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Deutsche Oper Berlin Saison 22/23 August bis Oktober 2022 Libretto #1 plus Wir gehen raus Die Deutsche Oper zu Gast auf den Bühnen Berlins
Deutsche Oper Berlin, August 2022 Liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie an die Deutsche Oper Berlin denken, haben die meisten von Ihnen unweigerlich zuerst die große Bühne mit ihren unvergesslichen Wagner-, Verdi- und Puccini-Abenden im Kopf. Dabei gibt es bei uns noch viel mehr zu entdecken: Neben der Tischlerei, wo seit nunmehr zehn Jah- ren unkonventionelles Musiktheater ebenso stattfindet wie Jazz und Kammermusik, haben wir seit zwei Jahren unser Parkdeck als ideale Open-Air-Spielstätte für laue Spätsommernächte etab- liert. Die Wiederaufnahme von Mark-Anthony Turnages Oper GREEK, unserem Sommerhit der letzten Spielzeit, ist auch jetzt der Startschuss für einen Saisonbeginn, bei dem wir bis Ende Ok- tober nicht nur das Parkdeck und die Tischlerei bespielen, son- dern auch andere Spielorte in der Stadt jenseits unserer großen Bühne erkunden. Im Tempodrom und in der Philharmonie, im Haus der Berliner Festspiele und im Konzerthaus präsentieren wir Ihnen ein abwechslungsreiches Programm von Jazz über konzertante Oper bis hin zu szenischen Premieren, über das Sie dieses Heft informieren soll. Dass wir in dieser Zeit die Haupt- bühne nicht bespielen, hat einen ganz praktischen Grund: Unser Orchestergraben muss renoviert und erweitert werden. Ab An- fang November sind wir dann auf der großen Bühne wieder für Sie da. — Wir freuen uns auf Sie, Ihr Dietmar Schwarz Dietmar Schwarz ist bekennender Fahrradfahrer. Der Intendant der Deutschen Oper Berlin benutzt das Rad nicht nur für den täglichen Arbeitsweg, sondern auch, um die Stadt zu erkunden 3
Inhalt 2 Editorial 6 Spielstätten Vom Tempodrom bis zum Haus der Berliner Festspiele – die Spielorte im Überblick 8 Gleich passiert’s Mark-Anthony Turnages GREEK kehrt nach dem großen Erfolg zurück aufs Parkdeck 10 Mahlers Zweite Sir Donald Runnicles dirigiert Komfortrauschen spielen beim Playground-Festival Detroit-Techno mit den Instrumenten einer klassischen Rockband die »Auferstehungssinfonie« beim Musikfest Berlin 12 Eine florentinische 16 Experimentum Mundi Tragödie Für seine Experimentaloper stellt Marc Albrecht erkundet die Abgründe Giorgio Battistelli 16 italienische Handwerker von Zemlinskys Psycho-Oper auf die Bühne in Berlin 14 Lakmé 20 Der Talentscout Delibes’ Indien-Oper ist nicht nur wegen des Operndirektor Christoph Seuferle findet »Blumenduetts« und der »Glöckchen-Arie« ein Hit die Opernstars von morgen 22 Semiramide Rossinis monumentale Babylon-Oper ist ein Fest des Koloraturgesangs 24 Pure Bliss Das legendäre Stuttgarter Ballett ist endlich wieder zu Gast in Berlin 28 Playground Im Rahmen des Jazzfestivals machen Berliner Bands die Tischlerei der Deutschen Oper zum Dancefloor 31 Die Ballade von Robin Hood Martin Auer vertont mit dem wilden Jazzorchester NEGAR erzählt von jungen Menschen im nach dem DSCHUNGELBUCH zum zweiten Mal Iran und was sie vor dem Regime verbergen einen Klassiker für die ganze Familie 4
32 Epitaph 40 Blick zurück Das abendfüllende Werk von Charles Mingus ist ein 50 Jahre wirkte Dietrich Fischer-Dieskau an der Deutschen Achttausender der Jazz-Geschichte Oper Berlin. Ein Symposion würdigt den Jahrhundertsänger 34 Negar 42 Bald passiert’s Die Französin Marie-Ève Signeyrole erzählt eine Mit Verdis RIGOLETTO beginnen ab November wieder Liebesgeschichte im modernen Teheran die Vorstellungen auf der großen Bühne 38 Der große Umbau 44 Programm Orchesterdirektor Axel Schlicksupp erklärt, warum er und die Musiker*innen sich auf den frisch renovierten 46 Kalender Orchestergraben freuen 51 Service / Impressum Marc Albrecht ist musikalischer Leiter bei EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE Choreograf Johan Inger bei den Proben zu PURE BLISS. Mit dem weltbekannten Stuttgarter Ballett ist er zu Gast in Berlin 5
SIEGESSÄULE ERNST-REUTER-PLATZ Deutsche Oper Berlin Was hören CHARLOTTENBURG Sie wo? Haus der Berliner Festspiele Tischlerei Parkdeck Haus der Deutsche Deutsche Berliner Oper Berlin Oper Berlin Festspiele Der leere Raum als Inspirationsquelle Normalerweise werden auf der großen Nur zwei Jahre nach ihrer Wiedereröff- für Neues: Das funktioniert seit zehn Empore im Innenhof Dekorationsteile nung bekam die Deutsche Oper eine Jahren in der Tischlerei der Deutschen aufbewahrt, während auf der Freiflä- »kleine Schwester«: Das Haus der Berli- Oper Berlin. In der ehemaligen Werk- che Autos parken. Doch im Sommer ner Festspiele, als Theater der Freien statt ist Platz für unkonventionelles wird das akustisch geschützte Park- Volksbühne von Bornemann konzi- Musiktheater, aber auch für Jazz, Pro- deck zu einer stimmungsvollen Open- piert, hat sich nicht nur bei Festivals wie jekte mit Kindern und Jugendlichen Air-Spielstätte. der MaerzMusik als Spielort auch für und Konzerte. Konzert und Musiktheater bewährt. Jazzfestival 10., 11., 12., 14. Sep. GREEK 27., 28., 31. Aug.; 1. Sep. EXPERIMENTUM MUNDI 19., 21. Okt. Tischlereikonzert 16. Sep. Opera Lounge 3., 4. Sep. SEMIRAMIDE 20., 22. Okt. NEGAR 29., 31. Okt.; 1., 2., 3., 5., 6. Nov. Best of CARMEN 8., 11., 12. Sep. Jazzfestival 9., 10. Sep. 6
BRANDENBURGER TOR Konzerthaus Berlin MITTE Berliner Philharmonie CHECKPOINT CHARLIE Tempodrom KREUZBERG Tempodrom Konzerthaus Berliner Mit seinem vielfach gefältelten Dach erinnert das Tempodrom am Anhalter Berlin Philharmonie Bahnhof schon von weitem an ein Zir- Als Uraufführungsort von Webers Als »aufsteigende Weinberge« be- kuszelt. Die Anspielung ist beabsich- FREISCHÜTZ ging das Konzerthaus schrieb der Architekt Hans Scharoun tigt, denn die Multifunktionshalle ent- am Gendarmenmarkt in die Musikge- die Zuschauerränge in der 1963 eröff- stand einst aus einem Off-Theater. schichte ein. Seit der Wiedereröffnung neten Philharmonie. Seither wurde Heute bietet sie unterm Dach nicht des kriegszerstörten Baus 1984 er- seine Idee eines Konzertsaals, der das nur ein spektakuläres Raumerlebnis, strahlt der große Saal im Lüsterglanz Podium von allen Seiten umgibt, welt- sondern ist immer wieder Ort für und ist mit seinem klassizistischen weit kopiert und nicht nur beim all- große Gastspiele. Dekor der Klassiker unter Berlins Kon- jährlichen Musikfest ist es für alle gro- zertstätten. ßen Orchester der Welt ein Traum, in diesem Saal zu spielen. PURE BLISS 22., 23., 24. Sep. EINE FLORENTINISCHE Gustav Mahler 2. Sinfonie 7. Sep. TRAGÖDIE 5. Sep. Epitaph 19. Sep. LAKMÉ 27. Sep. 7
