DIGITAL ORGANIZING POTENZIALE NEUER TECHNOLOGIEN FÜR GEWERKSCHAFTLICHE ORGANISATIONSMACHT - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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FLORIAN BUTOLLO UND JOBST GAUS

   DIGITAL
 ORGANIZING
POTENZIALE NEUER TECHNOLOGIEN
   FÜR GEWERKSCHAFTLICHE
    ORGANISATIONSMACHT
INHALT

Einleitung                                                3

Was ist «Digital Organizing»?                             7

«Digital Organizing» in der Praxis                        13
IG-Metall-Kampagne bei Enercon                            13
BASSA versus British Airways (2009–2011)                  15
OUR Walmart (2010–2015)                                   18
Ver.di-Kampagne bei Ryanair (2017–2019)                   20
Globale (Selbst-)Organisierung von Uber-Fahrer*innen      23
Arbeitskampf der Hochschullehrer*innen in Großbritannien
(2018 bis heute)                                          29

Dimensionen des Organizing: Wie können digitale 
Werkzeuge eingesetzt werden?                              33
Mitstreiter*innen gewinnen                                33
Wie arbeiten mit WhatsApp- oder Telegram-Gruppen?         38
Kampagnen partizipativ gestalten                          39
Strategische Bündnisse eingehen                           42
Den Kampf um die öffentliche Meinung führen               42

Digitale Hilfsmittel als Ergänzung und Erweiterung 
des gewerkschaftlichen Organizing                         47

Fazit                                                     55

Literatur                                                 59

Abkürzungsverzeichnis                                     67

Liste der geführten Interviews                            69

Autoren                                                   71
EINLEITUNG

Im Zentrum des gewerkschaftlichen Or-         zum Einsatz, der sich 2016 und 2020 bei
ganizing steht die Kommunikation. Kol-        den Vorwahlen der Demokraten als Präsi-
leg*innen müssen angesprochen und             dentschaftskandidat bewarb. Sie trugen
überzeugt werden, Aktionen müssen ge-         dazu bei, dass er als Außenseiter beacht-
meinsam geplant werden. Der Kampf um          liche Ergebnisse erzielen konnte und damit
Hegemonie in Betrieb und Gesellschaft         die Kandidat*innen des Establishments
erfordert zudem die Herstellung von Ge-       der Demokratischen Partei in Bedrängnis
genöffentlichkeit. Es ist daher kein Wun-     brachte (vgl. Corasaniti 2016; Mixpanel
der, dass die rasante Entwicklung digitaler   2016; Scola 2016).
Kommunikations- und Arbeitsmedien das
Terrain für gewerkschaftliches Organizing     Auch die Gewerkschaften versuchen, sich
verändert. Die Frage, wie sie effektiv ein-   digitale Werkzeuge für die Organisierung
gesetzt werden können, was dabei beach-       und Mobilisierung von Belegschaften zu
tet werden muss und welche Ressourcen         erschließen, um damit Arbeitskämpfe so-
gebraucht werden, ist Gegenstand dieser       wie die Mitgliederbeteiligung sinnvoll zu
Publikation.                                  unterstützen. Schon seit Jahren nutzen
                                              gewerkschaftliche Aktivist*innen zuneh-
Beispiele dafür, dass digitale Medien ei-     mend Webseiten, Blogs, Social Media und
ne wichtige Rolle für soziale Bewegungen      Messenger in Kampagnen. Damit können
spielen können, gibt es inzwischen viele.     neue Aktionsformen einfacher umgesetzt
So wurden etwa die Protestbewegungen          werden, wie zum Beispiel «Rein-Raus-
während des Arabischen Frühlings 2011         Streiks». Dabei handelt es sich um flexible
mitunter als «Social-Media-Revolutionen»      Streikformen, bei denen die Arbeitsnieder-
bezeichnet (vgl. Gustin 2011; Kassim 2012),   legungen durch kurzfristige Absprachen
oft verbunden mit der Behauptung, dass        so koordiniert werden, dass Unternehmen
digitale Technologien wie soziale Medien      schlecht darauf reagieren können (Schmal­
große Demokratisierungspotenziale für         stieg 2013). Mit Corona hat sich der Ein-
politische Protestbewegungen bergen und       satz digitaler Hilfsmittel notgedrungen
zu einer effektiveren Organisierung beitra-   inten­siviert, denn aufgrund der Kontakt-
gen würden (vgl. Kneuer/Demmelhuber           beschränkungen waren öffentliche Ver-
2012; Mason 2012). Systematisch kamen         sammlungen und die Ansprache der Be-
digitale Hilfsmittel wie Videokonferenzen,    schäftigten im Betrieb nicht mehr ohne
YouTube-Clips und Campaigner-Apps et-         Weiteres möglich. Ver.di setzte beispiels-
wa in den Kampagnen von Bernie Sanders        weise in der Tarifrunde 2020 konsequent

                                                                                       3
auf digitale Hilfsmittel wie regionale Vi-
                                deokonferenzen (unter großer Beteiligung
                                der Mitglieder) sowie auf digitale Medien
                                (Blogs, Kampagnenvideos, Chatgruppen,
                                klassische Webseiten), um untereinander
                                und mit der Öffentlichkeit zu kommunizie-
                                ren. Mit Erfolg: Laut der stellvertretenden
                                Vorsitzenden Christine Behle erhöhte dies
                                die allgemeine Beteiligung der Beschäftig-
                                ten an den die Tarifrunde begleitenden Ak-
                                tivitäten. In dieser Zeit nahm auch die Zahl
                                der Gewerkschaftsbeitritte über das Inter-
                                net deutlich zu.
        DIGITALE HILFSMITTEL
    KÖNNEN GEWERKSCHAFTLICHE    Unsere zentrale These, die sich auf die Un-
       AKTIVITÄTEN AUCH DORT    tersuchung von Fallbeispielen des «Digital
    STÄRKEN, WO BELEGSCHAFTEN   Organizing» und Gespräche mit gewerk-
      RÄUMLICH FRAGMENTIERT     schaftlichen Aktivist*innen stützt,1 lautet:
      SIND UND/ODER SICH VOR    Digitale Technologien können nicht nur
         ALLEM AUS PREKÄR       dabei helfen, die üblichen Ansätze des Or-
           BESCHÄFTIGTEN        ganizing besser zu machen, sondern brin-
         ZUSAMMENSETZEN,        gen ganz neue Möglichkeiten mit sich.
          ETWA IM BEREICH       Denn digitale Hilfsmittel können gewerk-
       DER PLATTFORMARBEIT,     schaftliche Aktivitäten auch dort stärken,
        DER WINDINDUSTRIE,      wo Belegschaften räumlich fragmentiert
        DER LUFTFAHRT ODER      sind und/oder sich vor allem aus prekär
          IN DER LOGISTIK.      Beschäftigten zusammensetzen, etwa im
                                Bereich der Plattformarbeit, der Windin-
                                dustrie, der Luftfahrt oder in der Logistik.
                                Global agierende Unternehmen können
                                durch digital unterstützte, transnational
                                geführte Arbeitskämpfe eher unter Druck
                                gesetzt werden als mit herkömmlichen
                                Mitteln. Die dichtere Kommunikation, die
                                durch digitale Medien möglich wird, bietet
                                zudem Potenziale für viel direktere Formen
                                der Interaktion – innerhalb des Betriebs, in

                                1 Eine Liste der durchgeführten Interviews befindet sich im An-
                                hang.

4
der Region oder betriebsübergreifend ent-
lang der Wertschöpfungskette, aber auch
«intern» zwischen Gewerkschaftsführung,
Organizer*innen, Vertrauensleuten und al-
len in Arbeitskämpfen und Kampagnen Ak-
tiven und noch nicht Aktiven.

