KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18

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KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
KUNST                                   18
                Das gemeinsame Magazin von
           Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee

                                    1/2021
                                                    Nr.

EINSICHT

            Seite 16

  Eine ästhetische Reise
 durch ein geteiltes Land
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
GALERIE KORNFELD • BERN
                                                   KENNERSCHAFT UND TRADITION SEIT 1864
© D. Thalmann, Aarau, Schweiz

                                CUNO AMIET Winterlandschaft. 1908
                                Öl auf Leinwand. 54 × 64,5 cm
                                Müller/Radlach 1908.21. Auktion Juni 2021

                                AUKTIONEN 17. UND 18. JUNI 2021
                                                                                                         Galerie Kornfeld
                                AUKTIONSAUSSTELLUNGEN                                                    Auktionen AG
                                                                                                         Laupenstrasse 41
                                ZÜRICH, TITLISSTRASSE 48                    BERN, LAUPENSTRASSE 41       Postfach
                                1. bis 4. Juni, 13–19 Uhr (Auswahl)         9. bis 16. Juni, 10–18 Uhr   CH-3001 Bern

                                                                                                         Tel. +41 (0)31 381 46 73
                                Kataloge online und auf Bestellung                                       galerie@kornfeld.ch
                                erhältlich ab Mitte Mai                                                  www.kornfeld.ch
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Editorial

Interaktive Live-Führungen im Netz —                                vertiefen Sie sich in die weitreichenden
Podcasts — Livestreamings von Konzerten.                            Fragen der verwandtschaftlichen wie auch
Während des langen zweiten Lockdowns                                kulturellen Nähe von Mensch und Tier
in den grauen Wintermonaten haben                                   anlässlich der Ausstellung Moderne Tiere,
wir viel Neues ausprobiert. Und doch kann                           die einen neuen Blick auf die Tierplastiken
nichts die tatsächliche Begegnung mit                               August Gauls (1869—1921) wirft. Und
und die persönlichen Diskussionen über                              tauchen Sie ein in Paul Klees nicht immer
Kunst und Kultur — gemeinsam mit anderen                            unproblematische Suche nach den
Menschen, mit Ihnen unseren Besucher:in-                            Uranfängen von Kunst und in Adolf Wölflis
nen — ersetzen. Jetzt, da die Tage wieder                           unerschöpfliches Universum. Auf einen
länger werden und die Museen aus ihrem                              Sommer voller Kultur!
Dornröschenschlaf erwachen durften,
freuen wir uns, Kunst wieder vor Ort erlebbar
zu machen. Für das kommende Halbjahr
ist deshalb viel geplant: Entdecken Sie die
                                                                                         Nina Zimmer
Kunst des geteilten Korea in einer Aus-                                                  Direktorin Kunstmuseum Bern —
stellung, in der Welten aufeinanderprallen;                                              Zentrum Paul Klee

                                                                 Inhalt
                             Ausstellung                                                             Literatur

  8                     August Gaul                                       26          Sharon Dodua Otoo
                       Moderne Tiere                                            Dürfen Schwarze Blumen Malen?
       August Gauls Tierplastiken entstanden in einer Zeit, in                 Die Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin über
       der sich das Mensch-Tier-Verhältnis grundlegend                         Menschen, Diskriminierung und Sprache.
       veränderte. Erstmals wird das Werk des animaliers nun
       kulturhistorisch kontextualisiert.
                                                                                                    Ausstellung

                             Ausstellung
                                                                          30              Die Erfindung des
 10                     Paul Klee                                                        Künstlers Adolf Wölfli
                                                                               Als Insasse der «psychiatrischen Heilanstalt Waldau»
                  Ich will nichts wissen                                       schuf Adolf Wölfli ein über 25 000 Seiten umfassendes
       Auf der Suche nach den Uranfängen von Kunst                             Werk. Erstmals stehen seine Schriften im Zentrum
       studierte Paul Klee unter anderem Höhlenmalereien                       einer Ausstellung.
       und Kinderzeichnungen. Erstmals widmet sich eine
       Ausstellung umfassend seinen Quellen.

                             Persönlich
                                                                          34                          Forum
 14                    Manuela Angst                                      38                         Kalender
       Die neue CEO von Bern Welcome über ihren heraus-                   39                        More to See
       fordernden Einstieg, die Bedeutung von Kultur und ihre             40                         Agenda
       Vision eines nachhaltigen Tourismus.                               46                         Nachruf
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Shop                                                                  Austausch

                 Zentrum Paul Klee                        Kunstmuseum Bern                                     Museum Rietberg

       Pareo                                             Kihara                                 Zur Frage nach
    Geheim Schrift                                     Porzellan-                               den Uranfängen
         Bild                                          Tellerchen                                 von Kunst
Egal ob als Badetuch nach dem sommer-         Seit über 400 Jahren wird in der Stadt Arita
lichen Aareschwumm, als Wickelrock beim       in der Präfektur Saga auf der Insel Kyushu
Flanieren im Freibad oder als Überwurf für    in Japan Porzellan hergestellt, das für seine
den Liegestuhl zu Hause im Garten — der       hohe handwerkliche Qualität bekannt ist.
Pareo aus 85 % Baumwolle ist der ideale       Heute werden die alten Handwerkstechni-
Begleiter für den Sommer. Bedruckt ist er     ken mit Hightech und 3D-Design ergänzt.
mit dem Werk Geheim Schrift Bild von Paul     Das Porzellan des Herstellers Kihara ist
Klee aus dem Jahr 1934.                       funktional, formschön und von langlebiger
                                              Qualität. Jeder Artikel ist ein handgefertig-
Zeichen und Schriften ziehen sich als Bild-   tes Unikat, das die herausragenden Fähig-
elemente wie ein roter Faden durch das        keiten der Kunsthandwerker:innen reprä-
gesamte Schaffen von Paul Klee. Vor allem     sentiert.                                       Während Musik, Tanz und Theater kaum
Klees Bilder der 1930er-Jahre sind das                                                        Spuren hinterlassen, haben Fels- und
Ergebnis jahrelangen Experimentierens         Satz von 5 blau-weissen Tellern mit geo­        Höhlenmalereien die Jahrtausende über-
mit einer Vielzahl von Schriftformen ande-    metrischen und floralen Mustern, ø 15 cm,       dauert. Die Entdeckung altsteinzeitlicher
rer Kulturen ur- und frühgeschichtlicher      mikrowellen- und spülmaschinenfest,             Höhlenbilder Ende des 19. Jahr­hunderts
Epochen. Hinzu kamen Symbole wie Spira-       CHF 75, Museumsshop Kunstmuseum Bern            veränderte die Vorstellungen über die An-
len, Pfeile, Buchstaben oder Musiknoten                                                       fänge von Kunst von Grund auf.
sowie auf ihre wesentliche Form reduzierte
Gegenstände. Klee entwickelte so ein                                                          Die Ausstellung Kunst der Vorzeit: Felsbilder
eigenständiges Formenvokabular, welches                                                       der Frobenius-Expeditionen im Museum
auf die Konvention lesbarer Zeichen an-                                                       Rietberg gibt Einblick in die abenteuerliche
spielt, im Grunde jedoch nicht mehr ent-                                                      Dokumentationsgeschichte weltweiter
schlüsselt werden kann.                                                                       Felsbilder durch Leo Frobenius und sein
                                                                                              Künstlerinnenteam in der ersten Hälfte des
100 × 70 cm, CHF 24, Museumsshop                                                              20. Jahrhunderts. Mehr als 100 grossfor-
Zentrum Paul Klee                                                                             matige Bilder geben einen einzigartigen
                                                                                              Überblick über diese früheste Form der
                                                                                              Bildkunst. Die ursprünglich vom Frobenius-
                                                                                              Institut gestaltete Ausstellung wurde für
                                                                                              das Museum Rietberg erweitert, unter
                                                                                              anderem mit Leihgaben aus dem Zentrum
                                                                                              Paul Klee. Wie viele Avantgarde-Künst-
                                                                                              ler:innen des frühen 20. Jahrhunderts inte-
                                                                                              ressierte sich Paul Klee für die Frage nach
                                                                                              den «Uranfängen von Kunst», was unter
                                                                                              anderem eine Beschäftigung mit prähisto-
                                                                                              rischer und nichteuropäischer Kunst zur
                                                                                              Folge hatte. Obwohl sich Klee nie konkret
                                                                                              zur vorgeschichtlichen Kunst äusserte,
                                                                                              hatte er mit Sicherheit von Leo Frobenius’
                                                                                              ethnologischen Studien Kenntnis genom-
                                                                                              men, was Zeitschriften und Bücher seiner
                                                                                              Bibliothek belegen.

