Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase

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Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase
Deutsche
		 Oper
Berlin Saison 22/23
           August bis Oktober 2022

 		   Libretto #1
					plus

          Wir gehen raus
      Die Deutsche Oper zu Gast
              auf den Bühnen Berlins
Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase
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Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase
Deutsche
		 Oper Berlin,
August 2022

                      Liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie an die Deutsche Oper Berlin
                      denken, haben die meisten von Ihnen unweigerlich zuerst die
                      große Bühne mit ihren unvergesslichen Wagner-, Verdi- und
                      Puccini-Abenden im Kopf. Dabei gibt es bei uns noch viel mehr
                      zu entdecken: Neben der Tischlerei, wo seit nunmehr zehn Jah-
                      ren unkonventionelles Musiktheater ebenso stattfindet wie Jazz
                      und Kammermusik, haben wir seit zwei Jahren unser Parkdeck
                      als ideale Open-Air-Spielstätte für laue Spätsommernächte etab-
                      liert. Die Wiederaufnahme von Mark-Anthony Turnages Oper
                      GREEK, unserem Sommerhit der letzten Spielzeit, ist auch jetzt
                      der Startschuss für einen Saisonbeginn, bei dem wir bis Ende Ok-
                      tober nicht nur das Parkdeck und die Tischlerei bespielen, son-
                      dern auch andere Spielorte in der Stadt jenseits unserer großen
                      Bühne erkunden. Im Tempodrom und in der Philharmonie, im
                      Haus der Berliner Festspiele und im Konzerthaus präsentieren
                      wir Ihnen ein abwechslungsreiches Programm von Jazz über
                      konzertante Oper bis hin zu szenischen Premieren, über das Sie
                      dieses Heft informieren soll. Dass wir in dieser Zeit die Haupt-
                      bühne nicht bespielen, hat einen ganz praktischen Grund: Unser
                      Orchestergraben muss renoviert und erweitert werden. Ab An-
                      fang November sind wir dann auf der großen Bühne wieder für
                      Sie da. — Wir freuen uns auf Sie, Ihr Dietmar Schwarz

          Dietmar Schwarz ist bekennender Fahrradfahrer. Der Intendant der
     Deutschen Oper Berlin benutzt das Rad nicht nur für den täglichen Arbeitsweg,
                     sondern auch, um die Stadt zu erkunden

                                                                                     3
Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase
Inhalt
2		 Editorial

6		 Spielstätten
Vom Tempodrom bis zum
Haus der Berliner Festspiele –
die Spielorte im Überblick

8		     Gleich passiert’s
Mark-Anthony Turnages
GREEK kehrt nach dem großen
Erfolg zurück aufs Parkdeck

10		    Mahlers Zweite
Sir Donald Runnicles dirigiert                         Komfortrauschen spielen beim Playground-Festival Detroit-Techno
                                                              mit den Instrumenten einer klassischen Rockband
die »Auferstehungssinfonie« beim
Musikfest Berlin

12		 Eine florentinische                                         16		     Experimentum Mundi
Tragödie                                                         Für seine Experimentaloper stellt
Marc Albrecht erkundet die Abgründe                              Giorgio Battistelli 16 italienische Handwerker
von Zemlinskys Psycho-Oper                                       auf die Bühne in Berlin

14		    Lakmé                                                    20       Der Talentscout
Delibes’ Indien-Oper ist nicht nur wegen des                     Operndirektor Christoph Seuferle findet
»Blumenduetts« und der »Glöckchen-Arie« ein Hit                  die Opernstars von morgen

                                                                 22        Semiramide
                                                                 Rossinis monumentale Babylon-Oper ist
                                                                 ein Fest des Koloraturgesangs

                                                                 24       Pure Bliss
                                                                 Das legendäre Stuttgarter Ballett ist endlich
                                                                 wieder zu Gast in Berlin

                                                                 28		Playground
                                                                 Im Rahmen des Jazzfestivals machen
                                                                 Berliner Bands die Tischlerei der Deutschen Oper
                                                                 zum Dancefloor

                                                                 31		 Die Ballade
                                                                 von Robin Hood
                                                                 Martin ­Auer vertont mit dem wilden Jazzorchester
                       NEGAR erzählt von jungen Menschen im      nach dem DSCHUNGELBUCH zum zweiten Mal
                     Iran und was sie vor dem Regime verbergen   einen Klassiker für die ganze Familie

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32      Epitaph                                            40      Blick zurück
Das abendfüllende Werk von Charles Mingus ist ein          50 Jahre wirkte Dietrich Fischer-Dieskau an der Deutschen
Achttausender der Jazz-Geschichte                          Oper Berlin. Ein Symposion würdigt den Jahrhundertsänger

34      Negar                                              42      Bald passiert’s
Die Französin Marie-Ève Signeyrole erzählt eine            Mit Verdis RIGOLETTO beginnen ab November wieder
Liebesgeschichte im modernen Teheran                       die Vorstellungen auf der großen Bühne

38      Der große Umbau                                                        44     Programm
Orchesterdirektor Axel Schlicksupp erklärt, warum er und
die Musiker*innen sich auf den frisch renovierten                              46     Kalender
Orchestergraben freuen
                                                                               51     Service / Impressum
                                                                               Marc Albrecht ist musikalischer Leiter
                                                                               bei EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE

                                                                                                         Choreograf
                                                                                                    Johan Inger bei den
                                                                                                     Proben zu PURE
                                                                                                      BLISS. Mit dem
                                                                                                       weltbekannten
                                                                                                     Stuttgarter Ballett
                                                                                                      ist er zu Gast in
                                                                                                            Berlin

                                                                                                                     5
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SIEGESSÄULE

                                          ERNST-REUTER-PLATZ

   Deutsche Oper Berlin

                  Was hören
CHARLOTTENBURG

                  		  				Sie wo?
                                                            Haus der Berliner Festspiele

  Tischlerei                                     Parkdeck                                  Haus der
  Deutsche                                       Deutsche                                  Berliner
  Oper Berlin                                    Oper Berlin                               Festspiele
  Der leere Raum als Inspirationsquelle          Normalerweise werden auf der großen       Nur zwei Jahre nach ihrer Wiedereröff-
  für Neues: Das funktioniert seit zehn          Empore im Innenhof Dekorationsteile       nung bekam die Deutsche Oper eine
  Jahren in der Tischlerei der Deutschen         aufbewahrt, während auf der Freiflä-      »kleine Schwester«: Das Haus der Berli-
  Oper Berlin. In der ehemaligen Werk-           che Autos parken. Doch im Sommer          ner Festspiele, als Theater der Freien
  statt ist Platz für unkonventionelles          wird das akustisch geschützte Park-       Volksbühne von Bornemann konzi-
  Musiktheater, aber auch für Jazz, Pro-         deck zu einer stimmungsvollen Open-       piert, hat sich nicht nur bei Festivals wie
  jekte mit Kindern und Jugendlichen             Air-Spielstätte.                          der MaerzMusik als Spielort auch für
  und Konzerte.                                                                            Konzert und Musiktheater bewährt.

  Jazzfestival 10., 11., 12., 14. Sep.           GREEK 27., 28., 31. Aug.; 1. Sep.         EXPERIMENTUM MUNDI 19., 21. Okt.
  Tischlereikonzert 16. Sep.                     Opera Lounge 3., 4. Sep.                  SEMIRAMIDE 20., 22. Okt.
  NEGAR 29., 31. Okt.; 1., 2., 3., 5., 6. Nov.   Best of CARMEN 8., 11., 12. Sep.
                                                 Jazzfestival 9., 10. Sep.

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BRANDENBURGER
                                          TOR

                                                                                   Konzerthaus Berlin

                                                                                   MITTE

                        Berliner Philharmonie
                                                                       CHECKPOINT
                                                                         CHARLIE

                                                   Tempodrom

                                                                                                                KREUZBERG

Tempodrom                                 Konzerthaus                              Berliner
Mit seinem vielfach gefältelten Dach
erinnert das Tempodrom am Anhalter
                                          Berlin                                   Philharmonie
Bahnhof schon von weitem an ein Zir-      Als Uraufführungsort von Webers          Als »aufsteigende Weinberge« be-
kuszelt. Die Anspielung ist beabsich-     FREISCHÜTZ ging das Konzerthaus          schrieb der Architekt Hans Scharoun
tigt, denn die Multifunktionshalle ent-   am Gendarmenmarkt in die Musikge-        die Zuschauerränge in der 1963 eröff-
stand einst aus einem Off-Theater.        schichte ein. Seit der Wiedereröffnung   neten Philharmonie. Seither wurde
Heute bietet sie unterm Dach nicht        des kriegszerstörten Baus 1984 er-       seine Idee eines Konzertsaals, der das
nur ein spektakuläres Raumerlebnis,       strahlt der große Saal im Lüsterglanz    Podium von allen Seiten umgibt, welt-
sondern ist immer wieder Ort für          und ist mit seinem klassizistischen      weit kopiert und nicht nur beim all-
große Gastspiele.                         Dekor der Klassiker unter Berlins Kon-   jährlichen Musikfest ist es für alle gro-
                                          zertstätten.                             ßen Orchester der Welt ein Traum, in
                                                                                   diesem Saal zu spielen.