Die Voraussetzung dafür ist, dass digitale
Hilfsmittel richtig angewendet werden. Es
braucht Ressourcen für deren Bereitstel-
lung und für deren Nutzung. Aktivist*in-
nen müssen lernen, diese zielgerichtet ein-
zusetzen und den Nutzen digitaler Medien
richtig einzuschätzen. Sie sind kein Zauber-
mittel, durch dessen Einsatz sich der sys-
tematische Aufbau betrieblicher Organi-
sationsmacht wie von selbst erledigt. Sie
können aber genau diese Aufgabe unter-
stützen und Teil einer inklusiven Organi-
zing-Strategie sein, die die Eigeninitiative
der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt.
Susanne Kim, die bis vor Kurzem den Be-
reich «Strategische Erschließung» bei der
IG Metall leitete, beschreibt es folgender-
maßen:

«Das Digitale, das sind ja nur Instrumen-
te, die das [Organizing; d. V.] unterstützen.
An keinem Punkt hätten wir die Gewerk-
schaft im Betrieb etablieren können, wenn
wir nur diese Blog-Geschichten und On-
line-Sachen gemacht hätten. Die persönli-
che Ansprache ist der Schlüssel. Es hat nur
eine Wirkung, wenn du on the ground im
Betrieb bist und mit den digitalen Tools die
Kommunikation mit der Belegschaft ver-
stärkst.»

                                                5
WAS IST «DIGITAL ORGANIZING»?

«Digital Organizing» bezeichnet Ansätze,        den letzten Jahren die Diskussionen um
die digitale Medien für die Stärkung sozi-      eine Revitalisierung der Gewerkschaften
aler Bewegungen, politischer Parteien und       geprägt hat und sich mittlerweile in einer
betrieblicher Aktivitäten einsetzen. Dabei      veränderten Praxis in vielen Bereichen der
werden die jeweiligen Akteursgruppen            Arbeitswelt niederschlägt (vgl. Brinkmann
nicht immer im Detail unterschieden, was        et al. 2008). Der Hintergrund dieser Ent-
problematisch sein kann, weil die Anforde-      wicklung war der kontinuierliche Mitglie-
rungen für die Nutzung digitaler Hilfsmit-      derschwund und der Bedeutungsverlust
tel im betrieblichen Kontext ja gänzlich an-    von Gewerkschaften in vielen Ländern. Ge-
dere sein können als beispielsweise in der      genüber einem fatalistischen Diskurs, der
Fridays-for-Future-Bewegung. Die Gefahr         diese Schwächung allein mit strukturellen
von Repressionen bei einer unüberlegten         Einflüssen wie Globalisierung oder der zu-
öffentlichen Äußerung über soziale Medi-        nehmenden Prekarisierung von Beschäfti-
en ist bei Letzteren jedenfalls erheblich ge-   gungsverhältnissen erklärte und damit als
ringer, als wenn es sich um die Vorberei-       unumkehrbar erscheinen ließ, betonten ge-
tung einer Betriebsratsgründung bei einem       werkschaftliche Aktivist*innen in den USA
Union-Busting-Unternehmen handelt.              die Möglichkeit einer strategischen Wahl.
Andererseits gibt es Aspekte des «Digital       Sie argumentierten, die Schwächung der
Organizing», die eindeutig sowohl für Ge-       Gewerkschaften könne aufgehalten wer-
werkschaften als auch für politische Kam-       den, indem die Gewerkschaften systema-
pagnen oder Protestbewegungen relevant          tisch den Aufbau von Organisationsmacht
sind. Beispielsweise besteht ein Reiz von       in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen.
«Digital Organizing» für Gewerkschaften         Die «klassischen Tugenden» betrieblicher
genauso wie für eine NGO wie Green­peace        Mitgliedergewinnung und Kampagnenfüh-
eben darin, öffentliche Aufmerksamkeit          rung seien sukzessive abhandengekom-
über eine offensive Social-Media-Strategie      men, weil sich die Gewerkschaften auf ih-
zu erregen.                                     rer institutionellen Macht ausgeruht hätten,
                                                das heißt eher Kompromisse am Verhand-
Im Folgenden geht es um die Frage, welche       lungstisch angestrebt hätten, als auf die
Rolle digitalen Hilfsmitteln beim Aufbau        eigene Kraft zu vertrauen (vgl. ebd.). Um
von Organisationsmacht und Handlungs-           das Ruder herumzureißen, müsse eine mit-
fähigkeit im gewerkschaftlichen Kontext         gliederorientierte Betriebspolitik mit neuen
zukommen kann. Damit ist eine spezifi-          Methoden eines «Social Movement Union­
sche Form von Organizing gemeint, die in        ism» kombiniert werden.

                                                                                           7
GRUNDSÄTZLICHE
                                   GEMEINSAMKEIT
                              DER VERSCHIEDENEN
                            ORGANIZING-KONZEPTE
                                 IST DIE BETONUNG
                             DER SELBSTAKTIVITÄT
                              DER BESCHÄFTIGTEN.
                               DAS WERBEN NEUER
                                   MITGLIEDER UND
                               DIE DURCHFÜHRUNG
                                  VON KAMPAGNEN
                                   SOLLTEN DURCH
                               DIE BESCHÄFTIGTEN
                                SELBST ERFOLGEN.

Zu diesen Methoden gehört, mithilfe von       sätze wollen weg von der Vorstellung ei-
öffentlichkeitswirksamen Aktionen und         ner Service-Gewerkschaft, die vermittelt
der Unterstützung von anderen politischen     über die Mitgliedsbeiträge die Interessen
und zivilgesellschaftlichen Gruppen und       der Beschäftigten vertritt. Demgegenüber
Akteur*innen mediale Aufmerksamkeit auf       befürworten ihre Vertreter*innen ein Ver-
die eigenen Forderungen zu lenken sowie       ständnis von Gewerkschaftsarbeit, das auf
Druck auf die jeweiligen Kontrahenten auf-    Partizipation und Aktivismus der Mitglie-
zubauen (vgl. Rehder 2014: 245; Waterman      der setzt. Hier ähneln die Vorstellungen de-
1993: 267). Grundsätzliche Gemeinsam-         nen von sozialen Bewegungen, was sich
keit der verschiedenen Organizing-Kon-        im Begriff des «Social Movement Union­
zepte ist die Betonung der Selbstaktivität    ism» widerspiegelt. Eine weitere Ähnlich-
der Beschäftigten. Das Werben neuer Mit-      keit mit sozialen Bewegungen ist die (für
glieder und die Durchführung von Kampa-       Gewerkschaften teilweise unübliche) Wahl
gnen sollten durch die Beschäftigten selbst   der Aktionsformen, die «Demonstrationen,
erfolgen, diese seien von Beginn in Ent-      [das] Tragen von Emblemen, Pressekonfe-
scheidungen über die Ziele und die Durch-     renzen, Straßenblockaden, Aufrufe zu Pro-
führung einer Kampagne einzubinden (vgl.      testen und Boykotts sowie zivile[n] Unge-
Brinkmann et al. 2008: 72). Organizing-An-    horsam» umfasst (Rehder 2014: 245).

8
Das ursprünglich aus den USA kommende          Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt.
Organizing-Konzept wird seit über einem        In der Debatte um die bisherige Bilanz von
Jahrzehnt auch in Deutschland angewen-         Organizing erlangte die Kritik der langjähri-
det, was sich sowohl in eigens geschaffenen    gen Organizerin und Autorin Jane McAle­
Organizing-Abteilungen in den großen Ge-       vey insbesondere in Deutschland große
werkschaften ver.di und IG Metall zeigt als    Aufmerksamkeit. Sie kritisierte mit Blick
auch in einer Fülle von Organizing-Projek-     auf die US-amerikanischen Erfahrungen,
ten, zum Beispiel im Sicherheitsgewerbe, in    dass viele Organizing-Ansätze der Gewerk-
der Wind-, Metall- und Elektroindustrie, bei   schaften bei einem bloßen «Mobilizing»
großen Discountern, in Krankenhäusern, in      stehen blieben, das heißt, sie mobilisier-
öffentlichen Verkehrsbetrieben oder jüngst     ten die Beschäftigten, um Druck aufzu-
bei Ryanair. Diese Projekte konnten zum Teil   bauen, diese würden aber nicht wirklich
beachtliche Erfolge erzielen, nicht nur, was   in die taktische und strategische Planung
die Mitgliedergewinnung angeht, sondern        der Aktivitäten einbezogen. Dies führe da-
auch in Bezug auf die dauerhafte Stärkung      zu, dass die Initia­tive, so gut sie auch ge-
der Organisationsmacht, das heißt der prak-    meint sei, letztlich bei den Funktionären
tischen Handlungsfähigkeit betrieblicher       verbleibe (­McAlevey 2019: 34–36). Dage-
Akteur*innen.                                  gen setzt sie auf ein Organizing-Konzept,

