DIGITAL ORGANIZING POTENZIALE NEUER TECHNOLOGIEN FÜR GEWERKSCHAFTLICHE ORGANISATIONSMACHT - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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FLORIAN BUTOLLO UND JOBST GAUS DIGITAL ORGANIZING POTENZIALE NEUER TECHNOLOGIEN FÜR GEWERKSCHAFTLICHE ORGANISATIONSMACHT
INHALT Einleitung 3 Was ist «Digital Organizing»? 7 «Digital Organizing» in der Praxis 13 IG-Metall-Kampagne bei Enercon 13 BASSA versus British Airways (2009–2011) 15 OUR Walmart (2010–2015) 18 Ver.di-Kampagne bei Ryanair (2017–2019) 20 Globale (Selbst-)Organisierung von Uber-Fahrer*innen 23 Arbeitskampf der Hochschullehrer*innen in Großbritannien (2018 bis heute) 29 Dimensionen des Organizing: Wie können digitale Werkzeuge eingesetzt werden? 33 Mitstreiter*innen gewinnen 33 Wie arbeiten mit WhatsApp- oder Telegram-Gruppen? 38 Kampagnen partizipativ gestalten 39 Strategische Bündnisse eingehen 42 Den Kampf um die öffentliche Meinung führen 42 Digitale Hilfsmittel als Ergänzung und Erweiterung des gewerkschaftlichen Organizing 47 Fazit 55 Literatur 59 Abkürzungsverzeichnis 67 Liste der geführten Interviews 69 Autoren 71
EINLEITUNG Im Zentrum des gewerkschaftlichen Or- zum Einsatz, der sich 2016 und 2020 bei ganizing steht die Kommunikation. Kol- den Vorwahlen der Demokraten als Präsi- leg*innen müssen angesprochen und dentschaftskandidat bewarb. Sie trugen überzeugt werden, Aktionen müssen ge- dazu bei, dass er als Außenseiter beacht- meinsam geplant werden. Der Kampf um liche Ergebnisse erzielen konnte und damit Hegemonie in Betrieb und Gesellschaft die Kandidat*innen des Establishments erfordert zudem die Herstellung von Ge- der Demokratischen Partei in Bedrängnis genöffentlichkeit. Es ist daher kein Wun- brachte (vgl. Corasaniti 2016; Mixpanel der, dass die rasante Entwicklung digitaler 2016; Scola 2016). Kommunikations- und Arbeitsmedien das Terrain für gewerkschaftliches Organizing Auch die Gewerkschaften versuchen, sich verändert. Die Frage, wie sie effektiv ein- digitale Werkzeuge für die Organisierung gesetzt werden können, was dabei beach- und Mobilisierung von Belegschaften zu tet werden muss und welche Ressourcen erschließen, um damit Arbeitskämpfe so- gebraucht werden, ist Gegenstand dieser wie die Mitgliederbeteiligung sinnvoll zu Publikation. unterstützen. Schon seit Jahren nutzen gewerkschaftliche Aktivist*innen zuneh- Beispiele dafür, dass digitale Medien ei- mend Webseiten, Blogs, Social Media und ne wichtige Rolle für soziale Bewegungen Messenger in Kampagnen. Damit können spielen können, gibt es inzwischen viele. neue Aktionsformen einfacher umgesetzt So wurden etwa die Protestbewegungen werden, wie zum Beispiel «Rein-Raus- während des Arabischen Frühlings 2011 Streiks». Dabei handelt es sich um flexible mitunter als «Social-Media-Revolutionen» Streikformen, bei denen die Arbeitsnieder- bezeichnet (vgl. Gustin 2011; Kassim 2012), legungen durch kurzfristige Absprachen oft verbunden mit der Behauptung, dass so koordiniert werden, dass Unternehmen digitale Technologien wie soziale Medien schlecht darauf reagieren können (Schmal große Demokratisierungspotenziale für stieg 2013). Mit Corona hat sich der Ein- politische Protestbewegungen bergen und satz digitaler Hilfsmittel notgedrungen zu einer effektiveren Organisierung beitra- intensiviert, denn aufgrund der Kontakt- gen würden (vgl. Kneuer/Demmelhuber beschränkungen waren öffentliche Ver- 2012; Mason 2012). Systematisch kamen sammlungen und die Ansprache der Be- digitale Hilfsmittel wie Videokonferenzen, schäftigten im Betrieb nicht mehr ohne YouTube-Clips und Campaigner-Apps et- Weiteres möglich. Ver.di setzte beispiels- wa in den Kampagnen von Bernie Sanders weise in der Tarifrunde 2020 konsequent 3
auf digitale Hilfsmittel wie regionale Vi- deokonferenzen (unter großer Beteiligung der Mitglieder) sowie auf digitale Medien (Blogs, Kampagnenvideos, Chatgruppen, klassische Webseiten), um untereinander und mit der Öffentlichkeit zu kommunizie- ren. Mit Erfolg: Laut der stellvertretenden Vorsitzenden Christine Behle erhöhte dies die allgemeine Beteiligung der Beschäftig- ten an den die Tarifrunde begleitenden Ak- tivitäten. In dieser Zeit nahm auch die Zahl der Gewerkschaftsbeitritte über das Inter- net deutlich zu. DIGITALE HILFSMITTEL KÖNNEN GEWERKSCHAFTLICHE Unsere zentrale These, die sich auf die Un- AKTIVITÄTEN AUCH DORT tersuchung von Fallbeispielen des «Digital STÄRKEN, WO BELEGSCHAFTEN Organizing» und Gespräche mit gewerk- RÄUMLICH FRAGMENTIERT schaftlichen Aktivist*innen stützt,1 lautet: SIND UND/ODER SICH VOR Digitale Technologien können nicht nur ALLEM AUS PREKÄR dabei helfen, die üblichen Ansätze des Or- BESCHÄFTIGTEN ganizing besser zu machen, sondern brin- ZUSAMMENSETZEN, gen ganz neue Möglichkeiten mit sich. ETWA IM BEREICH Denn digitale Hilfsmittel können gewerk- DER PLATTFORMARBEIT, schaftliche Aktivitäten auch dort stärken, DER WINDINDUSTRIE, wo Belegschaften räumlich fragmentiert DER LUFTFAHRT ODER sind und/oder sich vor allem aus prekär IN DER LOGISTIK. Beschäftigten zusammensetzen, etwa im Bereich der Plattformarbeit, der Windin- dustrie, der Luftfahrt oder in der Logistik. Global agierende Unternehmen können durch digital unterstützte, transnational geführte Arbeitskämpfe eher unter Druck gesetzt werden als mit herkömmlichen Mitteln. Die dichtere Kommunikation, die durch digitale Medien möglich wird, bietet zudem Potenziale für viel direktere Formen der Interaktion – innerhalb des Betriebs, in 1 Eine Liste der durchgeführten Interviews befindet sich im An- hang. 4
der Region oder betriebsübergreifend ent- lang der Wertschöpfungskette, aber auch «intern» zwischen Gewerkschaftsführung, Organizer*innen, Vertrauensleuten und al- len in Arbeitskämpfen und Kampagnen Ak- tiven und noch nicht Aktiven. Die Voraussetzung dafür ist, dass digitale Hilfsmittel richtig angewendet werden. Es braucht Ressourcen für deren Bereitstel- lung und für deren Nutzung. Aktivist*in- nen müssen lernen, diese zielgerichtet ein- zusetzen und den Nutzen digitaler Medien richtig einzuschätzen. Sie sind kein Zauber- mittel, durch dessen Einsatz sich der sys- tematische Aufbau betrieblicher Organi- sationsmacht wie von selbst erledigt. Sie können aber genau diese Aufgabe unter- stützen und Teil einer inklusiven Organi- zing-Strategie sein, die die Eigeninitiative der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt. Susanne Kim, die bis vor Kurzem den Be- reich «Strategische Erschließung» bei der IG Metall leitete, beschreibt es folgender- maßen: «Das Digitale, das sind ja nur Instrumen- te, die das [Organizing; d. V.] unterstützen. An keinem Punkt hätten wir die Gewerk- schaft im Betrieb etablieren können, wenn wir nur diese Blog-Geschichten und On- line-Sachen gemacht hätten. Die persönli- che Ansprache ist der Schlüssel. Es hat nur eine Wirkung, wenn du on the ground im Betrieb bist und mit den digitalen Tools die Kommunikation mit der Belegschaft ver- stärkst.» 5