PURE BLISS 22., 23., 24. Sep.             EINE FLORENTINISCHE                      Gustav Mahler 2. Sinfonie 7. Sep.
                                          TRAGÖDIE 5. Sep.                         Epitaph 19. Sep.
                                                                                   LAKMÉ 27. Sep.

                                                                                                                         7
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Gleich passiert’s
                      Mark-Anthony Turnage
                      GREEK

                                                Eddy ist von zu Hause abgehauen
                                                und sucht sein Glück in der Stadt.
                                                Doch dort herrscht rohe Gewalt:
                                                Ein Polizeitrupp wird den Jungen

                                          gleich niederknüppeln.
                                          Das Parkdeck der
                                          Deutschen Oper stellt
                                          den Schauplatz für
                                          Mark-Anthony Turnages
                                          Oper GREEK, eine
                                          moderne Ödipus-­
                                          Erzählung im rauen
                                          Londoner East End
                                          der 1980er Jahre.

GREEK auf dem Parkdeck >   1   im Spielplan                                          9
Deutsche Oper Berlin Libretto #1 plus - Wir gehen raus - CultureBase
Im Rausch
					der Bilder
 Sir Donald Runnicles dirigiert die Zweite Sinfonie
von Gustav Mahler. Ein Gespräch über die ewige
   Lust, sich von Musik überwältigen zu lassen
Warum Gustav Mahler, Herr Runnicles?                                    Engt Sie die enorme Ausdifferenzierung von Mahlers Partituren nicht ein?
      Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich mein Taschen-                   Mahler hat sich gegen die vermeintliche »Schlamperei«
geld aufgebessert und in der Konzerthalle von Edinburgh                 der Aufführungen seiner Zeit gewehrt. In der Partitur steht
Programmhefte verkauft. Es lief die erste Sinfonie, ich stand           über den Noten mal »nicht schleppen«, dann wieder »nicht
im Zuschauerraum und hatte das Gefühl, die Zeit steht still.            eilen«. Aber trotz dieser peniblen Genauigkeit – und das ist das
Ich habe keine Erinnerung daran, ob das damals eine halbe,              Geniale an Mahler – bleibt noch viel Freiraum für Interpreta-
eine Stunde oder zwei Stunden dauerte. Alles löste sich auf,            tionen. Und Mahler selbst hat dem Dirigenten Otto Klempe-
der Raum bestand nur noch aus Musik und Erzählungen.                    rer gesagt, dass es völlig okay sei, die Instrumentierung einem
Mahler hat zu Ihnen gesprochen.                                         Saal oder einem bestimmten Orchester anzupassen.
      Das kann man so sagen. Das Theatralische, Bildhafte               Mahlers Zeitgenossen wetterten im Hinblick auf seine Sinfonien von
der Musik hat mich einfach umgehauen. Ich habe mich dann                »Lärm, Skandal, Unfug, Umsturz«. Worin lag Mahlers Radikalität?
manisch mit allem beschäftigt, was mit ihm zu tun hat. Drei                    Das Theatralische der Musik, die dreidimensionale An-
Jahre später habe ich an der Uni eine Arbeit über Mahler und            ordnung der Instrumente. Man könnte behaupten, die
die Frage geschrieben, inwieweit die Instrumentierung und               Zweite, Dritte oder Achte von Mahler sind quasi Opern, weil
die Überarbeitungen der fünften Sinfonie mit dem Kompo-                 man die ganze Zeit das Gefühl hat, es wird eine Geschichte
nisten oder dem Dirigenten Gustav Mahler zu tun haben.                  erzählt. Mahler wusste als Dirigent genau, was man aus dem
Eine der Kernfragen bei Mahler, auf der Karrieren gründeten.            Orchester herausholen kann und diese Wucht, die Bilder, das
      Eben, zum Beispiel auch die von Donald Mitchell, der              Erzählerische, das oft Makabre oder Groteske, dieser Sturm –
Professor in Southampton war, vier wunderbare Bücher über               das hat viele Leute irritiert.
Mahler geschrieben hat und den ich kennenlernen durfte.                 Klingt nach frühem Kino, als Menschen aus Filmtheatern flüchteten
Mitchell schickte mir Fotokopien von Beethovens und Schu-               oder ohnmächtig wurden.
manns Partituren mit Korrekturen von Gustav Mahler, wo                         Sehen Sie? Genau das dürfte bei Mahler auch passiert
er manchmal statt zwei Hörnern vier empfiehlt, oder die me-             sein. Als Konzertbesucher befindet man sich » im Klang«.
lodische Chromatik verändert – lange Rede, kurzer Sinn: Ich             Mahler hat Trompeten hinter der Bühne platziert oder im Saal.
war fasziniert von Mahler, tauchte richtig tief ein. Dann kam           Sie sitzen mittendrin. Es erinnert an Quadrophonie, nur live.
1972 Leonard Bernstein mit dem London Symphony Or-                      Nun spielen Sie bald in der Philharmonie. Das Orchester sitzt mit den
chestra nach Edinburgh, spielte die Zweite Sinfonie, ich                Sänger*innen und dem Chor quasi auf der Bühne ist umgeben vom
stand wieder in der Usher Hall und es war einfach nur geil,             Publikum. Was werden Sie ändern?
verzeihen Sie das Wort, wie dieser kleine Mann zum Gigan-                      Gegebenenfalls das Tempo. In einem großen, über-
ten wurde, das Stück dirigierte, als hätte er es selbst geschrie-       akustischen Raum muss man bisweilen die Geschwindig-
ben. Ich war wie im Rausch, als hätte ich Drogen genommen.              keit rausnehmen, sonst kommt das Ohr nicht mit. Konzert-
Was macht die Auferstehungssinfonie so besonders? Ist sie die größte?   säle sind Tempel, da müssen Sie auch Zeiten der absoluten
      Von der Besetzung her ist die Achte größer. Aber die              Ruhe zelebrieren. Der Klang der Philharmonie ist fantas-
Zweite Sinfonie hat seinen Durchbruch markiert. Mahler                  tisch, jeder spielt hier besser.
hatte sich damals wie alle Komponisten seiner Zeit sehr mit             Kein Wunder, das Gebäude ist eigens für Orchester errichtet. Und die-
Finali auseinandergesetzt, um nach dem sehr reichhaltigen               ses Orchester sitzt im Kessel, im Zentrum, wird gesehen, die ganze Zeit!
Aufbau des Stücks einen Ruhepunkt zu setzen, und die zarte                     Eben. Und deswegen muss ich alle im Orchester stets
gesangliche Vertonung des »Urlicht« ist einfach nur genial.             daran erinnern, zu lächeln! Vor allem beim Schlussapplaus.

10                      Gustav Mahler: 2. Sinfonie in der Philharmonie >     4   im Spielplan
Der Generalmusikdirektor und das
  Orchester der Deutschen Oper Berlin
werden für ihre Mahler-Interpretationen von
       Kritik und Publikum gefeiert

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Marc Albrecht
   dirigiert EINE
FLORENTINISCHE
  TRAGÖDIE von
   Alexander von
 Zemlinsky: Wiener
    Welttheater
 von schwärzestem
      Schwarz

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  Wenn Gewalt
sexy macht
           Es gilt das Recht des Stärkeren in
      EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE, Mord
    eingeschlossen. Und die Frau? Findet das toll.
      Dirigent Marc Albrecht blickt in den Abgrund