                                                                                          9
das den Kampf um betriebliche Hegemo-          wa durch kollektive, nicht ­anonymisierte
nie und das Empowerment der Beschäftig-        Bekenntnisse) und an die Öffentlichkeit
ten in den Vordergrund stellt. Das ist von     getragen werden, um dem Gegner die ei-
der Überzeugung getragen, dass Arbeits-        gene Stärke bewusst zu machen und um
kämpfe (und zum Teil auch politische Be-       die Unterstützung weiterer Bündnispartner
wegungen) letztlich nur dann erfolgreich       zu gewinnen. Zudem empfiehlt sie, in die
sein können, wenn ein Großteil der Be-         Verhandlungen mit der Gegenseite alle am
legschaft bzw. der Anhänger*innen aktiv        Arbeitskampf Beteiligten einzubeziehen.
daran beteiligt ist. Daraus ergibt sich die    Wichtig sei, dass diese alle Entscheidun-
Herausforderung, in den Betrieben syste-       gen nachvollziehen können und am Ende
matisch um Mehrheiten zu kämpfen. Das          das letzte Wort haben (ebd.: 35).
bedeutet, Gewerkschaften müssen ver-
suchen, jede Einzelne/jeden Einzelnen in       An dieser Stelle zeigt sich die Verbindung
der Belegschaft für die Ziele eines Arbeits-   zu aktuellen Debatten um «Digital Organi-
kampfes zu gewinnen und ihre/seine Mit-        zing»: Wie beim Arabischen Frühling und
wirkung sicherzustellen, insbesondere von      bei anderen sozialen Bewegungen stellt
jenen Beschäftigten, die zu den Meinungs-      sich nämlich die Frage, ob und wie mit
führer*innen in der Belegschaft gehören.       dem Einsatz digitaler Technologien ge-
Dies setzt eine andere Art der Ansprache       werkschaftliche Arbeit integrativer und
und Beteiligung voraus, die persönliche        partizipativer gestaltet werden kann. Wird
Motivationen in den Vordergrund stellt und     es zum Beispiel mit ihrer Hilfe einfacher
auch Persönlichkeiten berücksichtigt, sich     für betriebliche Aktivist*innen, die Dinge
also nicht nur auf abstrakte Formeln und       selbst in die Hand zu nehmen? Und eröff-
die betrieblichen Rollen von Beschäftigten     nen sie Wege, wie Aktivitäten auf betriebli-
beschränkt.                                    cher Ebene durch strategische Kapazitäten
                                               und Ressourcen von gewerkschaftlichen
Teil dieses Konzept ist außerdem, soge-        Gliederungen unterstützt werden können?
nannte Strukturtests im Vorfeld von Ar-        Auch aus der institutionellen Sicht der Ge-
beitskämpfen durchzuführen. Das sind           werkschaften stellt sich die Frage, wie di-
gewerkschaftliche Events, die dazu die-        gitale Hilfsmittel das Ziel einer dauerhaften
nen, herauszufinden, mit wie viel Unter-       Aktivierung von Mitgliedern fördern kön-
stützung und Beteiligung der Beschäftig-       nen. Die Beschäftigung mit «Digital Orga-
ten bei einem Streik realistischerweise        nizing» ist für uns also Teil einer allgemei-
gerechnet werden kann. Außerdem wirbt          neren Debatte um die Weiterentwicklung
McAlevey für eine größere Offenheit und        des gewerkschaftlichen Organizing.
Öffentlichkeit in der Auseinandersetzung:
Wirkliches Organizing zeichnet sich ihrer      Im folgenden Abschnitt werden zunächst
Meinung nach durch eine lebendige Kom-         einige Kampagnenbeispiele aus der jün-
munikations- und Debattenkultur aus. Ist       geren Vergangenheit vorgestellt, bei de-
die Streikfähigkeit erst einmal hergestellt,   nen Gewerkschaften verschiedene digitale
soll sie bewusst demonstriert werden (et-      Technologien für Organizing-Zwecke ge-

10
nutzt haben. Die Darstellungen beinhalten
jeweils eine kurze Beschreibung des Kon-
textes der Kampagne und ihres Verlaufs
sowie der Möglichkeiten und der Heraus-
forderungen, die mit dem Einsatz digitaler
Hilfsmittel verbunden waren. Danach ar-
beiten wir heraus, wie digitale Technolo-
gien verschiedene Strategien des gewerk-
schaftlichen Organizing stärken können.
Schließlich loten wir auf Basis von Inter-
views mit Gewerkschafter*innen aus, an
welchen Stellschrauben Gewerkschaften
drehen sollten, um die Grundlage für ei-
nen erfolgreichen und flächendeckenden
Einsatz von Methoden des «Digital Organi-
zing» zu schaffen.

                                             11
«DIGITAL ORGANIZING»
IN DER PRAXIS

Digitale Technologien spielen mittlerweile     IG-METALL-KAMPAGNE
so gut wie in jedem Arbeitskampf und je-       BEI ENERCON
der betrieblichen Aktivität eine gewichtige
Rolle. Es ist ja auch naheliegend, dass neue   Die Kampagnen der IG Metall im Sektor der
Kommunikationsformen das kollektive            Windindustrie ab 2008 gelten als eindrück-
Handeln prägen, so wie es in der Vergan-       liche Beispiele für eine gelungene Adap­
genheit auch mit Telegraf, Telefon, PCs und    tion von Organizing-Methoden im Kontext
Handys der Fall war. Vor allem seit Aus-       von Arbeitskämpfen in Deutschland (vgl.
bruch der Corona-Pandemie sind ständig         Dribbusch 2013: 93 ff.; Thünken 2018: 3).
neue Anwendungen dazukommen. Inso-             Speziell anhand der Auseinandersetzung
fern stellen die in die Studie aufgenomme-     mit dem Unternehmen Enercon lässt sich
nen Fallbeispiele nur einen kleinen Praxis-    zudem aufzeigen, welche Anwendungspo-
ausschnitt dar. Die Kampagnen, die wir im      tenziale die Instrumente des «Digital Orga-
Folgenden vorstellen, repräsentieren un-       nizing» bieten.
terschiedliche Felder gewerkschaftlichen
Handelns und unterschiedliche Länder. Sie      Enercon, von einem Kleinstbetrieb zum
wurden ausgewählt, weil wir sie für beson-     größten deutschen Hersteller von Wind­
ders anregend halten: hinsichtlich der Art     energieanlagen und damit zu einem welt-
und Weise, wie digitale Hilfsmittel einge-     weit agierenden Player aufgestiegen,
setzt werden, und weil sie zum Teil auch       zeichnet sich durch ein weitverzweigtes
neue Horizonte einer digital unterstützten     Firmengeflecht mit einer zersplitterten Be-
Organizing-Praxis aufzeigen.                   legschaft aus. Lange Zeit reagierte die Un-

                                 INTERAKTIVE CHAT- UND KOMMENTARFUNK-
                               TIONEN ERLAUBTEN ES [DEN BESCHÄFTIGTEN],
                                      SICH ANONYM ÜBER MISSSTÄNDE UND
                                           FORDERUNGEN AUSZUTAUSCHEN.