                                                                                              Museum Rietberg
                                                                                              Kunst der Vorzeit:
                                                                                              Felsbilder der Frobenius-Expeditionen
                                                                                              bis 11. Juli 2021

Paul Klee, Geheim
Schrift Bild, 1934, 105,                                                                      Wandjina, Australien, Kimberley,
Kleisterfarbe auf Papier                                                                      Mount Hann, 1938, Douglas C. Fox,
auf Karton, 48 × 63,5 cm,                                                                     Aquarell auf Papier, 73 × 108,5 cm,
Zentrum Paul Klee, Bern                                                                       © Frobenius-Institut

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KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Dreimal Korea in Bern                                                                      Digital

                                  Chun Hee                                                                 Aus der Ferne
In diesem Sommer lässt sich die Kunst und      ken aus der Sammlung Sigg die konträren                       ganz nah
Kultur Koreas an gleich drei Orten in Bern     Weltanschauungen und die gegensätzliche
entdecken. Das Alpine Museum der Schweiz       Kunst Nord- und Südkoreas in einen Dialog               Zoom — GoToMeeting — Skype for Business.
nähert sich mit der Ausstellung Let’s Talk     und lädt so dazu ein, sich der Geschichte               Wir alle haben uns im letzten Jahr an
about Mountains (bis 16. Januar 2022)          und der Gegenwart Koreas anzunähern.                    Online-Sitzungen und digitalen Austausch
filmisch dem verschlossenen Nordkorea an.                                                              gewöhnen müssen. Dabei ist uns unwei-
Sie zeigt Mikrogeschichten aus dem Alltag      Wer nach dem Museumsbesuch Lust hat                     gerlich bewusst geworden, wie wichtig
und gibt Menschen eine Stimme, die hinter      auf mehr, macht sich auf in die Münster­                persönliche Begegnungen sind, und welch
dem politischen System und unseren Bildern     gasse. Im Chun Hee gibt es authentische                 grosse Rolle sie auch bei Kongressen,
davon zu verschwinden drohen. Das Kunst-       koreanische Gerichte in familiärem Umfeld               Kundenevents oder Tagungen spielen. Hin-
museum Bern bringt in der Ausstellung          zu entdecken. Zum Einstimmen zu Hause:                  zu kommen die technischen Heraus­
Grenzgänge (30.04.—05.09.2021) mit Wer-                                                                forderungen, die Online-Veranstaltungen
                                                                                                       mit oft mehr als hundert Teilnehmenden
                                                                                                       mit sich bringen.

                                                                                                       Das Zentrum Paul Klee ermöglicht in die-
                                                                                                       ser besonderen Zeit mit Know-How
                                                                                                       und professioneller Infrastruktur sichere
                                                                                                       und stressfreie Events nahe bei den
                                                                                                       Menschen. Wie? Mit auf die individuellen
                                                                                                       Bedürfnisse der Veranstalter:innen
                                                                                                       und Teilnehmer:innen zugeschnittenen
                                                                                                       hybriden Veranstaltungen. Als sichere
                                                                                                       Alternative zu örtlich gebundenen Events
                                                                                                       ermöglichen hybride Veranstaltungen
                                                                                                       Nähe — auch aus der Ferne. Während sich
                                                                                                       Referent:innen und eine kleinere Gäste-
                                    Fresh Kimchi                                                       gruppe im grossräumigen Auditorium des
                                      Chun Hee                                                         Zentrum Paul Klee treffen, verfolgen wei-
                                                                                                       tere Teilnehmer:innen den Anlass via
                                                                                                       Livestream und bringen sich, je nach Setup,
                                                                                                       via Wortmeldung oder Chatfunktion ein.
Für 2 Personen                                 Verarbeiten                                             Die Veranstaltungen werden in Live-Regie
Zubereitungszeit: 30 Min.                      Chinakohl sehr gut waschen bis kein Salz                von Fachpersonen betreut, damit man
                                               mehr auf den Blättern ist. Alle Gemüse­                 sich ganz auf Inhalt und Austausch konzen-
Zutaten                                        streifen mit dem gewaschenen Chinakohl                  trieren kann.
1 kleiner Chinakohl                            vermischen. Paste zugeben und alles mit
1 kleine Karotte                               den Händen gut vermischen.
1 kleiner Bierrettich
1 Frühlingszwiebel                             Servieren
1—2 Knoblauchzehen                             Mit Reis und Fleisch oder Tofu.
20 g Ingwer                                    Passt auch gut zu Rösti.
1 TL Fischsauce*
1—2 EL koreanisches Paprika**                  Tipp
5 EL Salz                                      Kann in grösseren Mengen hergestellt
2 DL Wasser                                    werden, da das fermentierte Kimchi im Kühl-
                                               schrank in einem luftdicht verschlossenen
So wird’s gemacht:                             Behälter (fast) unendlich lange haltbar ist.
                                               Älteres Kimchi kann man wunderbar mit Ge-
Vorbereitung                                   müse und allerlei in einer Suppe verarbeiten.
Chinakohl in 2 cm breite Streifen schneiden,
salzen und mit etwas Wasser für ca. 15 Min.    En Guete mitenand!
einwirken lassen. Bierrettich und Karotten
in 5 cm lange feine Streifen schneiden,        b Rezept von Eve Angst, Wirtin Chun Hee                 Für weitere Auskünfte: events@zpk.org
Frühlingszwiebeln fein schneiden.              Chun Hee, Münstergasse 39, 3011 Bern                    +41 31 359 01 59

Paste
Knoblauch und Ingwer fein hacken,              *   egetarier:innen und Veganer:innen können die
                                                  V
                                                  Fischsauce durch Sojasauce ersetzen.
Fischsauce und Paprika dazugeben und           ** Koreanisches Paprika (Gochugaru) ist im Asia-Shop
alles vermischen.                                  A Châu Trading in Köniz erhältlich.

                                                                                                                                                5
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
FRUCHTLAND

                                                   Flachs gestern
                                                     und heute
                                                   Das Revival einer
                                                  alten Kulturpflanze

Fast und Slow Fashion sind in aller Munde.        Die Geschichte der Nutzung von Flachs durch        Füglistaller. Er untersuchte über drei Jahre
Die Modebranche produziert oft möglichst          Menschen ist faszinierend, denn sie ist ein        hinweg verschiedene Flachssorten mit Namen
schnell und günstig unsere Kleider. Die           Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und       wie «Lisette», «Christine» oder «Avian» auf
Situ­ation von Arbeiter:innen wie auch der        reicht bis in die Zeit um 5000 v. Chr. zurück.     ihre Tauglichkeit für Schweizer Verhältnisse
Umwelt wird dabei hintenangestellt. Mit           Spuren von Leinsamen finden sich sogar noch        und für ihre weitere Verwendung.
dem Anbau von Flachs thematisiert das             früher. Im Mittelalter war Faserflachs der              Mit Flachs thematisiert das Zentrum
Zentrum Paul Klee im Rahmen von FRUCHT-           wichtigste Rohstoff für Textilien in ganz          Paul Klee im Rahmen von FRUCHTLAND
LAND diese und weitere Aspekte der tra­           Europa und in der Schweiz wurde aus Flachs         erstmals eine Faserpflanze anstelle von Pflan-
ditionellen Naturfaser.                           gewonnener Leinen im 18. Jahrhundert ein           zen zur menschlichen oder tierischen Er-
                                                  Exportschlager. Ab dem 19. Jahrhundert ver-        nährung. Die ganze Verwertungskette vom
Flachs – oder auch gemeiner Lein – ist eine       dräng­te die Baumwolle mehr und mehr den           Anbau bis zum Konsum wird im Begleit-
vielseitige Pflanze: Aus den Fasern lässt sich    Flachs, da sie in der maschinellen Verar­beitung   programm auf dem Feld mit Expert:innen
Garn gewinnen, aus dem robuste Stoffe ge-         weitaus produktiver war. Schliesslich führte       beleuchtet: Von Vor- und Nachteilen von An-
fertigt werden. Auch als Dämm- und Isolier-       der Einsatz von synthetischen Fasern zu einem      bau und Verarbeitung von Flachs – etwa im
material sind die Fasern sehr gut nutzbar. Die    noch stärkeren Rückgang des Flachsanbaus.          Vergleich zu Baumwolle – über Nachhaltigkeit
Leinsamen bieten nicht zuletzt wertvolle un-           Für den Anbau von Flachs im FRUCHT-           in der Mode- und Textilbranche, mit Blick auf
gesättigte Fettsäuren, können roh oder ver-       LAND arbeitet das Zentrum Paul Klee mit            Slow Fashion, bis hin zur Verwendung von
arbeitet als Speiseöl verzehrt werden. Aber       SwissFlax zusammen. Eine Handvoll Bauern,          Flachs und Leinen durch Kunstschaffende.
auch als Öl für Lampen diente Leinöl.             Wissenschaftler und Textilindustrielle grün-            Ein ganz besonderes Erlebnis bietet die
Schliesslich kann der Holzanteil der Stängel      deten die Firma 2014 im Emmental, um den           Flachsblüte. Nur für kurze Zeit im Juni blüht
zu Papier verarbeitet werden. Wie gewohnt         Flachsanbau in der Schweiz wieder zu för-          die Pflanze je nach Sorte in Blau, Weiss oder
schlagen wir mit FRUCHTLAND Brücken               dern. 2019 gewann die SwissFlax den Design         Rosa. Morgens öffnen sich die Flachsblüten
zwischen Kunst und Natur sowie Kultur und         Preis Schweiz in der Kategorie «Swiss Textiles     langsam und tünchen ganze Felder in leuch-
Agrikultur. Im Falle von Flachs ist dies ganz     Prize for Fashion and Textile Start-ups». Vor-     tende Farbe. Doch schon am frühen Nach-
einfach – in der Kunst findet Flachs nämlich      aus gingen dem Anbau Studien an der Hoch-          mittag verwelken die Blüten. Am nächsten
vielseitige Anwendung: als Leinwand, als          schule für Agrar-, Forst- und Lebensmittel-        Tag wiederholt sich das Schauspiel, bis alle
Papier oder in Form von Leinöl als Bindemittel,   wissenschaften (HAFL) in Zollikofen durch          Blüten verwelkt sind. b Dominik Imhof, Leiter
zum Verdünnen von Farbe oder als Firnis.          den Gesellschafter von SwissFlax, Dominik          Kunstvermittlung Zentrum Paul Klee

