Prozessbericht Das Leibsubjekt in der HIV-Testberatung

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Berner Fachhochschule
Soziale Arbeit

Certificate of Advanced Studies (CAS)
CAS Psychosoziale Beratung: Integratives und entwicklungsorientiertes Modell

Prozessbericht
Das Leibsubjekt in der HIV-Testberatung

Autor/in:     Simon Krattiger, Aids Hilfe Bern

Referent:     Dr. Alexander Rauber

Abgabedatum:         28. Februar 2011
1
Inhalt

Zusammenfassung.................................................................................................................. 2
1 Einleitung............................................................................................................................. 3
   1.1 Einbettung...................................................................................................................... 3
   1.2 Themenwahl.................................................................................................................. 5
   1.3 Aufbau........................................................................................................................... 6
2 Der Beratungsprozess.......................................................................................................... 6
   2.1 Rahmen......................................................................................................................... 6
   2.2 Ablauf............................................................................................................................. 7
   2.3 Inhalt/Idealtypen............................................................................................................. 8
     2.3.1 Souveräner Typus.................................................................................................... 9
     2.3.2 Angst-Typus............................................................................................................. 9
     2.3.3 Risiko-Typus.......................................................................................................... 10
3 Theoretische Bezüge......................................................................................................... 11
   3.1 Begriffliches................................................................................................................. 11
   3.2 Erkenntnistheoretische Konsequenzen........................................................................ 12
   3.3 Persönlichkeitstheoretische Konsequenzen................................................................. 12
   3.4 Gesundheits- und Krankheitsverständnis..................................................................... 13
   3.5 Zusammenfassung....................................................................................................... 14
4 Diskussion.......................................................................................................................... 15
   4.1 Grundsätzlicher Bezug................................................................................................. 15
   4.2 Bezug beim souveränen Typus.................................................................................... 16
   4.3 Bezug beim Angst-Typus............................................................................................. 17
   4.4 Bezug beim Risiko-Typus............................................................................................ 18
   4.5 Grenzen und Stolpersteine.......................................................................................... 20
5 Fazit................................................................................................................................... 20
Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................... 22
Literaturverzeichnis............................................................................................................... 23
Erklärung............................................................................................................................... 24
2

                                            Zusammenfassung
Dank der antiretroviralen Therapie gilt eine HIV-Infektion heutzutage
medizinisch als eine chronische Krankheit. Nur wer seinen HIV-positiven Status
kennt, kann von den Vorteilen der Medikamente profitieren. Die Therapie senkt
die Virenlast und somit ein potenzielles Infektionsrisiko. Der HIV-Test hat
demnach eine persönlich-gesundheitliche sowie eine epidemiologisch-
präventive Funktion. Ziel einer HIV-Testberatung ist allerdings nicht nur, den
HIV-Status einer Person zu bestimmen, sondern vielmehr das Schutzverhalten
zu verbessern und dadurch neue Infektionen zu verhindern. Das Testangebot
der Aids Hilfe Bern richtet sich an Männer, die Sex mit Männern haben. Im
Rahmen der Beratung sollen Fähigkeiten und Fertigkeiten für einen
unaufgeregten und angemessenen Umgang mit HIV und Risiken vermittelt und
die sexuelle Gesundheit gefördert werden.
Das Konzept des „Leibsubjekts in seiner Lebenswelt“ (Petzold) taucht im
theoretischen Gerüst des integrativen Ansatzes auf verschiedenen Ebenen auf
und hat einen entsprechend grossen Einfluss auf Theorie und Praxis: Es ist
relevant als Menschenbild, als Ausgangspunkt für Persönlichkeit, als
Voraussetzung für Erkenntnis sowie als Grundlage für ein komplexes
Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Demzufolge ist es für Klient und
Berater Dreh- und Angelpunkt für sämtliche Erkennens-, Verstehens- und
Lernprozesse.
Die Klienten können grob einem von drei Idealtypen zugeordnet werden. Der
souveräne Typus ist unproblematisch, er hat einen mehr oder weniger
unaufgeregten und angemessenen Umgang mit dem Thema. Der Angst-Typus
einerseits und der Risiko-Typus andererseits befinden sich beide in einer
ungünstigen Lage, die bisweilen weniger mit HIV also mit persönlichen
Schwierigkeiten zu tun hat. Diese – insbesondere Entfremdungserscheinungen
– gilt es beraterisch-therapeutisch bewusst zu machen und positiv zu
beeinflussen. Als einer der Teile des Integrativen Ansatzes eignet sich das
Leibsubjekt-Lebenswelt-Konzept für diese Aufgabe.
3
1        Einleitung
       Für die vorliegende Arbeit habe ich mich mit dem spezifischen Menschenbild der
Integrativen Therapie (IT) auseinandergesetzt. Welcher Rahmen ist durch das Konzept
gegeben, welche Grundlagen stellt es zur Verfügung? Wie wird dadurch der
Beratungsprozess beeinflusst? Was verändert, erleichtert, erschwert meine Beratungen,
wenn ich vom Menschenbild der IT ausgehe? Last but not least: Was und wem nützt das?

1.1      Einbettung
         HIV und Aids1 waren absolute Schreckgespenster in den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts. Die damals unbekannte Krankheit verlief in der Regel sehr ungünstig. Ihre
Verbreitung nahm zudem innert Kürze ein epidemisches Ausmass an. Die medizinische
Fachwelt ebenso wie die gesundheitspolitischen Verantwortlichen reagierten anfänglich mit
Überforderung (Shilts, 1988), zu allem schürten apokalyptische Medienberichte Unsicherheit
und Angst.
         Heute, über 25 Jahre später, leben weltweit geschätzte 33.3 Millionen Menschen mit
HIV, wobei es regional grosse Unterschiede gibt, wie viele und auch welche Menschen
infiziert sind. In etlichen Sub-Sahara-Ländern beispielsweise herrschen nach wie vor
generalisierte, d.h. die Gesamtbevölkerung übergreifende, Epidemien; immer verbunden mit
grossem, persönlichem Leid sowie immensem, volkswirtschaftlichem Schaden. Andernorts
sind „nur“ gewisse Gruppen besonders von HIV betroffen, z.B. Männer, die Sex mit Männern
haben (MSM2) oder intravenös Drogen konsumierende (IDU), man spricht dann von
konzentrierten Epidemien. Aktuell verzeichnen viele Ex-Sowjet-Staaten eine problematische
Ausbreitung von HIV-Infektionen und Aidserkrankungen unter IDUs. In vielen
industrialisierten und Hocheinkommensländern machen Diagnosen bei MSM – wie zu
Anfangszeiten – den Grossteil der gesamthaft diagnostizierten Fälle aus (UNAIDS, 2010).
         Die Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) dokumentieren einen
rückgängigen Verlauf der HIV-Fälle bis zur Jahrtausendwende. Danach nahm die Zahl
wieder zu und pendelte zwischen 700-800 jährlichen Neudiagnosen. Hinter der insgesamt
stabilen Zahl verbergen sich gegenläufige Trends: Heterosexuelle Übertragungen und
Ansteckungen durch intravenösen Drogenkonsum sind rückläufig. Immer weniger Fälle
betreffen Menschen aus Hochprävalenzländern. HIV-Übertragungen von Mutter zu Kind
sowie bei der Verwendung von Blutprodukten kommen hierzulande praktisch nicht mehr vor.
Einzig MSM verharren auf hohem Niveau. Das BAG rechnet für das Jahr 2010 gesamthaft
mit 600-640 neuen HIV-Diagnosen3 (BAG 2010a). Falls die Prognosen zutreffen, könnte der
Rückgangtrend von 2009 bestätigt werden – und MSM würden seit langem wieder die
grösste Gruppe stellen.

