoffe und Zuhil- Die Anlage mit einer elektrischen Leistung wird u. a. ein Teil der Rohbraunkohle in vor- fenahme von FEM-basierten Auslegungsbe- von rd. 1 100 MW soll am Standort Nieder- geschalteten Wirbelschichttrocknern unter rechnungen mittels Computersimulationen außem errichtet werden. Im Gegenzug sol- Rückgewinnung der für die Verdampfung mit der Zielsetzung optimiert, ein möglichst len Bestandsanlagen mit einer Leistung von des Kohlewassers aufgebrachten Wärme „schlankes“ (dünnwandiges) Design ohne insgesamt rd. 1 200 MW stillgelegt werden. vorgetrocknet (Wirbelschichttrocknungs- Einbußen bei der langfristigen Belastbarkeit Um BoAplus auf die zukünftigen Marktkon- anlage mit integrierter Abwärmenutzung zu erreichen. ditionen vorzubereiten, wird die Anlage bei (WTA)). So kombiniert BoAplus die Vorteile höchster Flexibilität mit einem Wirkungs- der klassischen Rohbraunkohlenfeuerung Die Berechnungsverfahren wurden in en- grad von > 45 % ausgelegt. mit denen des Trockenbraunkohleeinsatzes. ger Zusammenarbeit zwischen der Materi- alprüfungsanstalt der Universität Stuttgart (MPA), den Dampferzeugerlieferanten Hi- tachi Power Europe und Alstom Power Boi- ler sowie der Betreiberin RWE Power auf die vorliegende Anwendung angepasst und durch den TÜV Nord verifiziert. Im Ergebnis konnten so Sammler mit einer Wandstärke von 76 mm anstatt von 100 mm ausgeführt werden, die sich auf Basis eines herkömm- lichen Auslegungsverfahrens nach DIN EN 12 952-3 ergeben hätte. Zusammen mit Verbesserungen in den Be- reichen Leit- und Brennertechnik sowie weiteren Einzelmaßnahmen ermöglicht das Design der Neubaublöcke F und G des Kraftwerks Neurath über den gesamten Abb. 3 Konzeptbausteine des am Kraftwerksstandort Bergheim-Niederaußem geplanten Braunkohlen- kraftwerks BoAplus Lastbereich zwischen 50 und 100 % der ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2 71
ZUKUNFTSFRAGEN stellung einer zukunftsfähigen Stromerzeu- gung. Dass der heimische Energieträger Braunkohle im Energiemix Deutschlands auch weiterhin langfristig benötigt wird, ist durch Marktanalysen belegt [1 und 2]. Die Braunkohle verfügt im Vergleich zu an- deren konventionellen Energieträgern wie Steinkohle, Gas und Kernenergie über klare Stärken. Als heimischer, subventionsfreier Energieträger besteht bei der Brennstoffbe- schaffung keine Importabhängigkeit. Somit entfallen die erheblichen Preis- und Trans- portrisiken, wie sie z. B. beim Import von Steinkohle und Erdgas gegeben sind. Die langfristige Verfügbarkeit gewährleistet ei- nen hohen Grad an Versorgungssicherheit. Die Verstromung von Braunkohle bewirkt eine hohe Wertschöpfung in der Region, Abb. 4 Flexibles Duo-Kessel-Konzept bei BoAplus: 2 x 550 MW-Dampferzeuger mit 1 x 1 100 MW-Dampf- stärkt die regionale Wirtschaftskraft und turbine sichert darüber hinaus zahlreiche Arbeits- plätze. Nicht nur aufgrund der beschriebenen Maß- die Anlage bei Bedarf extrem elastisch und nahmen ist die Betriebsweise der Anlage dynamisch auf die volatile, aber gesetzlich Auch bei einem ambitionierten Ausbau der sehr flexibel. Hierfür sorgt auch das sog. vorrangige Stromeinspeisung der erneuer- erneuerbaren Energien sind flexible und Duo-Kessel-Konzept, dass die Kombination baren Energieträger reagieren und damit effiziente konventionelle Kraftwerke für von zwei 550-MW-Dampferzeugern mit einer zur Versorgungssicherheit und Stabilität der eine sichere Versorgung langfristig unver- 1 100-MW-Dampfturbine vorsieht (Abb. 4). Energieversorgung beitragen. zichtbar. Moderne Braunkohlenkraftwerke Dazu kommt die vorab im Zusammenhang helfen dabei, den Ausbau der erneuerbaren mit den Vorgängeranlagen BoA 1-3 beschrie- Braunkohlenkraftwerke – Energien zu unterstützen und die benötig- bene und erprobte Technik mit den bereits wichtiger Bestandteil te elektrische Energie zu allen Zeiten