WAS IST «DIGITAL ORGANIZING»? «Digital Organizing» bezeichnet Ansätze, den letzten Jahren die Diskussionen um die digitale Medien für die Stärkung sozi- eine Revitalisierung der Gewerkschaften aler Bewegungen, politischer Parteien und geprägt hat und sich mittlerweile in einer betrieblicher Aktivitäten einsetzen. Dabei veränderten Praxis in vielen Bereichen der werden die jeweiligen Akteursgruppen Arbeitswelt niederschlägt (vgl. Brinkmann nicht immer im Detail unterschieden, was et al. 2008). Der Hintergrund dieser Ent- problematisch sein kann, weil die Anforde- wicklung war der kontinuierliche Mitglie- rungen für die Nutzung digitaler Hilfsmit- derschwund und der Bedeutungsverlust tel im betrieblichen Kontext ja gänzlich an- von Gewerkschaften in vielen Ländern. Ge- dere sein können als beispielsweise in der genüber einem fatalistischen Diskurs, der Fridays-for-Future-Bewegung. Die Gefahr diese Schwächung allein mit strukturellen von Repressionen bei einer unüberlegten Einflüssen wie Globalisierung oder der zu- öffentlichen Äußerung über soziale Medi- nehmenden Prekarisierung von Beschäfti- en ist bei Letzteren jedenfalls erheblich ge- gungsverhältnissen erklärte und damit als ringer, als wenn es sich um die Vorberei- unumkehrbar erscheinen ließ, betonten ge- tung einer Betriebsratsgründung bei einem werkschaftliche Aktivist*innen in den USA Union-Busting-Unternehmen handelt. die Möglichkeit einer strategischen Wahl. Andererseits gibt es Aspekte des «Digital Sie argumentierten, die Schwächung der Organizing», die eindeutig sowohl für Ge- Gewerkschaften könne aufgehalten wer- werkschaften als auch für politische Kam- den, indem die Gewerkschaften systema- pagnen oder Protestbewegungen relevant tisch den Aufbau von Organisationsmacht sind. Beispielsweise besteht ein Reiz von in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen. «Digital Organizing» für Gewerkschaften Die «klassischen Tugenden» betrieblicher genauso wie für eine NGO wie Greenpeace Mitgliedergewinnung und Kampagnenfüh- eben darin, öffentliche Aufmerksamkeit rung seien sukzessive abhandengekom- über eine offensive Social-Media-Strategie men, weil sich die Gewerkschaften auf ih- zu erregen. rer institutionellen Macht ausgeruht hätten, das heißt eher Kompromisse am Verhand- Im Folgenden geht es um die Frage, welche lungstisch angestrebt hätten, als auf die Rolle digitalen Hilfsmitteln beim Aufbau eigene Kraft zu vertrauen (vgl. ebd.). Um von Organisationsmacht und Handlungs- das Ruder herumzureißen, müsse eine mit- fähigkeit im gewerkschaftlichen Kontext gliederorientierte Betriebspolitik mit neuen zukommen kann. Damit ist eine spezifi- Methoden eines «Social Movement Union sche Form von Organizing gemeint, die in ism» kombiniert werden. 7
GRUNDSÄTZLICHE GEMEINSAMKEIT DER VERSCHIEDENEN ORGANIZING-KONZEPTE IST DIE BETONUNG DER SELBSTAKTIVITÄT DER BESCHÄFTIGTEN. DAS WERBEN NEUER MITGLIEDER UND DIE DURCHFÜHRUNG VON KAMPAGNEN SOLLTEN DURCH DIE BESCHÄFTIGTEN SELBST ERFOLGEN. Zu diesen Methoden gehört, mithilfe von sätze wollen weg von der Vorstellung ei- öffentlichkeitswirksamen Aktionen und ner Service-Gewerkschaft, die vermittelt der Unterstützung von anderen politischen über die Mitgliedsbeiträge die Interessen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und der Beschäftigten vertritt. Demgegenüber Akteur*innen mediale Aufmerksamkeit auf befürworten ihre Vertreter*innen ein Ver- die eigenen Forderungen zu lenken sowie ständnis von Gewerkschaftsarbeit, das auf Druck auf die jeweiligen Kontrahenten auf- Partizipation und Aktivismus der Mitglie- zubauen (vgl. Rehder 2014: 245; Waterman der setzt. Hier ähneln die Vorstellungen de- 1993: 267). Grundsätzliche Gemeinsam- nen von sozialen Bewegungen, was sich keit der verschiedenen Organizing-Kon- im Begriff des «Social Movement Union zepte ist die Betonung der Selbstaktivität ism» widerspiegelt. Eine weitere Ähnlich- der Beschäftigten. Das Werben neuer Mit- keit mit sozialen Bewegungen ist die (für glieder und die Durchführung von Kampa- Gewerkschaften teilweise unübliche) Wahl gnen sollten durch die Beschäftigten selbst der Aktionsformen, die «Demonstrationen, erfolgen, diese seien von Beginn in Ent- [das] Tragen von Emblemen, Pressekonfe- scheidungen über die Ziele und die Durch- renzen, Straßenblockaden, Aufrufe zu Pro- führung einer Kampagne einzubinden (vgl. testen und Boykotts sowie zivile[n] Unge- Brinkmann et al. 2008: 72). Organizing-An- horsam» umfasst (Rehder 2014: 245). 8
Das ursprünglich aus den USA kommende Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt. Organizing-Konzept wird seit über einem In der Debatte um die bisherige Bilanz von Jahrzehnt auch in Deutschland angewen- Organizing erlangte die Kritik der langjähri- det, was sich sowohl in eigens geschaffenen gen Organizerin und Autorin Jane McAle Organizing-Abteilungen in den großen Ge- vey insbesondere in Deutschland große werkschaften ver.di und IG Metall zeigt als Aufmerksamkeit. Sie kritisierte mit Blick auch in einer Fülle von Organizing-Projek- auf die US-amerikanischen Erfahrungen, ten, zum Beispiel im Sicherheitsgewerbe, in dass viele Organizing-Ansätze der Gewerk- der Wind-, Metall- und Elektroindustrie, bei schaften bei einem bloßen «Mobilizing» großen Discountern, in Krankenhäusern, in stehen blieben, das heißt, sie mobilisier- öffentlichen Verkehrsbetrieben oder jüngst ten die Beschäftigten, um Druck aufzu- bei Ryanair. Diese Projekte konnten zum Teil bauen, diese würden aber nicht wirklich beachtliche Erfolge erzielen, nicht nur, was in die taktische und strategische Planung die Mitgliedergewinnung angeht, sondern der Aktivitäten einbezogen. Dies führe da- auch in Bezug auf die dauerhafte Stärkung zu, dass die Initiative, so gut sie auch ge- der Organisationsmacht, das heißt der prak- meint sei, letztlich bei den Funktionären tischen Handlungsfähigkeit betrieblicher verbleibe (McAlevey 2019: 34–36). Dage- Akteur*innen. gen setzt sie auf ein Organizing-Konzept, 9