1
  Human Immunodeficiency Virus [engl.]: Ein das menschliche Immunsystem zerstörendes Virus. Eine unbehandelte Infektion
mit dem HI-Virus führt in den meisten Fällen zu Acquired immuno deficiency syndrom [engl.], einer erworbenen (im Gegensatz
zu genetisch bedingt oder angeboren) Immunschwäche, die vielfältige Krankheitsbilder hervorbringen kann.
2
  Der etwas umständliche Fachbegriff MSM trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle gleichgeschlechtlich sexuell
verkehrenden Männer schwul oder bisexuell sind bzw. sich selbst so identifizieren würden.
3
  Hochrechnung der Quartalszahlen Stand 30. Sept. 2010.
4
        Den Durchbruch im Kampf gegen Aids brachte vor etwa 15 Jahren die breite
Anwendung der antiretroviralen Therapie (ART). Diese Medikamente können bei
regelmässiger Einnahme die Virenvermehrung unterdrücken oder zumindest stark bremsen.
Wo – etwas vereinfacht ausgedrückt – wenig Viren sind, nimmt das Immunsystem
geringeren Schaden. Es kommt somit weniger oft und weniger schnell zum Ausbruch von
Aids und folglich nur noch selten zu Aids-Todesfällen. Zudem verringert sich wegen der
tiefen Virenkonzentration auch das Infektionsrisiko: HIV-positive Menschen unter wirksamer
ART gelten laut der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) unter gewissen
Bedingungen4 als nicht (mehr) infektiös (Vernazza et al., 2008). Die ART bietet also
einerseits einen Nutzen für das HIV-positive Individuum, indem sie ihm erlaubt, mit/trotz
einer chronischen Erkrankung zu leben. Sie hat andererseits einen volksgesundheitlichen
Effekt, weil aufgrund der gesenkten Virenlast weniger Viren potenziell weitergegeben werden
können, und es somit zu weniger Neuinfektionen kommt. ART als Prävention war auch an
der letzten Welt-Aids-Konferenz5 in Wien ein wichtiges Thema; weniger umstritten aus
medizinischer denn aus finanzpolitischer Sicht.
        Vor der ART, in Zeiten ohne Therapiemöglichkeit, war der Nutzen eines HIV-Tests
umstritten, konnte man doch gesetztenfalls nicht wirklich etwas gegen die Infektion
unternehmen, musste machtlos auf Krankheit, Siechtum und Tod warten und wurde
obendrein noch stigmatisiert. Erst die Vorteile der ART machen den Test zu einem wichtigen
Element in der Bekämpfung von HIV/Aids: Nur wer überhaupt weiss, dass er HIV-positiv ist,
kann von einer Therapie profitieren. Wer seinen Status kennt, passt möglicherweise auch
sein Handeln an und schützt sich und andere besser. Der HIV-Test erfüllt also in persönlich-
gesundheitlicher wie auch in präventiver Hinsicht eine wichtige Funktion. Aus diesem Grund
wurde und wird die Schaffung von spezifisch angepassten Testangeboten forciert (Staub
2006), insbesondere in epidemiologischen Hochprävalenzfeldern, d.h. an Orten und in
Gruppen mit gehäuft vorkommenden HIV-Infektionen: Im südlichen Afrika finden
beispielsweise Testaktionen in Fussballstadien statt, wo Tausende sich „durchtesten“ lassen,
oder in Zürich und Genf existieren „Checkpoints“, spezifische Gesundheitszentren für MSM.
Auch die Aids Hilfe Bern (AHBE) hat in Zusammenarbeit mit und als Ergänzung zu der
anonymen Teststelle des Inselspital Bern ein Angebot speziell für MSM aufgebaut, wo diese
sich unkompliziert, ausserhalb eines medizinischen Setting, anonym, vertraulich und
sachverständig (von MSM zu MSM) beraten und gegebenenfalls auf HIV testen lassen
können. Diese Testberatungen gehören seit Anfang 2008 in meinen Zuständigkeitsbereich.
        Eine Testberatung ist grundsätzlich gegliedert in ein Vorgespräch, den eigentlichen
Test und ein Nachgespräch. Im Vorgespräch werden Grund und Motivation für den Test,
Risikoanamnese sowie Konsequenzen möglicher Testresultate geklärt und die Einwilligung
zum Test eingeholt6. Für die diagnostische Untersuchung wird per Venenpunktion etwas Blut
gewonnen und auf den Teststreifen aufgetragen. Es handelt sich um einen Schnelltest7: Das

4
  1. Der HIV-positive Mensch nimmt die ART konsequent ein und lässt deren Wirksamkeit regelmässig ärztlich kontrollieren. 2.
Die Viruslast liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze. 3. Es bestehen keine Infektionen mit anderen
sexuell übertragbaren Erregern (Vernazza et al., 2008).
5
  www.aids2010.org (Zugriff am 30.1.2011)
6
  Informed consent [engl.]: Informierte Zustimmung. Ein HIV-Test darf in der Schweiz nicht ohne die ausdrückliche Zustimmung
der zu testenden Person erfolgen.
7
  HIV1/2-AK/p24-AG-Kombitest
5
Resultat liegt nach 20 Minuten vor. In der Zwischenzeit können Fragen zu HIV und weiteren
sexuell übertragbaren Infektionen (STI8) beantwortet; Unsicherheiten angesprochen sowie
Safer Sex bzw. andere Strategien des Risikomanagement diskutiert werden. Im Nach-
gespräch wird das Testergebnis abgelesen und das Resultat interpretiert. Eine Testberatung
dauert 30-60 Minuten. Sie ist in der Regel in sich abgeschlossen, selbstverständlich können
auf Wunsch weitere Beratungsgespräche vereinbart oder zumindest dazu geraten werden.
Vielmehr als um die eigentliche Kenntnis des HIV-Status geht es letztlich darum, den
Klienten dabei zu begleiten und darin zu fördern, einen der Sache und für ihn angemessenen
Umgang mit dem Thema HIV/STI zu finden. Die Beratungen bewegen sich also in einem
Spannungsfeld, in dem mehrere Themen wie Gesundheit/Krankheit, Liebe/Sexualität,
(persönliche) Stärke/Schwäche etc. diskursiv ineinander greifen. Kurz: „Es mönschelet!“

1.2      Themenwahl
        Für die vorliegende Arbeit gilt es nun, ein einzelnes theoretisches Konzept der IT
auszuwählen, das für meine Beratungstätigkeit wie auch für die persönliche Auseinander-
setzung im Rahmen dieser Weiterbildung von Relevanz ist. Vor dem Hintergrund der eben
geschilderten Gegebenheiten und anderer struktureller Vorgaben kommen Themen oder
Konzepte gar nicht erst in Frage, die mehr (Beratungs-)Zeit oder mehrmalige Gespräche
bedingen würden. Die unterschiedlichen Herausforderungen und die Bandbreite der
erfahrenen Beratungen sprechen daher eher für die Wahl eines übergreifenden,
grundlegenden Konzepts. Gut geeignet wäre mit Bestimmtheit der Begriff der Ko-
respondenz, da meine Klienten und ich auf gegenseitiges aufeinander Eingehen angewiesen
sind, will ich mehr als bloss ein „Kondomprediger“ sein. Auch das Konzept der
hermeneutischen (sowie agogischen und therapeutischen) Spirale würde gut passen. Es
beschreibt Erkennen, Verstehen und Lernen als grundsätzliche, von Beratungsdauer und
-häufigkeit unabhängige Prozesse.
        Ich habe mich letztlich doch für das Menschenbild der IT entschlossen, die
anthropologische Grundformel: „Der Mensch ist ein Leibsubjekt in seiner Lebenswelt“
(Petzold). Einfachheit und Schlichtheit der Formel täuschen fast hinweg über die beinhaltete
Komplexität, gleichzeitig würdigen sie diese auf eine wunderbare Weise. Ich behaupte hier
und hoffe, im Weiteren darlegen zu können, dass ein solches Menschenbild im Hinterkopf –
besser: einverleibt – den ganzen Prozessablauf prägt. Es ist relevant für Kontaktaufnahme,
Diagnose, Zielsetzung und Intervention. Die Leibsubjekt-Lebenswelt-Konzeption
widerspiegelt sich zudem im Thema HIV/Aids: Eine Infektionskrankheit (Körper/Lebenswelt),
die Ängste auslöst (Seele) und – wegen ihrer Nähe zu Drogen, Homosexualität, Prostitution
und Promiskuität – mit Normen und Werten (Geist/Lebenswelt) in Verbindung gebracht wird
und Diskriminierung sowie Tabuisierung mit sich bringt (Leibsubjekt/Lebenswelt). Sexualität
mit all ihren Facetten ist ohnehin ein Paradebeispiel für den Menschen als Leibsubjekt in
seiner Lebenswelt.