Gleich passiert’s Mark-Anthony Turnage GREEK Eddy ist von zu Hause abgehauen und sucht sein Glück in der Stadt. Doch dort herrscht rohe Gewalt: Ein Polizeitrupp wird den Jungen gleich niederknüppeln. Das Parkdeck der Deutschen Oper stellt den Schauplatz für Mark-Anthony Turnages Oper GREEK, eine moderne Ödipus- Erzählung im rauen Londoner East End der 1980er Jahre. GREEK auf dem Parkdeck > 1 im Spielplan 9
Im Rausch der Bilder Sir Donald Runnicles dirigiert die Zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Ein Gespräch über die ewige Lust, sich von Musik überwältigen zu lassen Warum Gustav Mahler, Herr Runnicles? Engt Sie die enorme Ausdifferenzierung von Mahlers Partituren nicht ein? Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich mein Taschen- Mahler hat sich gegen die vermeintliche »Schlamperei« geld aufgebessert und in der Konzerthalle von Edinburgh der Aufführungen seiner Zeit gewehrt. In der Partitur steht Programmhefte verkauft. Es lief die erste Sinfonie, ich stand über den Noten mal »nicht schleppen«, dann wieder »nicht im Zuschauerraum und hatte das Gefühl, die Zeit steht still. eilen«. Aber trotz dieser peniblen Genauigkeit – und das ist das Ich habe keine Erinnerung daran, ob das damals eine halbe, Geniale an Mahler – bleibt noch viel Freiraum für Interpreta- eine Stunde oder zwei Stunden dauerte. Alles löste sich auf, tionen. Und Mahler selbst hat dem Dirigenten Otto Klempe- der Raum bestand nur noch aus Musik und Erzählungen. rer gesagt, dass es völlig okay sei, die Instrumentierung einem Mahler hat zu Ihnen gesprochen. Saal oder einem bestimmten Orchester anzupassen. Das kann man so sagen. Das Theatralische, Bildhafte Mahlers Zeitgenossen wetterten im Hinblick auf seine Sinfonien von der Musik hat mich einfach umgehauen. Ich habe mich dann »Lärm, Skandal, Unfug, Umsturz«. Worin lag Mahlers Radikalität? manisch mit allem beschäftigt, was mit ihm zu tun hat. Drei Das Theatralische der Musik, die dreidimensionale An- Jahre später habe ich an der Uni eine Arbeit über Mahler und ordnung der Instrumente. Man könnte behaupten, die die Frage geschrieben, inwieweit die Instrumentierung und Zweite, Dritte oder Achte von Mahler sind quasi Opern, weil die Überarbeitungen der fünften Sinfonie mit dem Kompo- man die ganze Zeit das Gefühl hat, es wird eine Geschichte nisten oder dem Dirigenten Gustav Mahler zu tun haben. erzählt. Mahler wusste als Dirigent genau, was man aus dem Eine der Kernfragen bei Mahler, auf der Karrieren gründeten. Orchester herausholen kann und diese Wucht, die Bilder, das Eben, zum Beispiel auch die von Donald Mitchell, der Erzählerische, das oft Makabre oder Groteske, dieser Sturm – Professor in Southampton war, vier wunderbare Bücher über das hat viele Leute irritiert. Mahler geschrieben hat und den ich kennenlernen durfte. Klingt nach frühem Kino, als Menschen aus Filmtheatern flüchteten Mitchell schickte mir Fotokopien von Beethovens und Schu- oder ohnmächtig wurden. manns Partituren mit Korrekturen von Gustav Mahler, wo Sehen Sie? Genau das dürfte bei Mahler auch passiert er manchmal statt zwei Hörnern vier empfiehlt, oder die me- sein. Als Konzertbesucher befindet man sich » im Klang«. lodische Chromatik verändert – lange Rede, kurzer Sinn: Ich Mahler hat Trompeten hinter der Bühne platziert oder im Saal. war fasziniert von Mahler, tauchte richtig tief ein. Dann kam Sie sitzen mittendrin. Es erinnert an Quadrophonie, nur live. 1972 Leonard Bernstein mit dem London Symphony Or- Nun spielen Sie bald in der Philharmonie. Das Orchester sitzt mit den chestra nach Edinburgh, spielte die Zweite Sinfonie, ich Sänger*innen und dem Chor quasi auf der Bühne ist umgeben vom stand wieder in der Usher Hall und es war einfach nur geil, Publikum. Was werden Sie ändern? verzeihen Sie das Wort, wie dieser kleine Mann zum Gigan- Gegebenenfalls das Tempo. In einem großen, über- ten wurde, das Stück dirigierte, als hätte er es selbst geschrie- akustischen Raum muss man bisweilen die Geschwindig- ben. Ich war wie im Rausch, als hätte ich Drogen genommen. keit rausnehmen, sonst kommt das Ohr nicht mit. Konzert- Was macht die Auferstehungssinfonie so besonders? Ist sie die größte? säle sind Tempel, da müssen Sie auch Zeiten der absoluten Von der Besetzung her ist die Achte größer. Aber die Ruhe zelebrieren. Der Klang der Philharmonie ist fantas- Zweite Sinfonie hat seinen Durchbruch markiert. Mahler tisch, jeder spielt hier besser. hatte sich damals wie alle Komponisten seiner Zeit sehr mit Kein Wunder, das Gebäude ist eigens für Orchester errichtet. Und die- Finali auseinandergesetzt, um nach dem sehr reichhaltigen ses Orchester sitzt im Kessel, im Zentrum, wird gesehen, die ganze Zeit! Aufbau des Stücks einen Ruhepunkt zu setzen, und die zarte Eben. Und deswegen muss ich alle im Orchester stets gesangliche Vertonung des »Urlicht« ist einfach nur genial. daran erinnern, zu lächeln! Vor allem beim Schlussapplaus. 10 Gustav Mahler: 2. Sinfonie in der Philharmonie > 4 im Spielplan
Der Generalmusikdirektor und das Orchester der Deutschen Oper Berlin werden für ihre Mahler-Interpretationen von Kritik und Publikum gefeiert 11
Marc Albrecht dirigiert EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE von Alexander von Zemlinsky: Wiener Welttheater von schwärzestem Schwarz 12
Wenn Gewalt sexy macht Es gilt das Recht des Stärkeren in EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE, Mord eingeschlossen. Und die Frau? Findet das toll. Dirigent Marc Albrecht blickt in den Abgrund Die Welt taumelt am Abgrund und Die Werke sind Schmerzensstü- Entscheidungen mit dem Orchester bricht zugleich mit unglaublichem cke. Sie reflektieren den Ersten Welt- umzusetzen, müssen in der Probenzeit Tempo auf in die Moderne – all das krieg, die einschneidende Katastrophe musikalische Dialoge entstehen. spiegelt sich wider in der rasanten mu- dieser Epoche. Das zeigt sich auch tech- Schon in der Vorlage von Oscar sikalischen Entwicklung in den Jahren nisch: Korngold reduziert den Umfang Wilde ist die FLORENTINISCHE zwischen 1905 und 1920. Die Dichte, seiner Shakespeare-Vertonung, weil TRAGÖDIE brutal, direkt, fordernd. Fülle und das Extreme der Musik die- kriegsbedingt nur wenige Musiker zur Während Tuchhändler Simone auf Ge- ser Epoche ist einzigartig. Und alle Verfügung stehen. Zemlinsky schreibt schäftsreise ist, beginnt seine Frau Bi- Fäden kreuzen sich in Wien. in die Partitur viele Verdopplungen anca eine Affäre mit dem jungen Teil dieser Wiener Gesellschaft von Instrumenten. Selbst wenn nicht Guido. Der ungleiche Kampf der Män- sind Alexander von Zemlinsky, Alban alle Musiker verfügbar sind, soll der ner zeigt sich auch musikalisch: Si- Berg und Erich Wolfgang Korngold. Klang möglichst voll werden. mone ist Heldenbariton, er besteht den Obwohl sie unterschiedlichen Genera- Den komplexen Partituren dieser Kampf mit den Klangfluten des Or- tionen angehören, sind sie einander Zeit