Die Welt taumelt am Abgrund und                     Die Werke sind Schmerzensstü-         Entscheidungen mit dem Orchester
bricht zugleich mit unglaublichem            cke. Sie reflektieren den Ersten Welt-       umzusetzen, müssen in der Probenzeit
Tempo auf in die Moderne – all das           krieg, die einschneidende Katastrophe        musikalische Dialoge entstehen.
spiegelt sich wider in der rasanten mu-      dieser Epoche. Das zeigt sich auch tech-           Schon in der Vorlage von Oscar
sikalischen Entwicklung in den Jahren        nisch: Korngold reduziert den Umfang         Wilde ist die FLORENTINISCHE
zwischen 1905 und 1920. Die Dichte,          seiner Shakespeare-Vertonung, weil           TRAGÖDIE brutal, direkt, fordernd.
Fülle und das Extreme der Musik die-         kriegsbedingt nur wenige Musiker zur         Während Tuchhändler Simone auf Ge-
ser Epoche ist einzigartig. Und alle         Verfügung stehen. Zemlinsky schreibt         schäftsreise ist, beginnt seine Frau Bi-
Fäden kreuzen sich in Wien.                  in die Partitur viele Verdopplungen          anca eine Affäre mit dem jungen
      Teil dieser Wiener Gesellschaft        von Instrumenten. Selbst wenn nicht          Guido. Der ungleiche Kampf der Män-
sind Alexander von Zemlinsky, Alban          alle Musiker verfügbar sind, soll der        ner zeigt sich auch musikalisch: Si-
Berg und Erich Wolfgang Korngold.            Klang möglichst voll werden.                 mone ist Heldenbariton, er besteht den
Obwohl sie unterschiedlichen Genera-                Den komplexen Partituren dieser       Kampf mit den Klangfluten des Or-
tionen angehören, sind sie einander          Zeit ist ein Klangrausch eingeschrie-        chesters. Genau diese Kraft fasziniert
sehr nah, sind Lehrer und Schüler,           ben. Das ist eine Herausforderung für        Bianca. Ihr Liebhaber Guido ist ein
schreiben einander Briefe und halten         meine Arbeit. Zemlinsky ist schwer zu        Schönsänger, ein Tenorino, stimmlich
Soiréen, spielen sich vor und hören zu,      dirigieren, sein Orchester von fast 100      spielen die Männer nicht in derselben
sie inspirieren und kritisieren sich.        Musikerinnen und Musikern kann               Liga. Es kommt zum Kampf, Simone
      Die Drei spiegeln die Pluralität       schnell die akustischen Grenzen eines        tötet den Jüngeren. Durch den Mord
dieser Zeit: Korngold ist spritzig, frech,   Saales sprengen. Der Reiz dieser Musik       verfällt Bianca ihrem Ehemann nach
ironisch, in »Viel Lärmen um nichts«         liegt aber in ihrer Farbigkeit, ihrer Sub-   jahrelanger Beziehungskrise erneut.
fast poppig. Daneben steht die Ernst-        tilität. Beim Lesen der Partitur setzt             Es lässt mich frieren, wie hier
haftigkeit und Klangsinnlichkeit bei         sich die Musik in meinem inneren Ohr         Brutalität zu Sinnlichkeit führt. Als
Berg in seiner Orchestration der »7 frü-     detailliert zusammen. Ständig muss           wäre Gewalt ein Aphrodisiakum, eine
hen Lieder«. Und Zemlinsky macht mit         entschieden werden: Wie stehen die           Art von Luststeigerung, die darin liegt,
EINE FLORENTINISCHE TRAGÖ-                   vielen Stimmen zueinander? Wie kön-          dass ein Leben auf der Klinge steht.
DIE Welttheater, schwärzeres Schwarz         nen wir komplexe Klanggebäude trans-         Man schaut hinein in den Abgrund.
hat die Oper wohl kaum je erdacht.           parent erscheinen lassen? Um diese           Das ist der Schauder dieser Partitur.

                      EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE im Konzerthaus >              3   im Spielplan                            13
Als Europa
von Exotik träumte

                                 Léo Delibes’ LAKMÉ begleitet Daniela Candillari seit ihrer Kindheit. In Berlin
                                                 dirigiert sie die Oper nun zum ersten Mal

                     Eine musikalische Reise nach Indien
Frau Candillari, ist LAKMÉ so etwas wie die britische Version von              weil sie das Duett mochte. So lange begleitet mich die Musik.
MADAMA BUTTERFLY, komponiert von einem Franzosen?                              Wie bereiten Sie sich auf die Aufführung in Berlin vor?
      Nur dass die Briten in Indien und nicht in Japan waren.                        Ich schaue mir die Partitur an und möchte verstehen,
Ein englischer Offizier verliebt sich in der Ferne in eine Frau, die diese     warum der Komponist sie so angelegt hat. Warum verwen-
Liaison mit dem Leben bezahlt. Ist so ein Stoff noch zeitgemäß?               det er hier eine Oboe und keine Klarinette, was bedeutet das
      Man muss das historisch einordnen. Französische                         für die Farbe des Orchesters, für den Charakter der Szene?
Komponisten entwickelten ab etwa 1850 eine starke Faszina-                    Das klingt recht akademisch.
tion für den Orient. Allerdings kannten sie die musikalischen                        Mag sein, aber die Frage nach dem Warum ist mir wich-
Traditionen gar nicht richtig; daher griffen sie auf wenige mu-               tig. Wenn ich mich mit einer neuen Partitur ans Klavier setze,
sikalische Mittel zurück. In heutigen Ohren klingt das nach                   kommen die Fragen automatisch. Ich maße mir nicht an, bei
Folklore, bei der Premiere 1883 in Paris hat es beeindruckt.                  allen Details die Motivation des Komponisten zu kennen.
Und wie stehen Sie selbst zu dieser Musik?                                    Ich muss es nur für mich selbst beantworten können. Und je
      Dieser orientalische oder exotistische Einschlag nimmt                  besser ich ein Stück kennenlerne, desto mehr liebe ich es.
nicht viel Raum ein. Ich mag die Musik sehr, sie ist atmosphä-                Wann spüren Sie, ob die Chemie stimmt, wenn Sie vor ein neues
risch so abwechslungsreich, delikate Gesangspassagen folgen                  ­Orchester treten?
auf kraftvolle Momente, wie wir sie von Puccini kennen. Au-                          Es dauert nur Sekunden, ich fühle es. Das ist für mich
ßerdem verbinde ich etwas damit: Meine Großmutter war                         das Schönste am Dirigieren, man kommt von verschiede-
Sängerin am Serbischen Nationaltheater in Novi Sad, es war                    nen Hintergründen, trifft aufeinander und kreiert zusam-
wie ein Wohnzimmer für meine Schwester und mich. Als wir                      men etwas Eigenständiges, nicht Reproduzierbares –
noch klein waren, spielte meine Schwester mir LAKMÉ vor,                      ­unsere Version von LAKMÉ 2022 in Berlin.

14                       LAKMÉ in der Philharmonie >          9    im Spielplan
Neu
hier?                                           Tenor Josh Lovell debütiert in der Berliner Aufführung von
                                            Léo Delibes’ LAKMÉ als Gérald. Eine glückliche Fügung, denn die
                                                   selten gespielte Oper ist ihm ans Herz gewachsen

                                            Als die Deutsche Oper Berlin mich für           Lakmé ab. Ich glaube, es ist sinnvoll,
                                            die Rolle des Gérald anfragte, sagte ich        auch solche Stoffe weiterhin zur Auf-
                                            zu meinem Agenten halb im Scherz:               führung zu bringen und dem Publi-
                                            Bitte unterschreib’ dieses Mal sofort!          kum zuzutrauen, sie in den histori-
                                            Ich war kurz zuvor von einem anderen            schen Kontext einordnen und vielleicht
                                            Haus für dieselbe Rolle angefragt wor-          sogar etwas über die koloniale Vergan-
                                            den, bekam sie aber letztlich nicht. Ich        genheit lernen zu können. Vor allem
                                            habe eine besondere Beziehung zu der            aber sollte die Oper wegen der wunder-
                                            Partie, da mein erster Gesangslehrer            baren Musik häufiger gespielt werden.
                                            sie gesungen hat; das hat mich geprägt.         Wie die Gesangsmelodien ausgestaltet
                                            Dass LAKMÉ heute selten auf den                 sind, wie die lyrischen Legati mühelos
                                            Spielplänen steht, liegt wohl unter an-         ineinanderfließen, das ist einzigartig.
                                            derem an ihrem orientalistischen                Dazu die französische Sprache mit
                                            Blick. Die Oper stammt aus einer Zeit,          ihrer Eleganz und Varianz in den Vo-
                                            in der man anders auf fremde Kulturen           kalen. Mein Lehrer sagte einmal: Die
                                            schaute, eurozentrisch und exotistisch.         Melodien der französischen Oper
                                            Meine Figur Gérald ist ein britischer           müssen gesungen werden wie Was-
                                            Kolonialist, er tritt als Eroberer auf –        ser in einem Fluss. Daran werde ich
                                            aber er ist auch ein Kind seiner Zeit           mich erinnern, wenn ich den Gérald
                                            und ich nehme ihm seine Liebe zu                in Berlin gebe.