8
  Die Anzahl von STI (Sexually Transmitted Infection [engl.]) nimmt stetig zu. Am meisten verbreitet sind Chlamydien-
Infektionen, gefolgt von Tripper und Syphilis (letztere zwei v.a. bei MSM). In Beratung und Prävention werden STI schon lange
(mit-)thematisiert. Auch das neue nationale HIV/STI Programm (NPHS 2011-2017) trägt der Tatsache steigender STI-Raten
nun Rechnung (BAG 2010b).
6
1.3       Aufbau
       Der Aufbau des Prozessberichts entspricht der Vorlage Praxis-Theorie-Diskussion.
Einzig die Bedingung einer schriftlichen Einverständniserklärung kann ich nicht erfüllen, weil
die AHBE ihrer Klientel explizit und ohne verschlüsselnde Zwischenschritte Anonymität
garantiert. In Absprache mit Dr. A. Rauber verzichte ich deshalb darauf, einen konkreten
Beratungsprozess mit einer realen Person vorzustellen. Ich werde anstelle dessen einerseits
auf einer allgemeinen Ebene die Herausforderungen meines Beratungsalltags schildern und
andererseits – frei nach Weber – Idealtypen bilden, anhand derer ich den Praxistransfer von
Theorie und Gelerntem dokumentieren kann. Ein Wort zur geschlechtssensiblen
Sprachführung: Die Testberatungen richten sich explizit an MSM. Ich habe abgesehen von
wenigen Ausnahmen mit Männern zu tun. Ich werde deshalb die männliche Form verwenden
und vom Klienten, dem zu Beratenden usf. sprechen.

2         Der Beratungsprozess
Der Ablauf einer HIV-Testberatung ist nicht normiert, dennoch gliedern strukturelle Vorgaben
und aus den Präventionszielen abgeleitete Absichten den Prozess. Im Folgenden sind die
Rahmenbedingungen kurz dargelegt. Anschliessend soll eine exemplarische Testberatung
durchquert werden. Der eigentliche Inhalt der Beratung wird anhand von drei Idealtypen
vorgestellt,  wobei    besonders      Augenmerk        dem    Beratungsfokus       und   der
Beratungsstossrichtung gilt.

2.1       Rahmen
       Das AHBE-Testangebot für MSM startete im April 2007. Im Sommer 2008 wurde es
erweitert mit einem Angebot, das sich speziell an Asylsuchende und Menschen ohne
geklärten Aufenthaltsstatus richtet. (Dieser Teil gehört nicht in meinen Zuständigkeits-
bereich.) Beide Angebote stellen sowohl regional als auch zielgruppenspezifisch eine
Ergänzung dar zur anonymen HIV-Teststelle des Inselspitals Bern, zu Allgemein- und
SpezialärztInnen sowie zu medizinischen Labors, welche ebenso HIV-Tests vornehmen. Die
AHBE führt jährlich durchschnittlich 150 Testberatungen durch, davon etwa zwei Drittel bei
MSM. Seit Beginn sind insgesamt acht reaktive Resultate zu verzeichnen. 9 In der Regel
finden die Testberatungen für MSM nach telefonischer Vereinbarung an einem bestimmten
Wochentag zwischen 17.30 und 21 Uhr statt. Sie sind kostenpflichtig (aktuell CHF 50.-).
       Der Testablauf entspricht einer Reihe von strukturellen Vorgaben. Es sind dies im
Einzelnen die Empfehlungen des BAG (2007) über die freiwillige HIV-Beratung und -Testung
(VCT10), das Laborkonzept des BAG (2006) sowie das AHBE-interne Handbuch für VCT.
Weitere handlungsleitende Vorgaben lassen sich aus dem präventiven Ziel der Testberatung
9
  Ein reaktives Resultat muss durch weitere Tests bestätigt werden (BAG 2006). Erst ein bestätigender Test erlaubt die ärztliche
Diagnosestellung HIV-positiv. Die AHBE wahrt die Anonymität des Klienten während des ganzen Prozesses und koordiniert
deshalb die enge Zusammenarbeit mit der Mikrobiologie und der Infektiologie des Inselspitals Bern.
10
   Voluntary Counseling and Testing [engl.]: Freiwillige HIV-Beratung und -Testung. Die Kombination von Beratung und Testung
soll zu einer Verminderung von HIV-Übertragungsrisiken führen durch die Verbesserung des Schutzverhaltens.
7
ableiten. Es lautet, neue HIV-Infektionen zu verhindern, indem durch ein besseres und
konsequenteres Schutzverhalten die Übertragungsrisiken vermindert werden. Die weitaus
folgenreichste Strukturierung erfolgt allerdings durch den Menschen, der sich – aus welchen
Gründen auch immer – entschlossen hat, die AHBE aufzusuchen und unsere Dienstleistung
in Anspruch zu nehmen. Was er mitbringt – oder eben nicht – an persönlichen Erfahrungen,
Fähig- und Fertigkeiten, prägt den Beratungsprozess wahrscheinlich am meisten.