das den Kampf um betriebliche Hegemo- wa durch kollektive, nicht anonymisierte nie und das Empowerment der Beschäftig- Bekenntnisse) und an die Öffentlichkeit ten in den Vordergrund stellt. Das ist von getragen werden, um dem Gegner die ei- der Überzeugung getragen, dass Arbeits- gene Stärke bewusst zu machen und um kämpfe (und zum Teil auch politische Be- die Unterstützung weiterer Bündnispartner wegungen) letztlich nur dann erfolgreich zu gewinnen. Zudem empfiehlt sie, in die sein können, wenn ein Großteil der Be- Verhandlungen mit der Gegenseite alle am legschaft bzw. der Anhänger*innen aktiv Arbeitskampf Beteiligten einzubeziehen. daran beteiligt ist. Daraus ergibt sich die Wichtig sei, dass diese alle Entscheidun- Herausforderung, in den Betrieben syste- gen nachvollziehen können und am Ende matisch um Mehrheiten zu kämpfen. Das das letzte Wort haben (ebd.: 35). bedeutet, Gewerkschaften müssen ver- suchen, jede Einzelne/jeden Einzelnen in An dieser Stelle zeigt sich die Verbindung der Belegschaft für die Ziele eines Arbeits- zu aktuellen Debatten um «Digital Organi- kampfes zu gewinnen und ihre/seine Mit- zing»: Wie beim Arabischen Frühling und wirkung sicherzustellen, insbesondere von bei anderen sozialen Bewegungen stellt jenen Beschäftigten, die zu den Meinungs- sich nämlich die Frage, ob und wie mit führer*innen in der Belegschaft gehören. dem Einsatz digitaler Technologien ge- Dies setzt eine andere Art der Ansprache werkschaftliche Arbeit integrativer und und Beteiligung voraus, die persönliche partizipativer gestaltet werden kann. Wird Motivationen in den Vordergrund stellt und es zum Beispiel mit ihrer Hilfe einfacher auch Persönlichkeiten berücksichtigt, sich für betriebliche Aktivist*innen, die Dinge also nicht nur auf abstrakte Formeln und selbst in die Hand zu nehmen? Und eröff- die betrieblichen Rollen von Beschäftigten nen sie Wege, wie Aktivitäten auf betriebli- beschränkt. cher Ebene durch strategische Kapazitäten und Ressourcen von gewerkschaftlichen Teil dieses Konzept ist außerdem, soge- Gliederungen unterstützt werden können? nannte Strukturtests im Vorfeld von Ar- Auch aus der institutionellen Sicht der Ge- beitskämpfen durchzuführen. Das sind werkschaften stellt sich die Frage, wie di- gewerkschaftliche Events, die dazu die- gitale Hilfsmittel das Ziel einer dauerhaften nen, herauszufinden, mit wie viel Unter- Aktivierung von Mitgliedern fördern kön- stützung und Beteiligung der Beschäftig- nen. Die Beschäftigung mit «Digital Orga- ten bei einem Streik realistischerweise nizing» ist für uns also Teil einer allgemei- gerechnet werden kann. Außerdem wirbt neren Debatte um die Weiterentwicklung McAlevey für eine größere Offenheit und des gewerkschaftlichen Organizing. Öffentlichkeit in der Auseinandersetzung: Wirkliches Organizing zeichnet sich ihrer Im folgenden Abschnitt werden zunächst Meinung nach durch eine lebendige Kom- einige Kampagnenbeispiele aus der jün- munikations- und Debattenkultur aus. Ist geren Vergangenheit vorgestellt, bei de- die Streikfähigkeit erst einmal hergestellt, nen Gewerkschaften verschiedene digitale soll sie bewusst demonstriert werden (et- Technologien für Organizing-Zwecke ge- 10
nutzt haben. Die Darstellungen beinhalten jeweils eine kurze Beschreibung des Kon- textes der Kampagne und ihres Verlaufs sowie der Möglichkeiten und der Heraus- forderungen, die mit dem Einsatz digitaler Hilfsmittel verbunden waren. Danach ar- beiten wir heraus, wie digitale Technolo- gien verschiedene Strategien des gewerk- schaftlichen Organizing stärken können. Schließlich loten wir auf Basis von Inter- views mit Gewerkschafter*innen aus, an welchen Stellschrauben Gewerkschaften drehen sollten, um die Grundlage für ei- nen erfolgreichen und flächendeckenden Einsatz von Methoden des «Digital Organi- zing» zu schaffen. 11
«DIGITAL ORGANIZING» IN DER PRAXIS Digitale Technologien spielen mittlerweile IG-METALL-KAMPAGNE so gut wie in jedem Arbeitskampf und je- BEI ENERCON der betrieblichen Aktivität eine gewichtige Rolle. Es ist ja auch naheliegend, dass neue Die Kampagnen der IG Metall im Sektor der Kommunikationsformen das kollektive Windindustrie ab 2008 gelten als eindrück- Handeln prägen, so wie es in der Vergan- liche Beispiele für eine gelungene Adap genheit auch mit Telegraf, Telefon, PCs und tion von Organizing-Methoden im Kontext Handys der Fall war. Vor allem seit Aus- von Arbeitskämpfen in Deutschland (vgl. bruch der Corona-Pandemie sind ständig Dribbusch 2013: 93 ff.; Thünken 2018: 3). neue Anwendungen dazukommen. Inso- Speziell anhand der Auseinandersetzung fern stellen die in die Studie aufgenomme- mit dem Unternehmen Enercon lässt sich nen Fallbeispiele nur einen kleinen Praxis- zudem aufzeigen, welche Anwendungspo- ausschnitt dar. Die Kampagnen, die wir im tenziale die Instrumente des «Digital Orga- Folgenden vorstellen, repräsentieren un- nizing» bieten. terschiedliche Felder gewerkschaftlichen Handelns und unterschiedliche Länder. Sie Enercon, von einem Kleinstbetrieb zum wurden ausgewählt, weil wir sie für beson- größten deutschen Hersteller von Wind ders anregend halten: hinsichtlich der Art energieanlagen und damit zu einem welt- und Weise, wie digitale Hilfsmittel einge- weit agierenden Player aufgestiegen, setzt werden, und weil sie zum Teil auch zeichnet sich durch ein weitverzweigtes neue Horizonte einer digital unterstützten Firmengeflecht mit einer zersplitterten Be- Organizing-Praxis aufzeigen. legschaft aus. Lange Zeit reagierte die Un- INTERAKTIVE CHAT- UND KOMMENTARFUNK- TIONEN ERLAUBTEN ES [DEN BESCHÄFTIGTEN], SICH ANONYM ÜBER MISSSTÄNDE UND FORDERUNGEN AUSZUTAUSCHEN. 13
ternehmensleitung sehr aggressiv auf ging, konnten die Beschäftigten über den betriebliche und gewerkschaftliche Orga- Kampagnen-Blog verfolgen. An den enorm nisationsversuche. Um der Fragmentierung hohen Klickzahlen konnten wir sehen, dass und dem gewerkschaftsfeindlichen Ma- das auch genutzt wurde. Die Beschäftigten nagement zu begegnen, wählte die IG Me- waren ja nicht miteinander vernetzt, es gab tall nicht die beiden großen Produktionss- ja keine Kommunikationsstrukturen im Be- tandorte mit 80 Prozent der Beschäftigten trieb. […] Der Blog war im Grunde genom- als Einstieg für ihre Organizing-Kampagne. men das Einzige, was am Anfang das Ver- Vielmehr entschied sie sich für das für An- bindende war.» lagenbau, Montage und Wartung zustän- dige Personal, das in rund 140 Teams auf Dass der Blog öffentlich zugänglich war diversen Stützpunkten mit neun Zentra- und damit auch Journalist*innen und die len in ganz Deutschland verteilt war. Dabei Gegenseite mitlesen konnten, erwies sich wurde eine «Blitz-Strategie» verfolgt: Nach eher als hilfreich für die Kampagne. Susan- einer längeren Phase intensiver und kons- ne Kim erläutert, warum: pirativer Planung fuhren rund 180 unter- stützende Aktivist*innen in einem Zeitraum «Moralisch waren wir so immer im Vorteil. von zwei Wochen alle