            Wieder
            		hier?
                                                                            Sopranistin Aigul Khismatullina
                                                                             gab als Königin der Nacht in
                                                                        DIE ZAUBERFLÖTE ihr Debüt an der
                                                                          Deutschen Oper Berlin. Nun kehrt
                                                                        sie für die Titelrolle in LAKMÉ zurück

Die Oper wird selten gespielt, das ist in   debütierte. Das lässt sich übertragen.
Russland nicht anders als andernorts.       Mir geht es immer darum, Klarheit, Prä-
Ich aber kann mich glücklich schätzen,      zision und Akzentuiertheit in den Ver-
die Lakmé schon einmal gesungen zu          zierungen zu erreichen. Inhaltlich ist
haben, im Mariinsky Theater in St. Pe-      mir der Charakter gar nicht so fremd
tersburg. Nach dieser Erfahrung kann        wie vielleicht Frauen aus Mitteleuropa.
ich sagen: Die Partie ist wunderschön,      Ich bin in Tatarstan geboren, einer mus-
aber sie verlangt einer Sopranistin eini-   limisch geprägten autonomen Repub-
ges ab. Die Besetzung ist klein, ich bin    lik in Russland. Vieles in Lakmé erin-
wie Gérald fast durchgehend auf der         nert mich an unsere Traditionen; auch
Bühne, bekomme kaum Pausen, in              bei uns ist es in vielen Familien immer
denen ich mich sammeln und fokussie-        noch verpönt, wenn junge Frauen eine
ren kann. Der Koloraturgesang macht         außereheliche Beziehung eingehen.
die Rolle auch technisch anspruchsvoll.     Das hilft mir, mich in die Tochter des
Die beste Vorbereitung auf diese Passa-     Brahmanenpriesters hineinzuverset-
gen sind für mich andere Rollen, die        zen – das macht die Rolle für mich zu
ähnliche Ansprüche an eine Sängerin         etwas sehr Persönlichem.
stellen – wie die Königin der Nacht in
DIE ZAUBERFLÖTE , mit der ich im
Januar an der Deutschen Oper Berlin

                      LAKMÉ in der Philharmonie >    9   im Spielplan                                                          15
 Der Klang
eines italienischen
		 Dorfes
am Morgen

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Die Idee, echte Handwerker seines Heimatdorfs
    auf eine Opernbühne zu stellen, bescherte
dem italienischen Komponisten Giorgio Battistelli
 Weltruhm. Warum, das erleben Sie jetzt in Berlin

                 Alfredo Sannibale in seiner Werkstatt, in der schon sein Großvater arbeitete. Im Alter von
                       sechs Jahren half er hier erstmals mit. Als junger Mann wirkte der Fassbauer
                  bei der Uraufführung von EXPERIMENTUM MUNDI mit – jetzt kommt der mittlerweile
                                75-Jährige mit Kollegen aus seinem Heimatdorf nach Berlin

                                                                                                        17
Ein Ei wird aufgeschlagen. Krack. Dann
 noch eins. Krack. Und noch eins. Krack.
 Krack. Krack. Ein Rührstab trifft auf
 eine Arbeitsplatte. Tak. Mit schnellen
 Schlägen vermischt ein Pastaio Eier
 und Mehl. Tak, tak, tak, tak, tak, tak, tak.
 Dann setzen die Schuster ein. Das Dorf
 auf der Opernbühne erwacht.
       Mit dieser Morgensequenz
­beginnt EXPERIMENTUM MUNDI,
 das Musiktheaterstück des italieni-
 schen Komponisten Giorgio Battistelli:
 Die Oper besteht aus den Arbeitsge-
 räuschen von insgesamt sechzehn
 Handwerkern, unterstützt von einem
 Frauenchor, einem Perkussionisten
 und der Rezitation eines Schauspielers.
 Der Untertitel verspricht ein Werk aus           Die Piazza Pia in Albano Laziale: Komponist Giorgio Battistelli hörte hier einen Schuster
 imaginierter Musik.                                       bei der Arbeit und ließ sich vom Rhythmus des Hammers inspirieren
       Als wäre die Idee, eine Oper aus
 Arbeitslärm zu komponieren, nicht
 überraschend genug, verbirgt sich              studierter Komponist –, dass in der täg-        »Mein Vater hat sich geschämt. Was
 darin eine weitere Besonderheit. Die           lichen Arbeit des Schusters ein Rhyth-          soll ich denn auf einer Bühne, hat er ge-
 Handwerker auf der Bühne sind kei-             mus steckt. Battistelli ließ sich darauf        fragt«, sagt Sannibale.
 neswegs Schauspieler, sondern echte            ein, fand weitere Beispiele und kompo-                 Hinzu kam, dass Battistelli da-
 »artigiani«: Schreiner, Maurer und             nierte ein Werk, das nicht für Bläser           mals keine 30 Jahre alt war, ein »ra-
 Pflasterer aus Battistellis Heimatstadt        und Streicher, sondern für Hammer               gazzo« also – nach italienischen Stan-
 Albano Laziale. Das Stück ist ein Expe-        und Hobel gemacht ist.                          dards fast noch ein Kind. Ihm fehlte die
 riment, das zwei Welten verbindet – die               Einer dieser Hobel ist an diesem         Autorität, die Handwerker von seinem
 Opernbühne und die Werkbank. Die               Vormittag in der Frühlingssonne im              seltsamen Projekt zu überzeugen.
 Welt und die Kleinstadt.                       Einsatz: Alfredo Sannibale, 75, glättet                Diese Skepsis war ein Problem,
                                                                                                weil die ersten Proben ein Reinfall ge-
                                                                                                wesen waren: Die Musiker, die der

               »Ein Fass zu bauen                                                               Komponist engagiert hatte, konnten
                                                                                                den Werkzeugen nicht die richtigen

          ist genauso kompliziert wie                                                           Töne entlocken. Battistelli brauchte
                                                                                                echte Handwerker. »Ein Fass zu bauen

            eine Geige zu spielen.«                                                             ist genauso kompliziert wie eine Geige
                                                                                                zu spielen«, erklärt Sannibale. Erst
                                                                                                seine Mutter, Battistellis Cousine,
                                                                                                brachte die Wende: Sie überredete
      Es ist ein geglücktes Experiment:         mit ihm die Innenseite eines noch bo-           ihren Mann zum Mitmachen. Dank
Die Handwerker haben ihr Können auf             denlosen Kastanienholzfasses. Er sitzt          dieser ersten Zusage gelang es, auch die
den Bühnen von New York, Hongkong               im vorderen Teil seiner Werkstatt. Hin-         anderen Handwerker anzuwerben.
und London vorgeführt und Kritiker              ter ihm wölbt sich eine fensterlose                    Am 15. Mai 1981 standen sie
begeistert. Hier hat nicht nur ein genia-       Höhle, die sich ins Innere des orange-          dann gemeinsam auf der Bühne: Im
ler Maestro aus Werkzeugen Instru-              farbenen Gebäudes zieht. Mit seinen             Teatro Olimpico in Rom schlugen die
mente und aus Arbeitern Künstler ge-            braungebrannten Fingern schiebt er              drei Sannibales eiserne Ringe über ge­
macht. Auch sie haben ihm geholfen:             den Hobel vor, zieht ihn zurück. Die            bogene Holzplanken. Die Pflasterer
Ohne die Männer aus Albano Laziale              Späne fallen zu blonden Locken gerollt          klopften Steine in Position, die Schlei-
wäre Battistelli vielleicht nie so be-          auf den staubigen Boden.                        fer schärften Messerklingen und die
rühmt geworden, wie er es heute ist.                  Sannibale ist seit der ersten Auf­        Maurer fügten Ziegelsteine zu einer
      Um zu verstehen, wie diese unge-          führung von EX PER IMEN T UM                    Wand zusammen – stets die Augen auf
wöhnliche Kombination ein Welter-               MUNDI dabei. Auf dem ersten Auffüh-             Giorgio Battistelli gerichtet, der die
folg wurde, kehren wir an den Ort zu-           rungsplakat steht sein Name zwischen            Töne zu einem polyrhythmischen
rück, an dem vor über 40 Jahren alles           denen seines Bruders und seines Va-             Kunstwerk kombinierte.
begann: Auf die Piazza Pia in Albano            ters. Letzterer hätte damals um ein                    An den ersten Applaus, der dieser
Laziale in den Hügeln vor Rom. Hier             Haar nicht mitgemacht, als Battistelli          Aufführung folgte, erinnert Sannibale
bemerkte Battistelli – als frisch fertig        ihn bat, in seiner Oper aufzutreten.            sich bis heute: »Das war einmalig. Wir

18                      EXPERIMENTUM MUNDI im Haus der Berliner Festspiele > 10 im Spielplan
»Der Anfang,                                     EXPERIMENTUM MUNDI ist
                                            bis heute mehr als 400 Mal aufgeführt
                                                                                         nicht bis ins hohe Alter ausüben. »Ir-
                                                                                         gendwann machen die Knochen nicht

    das Ende,                               worden, hat Menschen auf der ganzen
                                            Welt begeistert und Battistelli zu inter-
                                                                                         mehr mit«, sagt Sannibale. Viele der
                                                                                         Männer haben ihren Platz daher an

  das Publikum:                             nationalem Ruhm verholfen, indem es
                                            etwa 2009 den Herald Angel Award ge-
                                                                                         ihre Söhne oder Enkel weitergegeben.
                                                                                         Vladimiro Carpineti etwa hat 1998 von

      Jedes                                 wann. Auch dank dieser Erfolge ist Bat-
                                            tistelli heute künstlerischer Leiter des
                                                                                         seinem Großvater, einem Schleifer,
                                                                                         übernommen. Der 49-Jährige selbst ist