2.2      Ablauf
        Meistens stelle ich mich mit meinem Vornamen vor und frage den Klienten, ob Duzen
in Ordnung sei, was bis jetzt ausnahmslos bejaht und sogar begrüsst wurde. Diese nicht
anbiedernd gemeinte Geste kann – wie auch die folgenden ersten Wortwechsel, das
Anbieten eines Getränks, die Bitte, noch einen Moment im Warteraum Platz zu nehmen oder
das Hereinführen ins Beratungszimmer – dazu beitragen, eine vertrauensvolle Atmosphäre
der Offenheit und des Wohlwollens aufzubauen. Bei Klienten, die älter als ich oder irgendwie
gesetzt(er) scheinen sowie bei Französisch sprechenden11, bevorzuge ich zu siezen. Es ist
von Beginn an und während des ganzen Prozesses meine Aufgabe, möglichst schnell,
präzis und umfassend herauszufinden, was diesen Menschen bewegt, was er braucht und
worauf er anspricht; ich muss im weitesten Sinn erkennen und verstehen, wer er ist.
        Der Einstieg in die eigentliche Beratung erfolgt entweder auf Initiative des Klienten,
wenn er gleich selber anspricht, warum er die Teststelle aufsucht oder wo der Schuh drückt.
Andernfalls beginne ich das Gespräch, indem ich explizit Anonymität und Vertraulichkeit
garantiere. Ich erkläre kurz den Ablauf der Testberatung und weise darauf hin, dass es
zusätzlich zum Testresultat darum geht, eventuelle Unsicherheiten mit dem Thema HIV/STI
anzusprechen, wozu ich ihn aufrichtig ermuntere. Manchmal falle ich auch mit der Tür ins
Haus und frage direkt, wie er seinen Umgang mit dem Thema HIV/Aids einschätzen würde.
An dieser Stelle können bereits etliche Fragen beantwortet, Wissenslücken gestopft und
Unsicherheiten geklärt werden. Oder sie werden zumindest notiert, um sie im späteren
Verlauf wieder aufgreifen zu können. Ich bitte den Klienten, seine Beweggründe für den
aktuellen Testwunsch zu schildern. Zudem blicken wir zwecks Risikoanamnese in seine
Vergangenheit zurück. Testmotivation und Risikoanamnese sind aus mehreren Gründen
wichtige Bausteine: Erstens erlauben sie eine vorsichtige Einschätzung des zu erwartenden
Testresultats (auch die Selbsteinschätzung des Klienten ist wichtig, egal ob zutreffend oder
nicht), zweitens sagen sie etwas aus über die Verlässlichkeit eines negativen Resultats 12,
drittens gewähren sie einen Blick darauf, wie der Klient mit HIV umgeht. Alles in Allem
versuche ich, mir ein möglichst umfangreicheres Bild von meinem Gegenüber zu machen.
Selbstverständlich muss das Gespräch über Sexualität und sexuelle Praktiken sehr
behutsam und mit Respekt gegenüber der Intimität des Klienten angegangen werden. Ich
räume ihm explizit das Recht ein, eine Antwort zu verweigern. Ich erlebe meine Klienten in
der Regel nach kurzer Anlaufzeit als offen und aufrichtig.

11
   Die Schwelle vom Sie zum Du liegt erfahrungsgemäss bei Romands auf anderer Höhe als bei Deutschschweizern. Wobei
auch unter Letzteren grosse regionale Unterschiede existieren.
12
   Als negatives Resultat/negativer Test wird die Tatsache bezeichnet, dass der Test nichts nachweist, was auf eine HIV-
Infektion hindeuten würde, d.h. der Klient ist HIV-negativ.
8
        Als Gesprächsleitfaden dient mir ein Fragebogen, welchen ich inzwischen nur noch
punktuell ausfülle. Es geht ja wie gesagt darum herauszufinden, wer da vor mir sitzt und was
er braucht (gewissermassen in zweierlei Hinsicht, weil seine und meine Sicht (noch) nicht
zwangsläufig ko-respondieren). Das BAG stellt übrigens ein internetbasiertes Beratungs- und
Datenerfassungsinstrument (BerDa) zur Verfügung. Mit BerDa füllt der Klient/die Klientin
einen elektronischen Fragebogen aus, worauf das Programm automatisch sein/ihr
Risikoprofil generiert. Dieses dient dann der beratenden Person als Grundlage für das zu
führende Gespräch und liefert Empfehlungen, die für das Verhalten der Testperson
angeblich relevant sind. So soll laut BAG eine qualitativ hochstehende VCT-Beratung
garantiert werden.13
        Je nach Klient gelangen wir schnell und direkt oder erst über (mehrere) Umwege zur
eigentlichen Testdurchführung. Es folgt also der technische Teil: Einwilligung, Blutentnahme,
Test ansetzen und – nach 20 Minuten – Test ablesen. Für die vorliegende Arbeit erachte ich
eine detaillierte Wiedergabe des diagnostischen Testverfahrens als nicht relevant und
verzichte deshalb darauf. Die in der Einleitung beschriebene Dreiteilung in Vorgespräch,
Test und Nachgespräch ist zwar grundsätzlich richtig, in meiner Praxis sind die Übergänge
jedoch fliessend, weil ich alles selber mache. (Es gibt auch Teststellen mit entsprechender
Aufgabenteilung.) Selbstverständlich läuft auch während diesen technischen Handhabungen
das Gespräch bzw. die Beratung weiter. Erkennen und Verstehen sind weder ein einseitiges
noch ein abgeschlossenes Unterfangen: Mein Klient beteiligt sich genauso an diesem
Prozess, wenn nicht sogar intensiver als ich. Meine Aufgabe besteht darin, ihn dabei zu
begleiten und die auftauchenden Aspekte abermals in den Prozess einzuspeisen
(hermeneutische Spirale). Zu gegebener Zeit kann dann das Testresultat abgelesen werden.
Wir nehmen es zur Kenntnis und besprechen, was dies nun in Bezug auf Vergangenes,
Gegenwärtiges sowie Zukünftiges für den Klienten bedeutet.
        Gewisse Hinweise gehören obligatorisch in jede Testberatung, so z. B. eine
Impfempfehlung für Hepatitis A/B sowie Informationen zur HIV-Postexpositionsprophylaxe
(PEP).14 Wenn alle Fragen geklärt worden sind resp. die vereinbarte Zeit vorüber ist und der
nächste Klient bereits wartet, nähern wir uns dem Abschluss der Beratung. Wir diskutieren,
ob allenfalls Bedarf besteht für ein weiteres Gespräch bei der AHBE (oder bei einer anderen,
spezialisierten Beratungsstelle). Wir verfügen selbstverständlich über eine Auswahl von
Broschüren und Kondomen, die dem Klienten mitgegeben werden können. Bezahlung und
Verabschiedung schliessen die Testberatung ab.

2.3      Inhalt/Idealtypen
       Nach den Rahmenbedingungen und dem Ablauf soll nun die Rede davon sein, über
was in der Testberatung gesprochen wird, mit welchen Anliegen die Klienten kommen, wie
sie konkret mit dem Thema HIV umgehen und welcher Beratungsbedarf sich daraus ergibt.
13
   http://www.bag.admin.ch/hiv_aids/05464/05484/05504/index.html?lang=de (Zugriff vom 30.1.2011). Die AHBE hat sich bis
dato gegen die Einführung von BerDa entschlossen und wurde postwendend vom BAG abgestraft. Mein zynischer Ton ist
Absicht.
14
   Das Hepatitis B-Virus wird auf gleichen Wegen übertragen wie HIV. Es kann zu (chronischen) Leberentzündungen führen. Die
PEP ist eine Notfallmassnahme: Binnen 72 Stunden nach einer potenziellen HIV-Übertragung muss eine vierwöchige ART
begonnen werden. Diese verhindert in vier von fünf Fällen, dass sich das Virus überhaupt im Körper einnisten kann.
9
Vorweg sei erwähnt, dass die Bandbreite meiner Klientel in Bezug auf Alter,
sozioökonomischen Status, kulturellen Hintergrund, Bildungsniveau, Lebensstil etc. sehr
gross ist. Auch hinsichtlich Informationsstand, Risikobewusstsein und Schutzmotivation
erlebe ich beachtliche Unterschiede. Die grösste Vielfalt liegt m. E. im individuellen Zugang
zum Thema und dessen Einordnung in das eigene Leben bzw. die eigene Lebenswelt.
        Ich habe alle Klienten des vergangenen Jahres hinsichtlich der zentralen
Fragestellung bzw. ihrer Problemlage analysiert. Selbstverständlich ist jede Testberatung so
einzigartig wie der Klient. Wenn man aber Ähnliches und Unterschiedliches je akzentuiert,
kann man Grundstrukturen erkennen und daraus Idealtypen kristallisieren. So ergaben sich
die folgenden drei, von konkreten Personen losgelöste, exemplarische und illustrative Test-
Beratungs-Typen. Im Folgenden umschreibe ich jeweils zuerst den Klienten-Typus und
anschliessend stichwortartig den Fokus bzw. die Stossrichtung der Beratung.