                                                                                       13
ternehmensleitung sehr aggressiv auf          ging, konnten die Beschäftigten über den
betriebliche und gewerkschaftliche Orga-      Kampagnen-Blog verfolgen. An den enorm
nisationsversuche. Um der Fragmentierung      hohen Klickzahlen konnten wir sehen, dass
und dem gewerkschaftsfeindlichen Ma-          das auch genutzt wurde. Die Beschäftigten
nagement zu begegnen, wählte die IG Me-       waren ja nicht miteinander vernetzt, es gab
tall nicht die beiden großen Produktionss-    ja keine Kommunikationsstrukturen im Be-
tandorte mit 80 Prozent der Beschäftigten     trieb. […] Der Blog war im Grunde genom-
als Einstieg für ihre Organizing-Kampagne.    men das Einzige, was am Anfang das Ver-
Vielmehr entschied sie sich für das für An-   bindende war.»
lagenbau, Montage und Wartung zustän-
dige Personal, das in rund 140 Teams auf      Dass der Blog öffentlich zugänglich war
diversen Stützpunkten mit neun Zentra-        und damit auch Journalist*innen und die
len in ganz Deutschland verteilt war. Dabei   Gegenseite mitlesen konnten, erwies sich
wurde eine «Blitz-Strategie» verfolgt: Nach   eher als hilfreich für die Kampagne. Susan-
einer längeren Phase intensiver und kons-     ne Kim erläutert, warum:
pirativer Planung fuhren rund 180 unter-
stützende Aktivist*innen in einem Zeitraum    «Moralisch waren wir so immer im Vorteil.
von zwei Wochen alle Standorte ab, um zu-     Zu Beginn haben wir die Arbeitgeber eine
nächst mit möglichst vielen Beschäftigten     ganze Weile als konstruktiv bezeichnet. Je
zu sprechen und im nächsten Schritt Ver-      garstiger die jedoch wurden, desto deutli-
sammlungen zu organisieren, die schließ-      cher wurden wir dann auch. Als sie irgend-
lich die Wahl von Betriebsräten anstoßen      wann merkten, ‹Okay, das schadet uns›,
sollten. Gleichzeitig wurde ein Kampag-       sind sie auch wieder zurückgerudert.»
nen-Blog gestartet, über den vorproduzier-
te Videos mit Botschaften von Unterstüt-      So konnte ein größerer Druck aufgebaut
zer*innen, etwa aus der Politik und anderen   werden, als wenn der Schlagabtausch
Belegschaften, sowie zu arbeitsrechtlichen    nicht öffentlich stattgefunden hätte. Zu-
Informationen geteilt wurden.                 nächst war es die Kampagnenführung, die
                                              über den Blog dem Broadcast-Prinzip fol-
Susanne Kim, die mehrere Jahre das Res-       gend Inhalte «von oben nach unten» teilte.
sort «Strategische Erschließung» der IG       Im Laufe der Auseinandersetzung betei-
Metall leitete und maßgeblich an der Pla-     ligten sich jedoch auch immer mehr Be-
nung und Durchführung der Kampagne be-        schäftigte an der inhaltlichen Gestaltung
teiligt war, erklärt die Wirkung des Blogs:   des Blogs. Interaktive Chat- und Kommen-
                                              tarfunktionen erlaubten es ihnen zudem,
«Wir haben natürlich alles, was analog        sich anonym über Missstände und Forde-
möglich war, auch gemacht. Veranstaltun-      rungen auszutauschen. Dies hatte zuvor
gen vor Ort mit Politikern, Netzwerken, Pa-   nicht stattgefunden, da alle Versuche be-
tenschaften, Kirchenvertretern. Alles, was    trieblicher Organisierung Repressionen
wir vor Ort getan haben, was unsere politi-   bis hin zu Kündigungen nach sich gezogen
sche Botschaft und unsere Zielsetzung an-     hatten. Dies zeigt, dass vor allem in Ausei-

14
nandersetzungen mit gewerkschaftsfeind-         Servicebeschäftigten konnten Betriebs-
lichen Unternehmen Anonymität im digi-          räte gewählt werden, mit einer Wahlbetei-
talen Raum eine wichtige Ressource sein         ligung von ungefähr 77 Prozent (IG Metall
kann, um den Beschäftigten ihre Angst zu        2013). Dies ist besonders beeindruckend
nehmen und sie miteinander ins Gespräch         vor dem Hintergrund der starken räumli-
zu bringen. Die auf dem Blog angespro-          chen Fragmentierung der Belegschaft und
chenen Themen wie beispielsweise unzu-          der jahrelangen Abwehrversuche des Un-
reichende Arbeitsschutzkleidung oder die        ternehmens, das keinerlei gewerkschaft-
Nichtberücksichtigung der Anfahrtszeiten        liche Organisierung dulden wollte – eine
bei der Bezahlung wurden, als es zu Be-         Strategie, die es auch während des hier
triebsratswahlen kam, wieder aufgegriffen       dargestellten Arbeitskampfes weiter ver-
und direkt in Forderungen an den Arbeitge-      folgte. Schlüssel zum Erfolg waren Susan-
ber übersetzt.                                  ne Kim zufolge die intensive Planung und
                                                Vorbereitung der Kampagne sowie der Ein-
Neben dem Blog waren Chatgruppen ein            satz digitaler Kommunikationsmittel in Er-
weiteres digitales Werkzeug mit großer          gänzung zu herkömmlichen «Ground Or-
Bedeutung für die Kampagne. Susanne             ganizing»-Techniken.3
Kim betont die besondere Rolle des Mes-
senger-Dienstes WhatsApp:
                                                BASSA VERSUS BRITISH
«Wir haben ganz schnell gelernt, dass wir       AIRWAYS (2009–2011)
diese Massenkommunikation über Whats-
App machen müssen, weil die Monteure            Der Konflikt des Kabinenpersonals der bri-
sowieso über WhatsApp verbunden waren.          tischen Fluglinie British Airways mit der
Klar, haben die auch Diensttelefone, aber       Unternehmensführung erstreckte sich
bei denen lief ganz viel darüber. Schnell war   in unterschiedlicher Intensität von 2009
klar: Alles, was wichtig ist, müssen wir über   bis 2011. Streitpunkte waren die Bestre-
diese WhatsApp-Kanäle verbreiten. Wenn          bungen der Fluglinie, 1.700 Stellen abzu-
es ein neues Flugblatt ist oder wenn es ein     bauen sowie die Löhne zu kürzen und Ar-
neues Vorkommnis ist oder was auch im-          beitszeiten auszudehnen (Webb 2009).
mer.»                                           Darüber hinaus agierte das Unternehmen
                                                im fortschreitenden Arbeitskampf zuneh-
Als die Organisationskampagne bei Ener-         mend gewerkschaftsfeindlich und repres-
con bereits in vollem Gange war, nutzten        siv. 12.000 der 14.000 Beschäftigten wa-
Gruppen von sogenannten Kernaktiven 2           ren damals in der British Airlines Stewards
WhatsApp darüber hinaus, um dort ver-           and Stewardesses Association (BASSA)
bindliche Absprachen über anstehende
Aufgaben für die Kampagne zu treffen.
                                                2 Mit Kernaktiven sind die Beschäftigten gemeint, die im Verlauf
                                                von Kampagnen zentrale Verantwortung übernehmen und damit
                                                den «aktivistischen Kern» der Belegschaften bilden. 3 «Ground
Die IG-Metall-Kampagne war insgesamt            Organizing» bezeichnet die direkte Organisierung von Beschäf-
sehr erfolgreich: In allen neun Zentralen der   tigten im Betrieb.

                                                                                                            15
organisiert, die zu Unite gehört, einer der     nutzten dafür in vielfältiger Weise digita-
größten Gewerkschaften in Großbritanni-         le Medien. Das Management versuchte,
en (vgl. Upchurch/Grassman 2016: 648;           die Autorität und Legitimität der Gewerk-
Webb 2009).                                     schaft zu untergraben, indem es Videos
                                                unter anderem auf YouTube veröffentlich-
Auslöser des Konflikts war eine neue Stra-      te, in denen es die Forderungen der Be-
tegie des Managements, die vorsah, die          schäftigten als unangemessen darstellte
Profitabilität der Fluglinie zu steigern. Da-   und die angespannte wirtschaftliche Lage
für sollte das Unternehmen langfristig          des Unternehmens hervorhob. Diese Dar-
nach einem Low-Cost-Modell à la Ryanair         stellung wurde regelmäßig von den Me-
aufgestellt und in diesem Zuge auch die         dien übernommen, in denen British Air-
gewerkschaftliche Organisationsmacht            ways auch bezahlte Werbung schaltete.
geschwächt werden (vgl. Upchurch/Grass-         Ebenso versuchte das Unternehmen, über
man 2016: 648). Ein erster Schritt in diese     YouTube-Videos sowie die eigene Web­
Richtung war das gezielte Anwerben von          site direkt mit Kund*innen zu kommuni-
neuem Personal zu schlechteren Konditi-         zieren und so die Kommunikationshoheit
onen, unter anderem mit befristeten Ver-        zu erlangen (Grundy/Moxon 2013: 58). Die
trägen. Von Langstreckenflügen mit ent-         Gewerkschaft konterte diese Bestrebun-
sprechenden längeren Aufenthalten an            gen mit eigenen Videoproduktionen, um
der Zieldestination wurde der operative         einerseits die Forderungen der Streiken-
Fokus auf Kurzstreckenflüge verlagert und       den stärker nach außen zu transportieren
das «Away-and-back-home-Prinzip» ein-           sowie über Informationen zu gestriche-
geführt. Das heißt, dass die Beschäftigten      nen Flügen eine eigene Verbindung zu den
in direkter Nähe eines Flughafens wohnen        Kund*innen aufzubauen (vgl. Upchurch/
und während ihrer Schicht ein Ziel anflie-      Grassman 2016: 650). Während die Un-
gen, nur um nach einem kurzen Aufent-           ternehmungsleitung behauptete, die Air-
halt umgehend wieder den Heimatflugha-          line bezahle überhöhte Löhne, verwies die
fen anzusteuern. Die Beschäftigten und die      Gewerkschaft auf den guten Service der
Gewerkschaft BASSA reagierten ab 2009           Airline-Beschäftigten. Ein weiterer Kom-
auf dieses Vorgehen mit umfassenden             munikationskanal war die eigens erstellte
Streiks, um das Unternehmen unter Druck         Website Brutish Airways, auf der es zum
zu setzen und die Aufmerksamkeit der Öf-        Beispiel Hintergrundinformationen zu den
fentlichkeit auf den Konflikt zu lenken. Zu-    engen Verbindungen der Airline zu Me­
sätzlich sollten die neuen Beschäftigten        dienkonzernen gibt sowie zu Repressionen
gewerkschaftlich eingebunden werden,            des Managements gegenüber gewerk-
um eine Spaltung der Belegschaft zu ver-        schaftlich Aktiven (ebd.: 649).
hindern (vgl. Taylor/Moore 2014: 2).
                                                Upchurch und Grassman heben zudem die
Die Beeinflussung der Öffentlichkeit spiel-     Bedeutung der Nutzung von Facebook für
te in diesem Arbeitskampf eine beson-           die (Selbst-)Organisierung der Beschäftig-
ders wichtige Rolle. Beide Konfliktparteien     ten hervor. Aufgrund der räumlichen Ver-