                                                                                                                 FRUCHTLAND
                                                                                                                 Begleitprogramm

                                                                                                                 Flachsanbau und
                                                                                                                 weitere Naturfasern
                                                                                                                 Samstag, 8. Mai 2021, 14 Uhr

                                                                                                                 Flachsblüte
                                                                                                                 Samstag, 19. Juni 2021, 10.30 Uhr

                                                                                                                 Flachsernte:
                                                                                                                 Von der Pflanze zum Garn
                                                                                                                 Samstag, 21. August 2021, 14 Uhr

                                                                                                                 Slow Fashion Day
                                                                                                                 Samstag, 11. September 2021

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KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Musik

                                        Leidenschaftlich,
                                     ausdrucksstark, virtuos:
                                           Ein Gespräch mit der
                                          Cellistin Harriet Krijgh

                                                                            HK   Magda und mich verbindet mittlerweile eine langjährige, ganz
                                                                                 wunderbare musikalische Zusammenarbeit und enge Freund-
                                                                                 schaft. Wir haben uns während unseres Studiums in Wien kennen-
                                                                                 gelernt und vom ersten Moment an fühlte sich das einfach voll-
                                                                                 kommen richtig an. Es gibt sehr wenige Musiker:innen, mit denen
                                                                                 man sich so zu Hause fühlt, kaum Worte braucht und total auf
                                                                                 einer Linie der musikalischen Sprache und des Ausdruckes ist. Ich
                                                                                 bin sehr dankbar für diese wunderbare Verbindung und freue
                                                                                 mich auf alle tollen Projekte, welche noch auf uns zukommen.
                                                                            JV   Die Arpeggione ist ein im frühen 19. Jahrhundert entwickelter
                                                                                 «Zwitter» aus Gitarre und Violoncello. Schuberts Sonate ist die-
                                                                                 sem Instrument gewidmet, wird heute allerdings meist auf dem
                                                                                 Cello gespielt. Was sind die besonderen Herausforderungen?
                                                                            HK   Schon als Kind war die Arpeggione-Sonate eines der Werke, die
                                                                                 ich am liebsten hörte und immer mal spielen wollte. Sie ist so pur,
                                                  Foto: Nancy Horowitz           himmlische Musik. Enorm berührend durch ihre Reinheit. Fast
                                                                                 durchsichtig, irgendwie. Darin liegt aber auch die Schwierigkeit.
                                                                                 Es wird technisch sehr viel verlangt: virtuose Technik, die aber
                                                                                 ganz fein und möglichst unauffällig bleiben sollte.
                                                                            JV   Gibt es etwas, das Sie insbesondere jungen Menschen durch Ihre
                                                                                 Musik mitgeben möchten?
                                                                            HK   Immer 100 Prozent und noch mehr zu geben für etwas, das man
                                                                                 liebt. Aufeinander zu hören. Respekt zu haben. Über Grenzen hi-
                                                                                 naus zu wollen. Kommunizieren mit Gefühlen statt Worten. Auf
                                                                                 sein Herz zu hören und zu vertrauen. Zu geben und zu teilen. Offen
                                                                                 zu sein. Sich immer weiter entwickeln zu wollen und Höheres an-
Die junge Niederländerin Harriet Krijgh ist eine der aufregendsten               zustreben. Ganz viel Freude zu haben! b Das Interview führte Julia
und vielversprechendsten Cellistinnen der Gegenwart. Ihr kantables               Vincent, Künstlerische Leiterin Musik Zentrum Paul Klee
und ausdrucksstarkes Spiel berührt und begeistert Publikum und
Presse gleichermassen. Konzerte führen sie in die bedeutendsten
Säle Europas, Nordamerikas und Asiens. Seit 2018 ist Harriet Krijgh
exklusiv beim Label Deutsche Grammophon unter Vertrag und als
leidenschaftliche Kammermusikerin Cellistin des renommierten
Artemis Quartett.

JULIA VINCENT         Liebe Harriet, welche Beziehung haben Sie als         Harriet Krijgh ist am 25. April 2021
     Niederländerin zur Schweiz, zur Stadt Bern oder auch zu Paul Klee?     im Rahmen eines Meisterkonzerts im
HARRIET KRIJGH        Für die Schweiz habe ich immer grosse Be-             Duett mit Magda Amara, Klavier,
     wunderung gehegt. Die Natur ist von überwältigender Schönheit          im Zentrum Paul Klee zu Gast.
     und so vielseitig. Auch die gepflegten Städte und Dörfer, welche
     das Land bietet, sind so voller Charakter und Stil. In Bern bin ich    «Arpeggione»
     tatsächlich noch nie gewesen, aber ich bin freudig gespannt auf        Sonntag, 25. April 2021
     den ersten Besuch und auch besonders auf das Zentrum Paul Klee.
     Es beherbergt ja eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen            Franz Schubert (1797—1828):
     Klees und als grosse Liebhaberin seiner Kunst freue ich mich ganz      Sonate für Arpeggione und Klavier a-Moll D 821 (1824)
     besonders, umrahmt und inspiriert von solchen Meisterwerken            Nadia Boulanger (1887—1979):
     Musik zu machen.                                                       Drei Stücke für Violoncello und Klavier (1914)
JV   Sie treten gemeinsam mit der russischen Pianistin Magda Amara          Dmitri Schostakowitsch (1906—1975):
     auf. Was hat Sie zusammengeführt?                                      Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll op. 40 (1934)

                                                                                                                                                  7
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Ausstellung

                            August Gaul
                            Moderne Tiere

    									                             In jüngster Zeit
    									rücken Tiere verstärkt
    									 ins Bewusstsein: als
    									 Übertragungswirte
    							                          globaler Pandemien,
    							                       Betroffene vom
    								 Artensterben infolge
    										des Klimawandels,
August Gaul, Laufender
Strauss, 1900, Bronze,

    										 Beitragende zum
Flügelspitzen vergoldet,
41 cm, Kunstmuseum Bern,
Leihgabe der Zwillenberg-
Stiftung

    		                      Ausstoss von Treibhausgasen
    in der industriellen Tierzucht oder
    Gegenstand einer Debatte um die
    Stärkung von Tierrechten. Diese
    «Aktualität des Tieres» verändert
    den Blick auf das Werk des Tier-
    bildhauers August Gaul (1869–
    1921), der als animalier weitaus
    weniger An­erkennung in der
    Kunstgeschichte gefunden hat
    als etwa seine Weggefährten in der
    Berliner Secession Max Liebermann,
                                             August Gaul, Stehender
                                             junger Elefant, 1916—1917,
                                             Bronze; Sockel: Granit,
                                             123 × 150 × 58,5 cm,

    Käthe Kollwitz oder Lovis Corinth.
                                             Kunstmuseum Bern,
                                             Leihgabe der Zwillenberg-
                                             Stiftung

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KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
August Gaul

  Kunstmuseum Bern                                                                                     die Schaulust des Publikums ausgerichtet und
                                                                                                       keineswegs an den Bedürfnissen der Tiere. Der

  04.06.–24.10.2021                                                                                    Kunstkritiker Karl Scheffler meinte dies auch
                                                                                                       an Gauls Plastiken zu erkennen, wenn er fest-
                                                                                                       stellte: «Die Bestien haben bei ihm nicht sowohl
                                                                                                       die Atmosphäre von Wüste und Freiheit um
                                                                                                       sich, als vielmehr die Luft des Zoologischen
                                                                                                       Gartens. Sie erscheinen halb gezähmt.» 3
                                                                                                             Die Gründungswelle zoologischer Gär-
                                                                                                       ten und Naturkundemuseen im späten
                                                                                                       19. Jahrhundert war eine Folge der europäi-
                                                                                                       schen Kolonialexpansion, die die Sammlun-
                                                                                                       gen auf ein nie dagewesenes Mass anwachsen
			                                                                                                    liess und ihre Attraktivität entscheidend er-
                                                                                                       höhte. Die präsentierten Tiere – darunter die