2.3.1 Souveräner Typus

        Gut die Hälfte meiner Klienten hat einen unaufgeregten, angemessen 15 Zugang zum
Thema HIV. Sie fühlen sich im Umgang damit sicher. Es löst in ihnen weder Panik aus, noch
banalisieren sie es. Sie bezeichnen sich als gut informiert und praktizieren in der Regel Safer
Sex. Der HIV-Test gehört für viele zur jährlichen Routine. Falls sie doch mal ein Risiko
eingegangen sind, lassen sie sich zu gegebener Zeit testen. Manchmal ist auch eine neue
Beziehung ein Anlass für einen Test. Ab und zu kommen auch Paare vorbei 16. Zum
souveränen Typus zähle ich auch Klienten, welche sich aktiv darum bemühen,
Wissenslücken zu schliessen, Unsicherheiten anzusprechen oder Verhaltensmuster zu
hinterfragen.
        Durch Wertschätzung erfährt der souveräne Typ für den eingeschlagenen Weg
Bestätigung. Er kann ermuntert werden, diesen weiterzuverfolgen. Stolpersteine können im
Voraus bedacht und Handlungsvarianten überlegt werden.

2.3.2 Angst-Typus

        Viele Klienten kommen mit – wenn nicht sogar aus – Angst. Manchmal hat sie real
etwas mit HIV zu tun. Handkehrum dienen HIV und Aids als Projektionsfläche für Ängste,
deren Ursprung woanders liegt, oder die nur entfernt oder indirekt etwas mit einer HIV-
Infektion bzw. einer reellen Risikosituation zu tun haben. Oftmals sind Wissensdefizite, was
riskant ist und was nicht, verantwortlich für Verunsicherung und Angst. Nicht selten gründen
sie eher anderswo und betreffen z.B. Sexualpraktiken, das “schwule Leben” oder die
sexuelle Orientierung. Manchmal hat die Angst schlichtweg nichts zu tun mit HIV oder
Sexualität. Im aktuellen Kontext einer Testberatung löst die Vorstellung, was wäre, falls man
sich (und vielleicht noch andere) tatsächlich infiziert hätte, verständlicherweise bei allen
Angst (oder zumindest ein mulmiges Gefühl) aus. Das Ausmass der Angst steht nebenbei
gesagt nicht zwingend – wenn nicht sogar in umgekehrtem Verhältnis – zum
15
  Angemessen meint weder Panik noch Banalisierung.
16
  Schwule Paare waren im Übrigen Zielpublikum der Präventions- und Testaktionskampagne BOX-STOP von Juni 2010 bis
Januar 2011, lanciert durch die AHS und getragen von den regionalen Playern, darunter auch die AHBE.
10
Übertragungsrisiko in der jeweiligen Situation. Eine Extremausprägung dieses Typus stellen
Menschen dar, die von (teilweise massiv) übersteigerten oder sogar krankhaften Ängsten
geplagt werden (Aids-Phobiker und phobische Hypochonder)17.
        Selbstverständlich muss der Klient mit seinen Ängsten ernst genommen werden. Es
ist wichtig, die Angst quantitativ und qualitativ einzuschätzen. Je nach dem genügt es, den
Klienten einfach durch den Testprozess zu begleiten und das negative Resultat wirken zu
lassen: “Ein negativer Test ist ein positiver Bescheid!” Ansonsten: Der Angst auf die Schliche
kommen, gemeinsam nach Ursachen suchen, Mechanismen erkennen und verstehen. Wege
zum Umgang mit resp. Abbau von Angst diskutieren. Wissens- und Erfahrungsvermittlung.
Unterstützende Begleitung (anbieten). Weiterführende Angebote empfehlen oder vermitteln.

2.3.3 Risiko-Typus

         Klienten dieses Typus setzen sich immer wieder – gewollt oder ungewollt – einem
Übertragungsrisiko aus. Sie praktizieren nicht konsequent oder gar keinen Safer Sex. Es
kann sein, dass ihnen das nötige Wissen fehlt, oder dass sie aufgrund von Halb- oder
Falschwissen ungeeignete Schutzstrategien anwenden. Es kommt auch vor, dass sie
grundsätzlich die Absicht zum Schutz und zur Vorsicht hegen, bei deren Umsetzung dann
aber scheitern. Alkohol und andere Drogen, Verliebtheit, Geilheit wie auch Angst vor
Zurückweisung oder Sexsucht sind bekannte Intentionskiller. Eher selten aber nicht
untypisch sind Klienten, deren Schutzmotivation nicht oder nur schwach vorhanden ist. Sie
sehen keinen Sinn (mehr), sich vor einer HIV-Übertragung zu schützen oder suchen sogar
mehr oder weniger bewusst den Kick des Risikos (sensation seeker), oder den Virus an sich
(bug chaser) als Zeichen z.B für eine “richtige”, grenzenlos gelebte Sexualität oder für ein
“echtes” Gefühl der Zugehörigkeit zur schwulen Community, wenn nicht sogar die Krankheit
als (in ihren Augen) verdiente Strafe oder Krönung eines missglückten Lebens18.
         Risiko-Typen müssen dahingehend beraten werden, dass sie Risikosituationen in
erster Linie überhaupt erkennen und zukünftig qualitativ und quantitativ beeinflussen können.
Damit soll potenzieller Schaden verhindert oder wenigstens vermindert werden. Dies
beinhaltet: Wissenslücken schliessen, Übungen zur Förderung der Kondomkompetenz und
der Kommunikation. Eigenes Verhalten erkennen und verstehen (helfen), Schutzmotivation
aufbauen, gemeinsam Handlungsalternativen (z.B. Risikoreduktionsstrategien19) suchen und
zur Umsetzung (auch in kleinen Schritten) ermuntern. Minimalstandards vereinbaren (z. B.
häufigeres Testen). Klartext sprechen in Bezug auf Eigen- und Fremdverantwortung sowie
auf die Strafbarkeit einer HIV-Übertragung.20 Möglichst erreichen, dass der Klient wieder in
die (Test-)Beratung kommt! Weiterführende Angebote empfehlen oder vermitteln.

17
   Erstere haben Angst, sich mit HIV zu infizieren und Letztere sind sich gewiss, bereits HIV-infiziert zu sein.
18
   Sensation seeker [engl.]: Ein Mensch, der starke Gefühlsstimulationen sucht. Bug chaser [engl.]: Käfer-Jäger.
19
   Gewisse Praktiken verringern das Übertragungsrisiko. Sie sind aber weniger sicher als Safer Sex: Z.B. „Rausziehen bevor's
kommt“ oder „aktiv statt passiv“.
20
   Es geht hier nicht darum, mit strafrechtlichen Folgen zu drohen, sondern über derartige Konsequenzen zu informieren. Für die
Strafbarkeit einer HIV-Übertragung kommen in der Schweiz meisten zwei Artikel des Strafgesetzbuches zur Anwendung: Art.
231 StGB „Verbreitung einer gefährlichen menschlichen Krankheit“ und Art.122 StGB „Schwere Körperverletzung“, dazu
ausführlich Pärli (2009).
11
3        Theoretische Bezüge
                      „Der Mensch ist Leibsubjekt in seiner Lebenswelt.“ (Petzold)

        Petzold integriert verschiedene theoretische Grundlagen und stellt sie im „Tree of
science“21(1993, S.457ff) dar. Krone, Stamm und Wurzeln entsprechen Theorien grosser,
mittlerer und kurzer Reichweite. Das Konzept des Leibsubjekts in seiner Lebenswelt kommt
– wie im Folgenden erläutert – in allen Baumregionen vor. Als Bestandteil von Theorien
sämtlicher Reichweiten impliziert es sowohl grundlegende Annahmen für die Theorie ebenso
wie weitreichende Konsequenzen für die Praxis: Es ist Menschenbild, Grundlage für
Persönlichkeit, Voraussetzung für Erkenntnis und somit zentral für (diagnostische und
therapeutische) Verstehens-, Lern- und Veränderungsprozesse.