ist ein Klangrausch eingeschrie- chesters. Genau diese Kraft fasziniert sehr nah, sind Lehrer und Schüler, ben. Das ist eine Herausforderung für Bianca. Ihr Liebhaber Guido ist ein schreiben einander Briefe und halten meine Arbeit. Zemlinsky ist schwer zu Schönsänger, ein Tenorino, stimmlich Soiréen, spielen sich vor und hören zu, dirigieren, sein Orchester von fast 100 spielen die Männer nicht in derselben sie inspirieren und kritisieren sich. Musikerinnen und Musikern kann Liga. Es kommt zum Kampf, Simone Die Drei spiegeln die Pluralität schnell die akustischen Grenzen eines tötet den Jüngeren. Durch den Mord dieser Zeit: Korngold ist spritzig, frech, Saales sprengen. Der Reiz dieser Musik verfällt Bianca ihrem Ehemann nach ironisch, in »Viel Lärmen um nichts« liegt aber in ihrer Farbigkeit, ihrer Sub- jahrelanger Beziehungskrise erneut. fast poppig. Daneben steht die Ernst- tilität. Beim Lesen der Partitur setzt Es lässt mich frieren, wie hier haftigkeit und Klangsinnlichkeit bei sich die Musik in meinem inneren Ohr Brutalität zu Sinnlichkeit führt. Als Berg in seiner Orchestration der »7 frü- detailliert zusammen. Ständig muss wäre Gewalt ein Aphrodisiakum, eine hen Lieder«. Und Zemlinsky macht mit entschieden werden: Wie stehen die Art von Luststeigerung, die darin liegt, EINE FLORENTINISCHE TRAGÖ- vielen Stimmen zueinander? Wie kön- dass ein Leben auf der Klinge steht. DIE Welttheater, schwärzeres Schwarz nen wir komplexe Klanggebäude trans- Man schaut hinein in den Abgrund. hat die Oper wohl kaum je erdacht. parent erscheinen lassen? Um diese Das ist der Schauder dieser Partitur. EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE im Konzerthaus > 3 im Spielplan 13
Als Europa von Exotik träumte Léo Delibes’ LAKMÉ begleitet Daniela Candillari seit ihrer Kindheit. In Berlin dirigiert sie die Oper nun zum ersten Mal Eine musikalische Reise nach Indien Frau Candillari, ist LAKMÉ so etwas wie die britische Version von weil sie das Duett mochte. So lange begleitet mich die Musik. MADAMA BUTTERFLY, komponiert von einem Franzosen? Wie bereiten Sie sich auf die Aufführung in Berlin vor? Nur dass die Briten in Indien und nicht in Japan waren. Ich schaue mir die Partitur an und möchte verstehen, Ein englischer Offizier verliebt sich in der Ferne in eine Frau, die diese warum der Komponist sie so angelegt hat. Warum verwen- Liaison mit dem Leben bezahlt. Ist so ein Stoff noch zeitgemäß? det er hier eine Oboe und keine Klarinette, was bedeutet das Man muss das historisch einordnen. Französische für die Farbe des Orchesters, für den Charakter der Szene? Komponisten entwickelten ab etwa 1850 eine starke Faszina- Das klingt recht akademisch. tion für den Orient. Allerdings kannten sie die musikalischen Mag sein, aber die Frage nach dem Warum ist mir wich- Traditionen gar nicht richtig; daher griffen sie auf wenige mu- tig. Wenn ich mich mit einer neuen Partitur ans Klavier setze, sikalische Mittel zurück. In heutigen Ohren klingt das nach kommen die Fragen automatisch. Ich maße mir nicht an, bei Folklore, bei der Premiere 1883 in Paris hat es beeindruckt. allen Details die Motivation des Komponisten zu kennen. Und wie stehen Sie selbst zu dieser Musik? Ich muss es nur für mich selbst beantworten können. Und je Dieser orientalische oder exotistische Einschlag nimmt besser ich ein Stück kennenlerne, desto mehr liebe ich es. nicht viel Raum ein. Ich mag die Musik sehr, sie ist atmosphä- Wann spüren Sie, ob die Chemie stimmt, wenn Sie vor ein neues risch so abwechslungsreich, delikate Gesangspassagen folgen Orchester treten? auf kraftvolle Momente, wie wir sie von Puccini kennen. Au- Es dauert nur Sekunden, ich fühle es. Das ist für mich ßerdem verbinde ich etwas damit: Meine Großmutter war das Schönste am Dirigieren, man kommt von verschiede- Sängerin am Serbischen Nationaltheater in Novi Sad, es war nen Hintergründen, trifft aufeinander und kreiert zusam- wie ein Wohnzimmer für meine Schwester und mich. Als wir men etwas Eigenständiges, nicht Reproduzierbares – noch klein waren, spielte meine Schwester mir LAKMÉ vor, unsere Version von LAKMÉ 2022 in Berlin. 14 LAKMÉ in der Philharmonie > 9 im Spielplan
Neu hier? Tenor Josh Lovell debütiert in der Berliner Aufführung von Léo Delibes’ LAKMÉ als Gérald. Eine glückliche Fügung, denn die selten gespielte Oper ist ihm ans Herz gewachsen Als die Deutsche Oper Berlin mich für Lakmé ab. Ich glaube, es ist sinnvoll, die Rolle des Gérald anfragte, sagte ich auch solche Stoffe weiterhin zur Auf- zu meinem Agenten halb im Scherz: führung zu bringen und dem Publi- Bitte unterschreib’ dieses Mal sofort! kum zuzutrauen, sie in den histori- Ich war kurz zuvor von einem anderen schen Kontext einordnen und vielleicht Haus für dieselbe Rolle angefragt wor- sogar etwas über die koloniale Vergan- den, bekam sie aber letztlich nicht. Ich genheit lernen zu können. Vor allem habe eine besondere Beziehung zu der aber sollte die Oper wegen der wunder- Partie, da mein erster Gesangslehrer baren Musik häufiger gespielt werden. sie gesungen hat; das hat mich geprägt. Wie die Gesangsmelodien ausgestaltet Dass LAKMÉ heute selten auf den sind, wie die lyrischen Legati mühelos Spielplänen steht, liegt wohl unter an- ineinanderfließen, das ist einzigartig. derem an ihrem orientalistischen Dazu die französische Sprache mit Blick. Die Oper stammt aus einer Zeit, ihrer Eleganz und Varianz in den Vo- in der man anders auf fremde Kulturen kalen. Mein Lehrer sagte einmal: Die schaute, eurozentrisch und exotistisch. Melodien der französischen Oper Meine Figur Gérald ist ein britischer müssen gesungen werden wie Was- Kolonialist, er tritt als Eroberer auf – ser in einem Fluss. Daran werde ich aber er ist auch ein Kind seiner Zeit mich erinnern, wenn ich den Gérald und ich nehme ihm seine Liebe zu in Berlin gebe. Wieder hier? Sopranistin Aigul Khismatullina gab als Königin der Nacht in DIE ZAUBERFLÖTE ihr Debüt an der Deutschen Oper Berlin. Nun kehrt sie für die Titelrolle in LAKMÉ zurück Die Oper wird selten gespielt, das ist in debütierte. Das lässt sich übertragen. Russland nicht anders als andernorts. Mir geht es immer darum, Klarheit, Prä- Ich aber kann mich glücklich schätzen, zision und Akzentuiertheit in den Ver- die Lakmé schon einmal gesungen zu zierungen zu erreichen. Inhaltlich ist haben, im Mariinsky Theater in St. Pe- mir der Charakter gar nicht so fremd tersburg. Nach dieser Erfahrung kann wie vielleicht Frauen aus Mitteleuropa. ich sagen: Die Partie ist wunderschön, Ich bin in Tatarstan geboren, einer mus- aber sie verlangt einer Sopranistin eini- limisch geprägten autonomen Repub- ges ab. Die Besetzung ist klein, ich bin lik in Russland. Vieles in Lakmé erin- wie Gérald fast durchgehend auf der nert mich an unsere Traditionen; auch Bühne, bekomme kaum Pausen, in bei uns ist es in vielen Familien immer denen ich mich sammeln und fokussie- noch verpönt, wenn junge Frauen eine ren kann. Der Koloraturgesang macht außereheliche Beziehung eingehen. die Rolle auch technisch anspruchsvoll. Das hilft mir, mich in die Tochter des Die beste Vorbereitung auf diese Passa- Brahmanenpriesters hineinzuverset- gen sind für mich andere Rollen, die zen – das macht die Rolle für mich zu ähnliche Ansprüche an eine Sängerin etwas sehr Persönlichem. stellen – wie die Königin der Nacht in DIE ZAUBERFLÖTE , mit der ich im Januar an der Deutschen Oper Berlin LAKMÉ in der Philharmonie > 9 im Spielplan 15