  Spektakel ist                             Haydn Orchester von Bozen und Tri-
                                            ent. Eine Funktion, die er zuvor eben-
                                                                                         Pflasterer, sodass er auf der Bühne mal
                                                                                         die eine und mal die andere Rolle über-

     anders.«                               falls etwa am Teatro dell’Opera di
                                            Roma und für das Internationale Festi-
                                                                                         nimmt. Hunderte Aufführungen hat
                                                                                         Carpineti schon mitgemacht: »Jedes
                                            val für zeitgenössische Musik im Rah-        Spektakel ist anders«, sagt er. »Der An-
                                            men der Biennale di Venezia innehatte.       fang, das Ende, das Publikum. Ich mag
haben ihn im ganzen Körper gespürt.«               Wie zentral dieses Musiktheater       diese Überraschung.«
Danach brauchte es keine Überredung         in Battistellis Laufbahn ist, zeigt eine           Vladimiro Carpineti ist ein gro-
mehr, um seinen Vater erneut auf die        aktuelle Ehrung: Die Biennale di Vene-       ßer, breiter Mann. Man sieht ihm sei-
Bühne zu holen.                             zia verleiht ihm 2022 den Goldenen           nen körperlichen Beruf an und ver-
      Zu weiteren Auftritten kam es         Löwen für sein Lebenswerk. In der Be-        steht sofort seine Liebe zum Rugby.
fortan häufig: Nach der Aufführung in       gründung wird EXPERIMENTUM                   Umso überraschender ist es, wenn er
Rom rief das Centre Pompidou aus            MUNDI als ein »Eckpfeiler des inter-         von EXPER IMEN T UM MUNDI
Paris an. Berlin, Florenz und Wien folg-    nationalen Musiktheaters« gewürdigt.         schwärmt, das ihn begleitet, seit er
ten. In Köln schüttelte Karlheinz                  Die Aufführung beendet am 25.         acht Jahre alt war. Die Oper ist ein Teil
Stockhausen nach der Aufführung die         September das diesjährige Festival in        seines Lebens – und dank Battistelli
Hand jedes einzelnen von ihnen. Im          Venedig. Die Partitur ist die gleiche wie    ist sein Leben auch Teil der Musikge-
australischen Adelaide trug ein Schau-      vor 41 Jahren, doch die Besetzung hat        schichte. Das weiß Carpineti: »Gior-
spieler den Text auf Maori vor, in Salz-    sich verändert: Denn anders als Musi-        gio hat es geschafft, unser Dorf in die
burg Bruno Ganz auf Deutsch.                ker können Handwerker ihre Arbeit            Welt zu tragen.«            Virginia Kirst

                          Meister ihres Fachs auf dem Sprung nach Berlin: Die »artigiani« aus Albano Laziale
                       veredeln ihr Handwerk bei EXPERIMENTUM MUNDI zu einem rhythmischen Kunstwerk                            19
»Trägt
		  die Stimme?«
  Operndirektor Christoph Seuferle über die Kunst,
    die Gesangsstars von morgen zu erkennen

Herr Seuferle, wie entdecken Sie Gesangstalente?                  engagieren, sie 30 bis 40 Auftritte pro Jahr in unserem Haus
       Bei Gesangswettbewerben, wo ich junge Sängerinnen          hat, dann möchten wir einen Fehltritt unbedingt vermeiden.
und Sänger höre, wenn sie frisch von der Hochschule kom-          Was passiert, wenn die Tinte unter dem Vertrag trocken ist?
men. Und beim Vorsingen hier im Haus. Meist auf Empfeh-                 Dann geht die eigentliche Arbeit los. Ich plane mit den
lung von Agenten, oft aber laden wir Sängerinnen und Sän-         jungen Sänger*innen ihre Karrieren, überlege, in welchen
ger ein, weil sie Videoclips geschickt haben, die uns gefallen.   Partien sie eingesetzt werden, wie erste Meilensteine aus­
Und worauf achten Sie bei einem Vorsingen?                        sehen könnten, möchte sie bestmöglich fördern.
       Auf die Qualität der Stimme und ihr Volumen, unser         Wie entscheiden Sie, welche Partie zur Stimme passt?
Saal ist groß, man braucht Durchsetzungskraft und Präsenz.              Individuell und flexibel. Ich halte bei der Planung einer
Und darauf, ob die Person Imagination besitzt und Fantasie.       Spielzeit stets ein paar Rollen offen, besetze sie nicht mit
Wie verhält sie sich zur Rolle, zu dem, was sie singt?            Gaststars. So bekommt jede Sängerin und jeder Sänger eine
Aber Sänger*innen sind doch keine Schauspieler*innen ...          Chance, wenn die Stimme so weit ist.
       Man spürt, wenn Sänger nicht verstanden haben, in          Hatten Sie schon Hoffnungen und wurden enttäuscht?
welchem Kontext eine Arie steht. Manchmal frage ich, in                 Ja, und das hängt oft mit der Arbeitseinstellung zusam-
welchem Gefühlszustand sich der Charakter befindet. Da be-        men. Die Repetitor*innen und Spielleiter*innen berichten
komme ich teilweise die abenteuerlichsten Antworten.              mir aus der direkten Probenarbeit. Da geht es um Vorberei-
Wie viel Zeit haben Sie, um das alles zu beurteilen?              tung, Motivation und wie gut jemand lernt.
       Beim Vorsingen müssen meist zwei Arien genügen.            Viel Druck für Nachwuchskünstler*innen.
Wettbewerbe machen es leichter, dank Vorrunden, Halbfi-                 Sängerinnen und Sänger stehen ständig auf dem Prä-
nale und Finale sehe ich interessante Leute mindestens drei       sentierteller, bei der Probe und im Konzert; der Druck ist
Mal – im Finale sollte man schon stehen.                          hoch. Wer damit nicht zurechtkommt oder sich unprofessio-
Haben nicht Gewinnerinnen oder Gewinner bereits beste Karten?     nell verhält, ist für den Beruf nicht unbedingt geeignet.
       Die Platzierung spielt für mich keine Rolle. Wer ins       Gibt es Unprofessionalität auf diesem Niveau überhaupt?
­Finale kommt und mit Orchesterbegleitung überzeugt, ist                Es passiert: Die Stimme ist schön, aber Musikalität, Ver-
 der oder die Richtige.                                           antwortung, Kollegialität gehen gen Null. Das erkennt man
 Kommt es vor, dass sie jemanden hören und sofort anstellen?      im Vorsingen nicht immer.
       Selten, aber es passiert.                                  Nehmen wir an, jemand hat sich etabliert, größere Rollen gesungen,
 Wann ist das zuletzt passiert?                                   wird international gefragt. Wie geht es weiter?
       Bei Jorge Puerta, einem jungen dramatischen Tenor                Ab einer gewissen Größe wird die Festanstellung un-
 aus Venezuela, war es so. Er ist ein absoluter Knaller, singt    interessant. Was man bei uns in einem Monat verdient, ver-
 schweres italienisches Fach, sehr anspruchsvoll. Wenn alles      dienen manch andere an einem Abend. Hinzu kommt, dass
 gut geht, legt er eine Weltkarriere hin. Unser Publikum darf     man dann frei über seine Rollen entscheiden kann.
 ihn zum ersten Mal bei unserer »Opera Lounge« auf dem            Nicht frustrierend, wenn die Erfolgreichsten das Haus verlassen?
 Parkdeck erleben. Das kann ich jedem nur empfehlen!                    Gar nicht, der Wandel tut gut. Unsere Ehen sollten
 Klingt aber so, als sei das der Sonderfall.                      nicht länger als zehn Jahre dauern. Danach sollte ein Sänger,
       Ja, so läuft es selten ab. Meist schlafen wir noch eine    eine Sängerin versuchen, freischaffend zu sein und auf eige-
 Nacht darüber. Wenn wir eine Sängerin für ein ganzes Jahr        nen Füßen zu stehen.