16
teilung der Belegschaft, die zerstreut in der   gegen mehr als 40 Mitarbeiter*innen, 15
Nähe diverser Flughäfen lebt, sei es für die    von ihnen wurden entlassen (Upchurch/
Kampagne sehr wichtig gewesen, dass Be-         Grassman 2016: 650). Als Begründung
schäftigte über Facebook-Gruppen trotz          wurden dabei in den meisten Fällen an-
der Distanz direkt miteinander in Kontakt       geblich beleidigende Postings herange-
treten konnten. Die niedrigen Zugangs-          zogen. In anderen Fällen führten Nach-
hürden und die angeregte Interaktion zwi-       fragen nach streikbrechenden Personen
schen ihnen stärkten den Autoren zufolge        zu einer Abmahnung wegen vermeintli-
die Beteiligung der gewerkschaftlichen Ba-      chen Mobbings, was verdeutlicht, dass
sis an Diskussionen rund um den Arbeits-        viele Online-Foren keinen sicheren Raum
kampf, wofür sie den Begriff «Distributed       darstellen, der vor Repressionen des Ma-
Discourse» verwenden. Damit werde der           nagements schützt. Auch wäre es ein Trug-
«bürokratische Konservatismus der Ge-           schluss anzunehmen, der Einsatz neuer
werkschaftsführungen» herausgefordert           Kommunikationsmittel ändere per se das
(ebd.: 642). Upchurch betont jedoch auch,       Machtverhältnis zwischen Beschäftigten
dass das Demokratisierungspotenzial die-        und dem Management. Generell bieten so-
ses technologiegestützten «Distributed          ziale Medien auch der Unternehmenssei-
Discourse» in Bezug auf gewerkschaftli-         te neue Möglichkeiten, gegen gewerk-
che Entscheidungsprozesse begrenzt sei.         schaftliche Kampagnen zu mobilisieren
Zwar könnten Informationen leichter ge-         (vgl. ebd.: 651; Taylor/Moore 2014: 21).
teilt werden und es werde ein horizontaler      Deswegen empfehlen die Autoren den
Austausch begünstigt. Jedoch würden die         komplementären Einsatz von digitalen
entscheidenden strategischen Beschlüs-          Medien zur Unterstützung von Arbeits-
se nach wie vor auf physischen Treffen ge-      kämpfen. Das heißt, klassische Formen der
troffen, wo andere Dynamiken von Bedeu-         Entscheidungsfindung und Kommunikati-
tung seien (vgl. Upchurch 2014: 134). Als       on werden nicht ersetzt, sondern ergänzt
weiteren wichtigen Effekt der Nutzung von       (Upchurch/Grassman 2016; Taylor/Moore
Facebook als Kommunikationsplattform            2014).
heben die Autoren die Stärkung der kol-
lektiven Identität der Beschäftigten hervor.    Das Ergebnis des Arbeitskampfs bei Bri-
Der Austausch über negative Erfahrungen         tish Airways ist nicht als eindeutiger Sieg
und Missstände am Arbeitsplatz half ihnen       für die eine oder die andere Seite zu wer-
demnach, Spaltungen innerhalb der Beleg-        ten. Das Image des Unternehmens hat si-
schaft zu überwinden und dem Manage-            cherlich gelitten, die geplante Streichung
ment geschlossen gegenüberzutreten (vgl.        von 1.700 Stellen konnte letztendlich aber
ebd.: 649; Taylor/Moore 2014).                  nicht verhindert werden. Die Gewerkschaft
                                                BASSA setzte jedoch eine Lohnerhöhung,
Allerdings waren einige Beschäftigte auf-       die Wiedereinführung von Reisevergünsti-
grund ihrer kritischen Aussagen im In-          gungen für das Kabinenpersonal sowie die
ternet von drastischen Repressionen be-         Rücknahme von einigen Disziplinarmaß-
troffen: Es gab Disziplinarmaßnahmen            nahmen durch (vgl. Groom 2011).

                                                                                        17
Für die eigenständige überregionale Ver-       le Technologien wie soziale Medien und
netzung der Beschäftigten war die Inter-       Informations-Apps als Organizing-Tools
netplattform Facebook eine wichtige Res-       setzte und sie in der Literatur mitunter als
source, die zur Stärkung ihrer kollektiven     Beispiel für eine erfolgreiche Nutzung die-
Identität beitrug und die Kampagne nach-       ser Werkzeuge genannt wird. Allerdings
haltig prägte. Zu beachten ist dabei jedoch,   verfehlte sie trotz einiger lokaler Streiks
dass selbst relativ harmlose Äußerungen        und medienwirksamer Aktionen im Gro-
im Netz dem Unternehmen als Vorwand            ßen und Ganzen ihre Ziele (ebd.). Aus den
dienten, um gegen unliebsame Mitarbei-         Erfahrungen von OUR Walmart lässt sich
ter*innen vorzugehen. Um dieser Gefahr         unter anderem lernen, dass der Einsatz di-
entgegenzuwirken, sollten Gewerkschaf-         gitaler Medien Illusionen über die tatsäch-
ten arbeitsrechtliche Informationen bereit-    liche Stärke von Kampagnen fördern kann
stellen und Schulungen für Mitarbeiter*in-     und nichts auszurichten vermag, wenn
nen zu halböffentlicher Kommunikation in       versäumt wird, ihn mit Methoden des
sozialen Medien anbieten.                      «Ground Organizing» zu verbinden.