Der Klang eines italienischen Dorfes am Morgen 16
Die Idee, echte Handwerker seines Heimatdorfs auf eine Opernbühne zu stellen, bescherte dem italienischen Komponisten Giorgio Battistelli Weltruhm. Warum, das erleben Sie jetzt in Berlin Alfredo Sannibale in seiner Werkstatt, in der schon sein Großvater arbeitete. Im Alter von sechs Jahren half er hier erstmals mit. Als junger Mann wirkte der Fassbauer bei der Uraufführung von EXPERIMENTUM MUNDI mit – jetzt kommt der mittlerweile 75-Jährige mit Kollegen aus seinem Heimatdorf nach Berlin 17
Ein Ei wird aufgeschlagen. Krack. Dann noch eins. Krack. Und noch eins. Krack. Krack. Krack. Ein Rührstab trifft auf eine Arbeitsplatte. Tak. Mit schnellen Schlägen vermischt ein Pastaio Eier und Mehl. Tak, tak, tak, tak, tak, tak, tak. Dann setzen die Schuster ein. Das Dorf auf der Opernbühne erwacht. Mit dieser Morgensequenz beginnt EXPERIMENTUM MUNDI, das Musiktheaterstück des italieni- schen Komponisten Giorgio Battistelli: Die Oper besteht aus den Arbeitsge- räuschen von insgesamt sechzehn Handwerkern, unterstützt von einem Frauenchor, einem Perkussionisten und der Rezitation eines Schauspielers. Der Untertitel verspricht ein Werk aus Die Piazza Pia in Albano Laziale: Komponist Giorgio Battistelli hörte hier einen Schuster imaginierter Musik. bei der Arbeit und ließ sich vom Rhythmus des Hammers inspirieren Als wäre die Idee, eine Oper aus Arbeitslärm zu komponieren, nicht überraschend genug, verbirgt sich studierter Komponist –, dass in der täg- »Mein Vater hat sich geschämt. Was darin eine weitere Besonderheit. Die lichen Arbeit des Schusters ein Rhyth- soll ich denn auf einer Bühne, hat er ge- Handwerker auf der Bühne sind kei- mus steckt. Battistelli ließ sich darauf fragt«, sagt Sannibale. neswegs Schauspieler, sondern echte ein, fand weitere Beispiele und kompo- Hinzu kam, dass Battistelli da- »artigiani«: Schreiner, Maurer und nierte ein Werk, das nicht für Bläser mals keine 30 Jahre alt war, ein »ra- Pflasterer aus Battistellis Heimatstadt und Streicher, sondern für Hammer gazzo« also – nach italienischen Stan- Albano Laziale. Das Stück ist ein Expe- und Hobel gemacht ist. dards fast noch ein Kind. Ihm fehlte die riment, das zwei Welten verbindet – die Einer dieser Hobel ist an diesem Autorität, die Handwerker von seinem Opernbühne und die Werkbank. Die Vormittag in der Frühlingssonne im seltsamen Projekt zu überzeugen. Welt und die Kleinstadt. Einsatz: Alfredo Sannibale, 75, glättet Diese Skepsis war ein Problem, weil die ersten Proben ein Reinfall ge- wesen waren: Die Musiker, die der »Ein Fass zu bauen Komponist engagiert hatte, konnten den Werkzeugen nicht die richtigen ist genauso kompliziert wie Töne entlocken. Battistelli brauchte echte Handwerker. »Ein Fass zu bauen eine Geige zu spielen.« ist genauso kompliziert wie eine Geige zu spielen«, erklärt Sannibale. Erst seine Mutter, Battistellis Cousine, brachte die Wende: Sie überredete Es ist ein geglücktes Experiment: mit ihm die Innenseite eines noch bo- ihren Mann zum Mitmachen. Dank Die Handwerker haben ihr Können auf denlosen Kastanienholzfasses. Er sitzt dieser ersten Zusage gelang es, auch die den Bühnen von New York, Hongkong im vorderen Teil seiner Werkstatt. Hin- anderen Handwerker anzuwerben. und London vorgeführt und Kritiker ter ihm wölbt sich eine fensterlose Am 15. Mai 1981 standen sie begeistert. Hier hat nicht nur ein genia- Höhle, die sich ins Innere des orange- dann gemeinsam auf der Bühne: Im ler Maestro aus Werkzeugen Instru- farbenen Gebäudes zieht. Mit seinen Teatro Olimpico in Rom schlugen die mente und aus Arbeitern Künstler ge- braungebrannten Fingern schiebt er drei Sannibales eiserne Ringe über ge macht. Auch sie haben ihm geholfen: den Hobel vor, zieht ihn zurück. Die bogene Holzplanken. Die Pflasterer Ohne die Männer aus Albano Laziale Späne fallen zu blonden Locken gerollt klopften Steine in Position, die Schlei- wäre Battistelli vielleicht nie so be- auf den staubigen Boden. fer schärften Messerklingen und die rühmt geworden, wie er es heute ist. Sannibale ist seit der ersten Auf Maurer fügten Ziegelsteine zu einer Um zu verstehen, wie diese unge- führung von EX PER IMEN T UM Wand zusammen – stets die Augen auf wöhnliche Kombination ein Welter- MUNDI dabei. Auf dem ersten Auffüh- Giorgio Battistelli gerichtet, der die folg wurde, kehren wir an den Ort zu- rungsplakat steht sein Name zwischen Töne zu einem polyrhythmischen rück, an dem vor über 40 Jahren alles denen seines Bruders und seines Va- Kunstwerk kombinierte. begann: Auf die Piazza Pia in Albano ters. Letzterer hätte damals um ein An den ersten Applaus, der dieser Laziale in den Hügeln vor Rom. Hier Haar nicht mitgemacht, als Battistelli Aufführung folgte, erinnert Sannibale bemerkte Battistelli – als frisch fertig ihn bat, in seiner Oper aufzutreten. sich bis heute: »Das war einmalig. Wir 18 EXPERIMENTUM MUNDI im Haus der Berliner Festspiele > 10 im Spielplan
»Der Anfang, EXPERIMENTUM MUNDI ist bis heute mehr als 400 Mal aufgeführt nicht bis ins hohe Alter ausüben. »Ir- gendwann machen die Knochen nicht das Ende, worden, hat Menschen auf der ganzen Welt begeistert und Battistelli zu inter- mehr mit«, sagt Sannibale. Viele der Männer haben ihren Platz daher an das Publikum: nationalem Ruhm verholfen, indem es etwa 2009 den Herald Angel Award ge- ihre Söhne oder Enkel weitergegeben. Vladimiro Carpineti etwa hat 1998 von Jedes wann. Auch dank dieser Erfolge ist Bat- tistelli heute künstlerischer Leiter des seinem Großvater, einem Schleifer, übernommen. Der 49-Jährige selbst ist Spektakel ist Haydn Orchester von Bozen und Tri- ent. Eine Funktion, die er zuvor eben- Pflasterer, sodass er auf der Bühne mal die eine und mal die andere Rolle über- anders.« falls etwa am Teatro dell’Opera di Roma und für das Internationale Festi- nimmt. Hunderte Aufführungen hat Carpineti schon mitgemacht: »Jedes val für zeitgenössische Musik im Rah- Spektakel ist anders«, sagt er. »Der An- men der Biennale di Venezia innehatte. fang, das Ende, das Publikum. Ich mag haben ihn im ganzen Körper gespürt.