Standorte ab, um zu- Zu Beginn haben wir die Arbeitgeber eine nächst mit möglichst vielen Beschäftigten ganze Weile als konstruktiv bezeichnet. Je zu sprechen und im nächsten Schritt Ver- garstiger die jedoch wurden, desto deutli- sammlungen zu organisieren, die schließ- cher wurden wir dann auch. Als sie irgend- lich die Wahl von Betriebsräten anstoßen wann merkten, ‹Okay, das schadet uns›, sollten. Gleichzeitig wurde ein Kampag- sind sie auch wieder zurückgerudert.» nen-Blog gestartet, über den vorproduzier- te Videos mit Botschaften von Unterstüt- So konnte ein größerer Druck aufgebaut zer*innen, etwa aus der Politik und anderen werden, als wenn der Schlagabtausch Belegschaften, sowie zu arbeitsrechtlichen nicht öffentlich stattgefunden hätte. Zu- Informationen geteilt wurden. nächst war es die Kampagnenführung, die über den Blog dem Broadcast-Prinzip fol- Susanne Kim, die mehrere Jahre das Res- gend Inhalte «von oben nach unten» teilte. sort «Strategische Erschließung» der IG Im Laufe der Auseinandersetzung betei- Metall leitete und maßgeblich an der Pla- ligten sich jedoch auch immer mehr Be- nung und Durchführung der Kampagne be- schäftigte an der inhaltlichen Gestaltung teiligt war, erklärt die Wirkung des Blogs: des Blogs. Interaktive Chat- und Kommen- tarfunktionen erlaubten es ihnen zudem, «Wir haben natürlich alles, was analog sich anonym über Missstände und Forde- möglich war, auch gemacht. Veranstaltun- rungen auszutauschen. Dies hatte zuvor gen vor Ort mit Politikern, Netzwerken, Pa- nicht stattgefunden, da alle Versuche be- tenschaften, Kirchenvertretern. Alles, was trieblicher Organisierung Repressionen wir vor Ort getan haben, was unsere politi- bis hin zu Kündigungen nach sich gezogen sche Botschaft und unsere Zielsetzung an- hatten. Dies zeigt, dass vor allem in Ausei- 14
nandersetzungen mit gewerkschaftsfeind- Servicebeschäftigten konnten Betriebs- lichen Unternehmen Anonymität im digi- räte gewählt werden, mit einer Wahlbetei- talen Raum eine wichtige Ressource sein ligung von ungefähr 77 Prozent (IG Metall kann, um den Beschäftigten ihre Angst zu 2013). Dies ist besonders beeindruckend nehmen und sie miteinander ins Gespräch vor dem Hintergrund der starken räumli- zu bringen. Die auf dem Blog angespro- chen Fragmentierung der Belegschaft und chenen Themen wie beispielsweise unzu- der jahrelangen Abwehrversuche des Un- reichende Arbeitsschutzkleidung oder die ternehmens, das keinerlei gewerkschaft- Nichtberücksichtigung der Anfahrtszeiten liche Organisierung dulden wollte – eine bei der Bezahlung wurden, als es zu Be- Strategie, die es auch während des hier triebsratswahlen kam, wieder aufgegriffen dargestellten Arbeitskampfes weiter ver- und direkt in Forderungen an den Arbeitge- folgte. Schlüssel zum Erfolg waren Susan- ber übersetzt. ne Kim zufolge die intensive Planung und Vorbereitung der Kampagne sowie der Ein- Neben dem Blog waren Chatgruppen ein satz digitaler Kommunikationsmittel in Er- weiteres digitales Werkzeug mit großer gänzung zu herkömmlichen «Ground Or- Bedeutung für die Kampagne. Susanne ganizing»-Techniken.3 Kim betont die besondere Rolle des Mes- senger-Dienstes WhatsApp: BASSA VERSUS BRITISH «Wir haben ganz schnell gelernt, dass wir AIRWAYS (2009–2011) diese Massenkommunikation über Whats- App machen müssen, weil die Monteure Der Konflikt des Kabinenpersonals der bri- sowieso über WhatsApp verbunden waren. tischen Fluglinie British Airways mit der Klar, haben die auch Diensttelefone, aber Unternehmensführung erstreckte sich bei denen lief ganz viel darüber. Schnell war in unterschiedlicher Intensität von 2009 klar: Alles, was wichtig ist, müssen wir über bis 2011. Streitpunkte waren die Bestre- diese WhatsApp-Kanäle verbreiten. Wenn bungen der Fluglinie, 1.700 Stellen abzu- es ein neues Flugblatt ist oder wenn es ein bauen sowie die Löhne zu kürzen und Ar- neues Vorkommnis ist oder was auch im- beitszeiten auszudehnen (Webb 2009). mer.» Darüber hinaus agierte das Unternehmen im fortschreitenden Arbeitskampf zuneh- Als die Organisationskampagne bei Ener- mend gewerkschaftsfeindlich und repres- con bereits in vollem Gange war, nutzten siv. 12.000 der 14.000 Beschäftigten wa- Gruppen von sogenannten Kernaktiven 2 ren damals in der British Airlines Stewards WhatsApp darüber hinaus, um dort ver- and Stewardesses Association (BASSA) bindliche Absprachen über anstehende Aufgaben für die Kampagne zu treffen. 2 Mit Kernaktiven sind die Beschäftigten gemeint, die im Verlauf von Kampagnen zentrale Verantwortung übernehmen und damit den «aktivistischen Kern» der Belegschaften bilden. 3 «Ground Die IG-Metall-Kampagne war insgesamt Organizing» bezeichnet die direkte Organisierung von Beschäf- sehr erfolgreich: In allen neun Zentralen der tigten im Betrieb. 15
organisiert, die zu Unite gehört, einer der nutzten dafür in vielfältiger Weise digita- größten Gewerkschaften in Großbritanni- le Medien. Das Management versuchte, en (vgl. Upchurch/Grassman 2016: 648; die Autorität und Legitimität der Gewerk- Webb 2009). schaft zu untergraben, indem es Videos unter anderem auf YouTube veröffentlich- Auslöser des Konflikts war eine neue Stra- te, in denen es die Forderungen der Be- tegie des Managements, die vorsah, die schäftigten als unangemessen darstellte Profitabilität der Fluglinie zu steigern. Da- und die angespannte wirtschaftliche Lage für sollte das Unternehmen langfristig des Unternehmens hervorhob. Diese Dar- nach einem Low-Cost-Modell à la Ryanair stellung wurde regelmäßig von den Me- aufgestellt und in diesem Zuge auch die dien übernommen, in denen British Air- gewerkschaftliche Organisationsmacht ways auch bezahlte Werbung schaltete. geschwächt werden (vgl. Upchurch/Grass- Ebenso versuchte das Unternehmen, über man 2016: 648). Ein erster Schritt in diese YouTube-Videos sowie die eigene Web Richtung war das gezielte Anwerben von site direkt mit Kund*innen zu kommuni- neuem Personal zu schlechteren Konditi- zieren und so die Kommunikationshoheit onen, unter anderem mit befristeten Ver- zu erlangen (Grundy/Moxon 2013: 58). Die trägen. Von Langstreckenflügen mit ent- Gewerkschaft konterte diese Bestrebun- sprechenden längeren Aufenthalten an gen mit eigenen Videoproduktionen, um der Zieldestination wurde der operative einerseits die Forderungen der Streiken- Fokus auf Kurzstreckenflüge verlagert und den stärker nach außen zu transportieren das «Away-and-back-home-Prinzip» ein- sowie über Informationen zu gestriche- geführt. Das heißt, dass die Beschäftigten nen Flügen eine eigene Verbindung zu den in direkter Nähe eines Flughafens wohnen Kund*innen aufzubauen (vgl. Upchurch/ und