                                               Der Konzern Walmart ist für seine ge-
OUR WALMART (2010–2015)                        werkschaftsfeindliche Haltung und Pra-
                                               xis bekannt, immer wieder kommt es zu
Die Organizing-Kampagne der Gewerk-            Kündigungen von gewerkschaftlich orga-
schaft United Food and Commercial Wor-         nisierten Beschäftigten (vgl. Dicker 2002;
kers International Union (UFCW) beim           Woodman 2012). OUR Walmart trat we-
Einzelhandelsriesen Walmart, der einen         niger als klassische gewerkschaftliche
großen Teil des US-Marktes beherrscht,         Kampagne auf, sondern eher als eine de-
geht auf eine Initiative von Walmart-Be-       zentrale Graswurzelbewegung, die durch
schäftigten zurück. Sie startete 2010 zu-      die UFCW finanziell und personell unter-
erst klandestin und trat schließlich 2011 an   stützt wurde, operativ aber relativ autonom
die Öffentlichkeit (vgl. Wood 2015: 260).      agierte (vgl. Caraway 2016: 916). Zentraler
Mittelfristiges Ziel der Kampagne, die den     Bestandteil der Mobilisierungsstrategie
Titel «Organization United for Respect at      war die Nutzung von Facebook-Gruppen
Walmart» (OUR Walmart) trug, war es,           für neu geworbene Beschäftigte. Einige
10.000 Beschäftigte von Walmart (damals        Autor*innen heben hier mehrere positive
ungefähr ein Prozent aller Mitarbeiter*in-     Effekte hervor: Zum einen würden solche
nen) für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft      Kommunikationskanäle auch über Distan-
zu gewinnen, um so effektiver Forderun-        zen hinweg die Herausbildung einer kollek-
gen nach höheren Löhne und besseren Ar-        tiven Identität und eines Gefühls von Soli-
beitsbedingungen durchsetzen zu können         darität fördern. Zudem hätten sie in dem
(Greenhouse 2011; Olney 2015).                 konkreten Fall den Kernaktiven in der Be-
                                               legschaft die Möglichkeit geboten, Kon-
OUR Walmart ist ein interessantes Fallbei-     takt zu ihren Kolleg*innen zu halten, auch
spiel, da die Kampagne explizit auf digita-    wenn ein Betrieb geschlossen oder ge-

18
werkschaftlich Aktiven der Zugang zu ei-        (vgl. ebd.: 2), wobei der tatsächliche Ein-
nem Walmart-Markt verwehrt wurde (vgl.          fluss der Kampagne darauf schwer zu mes-
Wood 2020: 7). Ähnlich wie beim Arbeits-        sen ist, da die Initiator*innen von OUR Wal-
kampf bei British Airways kam es auch bei       mart und auch die UFCW mit dem Konzern
OUR Walmart zur Nutzung von YouTube-Vi-         bewusst keine Tarifverhandlungen führten.
deos als einem verbindenden Medium (vgl.
ebd.). Dabei ging man zielgruppenspezi-         Die tatsächlichen Mobilisierungserfolge
fisch vor, das heißt, die Facebook-Inhalte      ließen zu wünschen übrig: Landesweiten
und Videos wurden an die jeweiligen In-         Streikaufrufen folgten nur einige Hundert
teressen und Bedürfnisse der Beschäftig-        Beschäftigte, die sich damit zudem gro-
ten angepasst. Man schaute, über welche         ßen Risiken aussetzten (vgl. Reich/Bear-
Missstände bei Walmart sie sich vor allem       man 2018: 212). Das verweist auf die Kluft
beschwerten und von welchen sie konkret         zwischen Erfolgen auf der Ebene einer di-
betroffen waren. So gab es beispielswei-        gitalen (Teil-)Öffentlichkeit und den Anfor-
se eine Gruppe, in denen es vorrangig um        derungen an einen richtigen Arbeitskampf.
LGBT-Thematiken ging (vgl. Caraway 2016:        Jane McAlevey schreibt dazu (auch mit
915). Die Moderation der Gruppen lag in         Blick auf OUR Walmart):
den Händen von sogenannten hauptamt-
lichen Online-to-offline-Organizer*innen,4      «Ein Streik, um das ins Gedächtnis zu ru-
die zusätzlich zu ihren Aktivitäten auf Face-   fen, bedeutet, dass eine Mehrheit der Ar-
book auch die verschiedenen Walmart-Fi-         beiterinnen und Arbeiter in einer kollekti-
lialen und Beschäftigten besuchen und           ven und widerständigen Aktion ihre Arbeit
die Kampagnenarbeit vor Ort leisten soll-       nieder- und die Produktion lahmlegt [vgl.
ten (ebd.). Neben traditionellen Aktions-       den Chicagoer Lehrerstreik von 2012; d. V.].
formen verweisen die Autoren Pasquier           Wenn ein, zwei Leute nach einigen Wo-
und Wood explizit auf die Bedeutung von         chen an einem besonders ausbeuterischen
«Teilen», «Liken» oder «Re-Tweeten» als In­     Arbeitsplatz den Job hinschmeißen und
strumente der Öffentlichkeitsarbeit, da da-     sich dafür von anderen weitgehend macht-
mit Aufmerksamkeit erregt und so indirekt       losen Gruppen bejubeln lassen, dann
Druck auf Unternehmen und Gesetzgeber           handelt es sich eher um ein PR-Event.»
ausgeübt werden könne (Pasquier/Wood            (­McAlevey 2014)
2018: 4).
                                                Andere Kritiker*innen von OUR Walmart
Die Bilanz der Kampagne wird in der Fach-       beklagten, das Online-to-offline-Modell
literatur kontrovers diskutiert. Als Erfolge    der Kampagne ähnele mehr einem moder-
werden die Durchsetzung von höheren             nen Geschäftsmodell als einem nachhal-
Mindestlöhnen in den Walmart-Filialen           tigen Organizing-Ansatz. Die UFCW habe
in Kalifornien, New York und Seattle so-
wie eine Erhöhung des Einstiegsgehalts          4 «Online-to-Offline-Organizing» bezeichnet die Strategie, zuerst
                                                über digitale Kanäle wie soziale Medien Mitglieder zu gewinnen,
auf zehn US-Dollar pro Stunde für über          um darauf aufbauend die «analoge» Organisation im Betrieb vo-
500.000 Walmart-Beschäftigte verbucht           ranzutreiben und Aktionen durchzuführen.

                                                                                                             19
gebührenpflichtige Trainings für andere        nellen und finanziellen Aufwands nicht in
aktivistische Organisationen angeboten,        einer einigermaßen schlagkräftigen Orga-
ohne dass ein wirklicher Nachweis eines        nisation und in konkreten Erfolgen in den
nennenswerten Nutzens erbracht worden          Betrieben niederschlagen, muss bezweifelt
sei (vgl. Leo 2020). Die Facebook-Gruppen      werden, dass der eingeschlagene Weg der
werden als weitestgehend «vernachläs-          richtige war.
sigt» und «demobilisierend» beschrieben,
da die Beschäftigten nach der Einla-
dung, sich ihnen anzuschließen, von den        VER.DI-KAMPAGNE BEI RYANAIR
hauptamtlichen Organizer*innen mehr            (2017–2019)
oder minder allein gelassen worden seien.
Quantitative Mitgliederzuwächse seien als      Eher werde die Hölle zufrieren, als dass
wichtiger erachtet worden als dauerhafte       Ryanair mit den Gewerkschaften verhan-
und lebendige Verbindungen zwischen der        delt. Mit dieser provozierenden Aussage,
Organisation und den Beschäftigten (vgl.       die von Ryanairs Geschäftsführer Mi­chael
ebd.). Anstatt schlagkräftige Kampagnens-      O’Leary stammt, hatte dieser ein Eigen-
trukturen aufzubauen, seien enorme Mittel      tor geschossen. Die Fluggesellschaft war
in Social-Media-Stunts gesteckt worden,        Ende 2017 nämlich nicht nur gezwungen,
kommentiert der langjährige Organizer          Gewerkschaften als Verhandlungspart-
Peter Olney. Dass Walmart Beschäftigte         ner anzuerkennen. Darüber hinaus sah
aufgrund ihrer Beteiligung an der Kampa-       sich Ryanair einer wahrhaften Revolte ih-
gne kündigte, sei zwar PR-mäßig ausge-         rer Belegschaften in mehreren europäi-
schlachtet worden. Es sei jedoch versäumt      schen Ländern gegenüber. In Deutschland
worden, diese nach dem Jobverlust aufzu-       konnte ver.di im Jahr 2019 nach mehreren
fangen und mit finanzieller und rechtlicher    Streiks der Flugbegleiter*innen sogar erst-
Hilfe zu unterstützen (vgl. Olney 2015).       mals einen Tarifvertrag zu Entgelt, Arbeits-
                                               bedingungen und Sozialplanregelungen
Eine gewerkschaftliche Kampagne muss           mit Ryanair abschließen. Dieser Teilerfolg
sich letztlich an ihren Erfolgen messen las-   war Ergebnis einer Organizing-Kampagne,
sen, insbesondere daran, ob sie die selbst-    bei der es gelang, innerhalb von wenigen
gesteckten Ziele erreicht hat oder nicht.      Monaten einen Großteil des Kabinenperso-
In dieser Hinsicht fällt die Bilanz von OUR    nals gewerkschaftlich zu organisieren (vgl.
Walmart eher bescheiden aus: Fünf Jah-         Boewe et al. 2021; Butollo 2019). Dies erfor-
re nach dem Beginn der Kampagne ist das        derte die direkte Ansprache von Kolleg*in-
Ziel, ein Prozent der Walmart-Belegschaft      nen an den Flughäfen und am Arbeitsplatz
gewerkschaftlich zu organisieren, immer        sowie eine Kampagnenstrategie, die auf
noch nicht erreicht. Einige Darstellungen      die Überzeugung von Meinungsführer*in-
der Kampagne zeigen durchaus, worin die        nen und auf den schrittweisen Aufbau der
Potenziale digitaler Technologien für Orga-    Streikfähigkeit der Beschäftigten abzielte.
nizing-Prozesse bestehen. Wenn sich die-       Ein großer Teil dieser Aktivitäten fand off-
se jedoch nach Jahren erheblichen perso-       line statt: Hunderte Einzelgespräche wur-