3.1      Begriffliches
        Der Begriff Leibsubjekt trägt der Tatsache Rechnung, dass der Mensch in einer
ganzheitlichen Sicht als ein „Körper-Seele-Geist-Wesen“ (ebd., S. 495) zu betrachten und
verstehen ist. Die Dreieinigkeit kann nur theoretisch und begrifflich in ihre Teilkomponenten
unterteilt werden. Dabei meint Körper „die Gesamtheit aller aktualen, physiologischen [...]
Prozesse des Organismus nebst der im genetischen und physiologischen
(immunologischen) Körpergedächtnis festgehaltenen Lernprozesse und Erfahrungen“ (ders.
1996, S. 283). Seele wird definiert als „die in körperlichen Prozessen gründende Gesamtheit
aller aktualen Gefühle, Willensakte und schöpferischen Impulse, nebst den durch sie
bewirkten und im 'Leibgedächtnis' [...] archivierten Lernprozesse und Erfahrungen und auf
dieser Grundlage möglichen emotionalen Antizipationen (Hoffnungen, Wünsche,
Befürchtungen)“22(ebd.). Der Geist umfasst „die Gesamtheit aller aktualen kognitiven bzw.
mentalen Prozesse u n d der durch sie hervorgebrachten (individuellen und kollektiven)
Inhalte nebst der im zerebralen Gedächtnis archivierten Lernprozesse, Erfahrungen und
Wissensbestände sowie der auf dieser Grundlage möglichen, antizipatorischen Leistungen
und Perspektiven (Ziele, Pläne Entwürfe)“ (ebd., Hervorhebung i. O.). Es lassen sich grob
drei leibliche Funktionsbereiche unterscheiden, nämlich Wahrnehmung (Perzeption),
Gedächtnis/Denken (Memoration/Reflexion) und Ausdruck/Handlung (Expression). Rahm et
al. (1999, S. 105ff) fügen zusätzlich den Bereich der autonomen Leibfunktionen hinzu. Eine
solche Leibkonzeption überwindet den Dualismus von Körper und Geist, von Objekt und
Subjekt: Nicht Körper haben, sondern Leib sein (Petzold 1986, S. 357)!
        Der Leib steht immer in Bezug zu seiner Mit- und Umwelt. Er existiert sozusagen in,
mit und durch seine Lebenswelt. Das Leibsubjekt befindet sich also „in einem unlösbaren
Verbund mit dem sozialen und ökologischen Umfeld“ (ebd., S. 361), welches es deshalb
immer mit in Betracht zu ziehen gilt. Erfahrungsgemäss sind weder der lebensweltliche
Rahmen noch das Leibsubjekt statisch, beide verändern sich im Laufe der Zeit. „Zeit ist

21
   Der „Tree of science“ ([engl.]: Baum der Wissenschaft) ist ein formales Gerüst, eine Bestandsaufnahme, ein Metamodell für
die Wissensstruktur der IT.
22
   Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch, gewissen Theoriekonzeptionen oder ganzen Disziplinen ist die Seele im
integrativen Ansatz weder etwas Unsterbliches, Metaphysisches noch Transzendentales.
12
immer mit Leiblichkeit verbunden. Mein Leib ist meine Zeit“ (ders. 1993, S. 333). Zusammen-
genommen ergeben die beiden Perspektiven – Zeit und Lebenswelt – das, was Petzold mit
den Begriffen Kontext und Kontinuum bezeichnet. Einen Menschen zu verstehen, heisst
immer, ihn in einer zeitlichen-räumlichen Konstellation zu begreifen (und zwar in persönlich-
biografischer wie auch in gesellschaftlich-historischer Hinsicht). „Im Leib koinzidieren Subjekt
und Objekt, Individuum und Kollektiv, biologischer Lebenskörper und Lebenswelt.“ (ders.
1996, S. 311).

3.2    Erkenntnistheoretische Konsequenzen
        Erkenntnis basiert gemäss IT auf drei Voraussetzungen: Das Leibapriori besagt,
dass der erkenntisfähige Leib die Grundlage für Erkenntnis ist, der Mensch erkennt also die
Wirklichkeit anhand seiner Sinne. Es geht einher mit dem Bewusstseinsapriori, welches
Erkenntnis grundsätzlich an das menschliche Bewusstsein knüpft. Die dritte Voraussetzung
ist das soziale Apriori, weil Erkenntnis an sozial geteilte Wissensvorräte, Werte und
Normen gebunden ist. Leibapriori, Bewusstseinsapriori und das soziale Apriori sind
miteinander verschränkt, „da der Leib prinzipiell bewusstseinsfähig und 'ab ovo ein sozialer
ist'“ (ebd., S. 178f, Hervorhebung i. O.). Erkenntnis basiert einerseits auf einer intra-
subjektiven Vergewisserung, indem das Subjekt hinter den leiblich wahrgenommenen
Phänomenen einen Sinn sieht und ihn in seinen Erfahrungshorizont einzuordnen sucht („von
den P h ä n o m e n e n zu den S t r u k t u r e n zu den E n t w ü r f e n “, ders. 1993, S.
488, Hervorhebung i. O.). Andrerseits entsteht sie durch eine intersubjektive
Vergewisserung, bei der Subjekt und Mitsubjekt gemeinsam die geteilte Wirklichkeit
auslegen, indem sie „von der Ko-respondenz zum Konsens, zu Konzepten, zu einer
Kooperation“ (ebd.) schreiten. Ko-respondenz meint dabei in Beziehung sein, in Beziehung
treten oder in Beziehung setzen. Beide Wege münden in der hermeneutischen Spirale, die
Erkenntnis als einen Prozess beschreibt, bei dem das (lebensweltlich ko-respondierende)
Leibsubjekt wiederholt den Zyklus Wahrnehmen – Erfassen – Verstehen – Erklären
durchläuft. Die Hermeneutik geht dabei über die einfache Deutung des verbalen Diskurses
hinaus, sie umfasst ebenso Leibliches, Aktionales, Szenisches, Atmosphärisches und
Ikonisches (ebd., S. 91ff). Die hermeneutische (und – in Anlehnung – agogische und
therapeutische) Spirale liegt somit Verstehens-, Lern- und Veränderungsprozessen zu
Grunde. Dabei gilt vor allem für den Spezialfall von intersubjektiver Ko-respondenz, dass in
„Begegnung und Auseinandersetzung über eine relevante Fragestellung einer gegebenen
Lebens- und Sozialwelt [...] im gesellschaftlichen Zusammenhang Integrität gesichert, im
agogischen Kontext Integrität gefördert und im therapeutischen Setting Integrität restituiert
wird“ (ebd., S. 21, Hervorhebung i. O.).