« Wie zentral dieses Musiktheater diese Überraschung.« Danach brauchte es keine Überredung in Battistellis Laufbahn ist, zeigt eine Vladimiro Carpineti ist ein gro- mehr, um seinen Vater erneut auf die aktuelle Ehrung: Die Biennale di Vene- ßer, breiter Mann. Man sieht ihm sei- Bühne zu holen. zia verleiht ihm 2022 den Goldenen nen körperlichen Beruf an und ver- Zu weiteren Auftritten kam es Löwen für sein Lebenswerk. In der Be- steht sofort seine Liebe zum Rugby. fortan häufig: Nach der Aufführung in gründung wird EXPERIMENTUM Umso überraschender ist es, wenn er Rom rief das Centre Pompidou aus MUNDI als ein »Eckpfeiler des inter- von EXPER IMEN T UM MUNDI Paris an. Berlin, Florenz und Wien folg- nationalen Musiktheaters« gewürdigt. schwärmt, das ihn begleitet, seit er ten. In Köln schüttelte Karlheinz Die Aufführung beendet am 25. acht Jahre alt war. Die Oper ist ein Teil Stockhausen nach der Aufführung die September das diesjährige Festival in seines Lebens – und dank Battistelli Hand jedes einzelnen von ihnen. Im Venedig. Die Partitur ist die gleiche wie ist sein Leben auch Teil der Musikge- australischen Adelaide trug ein Schau- vor 41 Jahren, doch die Besetzung hat schichte. Das weiß Carpineti: »Gior- spieler den Text auf Maori vor, in Salz- sich verändert: Denn anders als Musi- gio hat es geschafft, unser Dorf in die burg Bruno Ganz auf Deutsch. ker können Handwerker ihre Arbeit Welt zu tragen.« Virginia Kirst Meister ihres Fachs auf dem Sprung nach Berlin: Die »artigiani« aus Albano Laziale veredeln ihr Handwerk bei EXPERIMENTUM MUNDI zu einem rhythmischen Kunstwerk 19
»Trägt die Stimme?« Operndirektor Christoph Seuferle über die Kunst, die Gesangsstars von morgen zu erkennen Herr Seuferle, wie entdecken Sie Gesangstalente? engagieren, sie 30 bis 40 Auftritte pro Jahr in unserem Haus Bei Gesangswettbewerben, wo ich junge Sängerinnen hat, dann möchten wir einen Fehltritt unbedingt vermeiden. und Sänger höre, wenn sie frisch von der Hochschule kom- Was passiert, wenn die Tinte unter dem Vertrag trocken ist? men. Und beim Vorsingen hier im Haus. Meist auf Empfeh- Dann geht die eigentliche Arbeit los. Ich plane mit den lung von Agenten, oft aber laden wir Sängerinnen und Sän- jungen Sänger*innen ihre Karrieren, überlege, in welchen ger ein, weil sie Videoclips geschickt haben, die uns gefallen. Partien sie eingesetzt werden, wie erste Meilensteine aus Und worauf achten Sie bei einem Vorsingen? sehen könnten, möchte sie bestmöglich fördern. Auf die Qualität der Stimme und ihr Volumen, unser Wie entscheiden Sie, welche Partie zur Stimme passt? Saal ist groß, man braucht Durchsetzungskraft und Präsenz. Individuell und flexibel. Ich halte bei der Planung einer Und darauf, ob die Person Imagination besitzt und Fantasie. Spielzeit stets ein paar Rollen offen, besetze sie nicht mit Wie verhält sie sich zur Rolle, zu dem, was sie singt? Gaststars. So bekommt jede Sängerin und jeder Sänger eine Aber Sänger*innen sind doch keine Schauspieler*innen ... Chance, wenn die Stimme so weit ist. Man spürt, wenn Sänger nicht verstanden haben, in Hatten Sie schon Hoffnungen und wurden enttäuscht? welchem Kontext eine Arie steht. Manchmal frage ich, in Ja, und das hängt oft mit der Arbeitseinstellung zusam- welchem Gefühlszustand sich der Charakter befindet. Da be- men. Die Repetitor*innen und Spielleiter*innen berichten komme ich teilweise die abenteuerlichsten Antworten. mir aus der direkten Probenarbeit. Da geht es um Vorberei- Wie viel Zeit haben Sie, um das alles zu beurteilen? tung, Motivation und wie gut jemand lernt. Beim Vorsingen müssen meist zwei Arien genügen. Viel Druck für Nachwuchskünstler*innen. Wettbewerbe machen es leichter, dank Vorrunden, Halbfi- Sängerinnen und Sänger stehen ständig auf dem Prä- nale und Finale sehe ich interessante Leute mindestens drei sentierteller, bei der Probe und im Konzert; der Druck ist Mal – im Finale sollte man schon stehen. hoch. Wer damit nicht zurechtkommt oder sich unprofessio- Haben nicht Gewinnerinnen oder Gewinner bereits beste Karten? nell verhält, ist für den Beruf nicht unbedingt geeignet. Die Platzierung spielt für mich keine Rolle. Wer ins Gibt es Unprofessionalität auf diesem Niveau überhaupt? Finale kommt und mit Orchesterbegleitung überzeugt, ist Es passiert: Die Stimme ist schön, aber Musikalität, Ver- der oder die Richtige. antwortung, Kollegialität gehen gen Null. Das erkennt man Kommt es vor, dass sie jemanden hören und sofort anstellen? im Vorsingen nicht immer. Selten, aber es passiert. Nehmen wir an, jemand hat sich etabliert, größere Rollen gesungen, Wann ist das zuletzt passiert? wird international gefragt. Wie geht es weiter? Bei Jorge Puerta, einem jungen dramatischen Tenor Ab einer gewissen Größe wird die Festanstellung un- aus Venezuela, war es so. Er ist ein absoluter Knaller, singt interessant. Was man bei uns in einem Monat verdient, ver- schweres italienisches Fach, sehr anspruchsvoll. Wenn alles dienen manch andere an einem Abend. Hinzu kommt, dass gut geht, legt er eine Weltkarriere hin. Unser Publikum darf man dann frei über seine Rollen entscheiden kann. ihn zum ersten Mal bei unserer »Opera Lounge« auf dem Nicht frustrierend, wenn die Erfolgreichsten das Haus verlassen? Parkdeck erleben. Das kann ich jedem nur empfehlen! Gar nicht, der Wandel tut gut. Unsere Ehen sollten Klingt aber so, als sei das der Sonderfall. nicht länger als zehn Jahre dauern. Danach sollte ein Sänger, Ja, so läuft es selten ab. Meist schlafen wir noch eine eine Sängerin versuchen, freischaffend zu sein und auf eige- Nacht darüber. Wenn wir eine Sängerin für ein ganzes Jahr nen Füßen zu stehen. 20 Opera Lounge auf dem Parkdeck > 2 im Spielplan
Christoph Seuferle im Foyer der Deutschen Oper Berlin. Bei Gesangswettbe- werben trifft er hier auf junge Talente 21