			                                                                                                    von Gaul abgebildeten Löwen, Straussen und
                                                                                                       Elefanten – wurden in Zooführern vielfach als
                                                                                                       Geschenke von Kolonialbeamten oder be-
                                                                                                       siegten Lokalfürsten ausgewiesen. Andere
                                                                                                       bereisten als Teil von Völkerschauen die Städ-
                                                                                                       te Europas, um in zoologischen Gärten, dar-
                                                                                                       unter auch in Basel und Zürich, zusammen
                                                                                                       mit Menschen vorgeführt zu werden. «Exoti-
                                                                                                       sche» Tiere waren zu Gauls Lebzeiten in der
                                                                                                       europäischen Populärkultur allgegenwärtig,

		                                                              August Gaul, Junge Bären, 1904/1913,
                                                                Bronze, 29,5 × ca. 44,5 × 22,5 cm,
                                                                Kunstmuseum Bern, Leihgabe der
                                                                Zwillenberg-Stiftung
                                                                                                       nicht zuletzt als Werbung für Kolonialwaren,
                                                                                                       darunter auch Schweizer Schokolade. Wenn
                                                                                                       der Bildhauer «exotische» Tiere darstellte, so
                                                                                                       waren diese Bilder Teil einer visuellen Kultur,
  Bereits um 1900 vollzogen sich bedeutende         wo er von nun an jeden Morgen vor den Käfigen      die das vermeintlich «Wilde» und «Primitive»
  Veränderungen im Mensch-Tier-Verhältnis,          der Tiere zeichnete und modellierte. Als er sich   als Gegenbild konstruierte zum eigenen, das
  die auch in der Kunst zum Tragen kamen und        1899 der im Jahr zuvor gegründeten Berliner        damit als «zivilisiert» und «kultiviert» aus-
  uns noch heute betreffen: darunter das Ver-       Secession anschloss, die sich im Widerstand        gewiesen wurde.
  schwinden von Nutztieren aus dem Stadtraum        gegen eine konservative Kunstpolitik zur Sicht-          Die Ausstellung August Gaul. Moderne
  bei gleichzeitigem Einzug von Haustieren in       barmachung der internationalen Moderne zu-         Tiere nimmt den Versuch vor, das Werk des
  bürgerliche Wohnräume, die Gründung der           sammengeschlossen hatte, wurde er auf Anhieb       Bildhauers erstmalig kulturhistorisch zu kon-
  Tierschutz- und Vegetarierbewegung als Re-        zum Publikumsliebling. Bei Unterhaltungen          textualisieren. Sie fragt danach, wie sich die
  aktion auf die Industrialisierung der Fleisch-    über die ersten Ausstellungen der Künstler-        grundlegenden Veränderungen im Mensch-
  produktion und die Einführung des wissen-         gruppe sollen stets «entzückte Worte über die      Tier-Verhältnis um 1900 auf die Entstehung
  schaftlichen Tierversuchs, aber auch die          schönen Tierfiguren» August Gauls gefallen         und Rezeption von Gauls Werk ausgewirkt
  Einsicht in die verwandtschaftliche Nähe von      sein.1 Während die Darstellung des mensch-         haben, und inwiefern uns die damaligen Ent-
  Mensch und Tier infolge der Popularisierung       lichen Körpers an künstlerische Traditionen        wicklungen noch heute betreffen. Welche Im-
  der Evolutionstheorie. Diese Neukonfigurati­      gebunden war, konnte Gaul am Tiermotiv frei        pulse können uns Gauls Plastiken geben auf
  onen, die fast alle gesellschaftlichen Bereiche   mit Abstraktion und Geometrisierung experi-        der Suche nach einer Beziehung zum Tier
  um 1900 betrafen, gaben den Anstoss für ein       mentieren, um so der Plastik den Weg in die        jenseits seiner Instrumentalisierung und Aus-
  verstärktes Interesse am Tier, das sich auch in   Moderne aufzuzeigen. Gaul selbst soll einmal       beutung, um ein nachhaltigeres und ethisch
  der Kunst niederschlug: Plötzlich wurde das       gesagt haben: «Ich will gar nicht die Natur pe-    vertretbares Zusammenleben für die Zukunft
  Tier zum eigenständigen, vollwertigen Motiv       dantisch imitieren, sondern das Typische und       zu gestalten? b Katharina Lee Chichester, Ku-
  jenseits seiner Einbindung in erzählerische       ihren seelischen Kern festhalten. Vor allem will   ratorin der Ausstellung
  oder allegorische Zusammenhänge, etwa in          ich eine plastische Arbeit machen … Was mich
  der Denkmalsplastik. Dieser Entwicklung ver-      bei den Tieren anzieht, ist ganz wesentlich        Kunstmuseum Bern
  dankt sich auch der durchschlagende Erfolg        künstlerischer Art … Ich mache Tiere, weil es      August Gaul. Moderne Tiere
  August Gauls, der sich um 1900 auf Tierbilder     mich freut.»2                                      04.06.—24.10.2021
  spezialisierte und damit zu einem der be-              Doch wie autonom und frei von mensch-
  deutendsten deutschen Bildhauer seiner Zeit       licher Vereinnahmung waren Gauls Tierbilder
  avancierte.                                       wirklich? Die «natürliche Erscheinung» und
       1888 war der junge «Modelleur für die        «charakteristische Existenz» der Tiere, die an     1 Fritz Stahl, «August Gaul», in: Kunst und
  Kunstindustrie» aus Grossauheim bei Frankfurt     seinen Werken immer wieder gelobt wurde,             Künstler, 2. Jg. (1904), S. 89—98, hier S. 90.
                                                                                                       2 Zit. n. Waldemar Grzimek, Deutsche Bildhauer
  nach Berlin gezogen, um dort seine Ausbildung     kann der Künstler vor den Käfigen im Zoo kaum        des zwanzigsten Jahrhunderts. Leben,
  zum Bildhauer abzuschliessen. Bei einer Ver-      beobachtet haben. Die reich ornamentierten,          Schulen, Wirkungen, Wiesbaden 1969, S. 45.
                                                                                                       3 Karl Scheffler, «August Gaul: Anlässlich seines
  losung an der Kunstgewerbeschule gewann er        orientalisierenden Stilarchitekturen des Berli-      fünfzigsten Geburtstags», in: Kunst und
  eine Dauerkarte für den Zoologischen Garten,      ner Zoologischen Gartens waren allein auf            Künstler, Jg. 18, H. 6 (1920), S. 247—261, hier S. 260f.