während ihrer Schicht ein Ziel anflie- Grassman 2016: 650). Während die Un- gen, nur um nach einem kurzen Aufent- ternehmungsleitung behauptete, die Air- halt umgehend wieder den Heimatflugha- line bezahle überhöhte Löhne, verwies die fen anzusteuern. Die Beschäftigten und die Gewerkschaft auf den guten Service der Gewerkschaft BASSA reagierten ab 2009 Airline-Beschäftigten. Ein weiterer Kom- auf dieses Vorgehen mit umfassenden munikationskanal war die eigens erstellte Streiks, um das Unternehmen unter Druck Website Brutish Airways, auf der es zum zu setzen und die Aufmerksamkeit der Öf- Beispiel Hintergrundinformationen zu den fentlichkeit auf den Konflikt zu lenken. Zu- engen Verbindungen der Airline zu Me sätzlich sollten die neuen Beschäftigten dienkonzernen gibt sowie zu Repressionen gewerkschaftlich eingebunden werden, des Managements gegenüber gewerk- um eine Spaltung der Belegschaft zu ver- schaftlich Aktiven (ebd.: 649). hindern (vgl. Taylor/Moore 2014: 2). Upchurch und Grassman heben zudem die Die Beeinflussung der Öffentlichkeit spiel- Bedeutung der Nutzung von Facebook für te in diesem Arbeitskampf eine beson- die (Selbst-)Organisierung der Beschäftig- ders wichtige Rolle. Beide Konfliktparteien ten hervor. Aufgrund der räumlichen Ver- 16
teilung der Belegschaft, die zerstreut in der gegen mehr als 40 Mitarbeiter*innen, 15 Nähe diverser Flughäfen lebt, sei es für die von ihnen wurden entlassen (Upchurch/ Kampagne sehr wichtig gewesen, dass Be- Grassman 2016: 650). Als Begründung schäftigte über Facebook-Gruppen trotz wurden dabei in den meisten Fällen an- der Distanz direkt miteinander in Kontakt geblich beleidigende Postings herange- treten konnten. Die niedrigen Zugangs- zogen. In anderen Fällen führten Nach- hürden und die angeregte Interaktion zwi- fragen nach streikbrechenden Personen schen ihnen stärkten den Autoren zufolge zu einer Abmahnung wegen vermeintli- die Beteiligung der gewerkschaftlichen Ba- chen Mobbings, was verdeutlicht, dass sis an Diskussionen rund um den Arbeits- viele Online-Foren keinen sicheren Raum kampf, wofür sie den Begriff «Distributed darstellen, der vor Repressionen des Ma- Discourse» verwenden. Damit werde der nagements schützt. Auch wäre es ein Trug- «bürokratische Konservatismus der Ge- schluss anzunehmen, der Einsatz neuer werkschaftsführungen» herausgefordert Kommunikationsmittel ändere per se das (ebd.: 642). Upchurch betont jedoch auch, Machtverhältnis zwischen Beschäftigten dass das Demokratisierungspotenzial die- und dem Management. Generell bieten so- ses technologiegestützten «Distributed ziale Medien auch der Unternehmenssei- Discourse» in Bezug auf gewerkschaftli- te neue Möglichkeiten, gegen gewerk- che Entscheidungsprozesse begrenzt sei. schaftliche Kampagnen zu mobilisieren Zwar könnten Informationen leichter ge- (vgl. ebd.: 651; Taylor/Moore 2014: 21). teilt werden und es werde ein horizontaler Deswegen empfehlen die Autoren den Austausch begünstigt. Jedoch würden die komplementären Einsatz von digitalen entscheidenden strategischen Beschlüs- Medien zur Unterstützung von Arbeits- se nach wie vor auf physischen Treffen ge- kämpfen. Das heißt, klassische Formen der troffen, wo andere Dynamiken von Bedeu- Entscheidungsfindung und Kommunikati- tung seien (vgl. Upchurch 2014: 134). Als on werden nicht ersetzt, sondern ergänzt weiteren wichtigen Effekt der Nutzung von (Upchurch/Grassman 2016; Taylor/Moore Facebook als Kommunikationsplattform 2014). heben die Autoren die Stärkung der kol- lektiven Identität der Beschäftigten hervor. Das Ergebnis des Arbeitskampfs bei Bri- Der Austausch über negative Erfahrungen tish Airways ist nicht als eindeutiger Sieg und Missstände am Arbeitsplatz half ihnen für die eine oder die andere Seite zu wer- demnach, Spaltungen innerhalb der Beleg- ten. Das Image des Unternehmens hat si- schaft zu überwinden und dem Manage- cherlich gelitten, die geplante Streichung ment geschlossen gegenüberzutreten (vgl. von 1.700 Stellen konnte letztendlich aber ebd.: 649; Taylor/Moore 2014). nicht verhindert werden. Die Gewerkschaft BASSA setzte jedoch eine Lohnerhöhung, Allerdings waren einige Beschäftigte auf- die Wiedereinführung von Reisevergünsti- grund ihrer kritischen Aussagen im In- gungen für das Kabinenpersonal sowie die ternet von drastischen Repressionen be- Rücknahme von einigen Disziplinarmaß- troffen: Es gab Disziplinarmaßnahmen nahmen durch (vgl. Groom 2011). 17
Für die eigenständige überregionale Ver- le Technologien wie soziale Medien und netzung der Beschäftigten war die Inter- Informations-Apps als Organizing-Tools netplattform Facebook eine wichtige Res- setzte und sie in der Literatur mitunter als source, die zur Stärkung ihrer kollektiven Beispiel für eine erfolgreiche Nutzung die- Identität beitrug und die Kampagne nach- ser Werkzeuge genannt wird. Allerdings haltig prägte. Zu beachten ist dabei jedoch, verfehlte sie trotz einiger lokaler Streiks dass selbst relativ harmlose Äußerungen und medienwirksamer Aktionen im Gro- im Netz dem Unternehmen als Vorwand ßen und Ganzen ihre Ziele (ebd.). Aus den dienten, um gegen unliebsame Mitarbei- Erfahrungen von OUR Walmart lässt sich ter*innen vorzugehen. Um dieser Gefahr unter anderem lernen, dass der Einsatz di- entgegenzuwirken, sollten Gewerkschaf- gitaler Medien Illusionen über die tatsäch- ten arbeitsrechtliche Informationen bereit- liche Stärke von Kampagnen fördern kann stellen und Schulungen für Mitarbeiter*in- und nichts auszurichten vermag, wenn nen zu halböffentlicher Kommunikation in versäumt wird, ihn mit Methoden des sozialen Medien anbieten. «Ground Organizing» zu verbinden. Der Konzern Walmart ist für seine ge- OUR WALMART (2010–2015) werkschaftsfeindliche Haltung und Pra- xis bekannt, immer wieder kommt es zu Die Organizing-Kampagne der Gewerk- Kündigungen von gewerkschaftlich orga- schaft United Food and Commercial Wor- nisierten Beschäftigten (vgl. Dicker 2002; kers International Union (UFCW) beim Woodman 2012). OUR Walmart trat we- Einzelhandelsriesen Walmart, der einen niger als klassische gewerkschaftliche großen Teil des US-Marktes beherrscht, Kampagne auf, sondern eher als eine de- geht auf eine Initiative von Walmart-Be- zentrale Graswurzelbewegung, die durch schäftigten zurück. Sie startete 2010 zu- die UFCW finanziell und personell unter- erst klandestin und trat schließlich 2011 an stützt wurde, operativ aber relativ autonom die Öffentlichkeit (vgl. Wood 2015: 260). agierte (vgl. Caraway 2016: 916). Zentraler Mittelfristiges Ziel der Kampagne, die den Bestandteil der Mobilisierungsstrategie Titel «Organization United for Respect at war die Nutzung von Facebook-Gruppen Walmart» (OUR Walmart) trug, war es, für neu geworbene Beschäftigte. Einige 10.000 Beschäftigte von Walmart (damals Autor*innen heben hier mehrere positive ungefähr ein Prozent aller Mitarbeiter*in- Effekte hervor: Zum einen würden solche nen) für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft Kommunikationskanäle auch über Distan- zu gewinnen, um so effektiver Forderun- zen hinweg die Herausbildung einer kollek- gen nach höheren Löhne und besseren Ar- tiven Identität und eines Gefühls von Soli- beitsbedingungen durchsetzen zu können darität fördern. Zudem hätten sie in dem (Greenhouse 2011; Olney 2015). konkreten Fall den Kernaktiven in der Be- legschaft die Möglichkeit geboten, Kon- OUR Walmart ist ein interessantes Fallbei- takt zu ihren Kolleg*innen zu halten, auch spiel, da die Kampagne explizit auf digita- wenn ein Betrieb geschlossen oder ge- 18