20                    Opera Lounge auf dem Parkdeck >     2   im Spielplan
Christoph Seuferle
   im Foyer der
 Deutschen Oper
    Berlin. Bei
 Gesangswettbe-
werben trifft er hier
 auf junge Talente

                21
Hochseilakrobatik
				für die
Stimme

                 »Wir geben einander Raum, hören zu,
                     ein bisschen wie beim Jazz.«
Frau Lin, Gioacchino Rossini gilt vielen ausschließlich als Komponist   steht so ein konkretes Bild. Erst dann schaue ich in die Parti-
leichter Stoffe. Erwartet uns ein heiterer Abend?                       tur und lasse mich überraschen, wie der Komponist es umge-
       Bei SEMIRAMIDE kann man sehen, wie Opera seria                   setzt hat. Und manchmal bin ich tatsächlich überrascht!
und Opera buffa Hand in Hand gehen: Rossini hat sie zwar                Wie kommt Ihre Lesart mit der der Sänger*innen zusammen?
als »ernste Oper« komponiert, aber wenn man genauer hin-                       Wir diskutieren und improvisieren, das macht es so
schaut, entdeckt man viele komische Elemente. An manchen                spannend. Wir einigen uns auf Motive und Formen, geben
Stellen ist der Text dramatisch, aber die Musik fast heiter; das        einander aber auch Raum, hören zu, ein bisschen wie beim
ist theatralisch, öffnet Raum für eigene Interpretationen.              Jazz. Wenn man mit guten Rossini-Sänger*innen arbeitet,
Wieviel Spielraum lässt Rossini Ihnen?                                  kann man an vier Abenden vier Varianten einer Passage
       Die Partitur gibt viel vor, aber eben nicht alles. Bei der       hören – alle sind fantastisch. Die Verzierungen sind Spiel-
Spielweise und der Ausgestaltung der Koloraturpassagen                  plätze, auf denen virtuose Sänger*innen sich zeigen können.
können Orchester und Sänger*innen in gewissen Grenzen                   Gibt es auch Momente, in denen Sie nicht zufrieden sind?
eigene Entscheidungen treffen. Wenn Melodien als Wieder-                       Dafür sind die Proben da. Wenn ich denke, dass eine
holungen notiert sind, wissen die Sänger, dass sie eine Varia-          Kadenz an einer bestimmten Stelle nicht zum Text passt,
tion anbieten müssen, und die sollte natürlich zum Inhalt               dann reden wir darüber. Das macht für mich den Reiz aus:
passen. Zu Rossinis Zeiten waren sie in dieser Technik so               Jeder legt etwas von sich in eine solche Aufführung hinein,
versiert, dass es keiner weiteren Erklärung bedurfte.                   so entstehen einzigartige Momente.
Wie entscheiden Sie, wie Sie eine Passage interpretieren?
       Für mich steht an erster Stelle der Text. So entstanden
ja die meisten Opern, der Text kam zuerst. Und so bereite ich
mich auf neue Dirigate vor: Ich lese erst nur das Libretto.
                                                                                                  Kapellmeisterin Yi-Chen Lin dirigiert
Dabei stelle ich mir vor, wie die Szenen aussehen und die                                     mit SEMIRAMIDE eine von Rossinis selten
Musik dazu klingen könnte – vor meinem inneren Auge ent-                                            aufgeführten ernsteren Opern

                        SEMIRAMIDE im Haus der Berliner Festspiele > 11 im Spielplan
Neu
hier?                                              Bass Riccardo Fassi gibt in SEMIRAMIDE einen
                                                      skrupellosen Machtmenschen – für ihn eine
                                                willkommene Abwechslung zu seinen bisherigen Rollen

                                           Assur ist eine Traumrolle, für einen Bass      phrasen perfekt intoniert sind. Wenn
                                           vielleicht die Paraderolle überhaupt. Sie      man nur an einer Stelle unsauber singt,
                                           ist anspruchsvoll, vor allem wegen der         kann es passieren, dass man aus dem
                                           vielen Koloraturen. Da ich kein Experte        Tritt gerät und die gesamte Passage
                                           dieser Technik bin, muss ich mich noch         nicht richtig hinbekommt. Und noch
                                           intensiver vorbereiten als sonst. Heut-        etwas muss ich berücksichtigen: Seit der
                                           zutage kommen derart virtuose Verzie-          Rossini-Renaissance in den 1980er Jah-
                                           rungen bei Männerstimmen nur noch              ren gibt es die Tendenz, seine Werke
                                           selten vor, sie gehören nicht mehr zum         immer schneller zu spielen; ich sollte
                                           Standardrepertoire eines Sängers. Beim         also darauf gefasst sein, dass es rasant
                                           Einüben der Passagen gehe ich mecha-           werden kann. Inhaltlich ist Assur eine
                                           nisch vor: Ich starte mit der reinen           schöne Abwechslung für mich. Die
                                           Rhythmik, überlege, wie ich die Vokale         meisten meiner Rollen waren bisher
                                           der einzelnen Wörter setze und artiku-         eher positiv konnotiert, nun spiele ich
                                           liere. Erst danach schaue ich auf die Ton-     einen echten Bösewicht. Assur ist ein
                                           höhen, beginne mit der eigentlichen            Machtmensch, skrupellos, ausschließ-
                                           Melodie – zunächst ganz langsam und            lich am eigenen Fortkommen interes-
                                           nach und nach schneller. Es ist wichtig,       siert. Es reizt mich, einmal das absolut
                                           dass alle Noten in diesen Koloratur-           Böse zu verkörpern.

            Wieder
            		hier?
                                                                    Mezzosopranistin Beth Taylor singt in
                                                                       Rossinis SEMIRAMIDE einen
                                                                     General der babylonischen Armee.
                                                                  Männerrollen lassen sie die Vielschichtigkeit
                                                                      der menschlichen Seele ausloten

Arsace ist meine zweite Rossini-Rolle      nicht, einen Mann zu verkörpern, das
überhaupt, ich erschließe mir diese        wäre unglaubwürdig. Auch musikalisch
Welt gerade erst. Die andere war           besteht die größte Herausforderung
Falliero in BIANCA E FALLIERO, ein         darin, ein Gleichgewicht zu finden –
ähnlicher Charakter. Beide sind autori-    zwischen der subtilen Melodramatik
täre Menschen, entstammen dem Mili-        der Figuren und der puren Schönheit
tär mit seinen Hierarchien und sind        ihres Gesangs. Es ist ein schmaler Grat.
ganz offensichtlich: Männer. Ich mag       Wenn ich nun für die SEMIRAMIDE
diese Rollen, sie sind vielschichtig und   nach Berlin zurückkehre, dann schließt
geben mir die Möglichkeit, die Schattie-   sich in gewisser Weise ein Kreis: Mein
rungen der menschlichen Natur zu er-       Debüt an der Deutschen Oper Berlin
kunden. Sie müssen bedenken: Wenn          war auch eine konzertante Aufführung,
Rossini diese Charaktere klassisch         ich fühle mich dem Haus und seinem
männlich hätte konnotieren wollen,         Ensemble seitdem sehr verbunden.
dann hätte er sie wohl als Tenorpartien    Auch wenn ich die klassische Oper und
konzipiert. Ich glaube, es ging ihm        das Schauspiel sehr liebe, für mich hat
darum, die Facetten einer Persönlich-      diese Form auch Vorteile; man kann sich
keit herauszuarbeiten, zwischen stark      hinter keinem Kostüm oder Requisit
und schwach, leicht und schwer, dunkel     verstecken, der Fokus liegt voll und ganz
und hell. Daher versuche ich erst gar      auf der Musik.

                     SEMIRAMIDE im Haus der Berliner Festspiele > 11 im Spielplan                                            23
Johan Inger in Stuttgart bei den Proben zu
     OUT OF BREATH. Der international
     gefragte Choreograf bereitet sich auf seine
     Produktionen bis ins kleinste Detail vor,
     bewahrt sich aber Offenheit: »Manchmal
     geschieht mitten in der Kreation etwas
     mit den Tänzerinnen und Tänzern, das viel
     besser ist als meine ursprüngliche Idee.«

24
Das reine
					      Glück
    Von abstrakt bis handlungsorientiert:
  Das Stuttgarter Ballett präsentiert seinen
    neuen Ballettabend PURE BLISS mit
       Choreografien von Johan Inger
 zu Musik von Keith Jarrett bis Tschaikowskij

              Die Ballettlandschaft des deutschsprachigen Raums wäre ohne
              das Stuttgarter Ballett eine völlig andere. Seit der Regisseur und
              Choreograf John Cranko das Haus 1961 übernahm, entwickelte
              es sich zu einer der weltweit führenden Kompanien. Cranko
              selbst wurde mit seinen Uraufführungen zum genialen Erneue-
              rer des Handlungsballetts. In der Folge begannen große Namen
              der Szene wie Jiří Kylián, William Forsythe oder Christian Spuck
              in Stuttgart ihre Karrieren als Choreografen, ehe sie eigene Kom-
              panien leiteten und somit die europäische Tanzlandschaft mit ih-
              ren individuellen Stilen nachhaltig prägten. Das ­Ensemble war
              von Beginn an der Tradition verpflichtet, stand aber wie kaum ein
              anderes auch für einen Aufbruch in die tänzerische Moderne –
              und für eine eigene unverkennbare Tanzsprache. Beim dreiteili-
              gen Ballettabend PURE BLISS präsentiert das Stuttgarter Ballett
              nun Choreografien des Schweden Johan Inger, einem der be-
              rühmtesten Vertreter des nordischen Stils. In Berlin wird auch
              eine Kreation zu sehen sein, die er eigens für die Stuttgarter schuf:
              kantig, dramatisch, humorvoll.