und erläuterten dynamischen und elastischen der Energiewende bei allen Witterungslagen sicher bereitzu- Eigenschaften zum Einsatz. Das Gesamtkon- stellen. Durch Modernisierungsprogramme zept von BoAplus ermöglicht damit Lastän- Die im Umbruch befindlichen Rahmenbe- für Bestandsanlagen sowie optimierte und derungsgeschwindigkeiten vergleichbar mit dingungen des europäischen und deutschen innovative Anlagenkonzepte bei aktuellen modernen Gaskraftwerken bei möglichen Strommarktes und die damit verbundenen und geplanten Kraftwerksneubauprojekten Kapazitätsabsenkungen auf ca. 350 MW vielschichtigen Herausforderungen für die stellt RWE Power ihr Kraftwerksportfolio im Zwei-Kessel-Betrieb und auf ca. 175 MW EVU erfordern eine grundlegende Moderni- konsequent auf die veränderten Marktan- im Ein-Kessel-Betrieb (Abb. 5). Somit kann sierung der Energieinfrastruktur zur Sicher- forderungen um und ist damit auch mit sei- nen flexiblen Braunkohlekraftwerken wich- tiger Bestandteil der Energiewende. Literatur [1] Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln: Bedeu- tung und Rolle der Braunkohle in Deutschland, 6.2.2012; [2] Vgl. Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER), Universität Stuttgart: Energie- wirtschaftliche Bedeutung der Braunkohlennutzung in Deutschland, 23.1.2012. Dr. R. Elsen, T. Körber, RWE Power AG, Köln; Dr. L. Kulik, RWE Generation SE, Essen reinhold.elsen@rwe.com Abb. 5 Flexibilität moderner GuD-Anlagen und Braunkohlenkraftwerke im Vergleich thomas.koerber@rwe.com lars.kulik@rwe.com 72 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
ZUKUNFTSFRAGEN ZUKUNFTSFRAGEN Energiekonzept, Mathematik und zweifelhafte Erwartungen Knut Kübler Die Bundesregierung hat in ihrem Energiekonzept 30 quantitative Ziele festgelegt und damit über den Weg Deutschlands in die Energiezukunft entschieden. Unter diesen Zielen gibt es eines, über das wenig geredet wird, obwohl es über Erfolg oder Misserfolg der Energiewende entscheidet: Der Primärenergieverbrauch Deutschlands soll von 2008 bis 2050 um 50 % vermindert werden. Um dieses und die anderen Ziele zu erreichen, verfolgt die Bundesregierung eine Politik der „staatlich programmieren Energieversorgung“. Deren Implikationen sind durch das „kleine und große 1 x 1 des Energiekonzepts“ leicht zu ermitteln. Es zeigt sich, dass mit dem Energiekonzept ein Urteil über das Schicksal jedes einzelnen Energieträgers gefällt wurde. Zudem wird deutlich, dass steigende Energiepreise nicht nur eine Folge, sondern geradezu eine Vorausset- zung für den Erfolg der Energiewende sind. Plädiert wird für eine Energiepolitik, die so angelegt ist, dass bei neuen Daten und Fakten – unter Beibehaltung der Generalziele – Änderungen möglich sind. Gut zwei Jahre nach Vorlage des Energie- konzeptes der Bundesregierung wird die politische Debatte in Deutschland wieder > > PA R A D I G M E N W E C H S E L unübersichtlich. Im September 2010, als das Energiekonzept im Kabinett verabschie- det wurde [1], und noch stärker, nachdem man sich im Juni 2011 auf einen beschleu- nigten Verzicht auf die Kernenergie verstän- digt hatte [2], glaubten viele, dass man in Deutschland jetzt endlich eine klare und für viele Jahre gültige Linie in der Energiepo- litik gefunden habe. Damals unterstützten alle politischen Parteien, große Teile der Wirtschaft und vor allem die Mehrheit der Bürger die Energiewende. Aktuelle energiepolitische Diskussion Heute ist die Situation anders. Es gibt Wi- Kluge Energiepolitik in einer Zeit rascher Veränderungen ist eher dem auf Anpassung und Flexibilität derstände. Auffällig ist, dass spezifische In- ausgerichteten „Segeln“ ähnlich als dem durch Gleise und Fahrpläne fest vorgegebenen „Bahnfahren“ teressenpositionen in den letzten Monaten immer grundsätzlicher, radikaler und lauter vertreten werden. Man denke an die