werkschaftlich Aktiven der Zugang zu ei- (vgl. ebd.: 2), wobei der tatsächliche Ein- nem Walmart-Markt verwehrt wurde (vgl. fluss der Kampagne darauf schwer zu mes- Wood 2020: 7). Ähnlich wie beim Arbeits- sen ist, da die Initiator*innen von OUR Wal- kampf bei British Airways kam es auch bei mart und auch die UFCW mit dem Konzern OUR Walmart zur Nutzung von YouTube-Vi- bewusst keine Tarifverhandlungen führten. deos als einem verbindenden Medium (vgl. ebd.). Dabei ging man zielgruppenspezi- Die tatsächlichen Mobilisierungserfolge fisch vor, das heißt, die Facebook-Inhalte ließen zu wünschen übrig: Landesweiten und Videos wurden an die jeweiligen In- Streikaufrufen folgten nur einige Hundert teressen und Bedürfnisse der Beschäftig- Beschäftigte, die sich damit zudem gro- ten angepasst. Man schaute, über welche ßen Risiken aussetzten (vgl. Reich/Bear- Missstände bei Walmart sie sich vor allem man 2018: 212). Das verweist auf die Kluft beschwerten und von welchen sie konkret zwischen Erfolgen auf der Ebene einer di- betroffen waren. So gab es beispielswei- gitalen (Teil-)Öffentlichkeit und den Anfor- se eine Gruppe, in denen es vorrangig um derungen an einen richtigen Arbeitskampf. LGBT-Thematiken ging (vgl. Caraway 2016: Jane McAlevey schreibt dazu (auch mit 915). Die Moderation der Gruppen lag in Blick auf OUR Walmart): den Händen von sogenannten hauptamt- lichen Online-to-offline-Organizer*innen,4 «Ein Streik, um das ins Gedächtnis zu ru- die zusätzlich zu ihren Aktivitäten auf Face- fen, bedeutet, dass eine Mehrheit der Ar- book auch die verschiedenen Walmart-Fi- beiterinnen und Arbeiter in einer kollekti- lialen und Beschäftigten besuchen und ven und widerständigen Aktion ihre Arbeit die Kampagnenarbeit vor Ort leisten soll- nieder- und die Produktion lahmlegt [vgl. ten (ebd.). Neben traditionellen Aktions- den Chicagoer Lehrerstreik von 2012; d. V.]. formen verweisen die Autoren Pasquier Wenn ein, zwei Leute nach einigen Wo- und Wood explizit auf die Bedeutung von chen an einem besonders ausbeuterischen «Teilen», «Liken» oder «Re-Tweeten» als In Arbeitsplatz den Job hinschmeißen und strumente der Öffentlichkeitsarbeit, da da- sich dafür von anderen weitgehend macht- mit Aufmerksamkeit erregt und so indirekt losen Gruppen bejubeln lassen, dann Druck auf Unternehmen und Gesetzgeber handelt es sich eher um ein PR-Event.» ausgeübt werden könne (Pasquier/Wood (McAlevey 2014) 2018: 4). Andere Kritiker*innen von OUR Walmart Die Bilanz der Kampagne wird in der Fach- beklagten, das Online-to-offline-Modell literatur kontrovers diskutiert. Als Erfolge der Kampagne ähnele mehr einem moder- werden die Durchsetzung von höheren nen Geschäftsmodell als einem nachhal- Mindestlöhnen in den Walmart-Filialen tigen Organizing-Ansatz. Die UFCW habe in Kalifornien, New York und Seattle so- wie eine Erhöhung des Einstiegsgehalts 4 «Online-to-Offline-Organizing» bezeichnet die Strategie, zuerst über digitale Kanäle wie soziale Medien Mitglieder zu gewinnen, auf zehn US-Dollar pro Stunde für über um darauf aufbauend die «analoge» Organisation im Betrieb vo- 500.000 Walmart-Beschäftigte verbucht ranzutreiben und Aktionen durchzuführen. 19
gebührenpflichtige Trainings für andere nellen und finanziellen Aufwands nicht in aktivistische Organisationen angeboten, einer einigermaßen schlagkräftigen Orga- ohne dass ein wirklicher Nachweis eines nisation und in konkreten Erfolgen in den nennenswerten Nutzens erbracht worden Betrieben niederschlagen, muss bezweifelt sei (vgl. Leo 2020). Die Facebook-Gruppen werden, dass der eingeschlagene Weg der werden als weitestgehend «vernachläs- richtige war. sigt» und «demobilisierend» beschrieben, da die Beschäftigten nach der Einla- dung, sich ihnen anzuschließen, von den VER.DI-KAMPAGNE BEI RYANAIR hauptamtlichen Organizer*innen mehr (2017–2019) oder minder allein gelassen worden seien. Quantitative Mitgliederzuwächse seien als Eher werde die Hölle zufrieren, als dass wichtiger erachtet worden als dauerhafte Ryanair mit den Gewerkschaften verhan- und lebendige Verbindungen zwischen der delt. Mit dieser provozierenden Aussage, Organisation und den Beschäftigten (vgl. die von Ryanairs Geschäftsführer Michael ebd.). Anstatt schlagkräftige Kampagnens- O’Leary stammt, hatte dieser ein Eigen- trukturen aufzubauen, seien enorme Mittel tor geschossen. Die Fluggesellschaft war in Social-Media-Stunts gesteckt worden, Ende 2017 nämlich nicht nur gezwungen, kommentiert der langjährige Organizer Gewerkschaften als Verhandlungspart- Peter Olney. Dass Walmart Beschäftigte ner anzuerkennen. Darüber hinaus sah aufgrund ihrer Beteiligung an der Kampa- sich Ryanair einer wahrhaften Revolte ih- gne kündigte, sei zwar PR-mäßig ausge- rer Belegschaften in mehreren europäi- schlachtet worden. Es sei jedoch versäumt schen Ländern gegenüber. In Deutschland worden, diese nach dem Jobverlust aufzu- konnte ver.di im Jahr 2019 nach mehreren fangen und mit finanzieller und rechtlicher Streiks der Flugbegleiter*innen sogar erst- Hilfe zu unterstützen (vgl. Olney 2015). mals einen Tarifvertrag zu Entgelt, Arbeits- bedingungen und Sozialplanregelungen Eine gewerkschaftliche Kampagne muss mit Ryanair abschließen. Dieser Teilerfolg sich letztlich an ihren Erfolgen messen las- war Ergebnis einer Organizing-Kampagne, sen, insbesondere daran, ob sie die selbst- bei der es gelang, innerhalb von wenigen gesteckten Ziele erreicht hat oder nicht. Monaten einen Großteil des Kabinenperso- In dieser Hinsicht fällt die Bilanz von OUR nals gewerkschaftlich zu organisieren (vgl. Walmart eher bescheiden aus: Fünf Jah- Boewe et al. 2021; Butollo 2019). Dies erfor- re nach dem Beginn der Kampagne ist das derte die direkte Ansprache von Kolleg*in- Ziel, ein Prozent der Walmart-Belegschaft nen an den Flughäfen und am Arbeitsplatz gewerkschaftlich zu organisieren, immer sowie eine Kampagnenstrategie, die auf noch nicht erreicht. Einige Darstellungen die Überzeugung von Meinungsführer*in- der Kampagne zeigen durchaus, worin die nen und auf den schrittweisen Aufbau der Potenziale digitaler Technologien für Orga- Streikfähigkeit der Beschäftigten abzielte. nizing-Prozesse bestehen. Wenn sich die- Ein großer Teil dieser Aktivitäten fand off- se jedoch nach Jahren erheblichen perso- line statt: Hunderte Einzelgespräche wur- 20