                                                                               25
Aurora’s
 	 Nap
                                              AURORA’S NAP, Ingers erste
                                              Neukreation für das Stuttgarter Ballett,
                                              ist eine Parodie auf Marius Petipas
                                              DORNRÖSCHEN – das allerdings schläft
                                              und schläft und wacht erst wieder in
                                              der Moderne auf. Auf humorvolle Weise
                                              verbindet der Choreograf so klassische
                                              und moderne Tanzelemente miteinander

                   Bliss

BLISS basiert auf Keith Jarretts legendä-
rem Köln Concert, dem wohl größten
Meisterwerk der Klavierimprovisation. Inger
übersetzt die Musik nicht direkt in Bewe-
gung, sondern nähert sich dem Gefühl der
Glückseligkeit (Bliss), das er in Jarretts
Melodien findet, auf abstrakte Weise

26
 	  Out of  
Breath

                                                   Mit OUT OF BREATH erkundet Inger den
                                                   schmalen Grat zwischen Leben und
                                                   Tod. Das Stück ist unter dem Eindruck der
                                                   schwierigen Geburt seines ersten Kindes
                                                   entstanden. In dem intensiven Kammerspiel
                                                   rennen die Tänzer*innen buchstäblich
                                                   gegen eine Wand an – eine Skulptur der
                                                   schwedischen Bühnenbildnerin Mylla Ek

    PURE BLISS im Tempodrom >   8   im Spielplan                                        27
Rave im
			 Opernhaus

                 Komfortrauschen
                im Kulissenmagazin
                   der Deutschen
                  Oper Berlin. Ihr
                   Sound: Detroit-
                Techno, gespielt mit
                  den Instrumenten
                  einer Rockband

28
Beim Festival Playground führen sechs
      Bands an einem Abend vor, wie
spielerisch und offen Jazz, Techno und Pop
     heute miteinander umgehen. Tipp:
  flache Schuhe anziehen, da Tanzgefahr

Wenn die Begriffe Berlin und Nachtle-         schied, denn Komfortrauschen spielen         ihr Set die Geschwindigkeit zwischen-
ben in einem Satz vorkommen, geht es          alles von Hand – mit Gitarre, Bass,          durch drosseln. Auf der Langstrecke des
meist um Techno. Um den Wumms,                Schlagzeug, die mit Effektgeräten ver-       Dancefloors empfiehlt es sich manch-
ums Tanzen und Feiern. Das gehört             schlauft sind. Ihre Konzerte finden zu-      mal, das Tempo herauszunehmen, um
zum tollen Ruf der Stadt. Beim Mini­          nehmend in Technoclubs wie dem Ber-          den Horizont im Blick zu behalten.
festival »Playground« lässt sich an ei­       liner Sisyphos statt. Schlagzeuger Tim              In der Tischlerei sucht die Musik
nem langen Abend erleben, wie elektro­        Sarhan: »Bei uns geht es live stark in       Annäherung an schemenhafte Songfor-
nische Musik in Berlin klingt, wenn sie       Richtung Rave, tanzen gehört dazu. Be-       men, verschlungene Harmonien und
Räume jenseits der Clubs betritt.             sonders schön, wenn sich Kontexte mi-        avancierte Sounds. Der Saxofonist
       Der Spielplatz, wie es der Titel na-   schen, Klassikkonzerte in Technoclubs        Ralph Heidel eröffnet mit einem Quin-
helegt, sind zwei Orte, die das Publikum      oder eben Raves in der Oper!« Der            tett, das neben seinem warmen, oft elek-
der Deutschen Oper Berlin selten zu Ge-       Klang verrät nicht sofort, dass hier sechs   tronisch bearbeiteten Sound Synthesi-
sicht bekommt. Drei Konzerte finden in        Hände im Spiel sind. Aber wenn ihre          zer, Schlagzeug und erstmals auch
der Tischlerei statt, vor rund 400 Leuten.    Tracks den Druck erhöhen, beginnt            Violine und Cello auf der Bühne hat.
Und drei weitere für jeweils etwa 200         man die Menschmaschine zu ahnen.             Doch was heißt schon Bühne, wenn
gibt es gleichzeitig im Kulissenmagazin       Dieser harte, hypnotische Maschinen-         kein Podest ein Höhengefälle zwischen
hinter der Hauptbühne, das seit langem        funk atmet menschliche Interaktion.          Band und Publikum einzieht?
mal wieder bespielt wird. Opernkulissen       Tim Sarhan sagt, sie komponierten wie               Das Duo Ameli Paul klingt manch-
raus, Lautsprecher rein in den hohen          viele Bands auch: erst improvisieren,        mal wie die Stunden bei Open Airs, wenn
Raum voller Beton, damit der Beat sich        dann gemeinsam arrangieren.                  die Sonne aufgegangen ist und man noch
entfalten kann. Verbunden sind die                   Den umgekehrten Weg geht LBT,         ein bisschen bleibt. Oder man kriecht
Spielstätten über einen Innenhof.             das zweite Techno-Trio des Abends. Der
­Dramaturgin Carolin Müller-Dohle, die        akustische Klang aus Piano, Kontrabass
 den Abend zusammengestellt hat, sagt:        und Schlagzeug bleibt erkennbar. Aber
 »Das Publikum darf hin- und hergehen,        kompositorisch dreht LBT den Prozess
 wie es Lust hat.« Von Konzerten kann         um, wie Bassist Maximilian Hirning er-
 man noch sprechen, auch ohne feste           klärt: »Ich arbeite am Computer wie ein
 Sitzplätze. Aber nicht von einer konzer-     Technoproduzent, drucke danach aber
 tanten Situation, die durchgehende An-       Noten aus, damit wir üben können.«
 wesenheit verlangt. Wo die Genres ins        Hier tritt der Jazzhintergrund in den
 Fließen geraten, kommen auch die Men-        Vordergrund, wenn die Musiker Wie-
 schen in Bewegung, und sei es im Stehen,     derholungen des Techno in feine, unab-
 Gehen, Sitzen, beim Getränke­holen           lässige Veränderungen treiben, bis hin
 oder Auf-dem-Hof-Reden.                      zu offenen Parts, die Soli erlauben. »In
       Das weit gereiste Trio Komfort-        Perfektion werden wir einen Computer
 rauschen schließt im Kulissenmagazin         nie schlagen, aber (noch) in Improvisa-
 den Abend ab und klingt nach klassi-         tion und Energie«, sagt Hirning.
 schem Techno, wie er in Chicago und                 Die Berliner DJ Katzenohr spielt
 Detroit erfunden wurde und in Berlin         im Kulissenmagazin zwischen den                Zwischen Arie und Synthesizer: Ameli
 und Frankfurt auf fruchtbaren Boden          Bands. Und auch wenn sie die Künstlerin       Paul spielen träumerischen Electronica
 fiel. Allerdings gibt es einen Unter-        mit der meisten Cluberfahrung ist, wird

                       Jazzfestival: Playground im Kulissenmagazin >   5   im Spielplan                                         29
halb ausgeschlafen aus dem Zelt, kocht
Kaffee, wippt mit der Hüfte und sagt
leise »Yeah«. Sängerin Franziska Ameli
Schuster, die auch mal zu einer Arie an-
hebt, verbindet alles, was »Playground«
grundiert: klassische Ausbildung, Jazz-
studium, Pop-Projekte, gefolgt von Öff-
nung in den Dance mit Paul Valentin an
Synthesizer und Gitarre. Als Ameli Paul
reden sie mit einer Stimme: »Für uns ist
es wichtig, Musik nicht nur an dafür vor-
gesehenen Orten zu performen, sondern
auch zu experimentieren, wie sich
Operngesang in einem Club, aber eben
auch Techno in der Oper anfühlt.«
       Beim Finale in der Tischlerei
kommt der Jazz noch einmal zur Gel-
tung, aber nicht als tradierte Form, son-
                                                         Mia Knop Jacobsen vom Trio Rosemarine bedient sich beim
dern als »Symbol musikalischer Frei-                 Jazz wie bei einer Sprache, die hilft, ihre Ideen in Musik umzusetzen
heit«, wie die in Dänemark geborene
Sängerin Mia Knop Jacobsen sagt. Ihre
Band, ein Trio mit Gitarre und Schlag-      dium entschloss, um eine bessere             verbindet. Clubs kennen Konventio-
zeug, heißt Rosemarine. Bei ihr wird        Crossover-Musikerin zu werden.«              nen, die Oper, der Jazz, und auch die
Jazz zum Mittel, um die Dinge, die sie            Durch die Tradition hindurchge-        Poparenen. »Playground« will sie für
im Kopf hört, besser umsetzen zu kön-       hen, um den Ausgang in die Gegenwart         eine kurze Zeit in der Schwebe halten.
nen. Jacobsen: »Ich kam von Pop und         zu finden: Das ist wohl das Programm,        Das Ziel bleiben unsere Körper. Geses-
Soul, als ich mich spät für ein Jazzstu-    das alle sechs Acts von »Playground«         sen wird auf dem Heimweg. Tobi Müller