20
den geführt und die Kampagne wuchs mit           und Bestrebungen von kollektiver Organi-
einer Vielzahl von informellen Treffen und       sierung unter anderem durch Kündigun-
gemeinsamen Events. All diese Aktivitä-          gen zu verhindern suchte. In der Anfangs-
ten wurden durch die Nutzung von digita-         phase war eine kampagneneigene Website
len Medien wie WhatsApp-Gruppen, eine            mit dem Titel «Cabin Crew United» enorm
Kampagnen-Website und zahlreiche Vi-             wichtig, gerade für die Basen, an denen zu-
deokonferenzen unterstützt.                      vor noch keinerlei Verbindungen zwischen
                                                 Gewerkschaften und Flugbegleiter*innen
Der Arbeitskampf nahm im Sommer 2018             bestanden hatten.
in enger Zusammenarbeit mit anderen na-
tionalen Gewerkschaften sowie der Inter-         Die ver.di-Bundesfachgruppenleiterin für
national Transport Workers‘ Federation           Luftverkehr, Mira Neumaier, berichtet:
(ITF) an Fahrt auf. Ryanairs Geschäftsmo-
dell basiert auf dem bereits oben beschrie-      «Neben den Kernaktiven haben sich die
benen «Away-and-back-home-Prinzip».              ersten 50, 100 Beschäftigten in Deutsch-
Zudem setzt sich das Kabinenpersonal zu          land mithilfe der Seite organisiert. […] Das
einem überwiegenden Teil aus jungen Süd-         hat am Anfang sehr gut funktioniert. […]
und Osteuropäer*innen zusammen, die in           Und die Seite hat uns dann auch durch
Erwartung einer spannenden und einiger-          die Kampagne begleitet. Es war dadurch
maßen gut bezahlten beruflichen Tätigkeit        möglich, immer wenn an einer Station ein
ihre krisenhaften Heimatländer verlassen         Erstkontakt durch ‹Ground Organizing›
haben und an den verschiedenen Basen in          schwierig war, weil dort niemand jeman-
ganz Europa verteilt stationiert sind. Ihr Ar-   den kannte, nur durch Ankündigungen
beitsalltag ist jedoch geprägt von hohem         auf der Seite […] schnell Zugang zu gewin-
Druck (so wird vom Personal zum Beispiel         nen.»
verlangt, die Zusatzeinkünfte über Bord-
verkäufe zu steigern), geringem Verdienst        Das zentrale Ziel dieser Website war es,
und einem autoritären Managementstil.            Mapping-Listen 5 mit Informationen zur
Diese Missstände resultieren oft in großer       Zusammensetzung der Belegschaft zu er-
Frustration unter den Beschäftigten und in       stellen sowie in den Anfängen der Kampa-
einer hohen Fluktuation innerhalb der Be-        gne einen Anlaufpunkt für Kernaktive be-
legschaft (Boewe et al. 2021).                   reitzustellen. Hierfür wurde die Website
                                                 auf Facebook geteilt, etwa in Gruppen, die
Für gewerkschaftliche Organisierung stellt       vom Unternehmen selbst genutzt werden.
diese Ausgangslage eine besondere He-            Wenn Beschäftigte über die Seite mit der
rausforderung dar. Bemühungen, fes-
te Strukturen aufzubauen, waren bis zur          5 Das Mapping dient dazu, möglichst alle Informationen zur Be-
­ver.­di-­­Kampagne, die 2017 begann, nicht      legschaft zu sammeln, die für die Kampagne von Relevanz sein
                                                 können. Neben Kontaktdaten der Beschäftigten kann dies auch
 erfolgreich. Hinzu kam, dass Ryanair bis        ihre Position im Betrieb, der Grad ihrer Beteiligung oder ihre Ein-
 vor Kurzem besonders aggressiv gegen            stellung zur Kampagne betreffen. Die gesammelten Informatio-
                                                 nen erleichtern die weitere Ansprache und Einschätzungen zur
 gewerkschaftliche Interventionen vorging        Stärke der Organisation (vgl. Organisier Dich! 2021).

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Kampagne in Verbindung traten, wurden         an den Herkunftsländern der Flugbeglei-
sie einerseits kontaktiert und andererseits   ter*innen orientierten. Ver.di richtete für
in ebendiesen Mapping-Listen erfasst.         jede Ryanair-Basis eine Facebook-Grup-
                                              pe ein, in der sich Interessierte vernetzen
Im weiteren Verlauf der Kampagne war die      konnten, organisatorische Fragen stellen
Einbindung einer möglichst großen Zahl        und über die zum Beispiel neue Mitarbei-
von Mitgliedern über Videokonferenzen         ter*innen nach Wohnungen suchen konn-
von großer Bedeutung. Darüber konnten         ten. Zwar sind die Kommunikationsstruk-
die interne Kommunikation und die stra-       turen innerhalb der Belegschaft nicht nur
tegische Koordination von Streikaktionen      digitaler Natur, es besteht jedoch aufgrund
und Verhandlungen unterstützt werden:         asynchroner Dienstpläne und einer hohen
                                              Mitarbeiterfluktuation nur bedingt eine Be-
«Wir haben die gesamte Kampagne mit da-       triebsöffentlichkeit, wo sich die Beschäf-
rauf aufgebaut. Die Mitgliedertreffen fan-    tigten in einem größeren Zusammenhang
den seit 2018 häufig über Zoom-Calls statt.   begegnen können. Die vielfältigen Whats-
Die Aktivenkreise, die Organizer haben sich   App-Gruppen dienten der strategischen
darüber vernetzt, große Teile der organisa-   Planung, aber auch als «virtueller Pausen-
torischen Struktur fanden darüber statt.»     raum» und «Feierabendtreff». Über sie
                                              wurde viel diskutiert, hier wurden für den
Die digitale Strategie der Kampagne ori-      Arbeitskampf relevante Nachrichten ge-
entierte sich an einigen Leitlinien und       teilt und an Streiktagen auf vom Manage-
Prinzipien, die auch für das herkömmli-       ment gestreute Fehlinformationen reagiert
che «Ground Organizing» gelten: Es be-        (siehe Kasten zur Nutzung von WhatsApp
darf Räume, in denen die Kommunikation        für Kampagnen auf S. 38f.).
nicht nur von «oben nach unten» verläuft.
Es geht darum, dass die Organizer*innen       Die vom Unternehmen für ihre Mitarbei-
den Beschäftigten zuhören. Die Kabinen-       ter*innen eingerichteten Facebook-Grup-
beschäftigten sollten zudem bei einer digi-   pen wurden im Rahmen der Kampagne
talen Kontaktaufnahme möglichst schnell       weniger intensiv genutzt, da eine Social-­
und unabhängig von ihrer Stationierung ei-    Media-Richtlinie im Vertrag den Beschäf-
ne Antwort ihrer jeweilig zuständigen nati-   tigten das Teilen von Beiträgen verbietet,
onalen Gewerkschaft erhalten.                 die sich kritisch auf den Arbeitgeber bezie-
                                              hen. Ein Verstoß gegen diese Auflage hat in
Unerlässliche Instrumente für die Kommu-      einigen Fällen sogar zur Kündigung geführt.
nikation der Beschäftigten untereinander      Neumaier betont, dass sich an den Unter-
waren außerdem WhatsApp- und Face-            haltungen im digitalen Raum gut ablesen
book-Gruppen. Sie bauten zum Teil auf den     lässt, welche Themen die Beschäftigten be-
bereits existierenden Kontakten und losen     wegen und wer die Meinungsführerschaft
Netzwerken der Beschäftigten auf, die zum     innehat. Wichtig waren für die Kampagne
einen über gemeinsam absolvierte Trai-        nicht nur Beschäftigte, die sich intensiv an
nings entstanden waren, sich zum anderen      Gruppendiskussionen beteiligten, selbst