Hochseilakrobatik für die Stimme »Wir geben einander Raum, hören zu, ein bisschen wie beim Jazz.« Frau Lin, Gioacchino Rossini gilt vielen ausschließlich als Komponist steht so ein konkretes Bild. Erst dann schaue ich in die Parti- leichter Stoffe. Erwartet uns ein heiterer Abend? tur und lasse mich überraschen, wie der Komponist es umge- Bei SEMIRAMIDE kann man sehen, wie Opera seria setzt hat. Und manchmal bin ich tatsächlich überrascht! und Opera buffa Hand in Hand gehen: Rossini hat sie zwar Wie kommt Ihre Lesart mit der der Sänger*innen zusammen? als »ernste Oper« komponiert, aber wenn man genauer hin- Wir diskutieren und improvisieren, das macht es so schaut, entdeckt man viele komische Elemente. An manchen spannend. Wir einigen uns auf Motive und Formen, geben Stellen ist der Text dramatisch, aber die Musik fast heiter; das einander aber auch Raum, hören zu, ein bisschen wie beim ist theatralisch, öffnet Raum für eigene Interpretationen. Jazz. Wenn man mit guten Rossini-Sänger*innen arbeitet, Wieviel Spielraum lässt Rossini Ihnen? kann man an vier Abenden vier Varianten einer Passage Die Partitur gibt viel vor, aber eben nicht alles. Bei der hören – alle sind fantastisch. Die Verzierungen sind Spiel- Spielweise und der Ausgestaltung der Koloraturpassagen plätze, auf denen virtuose Sänger*innen sich zeigen können. können Orchester und Sänger*innen in gewissen Grenzen Gibt es auch Momente, in denen Sie nicht zufrieden sind? eigene Entscheidungen treffen. Wenn Melodien als Wieder- Dafür sind die Proben da. Wenn ich denke, dass eine holungen notiert sind, wissen die Sänger, dass sie eine Varia- Kadenz an einer bestimmten Stelle nicht zum Text passt, tion anbieten müssen, und die sollte natürlich zum Inhalt dann reden wir darüber. Das macht für mich den Reiz aus: passen. Zu Rossinis Zeiten waren sie in dieser Technik so Jeder legt etwas von sich in eine solche Aufführung hinein, versiert, dass es keiner weiteren Erklärung bedurfte. so entstehen einzigartige Momente. Wie entscheiden Sie, wie Sie eine Passage interpretieren? Für mich steht an erster Stelle der Text. So entstanden ja die meisten Opern, der Text kam zuerst. Und so bereite ich mich auf neue Dirigate vor: Ich lese erst nur das Libretto. Kapellmeisterin Yi-Chen Lin dirigiert Dabei stelle ich mir vor, wie die Szenen aussehen und die mit SEMIRAMIDE eine von Rossinis selten Musik dazu klingen könnte – vor meinem inneren Auge ent- aufgeführten ernsteren Opern SEMIRAMIDE im Haus der Berliner Festspiele > 11 im Spielplan
Neu hier? Bass Riccardo Fassi gibt in SEMIRAMIDE einen skrupellosen Machtmenschen – für ihn eine willkommene Abwechslung zu seinen bisherigen Rollen Assur ist eine Traumrolle, für einen Bass phrasen perfekt intoniert sind. Wenn vielleicht die Paraderolle überhaupt. Sie man nur an einer Stelle unsauber singt, ist anspruchsvoll, vor allem wegen der kann es passieren, dass man aus dem vielen Koloraturen. Da ich kein Experte Tritt gerät und die gesamte Passage dieser Technik bin, muss ich mich noch nicht richtig hinbekommt. Und noch intensiver vorbereiten als sonst. Heut- etwas muss ich berücksichtigen: Seit der zutage kommen derart virtuose Verzie- Rossini-Renaissance in den 1980er Jah- rungen bei Männerstimmen nur noch ren gibt es die Tendenz, seine Werke selten vor, sie gehören nicht mehr zum immer schneller zu spielen; ich sollte Standardrepertoire eines Sängers. Beim also darauf gefasst sein, dass es rasant Einüben der Passagen gehe ich mecha- werden kann. Inhaltlich ist Assur eine nisch vor: Ich starte mit der reinen schöne Abwechslung für mich. Die Rhythmik, überlege, wie ich die Vokale meisten meiner Rollen waren bisher der einzelnen Wörter setze und artiku- eher positiv konnotiert, nun spiele ich liere. Erst danach schaue ich auf die Ton- einen echten Bösewicht. Assur ist ein höhen, beginne mit der eigentlichen Machtmensch, skrupellos, ausschließ- Melodie – zunächst ganz langsam und lich am eigenen Fortkommen interes- nach und nach schneller. Es ist wichtig, siert. Es reizt mich, einmal das absolut dass alle Noten in diesen Koloratur- Böse zu verkörpern. Wieder hier? Mezzosopranistin Beth Taylor singt in Rossinis SEMIRAMIDE einen General der babylonischen Armee. Männerrollen lassen sie die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele ausloten Arsace ist meine zweite Rossini-Rolle nicht, einen Mann zu verkörpern, das überhaupt, ich erschließe mir diese wäre unglaubwürdig. Auch musikalisch Welt gerade erst. Die andere war besteht die größte Herausforderung Falliero in BIANCA E FALLIERO, ein darin, ein Gleichgewicht zu finden – ähnlicher Charakter. Beide sind autori- zwischen der subtilen Melodramatik täre Menschen, entstammen dem Mili- der Figuren und der puren Schönheit tär mit seinen Hierarchien und sind ihres Gesangs. Es ist ein schmaler Grat. ganz offensichtlich: Männer. Ich mag Wenn ich nun für die SEMIRAMIDE diese Rollen, sie sind vielschichtig und nach Berlin zurückkehre, dann schließt geben mir die Möglichkeit, die Schattie- sich in gewisser Weise ein Kreis: Mein rungen der menschlichen Natur zu er- Debüt an der Deutschen Oper Berlin kunden. Sie müssen bedenken: Wenn war auch eine konzertante Aufführung, Rossini diese Charaktere klassisch ich fühle mich dem Haus und seinem männlich hätte konnotieren wollen, Ensemble seitdem sehr verbunden. dann hätte er sie wohl als Tenorpartien Auch wenn ich die klassische Oper und konzipiert. Ich glaube, es ging ihm das Schauspiel sehr liebe, für mich hat darum, die Facetten einer Persönlich- diese Form auch Vorteile; man kann sich keit herauszuarbeiten, zwischen stark hinter keinem Kostüm oder Requisit und schwach, leicht und schwer, dunkel verstecken, der Fokus liegt voll und ganz und hell. Daher versuche ich erst gar auf der Musik. SEMIRAMIDE im Haus der Berliner Festspiele > 11 im Spielplan 23
Johan Inger in Stuttgart bei den Proben zu OUT OF BREATH. Der international gefragte Choreograf bereitet sich auf seine Produktionen bis ins kleinste Detail vor, bewahrt sich aber Offenheit: »Manchmal geschieht mitten in der Kreation etwas mit den Tänzerinnen und Tänzern, das viel besser ist als meine ursprüngliche Idee.« 24
Das reine Glück Von abstrakt bis handlungsorientiert: Das Stuttgarter Ballett präsentiert seinen neuen Ballettabend PURE BLISS mit Choreografien von Johan Inger zu Musik von Keith Jarrett bis Tschaikowskij Die Ballettlandschaft des deutschsprachigen Raums wäre ohne das Stuttgarter Ballett eine völlig andere. Seit der Regisseur und Choreograf John Cranko das Haus 1961 übernahm, entwickelte es sich zu einer der weltweit führenden Kompanien. Cranko selbst wurde mit seinen Uraufführungen zum genialen Erneue- rer des Handlungsballetts. In der Folge begannen große Namen der Szene wie Jiří Kylián, William Forsythe oder Christian Spuck in Stuttgart ihre Karrieren als Choreografen, ehe sie eigene Kom- panien leiteten und somit die europäische Tanzlandschaft mit ih- ren individuellen Stilen nachhaltig prägten. Das Ensemble war von Beginn an der Tradition verpflichtet, stand aber wie kaum ein anderes auch für einen Aufbruch in die tänzerische Moderne – und für eine eigene unverkennbare Tanzsprache. Beim dreiteili- gen Ballettabend PURE BLISS präsentiert das Stuttgarter Ballett nun Choreografien des Schweden Johan Inger, einem der be- rühmtesten Vertreter des nordischen Stils. In Berlin wird auch eine Kreation zu sehen sein, die er eigens für die Stuttgarter schuf: kantig, dramatisch, humorvoll. 25