                                                                                                                                                                    9
KUNST EINSICHT 1/2021 - Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee 18
Ausstellung

                                                    Paul Klee
                               Ich will nichts wissen

Paul Klee male wie ein Kind, ein Höhlen-           andere Künstler:innen der Avantgarde in           zu sogenannter «Weltkunst» gehören. Klees
mensch, ein «Primitiver», ein «Geisteskran-        künstlerischen Werken von Kindern, Men-           Sammlung von Kinderzeichnungen des be-
ker»: dies sind Assoziationen und Zuschrei-       schen mit Psychiatrie-Erfahrung und vor allem      freundeten Lehrers Hans-Friedrich Geist und
bungen, mit denen der Ausnahmekünstler            von prähistorischen und nichteuropäischen          von tunesischen Aquarellen, die der Künstler
bereits zu Lebzeiten konfrontiert wird            Zivilisationen verkörpert sahen. Dabei bezog       von seiner Reise mitbrachte, oder eine kongo-
— im positiven wie im negativen Sinne. Doch       sich der Begriff «primitiv» in verschiedenen       lesische Figur und ozeanische Speere, die 1926
was genau hat Klee mit Primitivismus und          wissenschaftlichen Disziplinen auf die An-         in seinem Bauhausatelier aufgestellt waren,
Exotismus zu tun, und wie können heute            nahme eines allgemein-menschlichen Ent-            werden präsentiert.
solch komplexe Themen im Museum ausge-            wicklungsstadiums – dem ersten, frühesten,              Das Zentrum Paul Klee hinterfragt histo-
stellt, betrachtet und diskutiert werden —        «ursprünglichsten».                                risch negativ besetzte Begriffe wie «Irren-
und welche Sprache benötigen wir dafür?                 Um die enge Verknüpfung zwischen prä-        kunst», «primitive Kunst» oder Primitivismus
                                                  historischer Kunst, nichteuropäischer Kunst        und befragt das postkoloniale Kunstverständ-
Mit dem Ziel, neue bildnerische Ausdrucks-        und anderen damals sogenannt «primitiven»          nis der Schweiz kritisch. Dies geschieht, in-
formen zu finden, kehrt Klee den Lehren der       Kunstformen in Klees Werk zu verstehen, müs-       dem die Produktion kolonialer Denkweisen
europäischen Kunstakademien den Rücken.           sen wir uns in den zeitgenössischen intellek-      beleuchtet wird, die in Bildern und Sprache
Stattdessen sammelt und studiert er Höhlen-       tuellen Nährboden versetzen, der die europäi-      sichtbar werden. Sowohl Klees Werke und
malereien und Petroglyphen, nichteuropäische      sche Kultur und Gesellschaft als Höhepunkt         Schriften als auch ein Blick ins Künstlerarchiv
Kunst, psychopathologische Kunst und Kinder-      der geschichtlichen Entwicklung verstand. Die      lassen die vielschichtige und problematische
zei­chnungen – jene von seinem Sohn Felix und     Wissenschaft vom Menschen ging von zwei            Geschichte der Auseinandersetzung des Wes-
seine eigenen. In der Gruppe um den Blauen        sich gegenüberstehenden Stadien einer all-         tens mit dem Anderen und dessen Exotisie-
Reiter, die Dadaisten und Surrealisten, mit       gemein-menschlichen Entwicklung aus, die           rung erahnen. Die Ausstellung wirft die Frage
denen er in den 1910er- und 1920er-Jahren ver-    von einem «primitiven» hin zu einem «zivili-       auf, wie damals und heute in der Kunst mit
kehrt, findet er Gleichgesinnte. Die europäi-     sierten» – europäischen – Staat führte. Klees      Vorstellungen von Normalität umgegangen
sche Avantgarde des frühen 20. Jahrhu­n­derts     Formulierungen zu Primitivismus und «pri­          wird und was wir – sowohl als Ausstellende
scheint wie von Sinnen auf der Suche – auf der    mitiver Kunst» sind weit vor einer inter-          wie auch als Betrachtende – daran ändern
Jagd – nach den vermeintlichen «Uranfängen        diszipli­nären und tieferen Aufarbeitung dieser    müssen. b Livia Wermuth, kunstwissenschaft-
von Kunst».                                       Thematik entstanden. Nichtsdestotrotz ent-         liche Volontärin Zentrum Paul Klee
      Tagebucheinträge und Briefe belegen         ­wickelte Klee Ansätze einer kritischen Haltung
Klees Auseinandersetzung mit dieser Idee und       gegenüber einem Primitivismus, der einerseits
in diesem Zusammenhang mit dem westlich-           für künstlerische Abstraktion und Reduktion
kolonialen Konstrukt des Primitivismus. Be-        steht, andererseits aber auch auf rassistischen
reits 1902 beschreibt er seinen Wunsch, sich       Konzepten der westlichen Kunst- und Kultur-       Zentrum Paul Klee
auf einen ursprünglichen Zustand zuzu-             theorie einer europäischen Überlegenheit          Paul Klee. Ich will nichts wissen
bewegen: «Wie neugeboren will ich sein,            gründet.                                          08.05.—29.08.2021
nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine             In der Ausstellung wird erstmals ein um-
Dichter kennen, ganz schwunglos sein; fast        fassender Teil von Klees Bibliothek unter-         Die Ausstellung entsteht in Zusammen-
Ursprung.» Diesen Zustand präzisiert er 1909      sucht, zu der die Publikation Bildnereien der      arbeit mit dem Lille Métropole Musée d’art
als «Primitivität» im Sinne einer Reduktion als    Geisteskranken (1922) des Psychiaters Hans        moderne, d’art contemporain et d’art brut
«letzte professionelle Erkenntnis». «Primitiv»     Prinzhorn, zahlreiche Cahiers d’Art mit Bei-      (LaM), wo sie vom 18.09.2021—09.01.2022
war eine ambivalente Qualität, die Klee und        trägen zu prähistorischer Kunst sowie Bücher      zu sehen sein wird.

10
Paul Klee
                                                   Paul Klee, Brand-Maske,
                                                   1939, 274, Kleisterfarbe
                                                   und Bleistift auf Papier auf
                                                   Karton, 20,9 × 29,7 cm,
                                                   Zentrum Paul Klee, Bern,
                                                   Schenkung Livia Klee

            Paul Klee, Verrückung,
            1939, 805, Kleisterfarbe
            auf Papier auf Karton,
            26,9 × 21,4 cm, Zentrum
            Paul Klee, Bern,
            Schenkung Livia Klee

Zentrum Paul Klee
08.05.–29.08.2021
                                                                             11
Preview

                        max bill                                                      Meret Oppenheim.
                        global                                                         Mon exposition

Im Jahr 1951 fand in Brasilien mit der Bienal de São Paulo die erste           Der kommende Herbst bietet einen Höhepunkt im Kunstjahr 2021: Mit
Biennale statt. Dabei stand ein Schweizer Künstler mit im Rampen-              Meret Oppenheim. Mon exposition präsentiert das Kunstmuseum Bern
licht: Max Bill gewann den ersten Preis für Skulptur und rückte damit          als einzige europäische Station eine umfassende Retrospektive über das
in den Fokus der brasilianischen Öffentlichkeit. Viele junge Künst-            schöpferische Werk der Jahrhundertkünstlerin Meret Oppenheim.
ler:innen hatten im Frühjahr bereits die Bill-Ausstellung im Museu de                In enger Kooperation mit dem Museum of Modern Art in New
arte de São Paulo gesehen, die jedoch nicht auf reges Interesse von-           York und der Menil Collection in Houston ist eine Ausstellungs-
seiten der Presse gestossen war. Die Ausstellung hatte Bill nicht nur          perspektive erarbeitet worden, in der die surrealistischen Anfänge
als Maler und Bildhauer gezeigt, sondern auch als Architekt, Grafiker,         der Künstlerin im Paris der 1930er-Jahre genauso dargestellt werden
Typograf und Produktgestalter. Tief beeindruckt von der stringenten            wie ihre weitere künstlerische Entwicklung nach dem Zweiten Welt-
Vielseitigkeit seines Werkes entschlossen sich eine Handvoll brasilia-         krieg, die noch zu entdecken ist. Insbesondere Oppenheims Œuvre
nische Künstler:innen, sich an der 1953 von Bill mitgegründeten                der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre bis zu ihrem Tod 1985 ist zeit-
Hochschule für Gestaltung in Ulm einzuschreiben.                               genössisch zu Nouveau Réalisme, Pop Art und monochromer Malerei
      Unter den ersten Student:innen der HfG Ulm war die Brasilia-             zu verstehen und wird erstmals neu in diesem Kontext verortet.
nerin Mary Vieira. 1927 in São Paulo geboren, hatte sie bereits in Belo              1983 wurde auf dem Waisenhausplatz in Bern der Meret Oppen-
Horizonte Kunst studiert. Im November 1951 teilte sie Bill mit, dass           heim-Brunnen eingeweiht. Besorgte Bürger:innen sahen damals in
sie in die Schweiz kommen möchte. Er organisierte ihr eine Unter-              dem Monument einen Schandfleck für die Stadt und forderten des-
kunft und stellte sie in seinem Architekturbüro an, bevor sie als eine         sen Versetzung oder gar Abriss. Inzwischen ist der Brunnen aus dem
der ersten Student:innen an der HfG Ulm 1953 den Vorkurs besuchte.             Stadtbild nicht mehr wegzudenken und hat sich zu einem Fanal für
Vieira kehrte 1954 wieder in die Schweiz zurück, wo sie zu einer be-           den radikal offenen Werkbegriff, den Oppenheim zeitlebens vertrat,
deutenden Vertreterin der kinetischen Kunst, aber auch des schwei-             entwickelt. Besonders charakteristische Merkmale des Brunnens
zerischen Plakatdesigns avancierte. 1954 lud Bill sie ein, im Rahmen           sind seine organischen Komponenten, da sich der Pflanzenwuchs
der letzten Ausstellung der Künstlergruppe Allianz auszustellen.               und das Wasserspiel je nach Jahreszeit verändern und sich in stets
1964 zeigte er eine ihrer Skulpturen an der Expo in Lausanne.                  wechselnden Formen präsentieren.
      Max Bill, der für kurze Zeit am Bauhaus in Dessau studiert                     Und so hat sich auch Oppenheim in ihren während über fünf Jahr-
hatte, strebte danach, an der HfG Ulm das Bauhaus wieder aufleben              zehnten entstandenen Werken immer wieder neu auf ihre Umwelt
zu lassen. Dabei half ihm sein weit verzweigtes, internationales               eingestellt und sich mit aktuellen Kunstströmungen auseinander-
Netzwerk, das sich der damals 44-Jährige unter anderem in Dessau,              gesetzt. Ihr stetes Interesse an den unterschiedlichsten Werkstoffen,
Paris und Zürich erarbeitet hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg                  formalen Experimenten, ihre Offenheit im Bildfindungsprozess
knüpfte er Kontakte über Europa hinaus in die ganze Welt. Erfahren             genauso wie ihr persönlicher Austausch mit anderen zeitgenössischen
Sie mehr über Bills künstlerische Bekanntschaften in der Herbstaus-            Künstler:innen legten die Basis für ein aussergewöhnlich reichhaltiges
stellung max bill global.                                                      Werk, das nicht mehr einseitig unter dem Label des Surrealismus ver-
                                                                               standen werden kann. Vor diesem Hintergrund versammelt die Aus-
Zentrum Paul Klee                                                              stellung rund 180 Werke aus internationalen Sammlungen sowie aus
max bill global                                                                dem Legat der Künstlerin an das Kunstmuseum Bern und verschafft
16.09.2021—09.01.2022                                                          einen neu erforschten Zugang zur gesamten Bandbreite von Oppen-
                                                                               heims bedeutsamem Schaffen.