3.3    Persönlichkeitstheoretische Konsequenzen
       Durch die Wahrnehmungs-, Speicher- und Ausdrucksfähigkeiten des Leibes
einwickelt sich das Ich: „Mit der wachsenden Funktionsreife der sensorischen, perzeptuellen
und motorischen Möglichkeiten des Leib-Selbst, insbesondere mit den corticalen Bahnungen
13
und Differenzierungen und den damit einhergehenden komplexen Lernprozessen (auf der
motorischen wie auf der emotionalen, sozialen und kognitiven Ebene [...]) bildet sich das Ich
als das synergetische Zusammenwirken aller Ich-Funktionen “ (Petzold 1986, S. 361). Alle
höheren Ich-Funktionen wie bewusstes Wahrnehmen, Handeln, Fühlen und Denken
erlauben dem Ich, sich ein Bild über das Selbst zu machen. Aus Selbstattribution und
Fremdattribution (Identifizierung und Identifikation) geht letztlich Identität hervor: „Die
Identität entsteht also als Leistung des Ich im Zusammenwirken von Leib (L) und Kontext
(Kn) im Zeitkontinuum (Kt): I = Kt (L, Kn)“ (ebd. S. 362). Identität ist ohne ein
lebensweltbezogenes Leibsubjekt nicht denkbar, sie ist vielmehr Produkt seines Bezuges zur
Lebenswelt im Zeitverlauf. Die IT nennt in diesem Zusammenhang fünf relevante Bereiche –
die fünf Säulen der Identität – , in denen Menschen im Zusammenspiel von Selbst- und
Fremdattributionen Identität entwickeln: Leiblichkeit, soziales Netzwerk, Arbeit und Leistung,
materielle Sicherheit und Werte (Rahm et al. 1996, S. 155f). Leiblichkeit und Lebenswelt sind
also Voraussetzung für und zugleich Teil der Identität.

3.4      Gesundheits- und Krankheitsverständnis
       Gesundheit ist nicht einfach die Absenz von Krankheit – und Krankheit ist umgekehrt
nicht das Wegbleiben von Gesundheit. Beide stellen für sich keine festen, objektiven Werte
dar, sondern befinden sich gemäss IT auf einem Entwicklungskontinuum, dessen zwei
Richtungen je durch Salutogenese und Pathogenese gegeben sind. Auf diesem Kontinuum
werden zwei Ebenen unterschieden: Auf der anthropologischen ergibt dies das Konzept von
konnektivierter Zugehörigkeit resp. multipler Entfremdung und auf der klinischen das
Konzept von pathogener resp. salutogener Stimulierung (Petzold/Steffan 2001, S. 75/203ff).
Gesundes wie krankes Verhalten resultieren also aus dem Zusammenwirken aller positiven,
negativen und defizitären Erfahrungen des Leibsubjekts in seiner Lebenswelt. Die folgenden
zwei – ausnahmsweise sehr ausführlichen – Zitate definieren nicht nur Gesundheit resp.
Krankheit, sie zeigen auch, was für die Diagnostik alles in Betracht gezogen werden muss,
und welche Ziele eine Therapie zu verfolgen hat: Gesundheit wird als eine
  “genuine Qualität der Lebensprozesse im Entwicklungsgeschehen des Leib-Subjekts und seiner Lebenswelt gesehen. Der gesunde

  Mensch nimmt sich selbst [...] in leiblicher Verbundenheit mit seinem Lebenszusammenhang (Kontext und Kontinuum) wahr. Im

  Wechselspiel von protektiven und Risikofaktoren […] entsprechend seiner Vitalität / Vulnerabilität, Bewältigungspotentiale, Kompetenzen

  und Ressourcenlage ist er imstande, kritische Lebensereignisse bzw. Probleme zu handhaben, sich zu regulieren und zu erhalten. Auf

  dieser Grundlage kann er seine körperlichen, seelischen, geistigen ,sozialen und ökologischen Potentiale ko-kreativ und konstruktiv

  entfalten und so ein Gefühl von Kohärenz, Sinnhaftigkeit, Integrität und Wohlbefinden entwickeln” (ebd., S. 80/208, Hervorhebung i. O.).

Und Krankheit wird verstanden als
  “eine mögliche Qualität der Lebensprozesse des Leibsubjekts und seiner Lebenswelt. Sie kann im Verlauf des Lebens durch exogene

  Ketten schädigender Ereignisse, die das Bewältigungspotenzial und die Ressourcenlage des Individuums überlasten, verursacht werden

  oder / und durch endogene Dysregulationen und natürliche Abbauerscheinungen. Die Folge ist, dass die gesunden Funktionen des

  Organismus, die Fähigkeit der Person zur alloplastischen Gestaltung und kokreativen Entfaltung des Lebens in Kontext / Kontinuum

  mehr und / oder weniger beeinträchtigt, gestört, ausser Kraft gesetzt werden oder irreversibel verloren gehen können und dysfunktionale

  autoplastische Reaktionen auftreten” (ebd., S. 81/209).
14
         Die Auffassung von Gesundheit resp. Krankheit korreliert zwangsläufig mit der
Diagnostik: Eine Diagnose fokussiert im integrativen Ansatz sowohl auf Probleme, Konflikte
und pathogene Stimulierungskonstellationen, sie beinhaltet aber ebenso eine
Bestandsaufnahme von Ressourcen und Potentialen (PRP23). Sie resultiert aus einer
mehrdimensionalen und multiperspektivischen Zusammenschau. Dabei sind Symptom-
(Krankheitsgeschehen), Struktur- (lebensgeschichtliche Muster, Handlungs- und
Lebensgestaltung) und Systemebene (Einflüsse des ökonomischen Raumes) die
Dimensionen, welche je aus leiblicher, sozialer/interaktionaler, kognitiver, emotionaler,
volitiver, ökologischer und zeitlicher Perspektive bewertet werden müssen (ebd., 83/221ff).
Die IT verschränkt also eine PRP-Analyse des Leibsubjekts in Kontext und Kontinuum auf
Symptom-, Struktur- und Systemebene und die jeweiligen Bewertungen zu einer integrierten
Prozessdiagnostik.
         Aus einem solchen Gesundheits- und Krankheitsverständnis lassen sich auch
Therapieziele ableiten, wobei es vereinfacht ausgedrückt ganz grundsätzlich darum geht,
dass der Klient, Patient oder Beratene sich in die salutogenetische Richtung bewegen resp.
von der pathogenetischen abwenden kann. Das Zielspektrum beschränkt sich also nicht nur
auf wiederherstellende und stabilisierende Massnahmen, es sieht auch fördernde,
unterstützende sowie vorbeugende Interventionen vor (ebd., S. 86/214f). Petzold nennt als
globale Ziele u. a.: „Aneignung der eigenen Leiblichkeit, die Einheit von Leib und Person,
Fähigkeit zur Zwischenleiblichkeit, Förderung einer prägnanten Identität, eines
funktionstüchtigen Ich und damit eines integrierten Selbst“ (Petzold 1986, S. 369,
Hervorhebung i. O.).

3.5         Zusammenfassung
       Der Leib umfasst die Gesamtheit aller körperlichen, seelischen und geistigen
Vorgänge (Leibsubjekt). Er ist gleichzeitig Voraussetzung, Grundlage, Instrument, Ort und
Produkt der Wechselwirkungen mit seiner Lebenswelt im Zeitverlauf (Kontext/Kontinuum).
Der Mensch ist als Leibsubjekt im obigen Sinn in Beziehung (Ko-respondenz) mit dieser
Lebenswelt, er erkennt dadurch Wirklichkeit und entwickelt auch seine Persönlichkeit
(Selbst, Ich, Identität). Erkenntnis ist das Resultat von leibbasierten und lebenswelt-
bezogenen, zyklischen Deutungs- und Verstehensprozessen (hermeneutische Spirale),
welche auch agogisch und therapeutisch genutzt werden können. Gesundheit und Krankheit
sind das Resultat aller positiven und negativen sowie fehlenden Erfahrungen des
Leibsubjekts in seiner Lebenswelt. Sie lassen sich vorstellen als Positionen auf einer
Geraden, deren beide Richtungen je durch Salutogenese und Pathogenese gegeben sind.
Zur Verortung eines Klienten/Patienten auf dieser Geraden werden Probleme, Ressourcen
und Potentiale (PRP) mehrdimensional und multiperspektivisch analysiert und bewertet
(Prozessdiagnostik). Die Therapie beabsichtigt, tendenziell die salutogenetischen Faktoren
zu fördern und die pathogenetischen zu schwächen; im Idealfall verstärken sich beide
Wirkungen gegenseitig.