den geführt und die Kampagne wuchs mit und Bestrebungen von kollektiver Organi- einer Vielzahl von informellen Treffen und sierung unter anderem durch Kündigun- gemeinsamen Events. All diese Aktivitä- gen zu verhindern suchte. In der Anfangs- ten wurden durch die Nutzung von digita- phase war eine kampagneneigene Website len Medien wie WhatsApp-Gruppen, eine mit dem Titel «Cabin Crew United» enorm Kampagnen-Website und zahlreiche Vi- wichtig, gerade für die Basen, an denen zu- deokonferenzen unterstützt. vor noch keinerlei Verbindungen zwischen Gewerkschaften und Flugbegleiter*innen Der Arbeitskampf nahm im Sommer 2018 bestanden hatten. in enger Zusammenarbeit mit anderen na- tionalen Gewerkschaften sowie der Inter- Die ver.di-Bundesfachgruppenleiterin für national Transport Workers‘ Federation Luftverkehr, Mira Neumaier, berichtet: (ITF) an Fahrt auf. Ryanairs Geschäftsmo- dell basiert auf dem bereits oben beschrie- «Neben den Kernaktiven haben sich die benen «Away-and-back-home-Prinzip». ersten 50, 100 Beschäftigten in Deutsch- Zudem setzt sich das Kabinenpersonal zu land mithilfe der Seite organisiert. […] Das einem überwiegenden Teil aus jungen Süd- hat am Anfang sehr gut funktioniert. […] und Osteuropäer*innen zusammen, die in Und die Seite hat uns dann auch durch Erwartung einer spannenden und einiger- die Kampagne begleitet. Es war dadurch maßen gut bezahlten beruflichen Tätigkeit möglich, immer wenn an einer Station ein ihre krisenhaften Heimatländer verlassen Erstkontakt durch ‹Ground Organizing› haben und an den verschiedenen Basen in schwierig war, weil dort niemand jeman- ganz Europa verteilt stationiert sind. Ihr Ar- den kannte, nur durch Ankündigungen beitsalltag ist jedoch geprägt von hohem auf der Seite […] schnell Zugang zu gewin- Druck (so wird vom Personal zum Beispiel nen.» verlangt, die Zusatzeinkünfte über Bord- verkäufe zu steigern), geringem Verdienst Das zentrale Ziel dieser Website war es, und einem autoritären Managementstil. Mapping-Listen 5 mit Informationen zur Diese Missstände resultieren oft in großer Zusammensetzung der Belegschaft zu er- Frustration unter den Beschäftigten und in stellen sowie in den Anfängen der Kampa- einer hohen Fluktuation innerhalb der Be- gne einen Anlaufpunkt für Kernaktive be- legschaft (Boewe et al. 2021). reitzustellen. Hierfür wurde die Website auf Facebook geteilt, etwa in Gruppen, die Für gewerkschaftliche Organisierung stellt vom Unternehmen selbst genutzt werden. diese Ausgangslage eine besondere He- Wenn Beschäftigte über die Seite mit der rausforderung dar. Bemühungen, fes- te Strukturen aufzubauen, waren bis zur 5 Das Mapping dient dazu, möglichst alle Informationen zur Be- ver.di-Kampagne, die 2017 begann, nicht legschaft zu sammeln, die für die Kampagne von Relevanz sein können. Neben Kontaktdaten der Beschäftigten kann dies auch erfolgreich. Hinzu kam, dass Ryanair bis ihre Position im Betrieb, der Grad ihrer Beteiligung oder ihre Ein- vor Kurzem besonders aggressiv gegen stellung zur Kampagne betreffen. Die gesammelten Informatio- nen erleichtern die weitere Ansprache und Einschätzungen zur gewerkschaftliche Interventionen vorging Stärke der Organisation (vgl. Organisier Dich! 2021). 21
Kampagne in Verbindung traten, wurden an den Herkunftsländern der Flugbeglei- sie einerseits kontaktiert und andererseits ter*innen orientierten. Ver.di richtete für in ebendiesen Mapping-Listen erfasst. jede Ryanair-Basis eine Facebook-Grup- pe ein, in der sich Interessierte vernetzen Im weiteren Verlauf der Kampagne war die konnten, organisatorische Fragen stellen Einbindung einer möglichst großen Zahl und über die zum Beispiel neue Mitarbei- von Mitgliedern über Videokonferenzen ter*innen nach Wohnungen suchen konn- von großer Bedeutung. Darüber konnten ten. Zwar sind die Kommunikationsstruk- die interne Kommunikation und die stra- turen innerhalb der Belegschaft nicht nur tegische Koordination von Streikaktionen digitaler Natur, es besteht jedoch aufgrund und Verhandlungen unterstützt werden: asynchroner Dienstpläne und einer hohen Mitarbeiterfluktuation nur bedingt eine Be- «Wir haben die gesamte Kampagne mit da- triebsöffentlichkeit, wo sich die Beschäf- rauf aufgebaut. Die Mitgliedertreffen fan- tigten in einem größeren Zusammenhang den seit 2018 häufig über Zoom-Calls statt. begegnen können. Die vielfältigen Whats- Die Aktivenkreise, die Organizer haben sich App-Gruppen dienten der strategischen darüber vernetzt, große Teile der organisa- Planung, aber auch als «virtueller Pausen- torischen Struktur fanden darüber statt.» raum» und «Feierabendtreff». Über sie wurde viel diskutiert, hier wurden für den Die digitale Strategie der Kampagne ori- Arbeitskampf relevante Nachrichten ge- entierte sich an einigen Leitlinien und teilt und an Streiktagen auf vom Manage- Prinzipien, die auch für das herkömmli- ment gestreute Fehlinformationen reagiert che «Ground Organizing» gelten: Es be- (siehe Kasten zur Nutzung von WhatsApp darf Räume, in denen die Kommunikation für Kampagnen auf S. 38f.). nicht nur von «oben nach unten» verläuft. Es geht darum, dass die Organizer*innen Die vom Unternehmen für ihre Mitarbei- den Beschäftigten zuhören. Die Kabinen- ter*innen eingerichteten Facebook-Grup- beschäftigten sollten zudem bei einer digi- pen wurden im Rahmen der Kampagne talen Kontaktaufnahme möglichst schnell weniger intensiv genutzt, da eine Social- und unabhängig von ihrer Stationierung ei- Media-Richtlinie im Vertrag den Beschäf- ne Antwort ihrer jeweilig zuständigen nati- tigten das Teilen von Beiträgen verbietet, onalen Gewerkschaft erhalten. die sich kritisch auf den Arbeitgeber bezie- hen. Ein Verstoß gegen diese Auflage hat in Unerlässliche Instrumente für die Kommu- einigen Fällen sogar zur Kündigung geführt. nikation der Beschäftigten untereinander Neumaier betont, dass sich an den Unter- waren außerdem WhatsApp- und Face- haltungen im digitalen Raum gut ablesen book-Gruppen. Sie bauten zum Teil auf den lässt, welche Themen die Beschäftigten be- bereits existierenden Kontakten und losen wegen und wer die Meinungsführerschaft Netzwerken der Beschäftigten auf, die zum innehat. Wichtig waren für die Kampagne einen über gemeinsam absolvierte Trai- nicht nur Beschäftigte, die sich intensiv an nings entstanden waren, sich zum anderen Gruppendiskussionen beteiligten, selbst 22