                                                                               Kunstmuseum Bern                                Margrit Baumann, Meret
                                                                               Meret Oppenheim. Mon exposition                 Oppenheim in ihrem
                                                                                                                               Atelier, 1982, Fotografie,
                                                                               22.10.2021—13.02.2022                           Barytabzug, selengetont,
                                                  Max Bill und Mary Vieira                                                     18,4 × 27,7 cm, Kunst-
                                                  auf der Baustelle der HfG                                                    museum Bern, Bernische
                                                  Ulm, Foto: Hans G. Conrad,                                                   Stiftung für Foto, Film und
                                                  © René Spitz                                                                 Video, © Margrit Baumann

12
Kindermuseum Creaviva

                                              Au revoir!

                                                                                         Urs Rietmann hat
                                                                                         das Kindermuseum
                                                                                         Creaviva während
                                                                                         zwölf Jahren geprägt.
                                                                                         Foto: Monika Flückiger

Nachdem Urs Rietmann innerhalb der                                                       Was wird dir am Creaviva besonders fehlen?
vergangenen 12 Jahre insgesamt 98 457                                                    Die wunderbar inspirierende Gleichzeitigkeit
Schulkinder in den Werkstätten beobachtet,                                                     von Schreibtisch und Malatelier.
63 208 Gäste im Offenen Atelier gezählt,
5830 abgewirtschaftete Pinsel entsorgt,
512 Teamsitzungen geleitet — davon 85 mit                                                Welches war das schönste Kompliment, das
Gipfeli oder Kuchen — und 2 Fehlalarme                                                   du von einem Gast im Creaviva gehört hast?
ausgelöst hat — dies ein paar Beispiele aus       Wofür würdest du mitten in der                         «Ich komme wieder.»
seiner ganz persönlichen Creaviva-Statistik             Nacht aufstehen?
— und nun das Kindermuseum verlässt, haben             Wenn Emma-Lou oder
wir ihm ein paar Fragen gestellt:                      Fynn Kummer haben.                         War es beim Creaviva Liebe auf
                                                                                                         den ersten Blick?
                                                                                              Es war Respekt auf den ersten Blick.
                                               Wie oft gehst du ohne Ziel vor die Tür?               Die Liebe kam später.
                                                                Nie.
   Wie würdest du deinen momentanen
      Gemütszustand beschreiben?                                                              Welches ist in den nächsten Wochen
                 Al dente.                               Berge oder Meer?                              dein Lieblingsort?
                                                  Wie die Linguine: Mare e Monti.             Das Sofa zu Hause in unserer Stube.

 Welches Werk Paul Klees würdest du gerne
  in deiner Stube aufhängen? Und wieso?          Was hat dich zuletzt sehr berührt?        Worauf freust du dich jetzt? Und warum?
 Den Niesen. Weil der Thunersee bei Klee in      Der Abschied vom Creaviva-Team.               Auf den Sommer. Weil wir uns dann
              Ägypten liegt.                                                                        wieder umarmen dürfen.

                                              Was passiert mit deinem ZPK-Trottinett?
       Was steht jetzt ganz oben auf               Das habe ich Nina geschenkt.
           deiner Bucket-List?
         Übungen in Gelassenheit.
                                                Was war das Verrückteste, das du im
                                                     Creaviva angestellt hast?
         Was weckt deine Neugier?             Das möchte ich lieber für mich behalten.
          Verschlossene Truhen.

      Womit würdest du dich selbst so
          richtig überraschen?
     Mit 1900 Elo-Punkten auf meiner
               Schach-App.                                                               b Das Interview mit Urs Rietmann führte
                                                                                         Johanna Sophia Garske, Mittelbeschaffung,
                                                                                         Kommunikation & Marketing Kindermuseum
   Kannst du beim Nichtstun nichts tun?                                                  Creaviva, an seinem letzten Arbeitstag im
                   Nein.                                                                 Creaviva.

                                                                                                                                     13
Persönlich

                                                   Manuela Angst
                                    Aus der Pandemie zu einem
                                     nachhaltigen Tourismus

                                                                                 die Gesundheit meiner Familie, meiner Freunde und meiner Mit-
                                                                                 arbeitenden. Daneben musste ich als Kapitänin das Steuerruder
                                                                                 übernehmen, um das Schiff durch das stürmische Meer zu steuern.
                                                                                 Für mich wurde wichtig, dass ich als Führungsperson in Krisenzeit
                                                                                 Zuversicht ausstrahle, nach innen und aussen Ruhe bewahre, Mut
                                                                                 und Entschlossenheit zu Entscheidungen zeige, offen und ehrlich
                                                                                 kommuniziere und auch Fehler eingestehe. Denn schlussendlich
                                                                                 werde ich, vor allem in einer solchen Krise, von meinen Kollegin-
                                                                                 nen und Kollegen vermehrt daran gemessen, ob meine Worte und
                                                                                 Taten auch wirklich im Einklang stehen. Ausserdem ist es wertvoll,
                                                                                 in einer Krisensituation auch Chancen aufzuzeigen. Denn es gibt
                                                                                 immer Möglichkeiten – auch wenn die Situation noch so ausweg-
                                                                                 los erscheint. Die Erfahrung zeigt, dass nach einer Krise immer
                                                                                 wieder ein Aufschwung folgt. Nach jeder Ebbe kommt die Flut, auf
                                                                                 die Nacht folgt der Tag, nach dem Regen scheint die Sonne. Ich
                                                  Foto: Remo Neuhaus             habe während des vergangenen Jahres persönlich sehr viel dazu
                                                                                 gelernt, und geschäftlich konnte ich während dieser Zeit einiges
                                                                                 umsetzen und kleine Erfolge feiern. Das Miteinander stand dabei
                                                                                 immer im Vordergrund.
                                                                            TS   Bern Welcome ist eine junge Organisation. Wie haben Sie als
                                                                                 Team die Coronapandemie erlebt?
                                                                            MA   Es war keine einfache Zeit. Jede und jeder in unserem Unter-
Seit etwas mehr als einem Jahr ist Manuela Angst die neue Vor­                   nehmen musste sich mit den neuen Gegebenheiten und Vorgaben,
sitzende der Geschäftsleitung von Bern Welcome. Obwohl der                       sei es im privaten oder geschäftlichen Bereich, auseinandersetzen.
Einstieg anders geplant war, sieht sie auch nach dem schwierigen                 Aufgrund unserer aktuellen finanziellen und personellen Situation
Jahr 2020 viele Chancen und blickt positiv in die Zukunft.                       überprüften wir im Rahmen des letztjährigen Budgetprozesses die
                                                                                 Organisation und vorhandenen Prozesse. Als junges Unternehmen
THOMAS SORAPERRA       Sie sind seit etwas mehr als einem Jahr CEO von           hat Bern Welcome nur wenige Eigenmittel und war deshalb ge-
    Bern Welcome. Wie schaut Ihre Bilanz nach diesem aufgrund von                zwungen, die Struktur den neuen Umständen anzupassen und in-
    Covid-19 sehr speziellen Jahr aus?                                           terne Abläufe zu optimieren. So wurden nicht alle natürlichen
MANUELA ANGST          Obwohl meine Vorstellungen ganz anders waren              Abgänge von Mitarbeitenden ersetzt, sondern intern nach Lösun-
    als die Realität, ziehe ich eine positive Bilanz und blicke mit Demut        gen gesucht. Für Bern Welcome ist es ein Anliegen, nicht einfach à
    auf das spezielle Jahr 2020 zurück. Mein Plan war, dass ich mich             fonds perdu Beiträge zu fordern, sondern alles in unserer Macht
    rund ein halbes Jahr lang in meine neue Stelle einarbeiten kann.             Stehende zu versuchen, die plötzlich eingetretenen Verluste mög-
    Schritt für Schritt die Akteure kennenlerne, mich mit der neu er-            lichst aus eigener Kraft zu stemmen. Das erreichen wir nur mittels
    arbeiteten Unternehmensstrategie vertraut mache, einfach ge-                 einer Verschlankung der Organisation. Bern Welcome geht mit
    nügend Zeit habe, um in meinem neuen Umfeld anzukommen.                      dieser herausfordernden Situation sehr nachhaltig und sozial um
    Doch es kam anders. Ich war noch keine drei Monate im Amt, als               und investiert dort, wo wir aktuell die grössten Hebel zur Siche-
    die Pandemie und die deswegen verordneten Verbote und Schlies-               rung des Unternehmens – sprich der Arbeitsplätze – haben. Aber
    sungen Bern Welcome mit voller Härte trafen. Plötzlich brauchte              von allen Mitarbeitenden wird nach wie vor viel abverlangt.
    es mich an allen Fronten. Ich musste eine Matrixorganisation ein-       TS   Was sehen Sie als zentrale Aufgaben und Herausforderungen für
    führen, obwohl der Grossteil der Mitarbeitenden im Homeoffice                Bern Welcome für die kommenden Jahre?
    war. Teilweise unpopuläre Entscheidungen treffen. Verschiedenste        MA   Mit der neuen Unternehmensstrategie entwickelt sich Bern Welco-
    Erwartungen und Bedürfnisse unter einen Hut bringen. Eine Re-                me als Destination Management Organisation von einer reinen
    covery-Kampagne für all unsere Akteure starten. Den unterschied-             Marketingorganisation hin zu einer Vernetzungs- und Angebots-
    lichen Gemütszuständen der Menschen Rechnung tragen. Ich war                 organisation entlang der touristischen Dienstleistungskette. Unter
    gefordert – manchmal vielleicht vereinzelt auch überfordert –,               Tourismus verstehen wir Gäste von nah und fern. Dabei liegt das
    denn vieles war auch mir unbekannt. Ich machte mir Sorgen, um                Augenmerk auf konkreten Produkten und Angeboten und nicht