Aurora’s Nap AURORA’S NAP, Ingers erste Neukreation für das Stuttgarter Ballett, ist eine Parodie auf Marius Petipas DORNRÖSCHEN – das allerdings schläft und schläft und wacht erst wieder in der Moderne auf. Auf humorvolle Weise verbindet der Choreograf so klassische und moderne Tanzelemente miteinander Bliss BLISS basiert auf Keith Jarretts legendä- rem Köln Concert, dem wohl größten Meisterwerk der Klavierimprovisation. Inger übersetzt die Musik nicht direkt in Bewe- gung, sondern nähert sich dem Gefühl der Glückseligkeit (Bliss), das er in Jarretts Melodien findet, auf abstrakte Weise 26
Out of Breath Mit OUT OF BREATH erkundet Inger den schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Das Stück ist unter dem Eindruck der schwierigen Geburt seines ersten Kindes entstanden. In dem intensiven Kammerspiel rennen die Tänzer*innen buchstäblich gegen eine Wand an – eine Skulptur der schwedischen Bühnenbildnerin Mylla Ek PURE BLISS im Tempodrom > 8 im Spielplan 27
Rave im Opernhaus Komfortrauschen im Kulissenmagazin der Deutschen Oper Berlin. Ihr Sound: Detroit- Techno, gespielt mit den Instrumenten einer Rockband 28
Beim Festival Playground führen sechs Bands an einem Abend vor, wie spielerisch und offen Jazz, Techno und Pop heute miteinander umgehen. Tipp: flache Schuhe anziehen, da Tanzgefahr Wenn die Begriffe Berlin und Nachtle- schied, denn Komfortrauschen spielen ihr Set die Geschwindigkeit zwischen- ben in einem Satz vorkommen, geht es alles von Hand – mit Gitarre, Bass, durch drosseln. Auf der Langstrecke des meist um Techno. Um den Wumms, Schlagzeug, die mit Effektgeräten ver- Dancefloors empfiehlt es sich manch- ums Tanzen und Feiern. Das gehört schlauft sind. Ihre Konzerte finden zu- mal, das Tempo herauszunehmen, um zum tollen Ruf der Stadt. Beim Mini nehmend in Technoclubs wie dem Ber- den Horizont im Blick zu behalten. festival »Playground« lässt sich an ei liner Sisyphos statt. Schlagzeuger Tim In der Tischlerei sucht die Musik nem langen Abend erleben, wie elektro Sarhan: »Bei uns geht es live stark in Annäherung an schemenhafte Songfor- nische Musik in Berlin klingt, wenn sie Richtung Rave, tanzen gehört dazu. Be- men, verschlungene Harmonien und Räume jenseits der Clubs betritt. sonders schön, wenn sich Kontexte mi- avancierte Sounds. Der Saxofonist Der Spielplatz, wie es der Titel na- schen, Klassikkonzerte in Technoclubs Ralph Heidel eröffnet mit einem Quin- helegt, sind zwei Orte, die das Publikum oder eben Raves in der Oper!« Der tett, das neben seinem warmen, oft elek- der Deutschen Oper Berlin selten zu Ge- Klang verrät nicht sofort, dass hier sechs tronisch bearbeiteten Sound Synthesi- sicht bekommt. Drei Konzerte finden in Hände im Spiel sind. Aber wenn ihre zer, Schlagzeug und erstmals auch der Tischlerei statt, vor rund 400 Leuten. Tracks den Druck erhöhen, beginnt Violine und Cello auf der Bühne hat. Und drei weitere für jeweils etwa 200 man die Menschmaschine zu ahnen. Doch was heißt schon Bühne, wenn gibt es gleichzeitig im Kulissenmagazin Dieser harte, hypnotische Maschinen- kein Podest ein Höhengefälle zwischen hinter der Hauptbühne, das seit langem funk atmet menschliche Interaktion. Band und Publikum einzieht? mal wieder bespielt wird. Opernkulissen Tim Sarhan sagt, sie komponierten wie Das Duo Ameli Paul klingt manch- raus, Lautsprecher rein in den hohen viele Bands auch: erst improvisieren, mal wie die Stunden bei Open Airs, wenn Raum voller Beton, damit der Beat sich dann gemeinsam arrangieren. die Sonne aufgegangen ist und man noch entfalten kann. Verbunden sind die Den umgekehrten Weg geht LBT, ein bisschen bleibt. Oder man kriecht Spielstätten über einen Innenhof. das zweite Techno-Trio des Abends. Der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle, die akustische Klang aus Piano, Kontrabass den Abend zusammengestellt hat, sagt: und Schlagzeug bleibt erkennbar. Aber »Das Publikum darf hin- und hergehen, kompositorisch dreht LBT den Prozess wie es Lust hat.« Von Konzerten kann um, wie Bassist Maximilian Hirning er- man noch sprechen, auch ohne feste klärt: »Ich arbeite am Computer wie ein Sitzplätze. Aber nicht von einer konzer- Technoproduzent, drucke danach aber tanten Situation, die durchgehende An- Noten aus, damit wir üben können.« wesenheit verlangt. Wo die Genres ins Hier tritt der Jazzhintergrund in den Fließen geraten, kommen auch die Men- Vordergrund, wenn die Musiker Wie- schen in Bewegung, und sei es im Stehen, derholungen des Techno in feine, unab- Gehen, Sitzen, beim Getränkeholen lässige Veränderungen treiben, bis hin oder Auf-dem-Hof-Reden. zu offenen Parts, die Soli erlauben. »In Das weit gereiste Trio Komfort- Perfektion werden wir einen Computer rauschen schließt im Kulissenmagazin nie schlagen, aber (noch) in Improvisa- den Abend ab und klingt nach klassi- tion und Energie«, sagt Hirning. schem Techno, wie er in Chicago und Die Berliner DJ Katzenohr spielt Detroit erfunden wurde und in Berlin im Kulissenmagazin zwischen den Zwischen Arie und Synthesizer: Ameli und Frankfurt auf fruchtbaren Boden Bands. Und auch wenn sie die Künstlerin Paul spielen träumerischen Electronica fiel. Allerdings gibt es einen Unter- mit der meisten Cluberfahrung ist, wird Jazzfestival: Playground im Kulissenmagazin > 5 im Spielplan 29
halb ausgeschlafen aus dem Zelt, kocht Kaffee, wippt mit der Hüfte und sagt leise »Yeah«. Sängerin Franziska Ameli Schuster, die auch mal zu einer Arie an- hebt, verbindet alles, was »Playground« grundiert: klassische Ausbildung, Jazz- studium, Pop-Projekte, gefolgt von Öff- nung in den Dance mit Paul Valentin an Synthesizer und Gitarre. Als Ameli Paul reden sie mit einer Stimme: »Für uns ist es wichtig, Musik nicht nur an dafür vor- gesehenen Orten zu performen, sondern auch zu experimentieren, wie sich Operngesang in einem Club, aber eben auch Techno in der Oper anfühlt.« Beim Finale in der Tischlerei kommt der Jazz noch einmal zur Gel- tung, aber nicht als tradierte Form, son- Mia Knop Jacobsen vom Trio Rosemarine bedient sich beim dern als »Symbol musikalischer Frei- Jazz wie bei einer Sprache, die hilft, ihre Ideen in Musik umzusetzen heit«, wie die in Dänemark geborene Sängerin Mia Knop Jacobsen sagt. Ihre Band, ein Trio mit Gitarre und Schlag- dium entschloss, um eine bessere verbindet. Clubs kennen Konventio- zeug, heißt Rosemarine. Bei ihr wird Crossover-Musikerin zu werden.« nen, die Oper, der Jazz, und auch die Jazz zum Mittel, um die Dinge, die sie Durch die Tradition hindurchge- Poparenen. »Playground« will sie für im Kopf hört, besser umsetzen zu kön- hen, um den Ausgang in die Gegenwart eine kurze Zeit in der Schwebe halten. nen. Jacobsen: »Ich kam von Pop und zu finden: Das ist wohl das Programm, Das Ziel bleiben unsere Körper. Geses- Soul, als ich mich spät für ein Jazzstu- das alle sechs Acts von »Playground« sen wird auf dem Heimweg. Tobi Müller Sehen aus wie ein klassisches Jazztrio, klingen aber nach Club. LBT zeigen, dass im Techno auch Improvisation möglich ist 30