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Beiträge verfassten oder besonders aktiv        Laut Wolf sei dies auch deswegen wich-
Kampagneninhalte teilten, sondern auch          tig, um nicht Gefahr zu laufen, die eigene
diejenigen, die als kommunikative Knoten-       Stärke zu überschätzen. Eine gut funkti-
punkte fungieren und aufgrund ihrer guten       onierende WhatsApp-Gruppe bedeutet
Kontakte verschiedene Basen verbinden           nämlich noch lange nicht, dass eine Beleg-
und bei ihrer gewerkschaftlichen «Erschlie-     schaft streikfähig ist. Sowohl Wolf als auch
ßung» helfen können.                            Neumaier sehen jedoch deutliche Vortei-
                                                le darin, wenn gut vorbereitetes «Ground
Der Kern der Kampagne bestand in klas-          Organizing» mit dem Einsatz von digita-
sischem «Ground Organizing», also in-           len Technologien verbunden wird. Wäre es
formellen Gesprächen, die bereits ge-           nach Mira Neumaier gegangen, hätte man
werkschaftlich aktive Beschäftigte mit          die digitalen Mittel in dieser Kampagne
Kolleg*innen während eines Fluges führ-         noch viel weitreichender und strategischer
ten, oder Ansprachen nach Arbeitsende           nutzen können.
am Flughafen durch Organizer*innen. Eini-
ge der Angesprochenen wurden zu aktiven         Die Kampagne wurde 2019 nach einigen
Gewerkschaftsmitgliedern, bei anderen           Streiktagen beendet, nachdem die Ge-
lösten die Gespräche zumindest Interesse        schäftsleitung von Ryanair sich zu Zuge-
aus und sie engagierten sich daraufhin in       ständnissen bei den Gehaltsforderungen
verschiedenen Chats. Mira Neumaier zu-          bereiterklärt und sich darauf eingelassen
folge sollte die digitale Ansprache ähnliche    hatte, ein Mindestmaß von Einsätzen der
Anforderungen erfüllen wie die persönli-        Flugbegleiter*innen vertraglich zu regeln.
che Kontaktaufnahme: Sie sollte gut vorbe-      Zudem wird nun an Basen in Deutschland
reitet, zielgerichtet und auf das Individuum    auch deutsches Arbeitsrecht angewandt,
zugeschnitten sein.                             was für die Beschäftigten einen deutlich
                                                verbesserten Schutz vor Kündigungen und
Luigi Wolf, ein Koordinator der Organi-         im Krankheitsfall bedeutet (vgl. Boewe et
zing-Aktivitäten bei Ryanair, hebt zusätz-      al. 2021). Allerdings behindert Ryanair noch
lich die Bedeutung von sogenannten              immer die Einsetzung eines Betriebsrates,
Strukturtests hervor. Das waren im Rah-         was eine der zentralen Forderungen der
men der ver.di.-Kampagne bei Ryanair zum        Kampagne darstellte (vgl. Öfinger 2019).
Beispiel Aktionstreffen außerhalb der Ar-
beitszeit, auf denen Ziele und Vorgehen
besprochen und aktuelle Informationen           GLOBALE (SELBST-)ORGANISIE-
ausgetauscht wurden, aber auch einfach          RUNG VON UBER-FAHRER*INNEN
gemeinsam Zeit verbracht wurde. Die Be-
teiligung an solchen gewerkschaftlich or-       Im folgenden Fallbeispiel geht es nicht um
ganisierten Aktivitäten vermittele ein Bild     eine spezifische gewerkschaftliche Kam-
von der Reichweite einer Kampagne und           pagne, sondern um die weltweiten Orga-
der Bereitschaft der Beschäftigten, sich ab-    nisierungsbestrebungen von Uber-Fah-
seits der Chats an Aktivitäten zu beteiligen.   rer*innen, teilweise in Zusammenarbeit

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mit Gewerkschaften. Das Unternehmen             men mit anderen aufhalten. Diese algorith-
Uber ist bekannt für sein aggressives           misch bestimmten Orte, etwa ein Parkplatz
Wachstumsmodell, mit dem es in den ver-         vor einem Flughafenterminal, können sich
gangenen Jahren weltweit neue Märkte            zu einer Art betrieblichem Treffpunkt ent-
erschließen konnte. Eine Besonderheit im        wickeln, der für informelle Gespräche, Aus-
Vergleich zu herkömmlichen Taxiunterneh-        tausch und Vernetzung genutzt wird (vgl.
men ist dabei das Beschäftigungsverhält-        ebd.). Diese Vernetzung kann dann später
nis der Fahrer*innen: Diese sind nicht di-      über WhatsApp oder vergleichbare Medi-
rekt bei Uber angestellt, sondern arbeiten      en weitergeführt werden (vgl. Aslam/Woo-
als Selbstständige mit ihren privaten Au-       dcock 2020: 415). In Gruppenchats besteht
tos oder Mietwagen. Da das Unternehmen          die Möglichkeit, sich über Probleme mit
keine Verantwortung für die Fahrer*innen        Fahrtenzuteilungen, über die Bezahlung
übernimmt, lehnt die Geschäftsleitung von       oder Schwierigkeiten mit Kund*innen aus-
Uber eine Anerkennung von kollektiver In-       zutauschen.
teressensvertretung in Form von Betriebs-
räten oder Gewerkschaften strikt ab (vgl.       Jüngere Beispiele von Demonstrationen
Johnston/Land-Kazlauskas 2018: 23).             und Streiks auf mehreren Kontinenten zei-
                                                gen, dass durchaus erfolgreiche Bestre-
Für die Organisierung der Fahrer*innen          bungen zur Organisierung von Uber-Fah-
hat dieses Geschäftsmodell insofern Kon-        rer*innen existieren (vgl. Wells et al. 2020:
sequenzen, als dass auf den ersten Blick        2). So gab es koordinierte Proteste in Dut-
keine herkömmliche Form von geteilter be-       zenden Städten, unter anderem Nairobi
trieblicher Öffentlichkeit existiert und jede   (Kenia), Dayton (USA), Lagos (Nigeria), Pa-
Fahrerin/jeder Fahrer bei Problemen am          ris (Frankreich), Glasgow (Schottland), São
Arbeitsplatz zunächst auf sich allein ge-       Paolo (Brasilien) und Brisbane (Australien)
stellt ist. Diese Isolation ist auch im Sinne   (ebd.). Diese zeigen, dass die Organisie-
Ubers, da die Verhandlungsposition der          rung von Fahrer*innen trotz der Herausfor-
Beschäftigten ohne eine Vernetzung un-          derungen, die Ubers Geschäftsmodell mit
tereinander denkbar schlecht ist. Ein häu-      sich bringt, nicht nur auf lokaler, sondern
fig erwähnter Faktor, der der Vereinzelung      sogar auf transnationaler Ebene funktio-
der Beschäftigten jedoch entgegenwirken         nieren kann. Die Autoren Wells, Attoh und
und die Organisierung erleichtern kann, ist     Cullen heben dabei die besondere Rolle di-
in der technischen Komponente des Ge-           gitaler Technologien hervor: E-Mails, So-
schäftsmodells Ubers verankert. Das ange-       cial Media und Messenger-Dienste hätten
wendete «Just-in-place-Prinzip» – also das      eine sehr flexible und kurzfristige Koordi-
Konzept, Fahrer*innen datenbasiert zum          nation ermöglicht. So hätten sich die Fah-
richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort        rer*innen in Washington D.C. erst fünf
zu navigieren, damit sie schnellstmöglich       Tage vor der Aktion per WhatsApp auf ei-
Kund*innen erreichen können – bedeutet,         ne Teilnahme verständigt. Mithilfe der ge-
dass Sammelplätze entstehen, an denen           nannten digitalen Kommunikationsmittel
sich die Fahrer*innen längere Zeit zusam-       sei es gelungen, den kollektiv geteilten Un-

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