Beiträge verfassten oder besonders aktiv Laut Wolf sei dies auch deswegen wich- Kampagneninhalte teilten, sondern auch tig, um nicht Gefahr zu laufen, die eigene diejenigen, die als kommunikative Knoten- Stärke zu überschätzen. Eine gut funkti- punkte fungieren und aufgrund ihrer guten onierende WhatsApp-Gruppe bedeutet Kontakte verschiedene Basen verbinden nämlich noch lange nicht, dass eine Beleg- und bei ihrer gewerkschaftlichen «Erschlie- schaft streikfähig ist. Sowohl Wolf als auch ßung» helfen können. Neumaier sehen jedoch deutliche Vortei- le darin, wenn gut vorbereitetes «Ground Der Kern der Kampagne bestand in klas- Organizing» mit dem Einsatz von digita- sischem «Ground Organizing», also in- len Technologien verbunden wird. Wäre es formellen Gesprächen, die bereits ge- nach Mira Neumaier gegangen, hätte man werkschaftlich aktive Beschäftigte mit die digitalen Mittel in dieser Kampagne Kolleg*innen während eines Fluges führ- noch viel weitreichender und strategischer ten, oder Ansprachen nach Arbeitsende nutzen können. am Flughafen durch Organizer*innen. Eini- ge der Angesprochenen wurden zu aktiven Die Kampagne wurde 2019 nach einigen Gewerkschaftsmitgliedern, bei anderen Streiktagen beendet, nachdem die Ge- lösten die Gespräche zumindest Interesse schäftsleitung von Ryanair sich zu Zuge- aus und sie engagierten sich daraufhin in ständnissen bei den Gehaltsforderungen verschiedenen Chats. Mira Neumaier zu- bereiterklärt und sich darauf eingelassen folge sollte die digitale Ansprache ähnliche hatte, ein Mindestmaß von Einsätzen der Anforderungen erfüllen wie die persönli- Flugbegleiter*innen vertraglich zu regeln. che Kontaktaufnahme: Sie sollte gut vorbe- Zudem wird nun an Basen in Deutschland reitet, zielgerichtet und auf das Individuum auch deutsches Arbeitsrecht angewandt, zugeschnitten sein. was für die Beschäftigten einen deutlich verbesserten Schutz vor Kündigungen und Luigi Wolf, ein Koordinator der Organi- im Krankheitsfall bedeutet (vgl. Boewe et zing-Aktivitäten bei Ryanair, hebt zusätz- al. 2021). Allerdings behindert Ryanair noch lich die Bedeutung von sogenannten immer die Einsetzung eines Betriebsrates, Strukturtests hervor. Das waren im Rah- was eine der zentralen Forderungen der men der ver.di.-Kampagne bei Ryanair zum Kampagne darstellte (vgl. Öfinger 2019). Beispiel Aktionstreffen außerhalb der Ar- beitszeit, auf denen Ziele und Vorgehen besprochen und aktuelle Informationen GLOBALE (SELBST-)ORGANISIE- ausgetauscht wurden, aber auch einfach RUNG VON UBER-FAHRER*INNEN gemeinsam Zeit verbracht wurde. Die Be- teiligung an solchen gewerkschaftlich or- Im folgenden Fallbeispiel geht es nicht um ganisierten Aktivitäten vermittele ein Bild eine spezifische gewerkschaftliche Kam- von der Reichweite einer Kampagne und pagne, sondern um die weltweiten Orga- der Bereitschaft der Beschäftigten, sich ab- nisierungsbestrebungen von Uber-Fah- seits der Chats an Aktivitäten zu beteiligen. rer*innen, teilweise in Zusammenarbeit 23
mit Gewerkschaften. Das Unternehmen men mit anderen aufhalten. Diese algorith- Uber ist bekannt für sein aggressives misch bestimmten Orte, etwa ein Parkplatz Wachstumsmodell, mit dem es in den ver- vor einem Flughafenterminal, können sich gangenen Jahren weltweit neue Märkte zu einer Art betrieblichem Treffpunkt ent- erschließen konnte. Eine Besonderheit im wickeln, der für informelle Gespräche, Aus- Vergleich zu herkömmlichen Taxiunterneh- tausch und Vernetzung genutzt wird (vgl. men ist dabei das Beschäftigungsverhält- ebd.). Diese Vernetzung kann dann später nis der Fahrer*innen: Diese sind nicht di- über WhatsApp oder vergleichbare Medi- rekt bei Uber angestellt, sondern arbeiten en weitergeführt werden (vgl. Aslam/Woo- als Selbstständige mit ihren privaten Au- dcock 2020: 415). In Gruppenchats besteht tos oder Mietwagen. Da das Unternehmen die Möglichkeit, sich über Probleme mit keine Verantwortung für die Fahrer*innen Fahrtenzuteilungen, über die Bezahlung übernimmt, lehnt die Geschäftsleitung von oder Schwierigkeiten mit Kund*innen aus- Uber eine Anerkennung von kollektiver In- zutauschen. teressensvertretung in Form von Betriebs- räten oder Gewerkschaften strikt ab (vgl. Jüngere Beispiele von Demonstrationen Johnston/Land-Kazlauskas 2018: 23). und Streiks auf mehreren Kontinenten zei- gen, dass durchaus erfolgreiche Bestre- Für die Organisierung der Fahrer*innen bungen zur Organisierung von Uber-Fah- hat dieses Geschäftsmodell insofern Kon- rer*innen existieren (vgl. Wells et al. 2020: sequenzen, als dass auf den ersten Blick 2). So gab es koordinierte Proteste in Dut- keine herkömmliche Form von geteilter be- zenden Städten, unter anderem Nairobi trieblicher Öffentlichkeit existiert und jede (Kenia), Dayton (USA), Lagos (Nigeria), Pa- Fahrerin/jeder Fahrer bei Problemen am ris (Frankreich), Glasgow (Schottland), São Arbeitsplatz zunächst auf sich allein ge- Paolo (Brasilien) und Brisbane (Australien) stellt ist. Diese Isolation ist auch im Sinne (ebd.). Diese zeigen, dass die Organisie- Ubers, da die Verhandlungsposition der rung von Fahrer*innen trotz der Herausfor- Beschäftigten ohne eine Vernetzung un- derungen, die Ubers Geschäftsmodell mit tereinander denkbar schlecht ist. Ein häu- sich bringt, nicht nur auf lokaler, sondern fig erwähnter Faktor, der der Vereinzelung sogar auf transnationaler Ebene funktio- der Beschäftigten jedoch entgegenwirken nieren kann. Die Autoren Wells, Attoh und und die Organisierung erleichtern kann, ist Cullen heben dabei die besondere Rolle di- in der technischen Komponente des Ge- gitaler Technologien hervor: E-Mails, So- schäftsmodells Ubers verankert. Das ange- cial Media und Messenger-Dienste hätten wendete «Just-in-place-Prinzip» – also das eine sehr flexible und kurzfristige Koordi- Konzept, Fahrer*innen datenbasiert zum nation ermöglicht. So hätten sich die Fah- richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort rer*innen in Washington D.C. erst fünf zu navigieren, damit sie schnellstmöglich Tage vor der Aktion per WhatsApp auf ei- Kund*innen erreichen können – bedeutet, ne Teilnahme verständigt. Mithilfe der ge- dass Sammelplätze entstehen, an denen nannten digitalen Kommunikationsmittel sich die Fahrer*innen längere Zeit zusam- sei es gelungen, den kollektiv geteilten Un- 24
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