14
Manuela Angst

     mehr auf dem bislang dominierenden Modell des klassischen Mar-          TS   Das Verhältnis zwischen Kulturszenen und Stadtmarketing-
     ketings. Bern Welcome fördert einen gesellschafts- und umwelt-               organisationen ist oft von gegenseitiger kritischer Distanz und
     verträglichen Tourismus, der auf Interesse und gegenseitiger Neu-            Skepsis geprägt. Wie erleben Sie die Situation in Bern?
     gier beruht – eine Haltung, die auch eine breiter verteilte und         MA   Die Grundlage für die erfolgreiche Vermarktung und Umsetzung
     nachhaltigere Wertschöpfung für das Gesamtgewerbe sowie eine                 des kulturellen Images einer Destination ist der Dialog zwischen
     Verträglichkeit für die Bevölkerung nach sich ziehen soll. Dieses            Kultur und Tourismus. Ein solcher Austausch ist nicht immer
     Vorhaben ist ambitiös und braucht mehrere Jahre Zeit, denn Bern              einfach, weil es gegenseitig Vorurteile gibt. Bern Welcome hat
     Welcome schlägt hier eine ganz andere Richtung ein, als es bei               deshalb verschiedene Netzwerkgruppen ins Leben gerufen,
     einer Destination Management Organisation üblich ist. Weiter                 damit Erfahrungen und Wissen zwischen Kultur und Tourismus
     werden durch die zunehmenden Wünsche und Bedürfnisse der ver-                ausgetauscht werden können. Ein gutes Beispiel, was aus derlei
     schiedenen Anspruchsgruppen sowie den gesellschaftspolitischen               Dialogen entstehen kann, ist das diesjährige Jubiläum «50 Jahre
     Anspruch auf Zusammenarbeit Kooperationen und Vernetzungen                   Frauenstimm- und -wahlrecht». Bern Welcome hat dabei als Ver-
     immer wichtiger. Im Alleingang schaffen wir es nicht, die Destina-           netzerin agiert, indem wir letztes Jahr bei einem Treffen mit den
     tion Bern im Markt nachhaltig zu stärken. Man kann heute nicht nur           Kommunikationsverantwortlichen der 14 grössten Berner Mu-
     branchenisolierte Lösungen fordern, sondern muss eine überzeugte             seen die Themenschwerpunkte für 2021 zusammengetragen und
     Mehrheit schaffen. Es ist wichtig, die Ziele unpolitisch zu gestalten        gemeinsam festgestellt haben, dass ganz viele Museen in Bern
     und sicherzustellen, dass jede Anspruchsgruppe in etwa gleichem              das Jubiläum vielfältig und spannend mit Ausstellungen oder
     Ausmass von den Tätigkeiten von Bern Welcome profitiert.                     Aktivitäten aufgreifen. In einem weiteren Schritt initiierte Bern
TS   Wie beurteilen Sie das kulturelle Angebot der Stadt Bern? Was                Welcome eine Kerngruppe und brachte die unterschiedlichen
     macht Bern zur Kulturstadt?                                                  Akteur:innen und Initiant:innen an einen Tisch – so konnten be-
MA   Bern verfügt über ein attraktives Angebot an zeitgenössischer                stehende und neue Angebote kombiniert und ein einheitlicher
     Kultur, aber das behauptet fast jede Stadt von sich. Aus meiner              Auftritt sichergestellt werden. Der gemeinsame Online-Hub auf
     Sicht machen viele Dinge die Destination Bern aus: Die Kombina-              Bern.com/frauenstimmrecht zeigt, dass durch das Miteinander
     tion von Urbanität und weitgehend intakter Natur, eine im Ver-               und das Verbinden von Menschen und Akteur:innen immer ein
     hältnis zur Grösse unglaublich vielfältige und hochwertige Kultur-           Mehrwert und eine höhere Wertschöpfung für die gesamte tou-
     szene, Infrastrukturen auf höchstem Niveau und vielfach in                   ristische Dienstleistungskette entstehen.
     Gehdistanz, vorbildlicher öffentlicher Verkehr, interessierte und       TS   Wo sehen Sie die touristischen Trends in den kommenden Jahren
     offene Menschen und ein spezielles Lebensgefühl. All das ist Bern:           und wie werden Sie darauf reagieren?
     Eine Kleinstadt mit kulturellem Weltformat.                             MA   Wir werden nach der Coronavirus-Zeit möglicherweise in einer
TS   Gerade während der ausserordentlichen Schliessungen aufgrund                 etwas anderen Welt leben. Vor dem Hintergrund unserer Unter-
     von Covid-19 haben wir erlebt, wie die Menschen im wahrsten                  nehmensstrategie, die auf Nachhaltigkeit, Heim- und Nahtouris-
     Sinne des Wortes Hunger nach Kultur hatten. Welchen Stellenwert              mus und eine breite Wertschöpfung setzt, hoffen wir natürlich,
     nimmt Kultur in der Marketingstrategie von Bern Welcome ein?                 dass die Krise einen Teil der globalen Tourismus-Auswüchse be-
MA   Das Kulturangebot sagt viel über eine Stadt und ihre Menschen                seitigt – beispielsweise Flugtickets und Pauschalreisen für fast
     aus. Insofern spielt Kultur eine bedeutende Rolle in einem ur-               umsonst, Europe-in-ten-Days-Reisen, den Boom der Kreuzfahrt-
     sprünglichen Tourismusverständnis, wo Gäste aus nah und fern                 schiffe oder den Shopping-Flug über das Wochenende nach New
     Interesse an einem Lebensraum, einer Stadt haben und den Aus-                York. Es wäre schön, wenn das Reisen wieder weniger als reines
     tausch damit suchen. Wenn wir in Zukunft auf einen authenti-                 und möglichst billiges Konsumgut betrachtet wird und mehr
     schen Tourismus setzen, dann ist die Kultur in diesen Überlegungen           Wertigkeit erhalten würde. Es soll wieder bewusst gereist werden.
     sehr wichtig. Hinzu kommt, dass es gerade im Geschäftsgäste-                 Die Auseinandersetzung mit der Kultur, dem Ort und vor allem
     Segment ein grosses Bedürfnis nach Kombinationen von Ge-                     den Menschen ist uns wichtig. Die Tourismusindustrie muss sich
     schäftlichem und kulturellen Erlebnissen gibt. Hier besteht ein              wieder stärker darauf besinnen, was Reisen wirklich ausmacht:
     noch wenig genutztes Potenzial, das einerseits zusätzliche Wert-             Ein einzigartiges und in vielerlei Hinsicht bereicherndes Erlebnis.
     schöpfung bringt und andererseits aus Vermittlungsperspektive                b Das Interview führte Thomas Soraperra, Kaufmännischer Direktor
     der Kulturinstitutionen interessant ist.                                     Kunstmuseum Bern – Zentrum Paul Klee

 «Die Grundlage für die erfolgreiche Vermarktung und
  Umsetzung des kulturellen Images einer Destination
   ist der Dialog zwischen Kultur und Tourismus.»

                                                                                                                                                 15
FOKUS

              GRENZ
Eine ästhetische Reise
durch ein geteiltes Land
                     16
..
     30.04.—05.09.2021
     Kunstmuseum Bern

17
                                                                                                                                                                  GRENZGÄNGE

                         GANGE
                            Pak Yong Chol, The Marines, 1994—2004 (Original 1986), Öl auf Leinwand, 148 × 306 cm, © The artist, Foto: Sigg Collection, Mauensee
FOKUS

In der aktuellen Themenausstellung im Kunstmuseum Bern ist erneut die Sammlung
Sigg zu Gast. Allerdings gilt der Fokus dieses Mal nicht der chinesischen, sondern
der süd- und nordkoreanischen Gegenwartskunst. Die geteilte Halbinsel Korea hat
radikal verschiedene Kunstauffassungen entwickelt, welche die beiden politi­-
schen und wirtschaftlichen Systeme widerspiegeln: im Norden kollektive Werke im
Stil des sozialistischen Realismus, im Süden individuell produzierte, kritische
Medienkunst, wie wir sie auch im Westen kennen. Zum ersten Mal in der Geschichte
begegnen sich diese beiden Kunstauffassungen über die Waffenstillstandszone
hinweg und treten in einen faszinierenden Dialog.