hefti- und Bewertungen möglich macht. Vielleicht denken. Es ist eine alte Erfahrung, dass die gen Auseinandersetzungen um die Zukunft ist dieser Lernprozess dadurch zustande Mathematik hilft, auch Verborgenes zu ent- des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), gekommen, dass sich der eine oder andere decken: Zahlen sagen mehr als Worte. an die gegensätzlichen Einschätzungen zur noch einmal die Zeit genommen hat, das nur Notwendigkeit des Netzausbaus in Deutsch- 32 Seiten umfassende Energiekonzept durch- Insofern sollte die Beschäftigung mit den land und vor allem an die unterschiedlichen zublättern und dabei auf etwas gestoßen ist, rechnerischen Konsequenzen einer be- Zahlen zu den Kosten der Energiewende. was bisher kaum wahrgenommen wurde. stimmten Politik nicht als akademische Übung verstanden werden, sondern als ein Was sind die Ursachen für diese Entwick- Das Energiekonzept macht etwas möglich, konstruktiver Beitrag zum besseren Ver- lung? In einem ersten Reflex werden viele an was bei der Analyse von politischen Pro- ständnis von Zusammenhängen und als die üblichen Profilierungsversuche der ver- grammen nur selten gelingt, nämlich die Möglichkeit, neue Entwicklungen anzusto- schiedenen Interessensgruppen im Vorfeld Mathematik ins Spiel zu bringen. Dazu ßen. Wer also die Konsequenzen der Ener- der Wahlen in 2013 denken. Wer die Dinge muss man nur bereit sein, die dort getä- giewende noch nicht selbst durchgerechnet aber näher betrachtet, kann auch zu dem tigten Aussagen so zu nehmen, wie sie auf hat, für den kann es lohnend sein, sich mit Ergebnis gelangen, dass es einen Lernpro- dem Papier stehen, und sie in ihren langfris- dem „kleinen und großen 1 x 1“ des Ener- zess zu geben scheint, der neue Einsichten tigen Implikationen konsequent zu Ende zu giekonzepts vertraut zu machen. ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2 73
ZUKUNFTSFRAGEN „Staatlich programmierte stehen, muss man etwas ins Detail gehen. Überlegungen wollen wir den Blick nur Energieversorgung“ Hilfreich ist vor allem ein Blick auf die ver- auf die quantitativen Zielvorgaben wer- schiedenen Entwicklungsstufen dieses neuen fen. Sie sind das Herzstück einer „staat- Als Einstieg ist eine Vorbemerkung hilf- politischen Ansatzes. Man kann den Prozess lich programmierten Energieversorgung“ reich, die verständlich macht, wie die Ma- in stilisierter Form so beschreiben: In einem und offenbaren in besonderer Weise, was thematik einen so hohen Stellenwert in ersten Schritt entwickelt die Politik eine ge- die heutige Energiepolitik im Innersten der Energiepolitik bekommen konnte. Seit nerelle Vorstellung über die künftig anzustre- zusammenhält. Ihre auf 30 angestiegene fast 40 Jahren artikulieren Regierungen bende Energieversorgung. Dann konkretisiert Anzahl ist auch das nach außen sichtbarste ihre Vorstellungen über die Gestaltung der sie diese Vorstellung durch quantitative Ziele. Kriterium, an dem man ablesen kann, wo- Energieversorgung in Konzepten und Pro- Das bezieht sich bspw. auf die Höhe des künf- durch sich das Energiekonzept 2010 von grammen. Diese Vorstellungen entwickeln tig noch zulässigen Energieverbrauchs und den bisherigen energiepolitischen Aussa- sich, wirtschaften über die Zeit ab, gelten die Rolle einzelner Energieträger. gen der Bundesregierung unterscheidet nach und nach als veraltet und werden (Tab. 1). Schließlich sind die quantitativen dann durch neue Konzepte und Program- In einem weiteren Schritt werden die zum Ziele die Voraussetzung, dass überhaupt me ersetzt. Veränderungen vollziehen sich Umbau der Energieversorgung notwendi- Berechnungen möglich werden. oft über Jahre und Jahrzehnte, schleichend gen Instrumente identifiziert (Ordnungs- und kaum wahrgenommen, bis es zu einer recht, Steuern, Abgaben, Subventionen Diesen Berechnungen wollen wir uns