                                                                                                                  Sehen aus wie ein
                                                                                                                     klassisches
                                                                                                                   Jazztrio, klingen
                                                                                                                      aber nach
                                                                                                                   Club. LBT zeigen,
                                                                                                                   dass im Techno
                                                                                                                  auch Improvisation
                                                                                                                      möglich ist

30
Wir hören uns im
Sherwood Forest

  Bruder Tuck, Little John, Maid Marian und der
Sheriff von Nottingham. Martin Auer und sein wildes
      Jazzorchester laden ein zu: Robin Hood
DIE BALLADE VON ROBIN HOOD                 Der Autor John von Düffel hat die alten         ich noch nicht sagen, wie wir das bei
soll Publikum zwischen 9 und 99 Jah-       Geschichten über Robin Hood neu ge-             Robin Hood lösen… Ach, na gut: Robin
ren ansprechen, auch wenn Kinder na-       schrieben. Und Rüdiger Ruppert, der             Hood wird von einer Trompete verkör-
türlich besonders fasziniert sind. Wir     die BigBand der Deutschen Oper                  pert! Und sein anfänglicher Widersa-
haben durchaus den erzieherischen          ­Berlin mit gründete, hat aus dem Text          cher und späterer Freund Bruder Tuck
Anspruch, verschiedene musikalische         und der Musik ein Erzählkonzert kon-           von einem Basssaxofon. Dazwischen
Stile und Instrumente vorzustellen.         zipiert. Am Ende gibt es ungefähr 60           liegt ein Kampf der beiden, da haben
»Das wilde Jazzorchester« ist eine Mi-      ­Prozent Text und 40 Prozent Musik,            sie Platz zu improvisieren, umeinander
schung aus einer Big Band und einem          manchmal überlappend. Der berühmte            zu tänzeln, zu spielen. Ohne solche Ele-
kleinen Orchester. Wir haben Schlag-         Sprecher Christian Brückner liest für         mente wäre es kein Jazz. Aber es ist
zeug, Tuba, Gitarre, vier Bläser, vier       die Aufnahme, doch im Herbst nimmt            Jazz, der erzählerisch bleibt. Die Musik
Streicher und wohl auch eine Harfe,          er sich eine Auszeit, dann wird Simon         klebt dabei nicht am Label Jazz. Es gibt
wenn sie es denn vom Aufnahmestu-            Jäger alle Stimmen live sprechen.             Elemente aus Jazz, Klassik, Pop. Und
dio auf die Bühne schafft, mal sehen.              Wie in der Oper haben die Figu-         wiederholt geht es in Richtung Film-
      Am Anfang steht der Text, wie          ren musikalische Motive und manch-            musik: Wer die Ohren spitzt, landet mit
schon beim DSCHUNGELBUCH wird                mal Instrumente, anhand derer das Pu-         dem Kopf zwischenzeitlich im Kino
es auch dieses Mal ein Erzählkonzert.        blikum sie bald erkennt. Eigentlich darf      oder vor dem Bildschirm.

                    Jazzfestival: Die Ballade von Robin Hood in der Tischlerei >   6    im Spielplan                           31
So viel
Kontra in diesem
		 		Bass

Charles Mingus am 4. Juli 1976 in Manhattan – beim 200. Jubiläum der Unabhängigkeits-
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 erklärung. Er war Bassist, Grenzgänger, Pionier und Jazzlegende; nur eines nie: einfach
Halb Jazz, halb Klassik, halb
      Monster: Epitaph sollte
  Charles Mingus’ Opus Magnum
     werden. Doch am Ende
   wuchs es ihm über den Kopf.
    Er selbst hat das Werk nie
  gehört. Nun erlebt es eine seiner
      seltenen Aufführungen

Es war das Jahr, das den Jazz verändern     Dolphy. Aber was schiefgehen konnte,       Ein Sprecher der Konzerthalle trat auf
sollte. Die Beatles und Stones gab es       ging schief. Mingus schrieb hoch kom-      die Bühne und bot dem Publikum das
noch nicht, den Pop auch nicht – was        plexe Musik, hatte aber nur drei Proben    Geld zurück an, die 1500-Plätze-Halle
cool war, kam aus dem Jazz. Dann er-        angesetzt. Posaunist Jimmy Knepper         leerte sich komplett. Es kam zu Unru-
schienen im Herbst 1959 vier wegwei-        wurde Kopist, schrieb täglich Noten ab,    hen auf der 43. Straße, die schließlich
sende LPs, heute alle Klassiker: »Kind      die Mingus produzierte. Der fand kein      von der Polizei geschlichtet wurden.
of Blue«, Miles Davis, »Time Out«, Dave     Ende, änderte ständig, erweiterte, er-     Eine zweite Hälfte gab es nie.
Brubeck, »The Shape of Jazz to Come«,       gänzte. Knepper kam nicht nach. Min-              »Diese Musik ist eigentlich sehr
Ornette Coleman – und »Ah Um« von           gus wurde übellaunig, dann wütend,         abwechslungsreich, sehr dicht, kraft-
Charles Mingus. Ein Meisterwerk, das        dann hasste er die Welt. In jenen Wo-      voll, ein einzigartiges Werk zwischen
Gospel, Blues, Boogie und Shuffle zu        chen sagte er der New York Times, dass     den Genres«, sagt Engel. Der Dirigent
einem neuen Sound verband.                  er emigrieren wolle, für schwarze Musi-    ist – genau wie Mingus – in den Welten
      Seitdem hatte der Bassist Mingus      ker sei kein Platz in den USA. Er nahm     von Klassik, Neuer Musik und Jazz
seinen Platz im Olymp des Jazz sicher.      sich einen Therapeuten; in den Sitzun-     gleichermaßen zu Hause, und er spielt
Direkt danach widmete er sich einer         gen weinte er, die Menschen um ihn         Kontrabass wie der Meister. »Epitaph«
noch kühneren Vision: Eine Suite für        herum verbauten ihm die Chance sei-        gibt er mit der BigBand der Deutschen
Orchester, teils improvisiert, teils kom-   nes Lebens. Der Druck war hoch, die        Oper Berlin und jungen Musikern vom
poniert – geschrieben für eine Beset-       Plattenfirma wollte live aufnehmen –       Jazz-Institut Berlin (JIB).
zung aus zwei kompletten Big Bands          damals unüblich, kaum erprobt.                    Damit erwacht das selten gehörte
sowie weiteren Orchesterinstrumen-                In der Nacht vor dem Konzert         Werk neu zum Leben. Mingus produ-
ten. Es sollte ein Werk des »dritten        war Mingus immer noch nicht fertig, er     zierte nach dem Debakel von 1962
Wegs« werden, den Jazz mit der klassi-      rief Knepper zu sich, verlangte spontan    immer weniger, einige Jahre später
schen Moderne eines Bartók und Stra-        neue Begleitungen für Soli. Als Knep-      wurde er krank, konnte sein Instru-
winsky verbindend, und zugleich Min-        per ablehnte, schlug Mingus ihm ins        ment nicht mehr spielen. Er starb 1979,
gus’ persönliches Opus Summum:              Gesicht, brach ihm einen Zahn ab,          ohne sein Hauptwerk je gehört zu
»Epitaph«. In Berlin bringt es Dirigent     nannte ihn eine »weiße Schwuchtel«         haben. Die 500 Seiten Noten wurden
Titus Engel auf die Bühne. Charles          und einen Verräter. Dann rauschte er       Jahre später in einem alten Koffer bei
Mingus jedoch hat es selbst nie gehört.     ab zu einer Extraprobe um Mitter-          seiner Witwe Sue entdeckt.
      Schon die Uraufführung 1962 ge-       nacht. Die Musiker verstanden seine               Für das Konzert in Berlin, zum
riet zum Fiasko, vielleicht zum größten     Vision nicht, hatten schlicht keine Lust   100. Geburtstag von Mingus, wurde
der Jazzgeschichte. Es passierte in der     mehr. Das blieb auch beim Konzert so.      das Notenmaterial basierend auf der
Town Hall in New York: Mingus war           Das Orchester hing im Timing hinter        kritischen Neuausgabe neu erstellt:
wegen des Erfolgs von »Ah Um« auf           den Solisten her, das Publikum mochte      »Die Partitur ist in einem besseren Zu-
dem Höhepunkt seines Ruhms und              die schlecht gespielte Musik nicht.        stand als je zuvor«, sagt Engel. Aber das
hatte 33 Top-Musiker zusammenge-            Mingus ließ noch während der ersten        Werk sei keine Sinfonie, es werde viel
trommelt, darunter Stars wie die Saxo-      Hälfte seinen Therapeuten rufen, der       improvisiert, müsse leben: »Ein biss-
phonisten Buddy Collette und Eric           in der Pause Backstage auf ihn wartete.    chen Abenteuer bleibt.«

                      Epitaph in der Philharmonie >   7   im Spielplan                                                     33
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