                                                                           Rhaomi, Theater State I, 2019, Pigment auf Koreanischem Papier, 130 × 170 cm, © The artist,
                                                                           Foto: Sigg Collection, Mauensee

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GRENZGÄNGE
Durch die verschiedenen Lockdowns haben wir weltweit eine           terhaften Gemälden, welche zugleich auf die sozialistisch-sym-
Vorstellung davon gewonnen, was es bedeutet, abgeschottet           bolische Farbe wie auch tragische Erfahrungen und bittere
und praktisch ohne Kontakt zur Aussenwelt zu leben. Doch            Gefühle verweisen. Südkoreanische Künstler:innen versuchen
was ist, wenn diese Situation nicht nur eine vorübergehende         auf indirektem Weg über chinesische Mittelsmänner Kontakt
Phase ist und sie auch digital nicht überwunden werden kann?        herzustellen und die Hand über alle Hürden hinweg zu den
Es gibt ein Land, in dem dieser Zustand seit fast siebzig Jahren    Nordkoreaner:innen auszustrecken. Selbst koreanische Künst-
normal ist: Nordkorea. Ein Land, das seit dem Koreakrieg durch      ler:innen, welche jenseits der Grenzen in China aufgewachsen
ein Waffenstillstandsabkommen und einen Grenzkorridor               sind, steuern ihre Sicht auf das Thema bei. Das Motto der Aus-
entlang des 38. Breitengrades von seinem Nachbar Südkorea           stellung ist im Ausstellungstitel «Grenzgänge» ausgesprochen.
getrennt ist. Es existieren auf der koreanischen Halbinsel also     Es geht um vielseitige Gänge über bestehende reelle und
zwei verschiedene Staaten, die bezüglich Lebensstandards            imaginäre Grenzen, um den Sturz in ein Wechselbad der Gefühle
sowie politischer Auffassungen nicht unterschiedlicher sein         und das Wecken der Erkenntnis, dass es letztlich Zufall und
könnten. Auf der einen Seite, im Süden, ein kapitalistisches Sys-   Schicksal ist, auf welcher Seite einer Grenze man geboren wird.
tem mit einer hochentwickelten Demokratie und Marktwirt-
schaft. Im Norden ein sozialistisches System, das einem dynas-     Diesem Ziel wird auch durch die kuratorische Vorgehensweise
tischen Führerkult folgt und mit wirtschaftlichen Dauerproble-     Rechnung getragen. Die Werke werden nicht nach nationaler
men kämpft.                                                        Zugehörigkeit getrennt, sondern aufgrund gemeinsamer Motive
                                                                   oder Themen gruppiert und prallen daher unvermittelt aufein­
Die Kunst in Nordkorea entstand — in manchen Zügen durchaus ander. Wie sieht ein nordkoreanischer Künstler eine Landschaft,
mit der christlich-religiösen Kunst des europäischen Mittel­       wie eine südkoreanische Künstlerin? Weshalb wird sie bei erste-
alters vergleichbar — vor allem zur Verherrlichung des politischen rem zu einem Historienbild und bei letzterer zu einer surrealen
Systems, seiner Exponenten und der zugrundeliegenden so­           Fantasie? Welche Sicht auf die Teilung hat ein koreanischer
zialistischen Ideologie nordkoreanischer Prägung. Es gibt sie      Künstler, der in China geboren und aufgewachsen ist? Weshalb
nur als offizielle Staatskunst ohne freie Wahl von Motiven,        schwimmt ein chinesischer Künstler im Winter durch den eisigen
Ausdrucksmitteln oder Ausstellungsmöglichkeiten. Alles wird        Grenzfluss, um ein Gefühl für die Trennung zu erhalten? Die
vom offiziellen Künstlerverband bestimmt, bei dem man Mit-         Konfrontationen der Werke miteinander lehren uns, wie stark
glied sein muss, wenn man Künstler:in sein will. Daher wird die die Kunstauffassung sich in der Ästhetik eines Kunstwerkes
Gesellschaft in dieser Staatskunst so dargestellt, wie sie dem     niederschlägt, dass die Wahl von bestimmten Gestaltungsmit-
System am liebsten wäre: heroisch im Dienst für das Land,          teln in allen politischen Systemen stark codiert ist und immer
freudig die tägliche Plackerei anpackend und glücklich, in diesem historische, wenn nicht gar ideologische Gründe hat.
Land zu leben. Wie man es vom sowjetischen sozialistischen
Realismus kennt, gibt diese Kunst nicht die Realität wieder,       Ohne Aussagen über das «koreanische» Kunstschaffen an sich
sondern erzieht die Gesellschaft auf das Fernziel hin, dass es     machen zu wollen oder zu können, streicht die Ausstellung die
dereinst wirklich so sein wird, wie auf den Bildern dargestellt.   Diskutierbarkeit der Kategorie «Nation» heraus. Was hat es
                                                                   damit auf sich? Wie begründet sich Nationalität in der globalen
Denn Nordkorea ist durch seine Geschichte in steter Selbst­        Welt? Viele europäische Länder haben sich im 19. Jahrhundert
behauptung gegenüber Grossmächten gefangen und präsen-             aufgrund von gemeinsamer Geschichte, Kultur und Sprache
tiert uns in seiner Kunst dementsprechend Motive, welche           als Nationen konstituiert — während sie gleichzeitig in den von
die moralische Kraft als «geistige Landesverteidigung» stärken: ihnen besetzten Kolonien am Reissbrett Nationalstaaten schufen.
ein glückliches solidarisches Volk und strahlende Herrscher        Wie problematisch normative Kategorien von Nation sind,
vor dem aufleuchtenden Himmel mit einem Arsenal an Waffen, haben viele Kriege im 20. Jahrhundert aufgezeigt. Demgegen-
mit dem Nordkorea auch die westlichen Staatshäupter in Atem über ist die Schweiz als «Willensnation» mit vier Landessprachen
hält. Eine Ausnahme bilden vielleicht die spektakulären Land-      einen sehr eigenständigen Weg beim Aufbau ihrer Nation ge-
schaftsdarstellungen, welche den bukolischen Schätzen Nord- gangen. In den beiden Koreas sind eine gemeinsame Kultur,
koreas huldigen. Doch gut versteckt zeigen auch sie nicht zu­      eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte
fällig Tempel, welche einst eine historisch bedeutsame Rolle im gegeben, und dennoch existieren zwei Nationen. Doch wie
früheren geeinten Korea spielten und nun dem Legitimations- der amerikanische Historiker Benedict Anderson bereits 1983
anspruch von Nordkorea dienen. Dank der umfangreichen              schrieb, entstehen Nationen weniger aufgrund logisch nachvoll-
Analysen unserer Expert:innen im Ausstellungskatalog verste- ziehbarer Fakten, sondern sind «zeitlich begrenzte, imaginierte,
hen wir diese Hinweise nun, denn ein direkter Austausch mit        politische Gemeinschaften». Ihre Gründungen und Begrün­
nordkoreanischen Künstler:innen ist nicht erst seit der Pandemie dungen basieren auf politischen Imaginationen, welche die be-
quasi unmöglich.                                                   troffenen Menschen zusammenschweissen.

Auf südkoreanischer Seite beschäftigen sich Generationen von        Die Ausstellung im Kunstmuseum Bern profitiert von einer
Künstler:innen mit dem Schmerz des geteilten Landes. Ihnen          Reihe von glücklichen Umständen. So etwa konnte Uli Sigg als
ist es erlaubt, den Verlust nicht zuletzt von Familienmitgliedern   Schweizer Botschafter in Nordkorea vor Ort Werke erwerben,
direkter zu beklagen, wenngleich ihnen der Kontakt mit Nord­        welche das Land normalerweise nicht verlassen dürfen, wie
koreaner:innen, selbst wenn es dorthin verschleppte Familien-       etwa Darstellungen der Herrscher Kim Il Sung und Kim Jong Il.
mitglieder sind, strengstens verboten ist. Denn beide Landes-       Durch seine hervorragenden Beziehungen nach Asien konnte
teile befinden sich nach wie vor miteinander im Krieg. In den       er zudem eine respektable Sammlung südkoreanischer Werke
ausgestellten Werken hören wir daher in einer Audioinstallation     zusammentragen, welche sich dem Thema des geteilten Landes
Geräusche, welche entlang der «demilitarisierten Zone» ge­          widmen. Doch was haben Nord- oder Südkorea überhaupt mit
sammelt worden sind. Wir sehen blutrote Landschaften in meis-       Bern zu tun? Weshalb soll man sich in Bern oder in der Schweiz

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