nun Zäsur kommt. Das Energiekonzept der Bun- usw.). Danach wird in einem Plan festge- zuwenden. Jeder kennt die biblische Weis- desregierung aus dem Jahr 2010 markiert legt, wie alle diese Maßnahmen in syste- heit: „Was du auch tust, bedenke das Ende“. eine solche Zäsur in der Energiegeschichte matischer Weise umgesetzt werden sollen. Diese Erinnerung kann vor allem für jene Deutschlands. Mit der Energiewende hat Als Krönung der „staatlich programmier- hilfreich sein, die Gefahr laufen, sich im die Energiepolitik den Übergang zu einer ten Energieversorgung“ wird zum Schluss Dschungel der mittlerweile unübersehba- „staatlich programmierten Energieversor- noch ein außerhalb der Administration ren Details der energiepolitischen Debatte gung“ vollzogen. Was ist damit gemeint? angesiedelter Kontrollapparat aufgebaut. zu verlaufen und nach Orientierung suchen. Dieser Kontrollapparat spielt eine wichtige Welche Energieversorgung soll eigentlich Eine „staatlich programmierte Energiever- Rolle. Er soll es nicht nur möglich machen, nach den Vorstellungen der Bundesregie- sorgung“ basiert auf dem Gedanken, dass es dass die Politik immer alle notwendigen rung in Deutschland am Ende der Energie- Aufgabe des Staates ist, durch quantitative Informationen zur Hand hat, um auch wende im Jahr 2050 stehen? Ziele und die Festlegung entsprechender kurzfristig mit zusätzlichen Interventio- Maßnahmen die langfristige Entwicklung nen nachzusteuern, sondern auch, um allen Interessant ist, dass man diese Frage ziem- der Energiemärkte bis ins Detail vorzuge- Marktteilnehmern das letzte Vertrauen zu lich genau beantworten kann, und zwar ben, zu „programmieren“. Mit dieser Erläu- geben, dass die Ziele durch einen ständigen auch dann, wenn man sich im Interesse terung erschließt sich auch der Sinn einer Abgleich von „Soll“ und „Ist“ wirklich ange- der Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit auf den ersten Blick kaum verständlichen steuert werden. mit ganz einfachen Berechnungen zufrie- Bewertung von Bundeskanzlerin Angela den gibt. Tiefergehende Analysen würden Merkel, die auf einer Pressekonferenz 2010 Über die Idee einer „staatlich program- zu kaum anderen Ergebnissen führen, wie die Energiewende als eine „Revolution“ be- mierten Energieversorgung“ innerhalb man auf der Basis der zahlreichen Szena- zeichnet hat, die „planbar wird“ [3]. eines marktwirtschaftlich organisierten rienrechnungen belegen kann, die von Systems zu sprechen, ist ein weites Feld. der Bundesregierung im Umfeld des Ener- Um das Konzept der „staatlich programmier- Darauf kann und soll hier nicht im Einzel- giewende in Auftrag gegeben wurden [4]. ten Energieversorgung“ noch besser zu ver- nen eingegangen werden. In den folgenden Wichtig ist es allerdings, die sich aus den folgenden Berechnungen ergebenden „spit- Tab. 1: Energiepolitik der Bundesregierung: quantitative Zielvorgaben zen Zahlen“ nicht auf die Goldwaage zu und Planungshorizont legen, sondern als Orientierungswerte ein- Jahr Programmatische Regierung Vorga- Planungshorizont zustufen. Aussage ben 1991 Energiepolitik für das CDU/CSU/FDP 2 19 Jahre Das kleine 1 x 1 des Energie- vereinte Deutschland konzepts: Energieverbrauch & 2001 Nachhaltige Energiepolitik SPD/Bündnis 90/Die Grünen 9 19 Jahre Energiemix für eine zukunftsfähige Energieversorgung Die Bundesregierung nennt im Energiekon- zept das Ziel, den Primärenergieverbrauch 2007 Eckpunkte für ein CDU/CSU/FDP 10 13 Jahre Deutschlands bis 2050 um 50 % gegenüber integriertes Energie- und Klimaprogramm 2008 zu senken. Diese Vorgabe ist für den Erfolg des Energiekonzepts von größter 2010 Energiekonzept CDU/CSU/FDP 30 40 Jahre Bedeutung. Denn nur wenn es gelingt, den 74 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 63. Jg. (2013) Heft 1/2
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