Wir hören uns im Sherwood Forest Bruder Tuck, Little John, Maid Marian und der Sheriff von Nottingham. Martin Auer und sein wildes Jazzorchester laden ein zu: Robin Hood DIE BALLADE VON ROBIN HOOD Der Autor John von Düffel hat die alten ich noch nicht sagen, wie wir das bei soll Publikum zwischen 9 und 99 Jah- Geschichten über Robin Hood neu ge- Robin Hood lösen… Ach, na gut: Robin ren ansprechen, auch wenn Kinder na- schrieben. Und Rüdiger Ruppert, der Hood wird von einer Trompete verkör- türlich besonders fasziniert sind. Wir die BigBand der Deutschen Oper pert! Und sein anfänglicher Widersa- haben durchaus den erzieherischen Berlin mit gründete, hat aus dem Text cher und späterer Freund Bruder Tuck Anspruch, verschiedene musikalische und der Musik ein Erzählkonzert kon- von einem Basssaxofon. Dazwischen Stile und Instrumente vorzustellen. zipiert. Am Ende gibt es ungefähr 60 liegt ein Kampf der beiden, da haben »Das wilde Jazzorchester« ist eine Mi- Prozent Text und 40 Prozent Musik, sie Platz zu improvisieren, umeinander schung aus einer Big Band und einem manchmal überlappend. Der berühmte zu tänzeln, zu spielen. Ohne solche Ele- kleinen Orchester. Wir haben Schlag- Sprecher Christian Brückner liest für mente wäre es kein Jazz. Aber es ist zeug, Tuba, Gitarre, vier Bläser, vier die Aufnahme, doch im Herbst nimmt Jazz, der erzählerisch bleibt. Die Musik Streicher und wohl auch eine Harfe, er sich eine Auszeit, dann wird Simon klebt dabei nicht am Label Jazz. Es gibt wenn sie es denn vom Aufnahmestu- Jäger alle Stimmen live sprechen. Elemente aus Jazz, Klassik, Pop. Und dio auf die Bühne schafft, mal sehen. Wie in der Oper haben die Figu- wiederholt geht es in Richtung Film- Am Anfang steht der Text, wie ren musikalische Motive und manch- musik: Wer die Ohren spitzt, landet mit schon beim DSCHUNGELBUCH wird mal Instrumente, anhand derer das Pu- dem Kopf zwischenzeitlich im Kino es auch dieses Mal ein Erzählkonzert. blikum sie bald erkennt. Eigentlich darf oder vor dem Bildschirm. Jazzfestival: Die Ballade von Robin Hood in der Tischlerei > 6 im Spielplan 31
So viel Kontra in diesem Bass Charles Mingus am 4. Juli 1976 in Manhattan – beim 200. Jubiläum der Unabhängigkeits- 32 erklärung. Er war Bassist, Grenzgänger, Pionier und Jazzlegende; nur eines nie: einfach
Halb Jazz, halb Klassik, halb Monster: Epitaph sollte Charles Mingus’ Opus Magnum werden. Doch am Ende wuchs es ihm über den Kopf. Er selbst hat das Werk nie gehört. Nun erlebt es eine seiner seltenen Aufführungen Es war das Jahr, das den Jazz verändern Dolphy. Aber was schiefgehen konnte, Ein Sprecher der Konzerthalle trat auf sollte. Die Beatles und Stones gab es ging schief. Mingus schrieb hoch kom- die Bühne und bot dem Publikum das noch nicht, den Pop auch nicht – was plexe Musik, hatte aber nur drei Proben Geld zurück an, die 1500-Plätze-Halle cool war, kam aus dem Jazz. Dann er- angesetzt. Posaunist Jimmy Knepper leerte sich komplett. Es kam zu Unru- schienen im Herbst 1959 vier wegwei- wurde Kopist, schrieb täglich Noten ab, hen auf der 43. Straße, die schließlich sende LPs, heute alle Klassiker: »Kind die Mingus produzierte. Der fand kein von der Polizei geschlichtet wurden. of Blue«, Miles Davis, »Time Out«, Dave Ende, änderte ständig, erweiterte, er- Eine zweite Hälfte gab es nie. Brubeck, »The Shape of Jazz to Come«, gänzte. Knepper kam nicht nach. Min- »Diese Musik ist eigentlich sehr Ornette Coleman – und »Ah Um« von gus wurde übellaunig, dann wütend, abwechslungsreich, sehr dicht, kraft- Charles Mingus. Ein Meisterwerk, das dann hasste er die Welt. In jenen Wo- voll, ein einzigartiges Werk zwischen Gospel, Blues, Boogie und Shuffle zu chen sagte er der New York Times, dass den Genres«, sagt Engel. Der Dirigent einem neuen Sound verband. er emigrieren wolle, für schwarze Musi- ist – genau wie Mingus – in den Welten Seitdem hatte der Bassist Mingus ker sei kein Platz in den USA. Er nahm von Klassik, Neuer Musik und Jazz seinen Platz im Olymp des Jazz sicher. sich einen Therapeuten; in den Sitzun- gleichermaßen zu Hause, und er spielt Direkt danach widmete er sich einer gen weinte er, die Menschen um ihn Kontrabass wie der Meister. »Epitaph« noch kühneren Vision: Eine Suite für herum verbauten ihm die Chance sei- gibt er mit der BigBand der Deutschen Orchester, teils improvisiert, teils kom- nes Lebens. Der Druck war hoch, die Oper Berlin und jungen Musikern vom poniert – geschrieben für eine Beset- Plattenfirma wollte live aufnehmen – Jazz-Institut Berlin (JIB). zung aus zwei kompletten Big Bands damals unüblich, kaum erprobt. Damit erwacht das selten gehörte sowie weiteren Orchesterinstrumen- In der Nacht vor dem Konzert Werk neu zum Leben. Mingus produ- ten. Es sollte ein Werk des »dritten war Mingus immer noch nicht fertig, er zierte nach dem Debakel von 1962 Wegs« werden, den Jazz mit der klassi- rief Knepper zu sich, verlangte spontan immer weniger, einige Jahre später schen Moderne eines Bartók und Stra- neue Begleitungen für Soli. Als Knep- wurde er krank, konnte sein Instru- winsky verbindend, und zugleich Min- per ablehnte, schlug Mingus ihm ins ment nicht mehr spielen. Er starb 1979, gus’ persönliches Opus Summum: Gesicht, brach ihm einen Zahn ab, ohne sein Hauptwerk je gehört zu »Epitaph«. In Berlin bringt es Dirigent nannte ihn eine »weiße Schwuchtel« haben. Die 500 Seiten Noten wurden Titus Engel auf die Bühne. Charles und einen Verräter. Dann rauschte er Jahre später in einem alten Koffer bei Mingus jedoch hat es selbst nie gehört. ab zu einer Extraprobe um Mitter- seiner Witwe Sue entdeckt. Schon die Uraufführung 1962 ge- nacht. Die Musiker verstanden seine Für das Konzert in Berlin, zum riet zum Fiasko, vielleicht zum größten Vision nicht, hatten schlicht keine Lust 100. Geburtstag von Mingus, wurde der Jazzgeschichte. Es passierte in der mehr. Das blieb auch beim Konzert so. das Notenmaterial basierend auf der Town Hall in New York: Mingus war Das Orchester hing im Timing hinter kritischen Neuausgabe neu erstellt: wegen des Erfolgs von »Ah Um« auf den Solisten her, das Publikum mochte »Die Partitur ist in einem besseren Zu- dem Höhepunkt seines Ruhms und die schlecht gespielte Musik nicht. stand als je zuvor«, sagt Engel. Aber das hatte 33 Top-Musiker zusammenge- Mingus ließ noch während der ersten Werk sei keine Sinfonie, es werde viel trommelt, darunter Stars wie die Saxo- Hälfte seinen Therapeuten rufen, der improvisiert, müsse leben: »Ein biss- phonisten Buddy Collette und Eric in der Pause Backstage auf ihn wartete. chen Abenteuer bleibt.« Epitaph in der Philharmonie > 7 im Spielplan 33
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