23
     Probleme, Ressourcen, Potentiale
15
4           Diskussion
        In diesem Kapitel setze ich die eben erörterten theoretischen Grundlagen in Bezug zu
dem vorgängig geschilderten prototypischen Beratungsablauf und den aus meinen
Erfahrungen destillierten drei thematisch-inhaltlichen Idealtypen. Wo und wie finden sich
Theorie und Praxis? Welcher Rahmen und welche Möglichkeiten werden durch das Konzept
gegeben? Wie wird dadurch der Beratungsprozess beeinflusst? Trotz prototypischen Ablaufs
in idealtypischen Varianten handelt es sich immer um eine individuumszentrierte Beratung.

4.1         Grundsätzlicher Bezug
        Dem umfangreichen Leibsubjekt-Lebenswelt-Konzept folgend gewähren uns die
Leibfunktionen Perzeption, Reflexion und Expression die Möglichkeit, miteinander in
Beziehung zu treten und uns aufeinander zu beziehen (Ko-respondenz, ko-respondieren).
Das Menschenbild der IT gilt natürlich nicht nur für den Klienten, es trifft gleichermassen
auch auf mich zu. In der Beratung kommen also zwei Leibsubjekte mit je einem eigenen
Bezug zur Lebenswelt und zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Für ein
fruchtbares Gelingen dieser leiblichen-lebensweltlichen Kreuzung erachte ich Neugier,
Empathie und Respekt – insbesondere Respekt vor der Andersheit des Anderen24 – als
unabdingbare Grundvoraussetzungen. Die Tatsache, dass Klient und Berater beide Körper-
Seele-Geist-Wesen sind, sollte bewusst vor Augen gehalten werden. Dies hilft erstens, das
Gegenüber facettenreicher wahrzunehmen, zweitens, die gewonnenen Informationen mit
kognitiven und emotionalen Querverbindungen anzureichern, und drittens, das Beratungs-
gespräch und den Klienten in Bezug auf die drei Perspektiven auszuloten, d. h. je nach
Bedarf mehr oder weniger analytisch zu trennen resp. integrativ zusammenzuführen.
        Schon beim ersten Blickkontakt, der Begrüssung und dem Händedruck können
Signale wahrgenommen werden, z. B. müdes/angestrengtes/entspanntes Aussehen,
(un)sichere Stimme, feuchte Hände, verbrauchter Atem. Die eröffnenden – an sich banalen –
Wortwechsel (Garderobe, Getränk anbieten, Duzen/Siezen, Platznehmen) dienen der
Herstellung des bereits beschriebenen angenehmen Klimas und sie liefern gleichzeitig viele
Informationen zum Klienten. „Wir können in einer Begrüssungsgeste oder aus Wortwahl und
Satzbau in den ersten Sätzen die wesentlichen Eigenschaften eines Menschen schon im
Kern erkennen, auch wenn wir das meist nicht bewusst tun“ (Petzold, zit. in Rahm et al.
1999, S. 110). Diese Einschätzungen bedürfen selbstverständlich einer intersubjektiv ko-
respondierenden Überprüfung: Man hüte sich vor selbsterfüllenden Prophezeiungen. „Nicht
die Akzeptanz der Deutung oder Interpretation des Therapeuten steht im Zentrum, sondern
der diskursive Prozess der Aneignung oder Abweisung der Interpretation und die in ihm
entstehenden Sinngefüge und Bedeutungsgehalte.“(Petzold 1996, S. 339). Dies gilt für den
ersten Eindruck und noch viel mehr für die eigentliche Beratungsarbeit.
        Im weiteren Verlauf erkunde ich die Lebenswelt des Klienten. Ich frage nach
Beweggründen für den aktuellen Test und führe eine Risikoanamnese durch. So erfahre ich,
welche Einstellung der Klient zu HIV hat, und wie er mit dem Thema umgeht. HIV steht zwar

24
     Alteritätsprinzip nach Levina (CAS-Unterlagen ohne Quellenangabe).
16
im Fokus, trotzdem geht es immer um den ganzen Menschen in seiner körperlichen,
seelischen und geistigen Verfassung, seine Persönlichkeit und sein Umfeld: „Nur wenn ich
ein Ganzes in seinem Gesamt, seiner Struktur und seinem Kontext und Kontinuum sehe und
begreife, habe ich die Möglichkeit, eine Relation, einen Austausch aufzubauen, mich sinnvoll
in eine therapeutische oder wie auch immer geprägte Beziehung einzulassen“ (Petzold 1996,
S. 66, Hervorhebung i. O.).
        Wenn man die Ziele der Testberatung – Schutzverhalten fördern, Übertragungs-
risiken vermindern, Infektionen verhindern – unter dem Aspekt des integrativen Ansatzes
betrachtet, hiesse das in etwa: In einem intersubjektiven Ko-respondenzprozess sich
auseinandersetzen mit sich selber und seinem Handeln, Fühlen und Denken in
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Stärken und Schwächen der eigenen Persönlichkeit
sowie Ressourcen und Risiken in der Lebenswelt erkennen und verstehen. Fähigkeiten und
Fertigkeiten aufbauen und verstärken. Der Berater hat folglich die Aufgabe, den Klienten und
seine Probleme, Ressourcen und Potentiale in einer saluto-pathogenetisch-anthropologisch-
klinischen Matrix zu verorten und dergestalt zu beeinflussen, dass sich das Kräfteverhältnis
tendenziell zu Gunsten des Positiven entwickeln und verstärken kann.

4.2    Bezug beim souveränen Typus
        Etwas mehr als die Hälfte meiner Klienten pflegt einen unaufgeregten und
angemessenen Umgang mit dem Thema HIV. Sie bezeichnen sich als gut informiert und
praktizieren in der Regel Safer Sex. Ihre Persönlichkeit scheint sauber strukturiert, sie leben
offen schwul und ihr (Sexual-)Leben entspricht im Grossen und Ganzen ihren Vorstellungen.
Sie haben meistens ein grosses Vermögen zur Exzentrizität und (er-)kennen dadurch besser
ihre Stärken und Schwächen. Sie kommen grundsätzlich klar mit den Herausforderungen,
vor die sie das Leben stellt. Sie können allfällige Unsicherheiten oder Schwachstellen
benennen und überwinden. Sie fühlen sich – in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht
– frisch und im besten Fall leistungsfähig (health, freshness, fitness und wellness, Petzold
2010).
        MSM vom souveränen Typus sind aus Präventionssicht ein Aufsteller, weil sie das
bisweilen laute Klagen über nachlassendes Schutzverhalten etwas relativieren. Aus
Beratungssicht geht es darum, sie in ihrer Souveränität zu bestärken (z. B. Selbst- , Ich- und
Identitätsentwicklung, Petzold/Steffan, 2001, S. 88/216). Dass Souveränität nicht einfach als
für immer gegeben betrachtet werden kann, merkt man besonders dort, wo sie fehlt oder zu
verschwinden droht. Wenn jemand zwar wünscht, alles im Griff zu haben, aber Souveränität
bloss vorgibt, kann man beispielsweise Hand bieten und helfen, die Täuschung zu erkennen
und zu verstehen, und damit einen Veränderungsprozess in Gang bringen. Anderen ist in
ihrem Leben vermeintlich alles gelungen. Eine einmalige Risikosituation führt ihnen dann
plötzlich vor Augen, wie wenig es braucht, dass man die Kontrolle verliert. Eine schmerzvolle
Einsicht, aber garantiert keine falsche (komplexes Bewusstsein, Selbst- und
Weltverständnis, ebd., S. 87/215). Mit HIV hat das wenig zu tun...
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